Cover

Frau HOLLES Volk

 

Band 3.5

 

Die Wette – Im Reich der Mitte

 

 

Angela Scherer-Kern

 

 

 

 

Das komplette Werk von Frau Holles Volk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten, auch die der auszugsweisen Kopie, Vervielfältigung und Verbreitung gleich durch welche Medien, sowie der Übersetzung bedarf der ausdrücklichen, schriftlichen Genehmigung der Urheberin.

Kontakt: atelier@lunartis.de

 

Text und Foto ©Angela Scherer-Kern

Erschienen 2019, überarbeitet 2020

Umschlaggestaltung: ©Angela Scherer-Kern

 

Weitere Werke der freischaffenden Künstlerin und Buchautorin

Angela Scherer-Kern: www.lunartis.de

 

Für meine Familie und die Kinder dieser Erde

 

Burgrallye

Zur 600 Jahre alten Burg Ludwigstein in Nordhessen!

„Choi, wach auf! Wir sind da! Wir übernachten in einer Burg!“, weckte ihn Kyr.

„Wohnen Onkel und Tante von Burgon in einer Burg?“, meinte Jasi irritiert.

„Zu Ulli und Ulli fahren wir doch übermorgen. Burg Ludwigstein liegt strategisch günstiger für das Gebiet um den Hohen Meißner und den Urwald von Hessen“, meinte Betti.

Bert kam ins Schwärmen, oh, oh:

„Wir haben hier schon öfters übernachtet. Wir lieben diese Burg und diese lieblichen Hügel drumherum zum Wandern. Einst ließ der Landgraf Ludwig I. von Hessen, den man auch den Friedfertigen nannte, diese Burg 1415 zum Schutz des hier unten an der Werra vorbeiführenden Handelsweges errichten. Vor allem aber auch wegen der respektlosen Prügelritter der Burg Hanstein, die wir auf dem gegenüberliegenden Hügel auf der anderen Seite der Werra sehen werden. Dass die beiden sich nicht leiden konnten, können wir an den Spottköpfen sehen, die in den einander zugewendeten Seiten der Burg eingemauert worden waren. Das allein zeigte die grenzenlose gegenseitige Verachtung.“

Jasi rieb sich die Augen und musste sich selbst erst einmal sortierten. Das waren eindeutig zu viele Worte nach einem Nickerchen. Aber Choi war natürlich gleich voll im Film.

„Spottkopf? Du meinst solch eine Fratze, die die Zunge rausstreckt, wie bei der Breuburg der Breilegger? Dann gibt’s hier auf jeden Fall Burgkobolde“, bemerkte er.

„Ganz genau“, freute sich Bert und verwuselte Choi anerkennend die Haare. Das mochte er so gar nicht. Merkte Bert aber nicht, denn er war mitten in der Geschichte der Burg Ludwigstein.

„Sie hat sich in den 600 Jahren von einer Trutzburg zu einem landwirtschaftlichen Verwaltungssitz, dann über den etwa 100 Jahre andauernden Verfall bis zu einer sehr wohnlichen Jugendburg entwickelt.“ Bert deutete zur Spitze des mächtigen Rundturms und sprach weiter:

„Seht, dort oben auf der Turmspitze ist das Wappen der Wandervögel! Die gehörten zur Jugendbewegung damals, die raus aus den Städten und zurück zur Natur wollten. Sie haben der Ruine dieser Burg wieder Leben eingehaucht und seitdem, mit Unterbrechungen während der Kriege, ist sie wieder offen für Wandervögel und alle anderen. Die Wanderjugend damals hatte sich deutlich von den Machenschaften des Nationalsozialismus distanziert, deshalb…“, erklärte Bert und blickte um sich. Aber er stand allein. Hatte er nicht gemerkt.

Alle waren schon vorgeeilt, um die Burg zu stürmen.

„Toll“, sagte er zu sich selbst.

„Interessant. Danke für die Erklärung“, sagte ein Burggastwandervogel, wie auch immer, der bestens ausgestattet war und wohl gerade von einer Wanderung zurückkam.

Bert schnappte sich die beiden Rucksäcke von Betti und sich und ging mit dem redseligen Wanderer hoch zur Burg. Er schnaufte nicht schlecht, als er endlich oben im alten mit Feldsteinen gepflasterten Burghof stand. Es war zwar nur ein kleines Stück, dafür ging es schon recht steil zur Sache. Der Wanderer verabredete sich mit ihm in einer Stunde vor dem Kamin. Er hätte seine Gitarre mit und es fänden sich immer welche, die mitsingen würden. Klar, kannte Bert doch schon längst als alter Burghase.

Okay, bis später.

Von seiner Truppe war niemand zu sehen. Auch nicht zur hören. Bert erledigte die Schlüsselübergabe und stand mit zusätzlich fünfmal Bettwäsche bepackt wieder im Hof.

Toll.

„Haben sie zufällig eine ältere Dame mit drei Jugendlichen gesehen?“, fragte er eine Frau, die links auf einer Steinbank saß.

„Ja“, kam spartanisch die Antwort.

„Wissen Sie, wohin sie gegangen sind?“

„Ja.“

„Können Sie mir sagen, in welche Richtung sie gegangen sind?“, fragte Bert bemüht höflich nach.

„Ja“, kam wieder die einsilbige Antwort. Dabei sah sie ganz nett aus. Sie machte sich über ihn lustig. Nicht lustig. Net witzisch, sie waren ja noch in Hessen. Es war eine anstrengende Fahrt gewesen und er wollte jetzt nur noch in Ruhe vor dem Feuer sitzen. Also überlegte Bert die Formulierung seiner nächsten Frage genauer:

„Wohin sind sie gegangen?“

„Dorthin“, sagte die Frau und deutete zu einer Außentreppe, die im Hof hinaufführte.

„Toll!“

Die Frau konnte offensichtlich Gedanken lesen und löste mit einem kurzen Blick sein Problem. Immerhin. Er dankte und legte den schweren Stapel Wäsche samt den beiden Rucksäcken auf den steinernen Tisch. Ihr Zimmer war natürlich oben unter dem Dach und er erinnerte sich an die gefühlten zehntausend schmalen, steilen, verwinkelten, quietschenden Treppenstufen, die hinaufführten. Die wollte er ungern mehrmals gehen.

„Sie können ruhig alles hierlassen. Hier kommt nichts weg. Außerdem bleib ich noch ein Weilchen hier sitzen. Ich passe auf bis Sie ihre Truppe wieder beisammenhaben“, sagte die überaus freundliche Frau. Sie konnte doch richtig reden.

„Vielen Dank. Ich schau dann mal“, sagte Bert, gab ein Handzeichen in die Richtung, überquerte den Hof und stapfte die große Freitreppe hoch. Er kannte sich hier aus. Entweder sie waren noch hier oben oder die Frau hatte nicht mitbekommen, dass sie wieder unten sind. Man konnte nicht drinnen runtergehen. Also schaute er ins Kaminzimmer. Leer. Gatter zum Turm und Verließ mit Skelett zu. Landgrafenzimmer zu. Er blickte von der Galerie aus hinunter in den Hof. Immer wieder hübsch anzusehen, die Fachwerkhäuser zum Innenhof. Die Burg war niemals zerstört worden, nur in etwa 100 Jahren einfach langsam verfallen. Dank der Wandervögel aus Berlin, okay, die Geschichte kennen wir schon.

Also stapfte er wieder runter. Er sah die Frau an und zuckte die Schultern.

„Haben Sie sie nicht runterkommen sehen?“, fragte Bert etwas ungläubig.

„Doch“, meinte sie.

„Wo sind sie dann hingegangen?“, fragte Bert etwas genervt, denn er ahnte etwas von dem Spielchen, das sie mit ihm treiben wollten. Na gut. Der Burgkiosk war ja noch auf. Spätestens kurz bevor er schließen würde, wollte er aufgeben. Jetzt noch nicht.

„Dorthin“, sagte die Frau und deutete Richtung Speisesaal und Kiosk. Bert schaltete dieses Mal und fragte gleich:

„Sind sie danach wieder hier herausgekommen?“

„Nein“, kam die Antwort. Man konnte ihr auf 100 Meter ansehen, dass sie dieses Spiel genoss. Bert verdrängte den Ärger, denn er wusste, wo sie jetzt nur sein konnten. Also hinein in den Speisesaal. Kurzes Abchecken des Kiosks, der Speiseausgabe, aller Sitzplätze, der Feuerstelle. Niemand Bekanntes zu sehen. Dahinter befand sich nur die Küche und Lagerräume im relativ neuen Anbau. Die waren auch verschlossen. Dann konnten sie ja nur durch die Tür links gegangen sein. Die führte an einer Klönecke vorbei, wo sie natürlich nicht waren, über einen wehrgangähnlichen Übergang in den Meißnerbau, einem separaten neueren Anbau. In den unzähligen Schlafräumen würden sie nicht sein. Das wäre zu fies. Also die Wendeltreppe hinunter. Da stand er vor dem Meißnersaal. Die Tür war angelehnt, aber der große Veranstaltungssaal war leer.

Dort! Ein Zeichen! Endlich. Ein Bändsel baumelte am Geländer, weiß! Sie müssen also hier gewesen sein. Nur, wie war das Zeichen zu deuten? Waren sie hinausgegangen, oder hinunter? Von oben war er ja gekommen. Also ging er hinunter. Nein, da waren die Archivräume der Jugendbewegung. Noch eine Treppe runter. Ja, beim Schwimmbad… nein. Wieder hoch. Er ging leicht frustriert aus dem Hauptausgang im Erdgeschoss des Meißnerbaus hinaus und stand unter dem Torbogen über den er rübergekommen war. Hier waren sie auch nicht. Links, da konnten sie sein. Also ging er ein Stück an den Anbaugebäuden der Burg vorbei zu einem größeren Vorplatz mit einer Feuerstelle und einem sehr neuen Gebäude. Der Enno-Narten-Bau, ein Strohballenhaus aus Holz, Lehm und Stroh, fertiggestellt in über 40.000 ehrenamtlichen Stunden von, klar, den Wandervögeln und Pfadfindern.

Wieder keiner da, der ihm zuhörte.

Toll.

Zurück zum Torbogen. Und jetzt? Durch den Gewölbekeller in den Innenhof, wo die nette nicht nette Frau mit ihrem Wäscheberg saß, oder außen herum?

Er entschied sich, außen herum zur Vorburg und zur Terrasse zu gehen, um von dort quasi neu zu starten.

Nein, natürlich fand er sie auch dort nicht. Bert lehnte auf die Mauer und blickte über das Werratal. Deswegen heißt diese große Terrasse auch Werrabühne. Tja, die Werra wäre jetzt auch ein perfekter Fluss für ein Flussbändsel, aber sie hatten bereits sieben Flussbändsel erfüllt.

Langsam entspannte er sich, als er so über die schöne Landschaft blickte. Eigentlich war bald Sonnenuntergang hinter den Wolken. Es war wirklich schön hier.

Da vernahm er eine Stimme, die immer lauter wurde. Natürlich! Dass er da nicht schon längst draufgekommen war! Er drehte sich um und sah nach oben. Burgkobold auf dem Turm. Das war so klar.

„Na endlich! Ich brülle und brülle und schreie mir die Kehle aus dem Hals und du hörst einfach nichts! Im Hof schon habe ich dir runtergeschrien, wo du hingehen sollst, aber nein! Der Herr ist ja so mit sich beschäftigt! Der edle Herr will nichts mit dem gemeinen Volks zu tun haben und schon gar nicht mit dem Frau Holle Volk. Weil er nichts sehn, nichts hören und…“

„Ist ja gut! Ist ja gut! Ich habe es soeben verstanden. Jetzt bin ich wieder voll im Film. Wo sind sie also? Kannst du mir einen wertvollen Tipp geben, denn ich bin wirklich müde und will jetzt rein ans Feuer“, rief Bert hoch. Wie gut, dass niemand da war. Doch, da kamen gerade welche. Also machte der Burgkobold Faxen, die wohl Zeichen sein sollten. Bert dachte, er sollte erst einmal wieder durch das Burgtor in den Burghof, da schrie er ein lautes „Nein!“

Die Leute hinter ihm reagierten nicht, aber die beiden Jungs hinter ihnen blickten sich um.

Bert tat so, als fiele ihm gerade noch etwas ein und drehte abrupt um. Dann ging er wieder zur Werraterrasse, damit er zum Turm hochsehen konnte. Jetzt fuhrwerkte der Kobold mit dem Wetterhahnwandervogel herum und zeigte damit die Richtung, in die Bert gehen sollte. Okay. Also ging er rechts vom Burgtor durch den Rosenbogen in den kleinen Burggarten. In der Mitte vor der dicken Burgmauer mit einem schönen Blick über Obstbaumhänge und bewaldete Hügellandschaften, da stand ein Hollerbusch. Und dreimal darf geraten werden, wer dort auf ihn wartete: natürlich alle.

Ein Dankesruf nach oben und endlich durfte der Abend beginnen. Simi und ReimHein wollten im Wald übernachten und hören, ob es Neuigkeiten von Fleißig gäbe. Alle anderen auffi ins Dachgeschoss, Betten beziehen, wieder runter zum Kiosk und an die Feuerstelle. Eine Gitarre spielte schon, der Wanderer, wie angekündigt. Die Frau Bettwäschehüterin saß auch schon da und sang mit. Die kannte alle Texte. Wer hätte das gedacht. Betti und Bert waren glücklich. Das hatte sich nicht geändert in all den Jahren. Die Kinder fanden es… befremdlich, witzig, cool, schräg, im Grunde erst einmal okay.

 

Beim leckeren Frühstück im Speisesaal der Jugendburg planten sie den heutigen Tag. Zuerst zückte Kyr sein Smartphone und las den Stand der Pins vor, die sie noch erledigen mussten. Alena meinte, jetzt seien sie in der Mitte von Deutschland angekommen und müssten möglichst alles erledigen können, damit kein Stress aufkäme.

Der Stand der Wette war wie folgt:

Sie brauchten noch 1 Quelle, 2 Seen, keinen Fluss, 2 Bäume, 1,5 Felsen, 2 Höhlen und eigentlich 1,5 Berge.

Beim Berg war es etwas unklar, denn Fleißig hatte das rote Bändsel mitgenommen, obwohl es hieß, es solle ein halbes Bändsel sein und eine Verbindung vom Untersberg in den Alpen zum Brocken, dem höchsten Berg im Harz werden. Nun, sie hatten aktuell nur ein ganzes Bergbändsel, falls Fleißig nicht vorher auftauchen würde. Und vom Felsen vor dem Watzmann im Eisbachtal, der mit Baumwurzeln umwachsen war, fehlte ihnen noch eine Felsbändselverbindung zum Brocken hin. Mit der Wichtelkraft am höchsten, so sprachen die Moosweiblein.

Es stand im Grunde sehr gut um die Wette. Der Harz war in der Nähe und sie befanden sich hier auch quasi in Frau Holles Reich, wobei Frau Holles Reich eigentlich die ganze Erde ist. Aber hier wird sie immer noch bei diesem Namen, Frau Holle, genannt. Das war schon recht aufregend.

„Niederdorla!“, rief plötzlich Kyr, nachdem er schon das dritte Mal beim Frühstücksbuffet gewesen war. Sie hatten sogar eine Bio-Ecke und vieles war eh aus regionalem Anbau oder mindestens fair gehandelt. Also ein äußerst bewusstes Frühstück, was sogar die Teenies guthießen, weil es einfach alles gab.

„Was soll das heißen?“, fragte Jasi und verrollte ihre Augen, weil er das so hinposaunte und dann selenruhig seinen Quark mit Obstsalat mampfte.

„Niederdorla! Das ist genau die geografische Mitte von Deutschland!“, sagte er und tockte dabei auf sein heiliges Smartphone, das ja bekanntlich die Weisheit mit dem Löffel gefrühstückt hatte.

„Toll. Und was sagt uns das jetzt, Herr Wichtig? Sind wir dran vorbeigefahren, oder was?“, zischte ihn Jasi an.

„Das ist etwa eine Stunde östlich von hier“, sagte die Wächterin der Bettwäsche, die gerade mit ihrem Tablett an ihnen vorbeiging. Bert lächelte freundlich, konnte nicht dagegen an, dass er sich immer noch über sie ärgerte, weil sie ihn an der Nase herumgeführt hatte und die Burgrallye auf linke Weise unterstützt hatte. Aber sie war einfach eine begnadete Sängerin. Es war gestern Abend mit allen am Feuer sehr gemütlich, so wie immer, wenn sie hier übernachteten. Heute würde man sich wieder treffen.

„Vormittags zum Urwald Sababurg und zur Sababurg, dem Dornröschenschloss höchstpersönlich. Dann Mittagessen hier, weil wir quasi hier wieder vorbeifahren und zur anderen Seite müssen, nämlich direktamente ins alte Reich von Frau Holle. An Orte, die bereits unsere Vorfahren geehrt haben“, kündigte Bert also an.

„Und wir müssen noch zu dieser Wellenhöhle, von der Meister Petz aus dem Untersberg erzählt hatte. Wie hieß sie noch gleich? Ich hatte sie doch schon gefunden“, überlegte Kyr.

„Rotbart“, anwortete Betti.

„Nein, das war ein ausländischer Name, vielleicht italienisch“, meinte Jasi.

„Ja, italienisch, denn Rotbart heißt auf italienisch…?“, forderte Betti sie heraus.

„Si! Barbarossa! Krass, dann werde ich mich Barbarossa nennen, wenn mein Bart tatsächlich rot wird“, lachte Kyr und fuhr sich über seinen nicht vorhandenen Bart. Dann rief er jauchzend:

„Betti und Bert! Perfekter geht es nicht! Wo ihr uns immer so genialer Weise hinführt. Niederdorla liegt auf halbem Weg zur Barbarossahöhle. Dann machen wir das gleich morgen früh. Danach fahren wir weiter zu Ulli und Ulli, es sei denn, uns läuft noch etwas Schickes über den Weg.“

„So im Prinzip hatten wir uns das gedacht. Jetzt wollen wir mal sehen, ob Simi und ReimHein schon am Hollerbusch vor der Burg auf uns warten. Ich hätte schwören können, dass sie das Frühstücksfestmahl hier nicht verpassen wollen“, meinte Bert.

„Besser ist es für ihre Energien, wenn sie Pausen einlegen. Man sieht es an Fleißig. Das hat ihnen sicher zu denken gegeben“, meinte Betti.

„Oder die Älteste des Waldes hat es ihnen zu denken gegeben“, lachte Choi.

Natürlich warteten die beiden schon, laut Simi, schon seit Mitternacht. Sie war auf Krawall eingestellt und guckte sehr böse.

„Eine Fee, die nicht kriegt was sie will,

ist wie das Wetter im April“, grinste ReimHein.

„Wieso? Wolltest du nicht mehr mit uns weiterfahren?“ Da war Jasi auf einer völlig falschen Spur.

„Der Frohsinn fließt bekanntlich durch den Magen.

Feen sich besonders gern luckullisch laben.

Darf sie nicht, wie sie es will,

gibt’s Gezeter und Gebrüll!“, lachte ReimHein und tauchte sicherheitshalber in Kyrs Rucksack ab.

„Du bist so blöhöd, ReimHein! Es ist mir völlig egal, ob sie ein superleckerschmecker Schleckermäulchenfrühstücksfestmahl ohne uns genossen haben. Völlig egahal!“ Simi schimpfte wie ein Rohrspatz. Es war also ganz und gar nicht egal.

„Du hast mir nicht hören wollen

und nicht in die Küche luschern sollen“, rief ReimHein aus dem Rucksack. Kyr hatte ihn sicherheitshalber gleich verschlossen, denn Simi war schon im Sturzflug auf den Wurzelkobold.

„Simi. Das ist doch nicht schlimm. Du hast absolut nichts verpasst. Mir ist total schlecht von dem Essen. Die Sachen waren alle von gestern. Das Brot war trocken, die Milch sauer, genauso der Quark und das Obst war braun und die Marmelade hatte so komische Sachen drin und Schokocreme gab es nicht. Ich habe gehört, dass sie heute Morgen frisch einkaufen wollen. Heute Mittag und heute Abend und morgen Früh werden wir dann Leckerschmecker zu essen kriegen. Das passt doch bestens, denn dann seid ihr doch auch dabei“, meinte der Diplomat. Er bemühte sich sehr, nicht zu grinsen. Die anderen hielten die Luft an, um sich nicht zu verraten.

Simi bremste in der Luft, zog eine spitze Schute, dachte kurz nach und meinte:

„Okay. Warum fahren wir nicht los? Auf wen wartet ihr noch?“

Feen!

 

Der Eine, der für alle steht

Nächster Stopp: Urwald Sababurg.

Jasi hatte schon ein Baumbändsel parat, denn ein Urwald schrie förmlich danach. Doch zunächst waren sie etwas enttäuscht. Sie hatten einen Urwald erwartet, wie in den Filmen. Eine hohe und dichte grüne große Höhle mit sonderbaren Geräuschen, gruseligem Rascheln, Schlangen, großen Spinnen und Affenbrüllen. Nein, das war hier nicht so.

„Man hat den Wald vor etwa 100 Jahren sich selbst überlassen. Er diente lange Jahre zuvor als Hutewald. Wisst ihr, was das ist?“, fragte Bert nach, der sich wieder im Erklärmodus befand und sicherheitshalber alle ansah, damit keiner weglief.

Nein, natürlich keiner. Okay, Jasi hatte da eine Idee:

„Hute, vielleicht von Hut oder Mehrzahl Hüten? Weil die Bäume, wenn ihre Blätter dran sind, aussehen, als hätten sie Hüte auf?“ Sie ärgerte sich schon während sie sprach. Natürlich lachten sich die Jungs kaputt. Aber Betti griff ihr unter die Arme und meinte:

„Nun, es ist genau richtig, so an die Namenswurzel heranzugehen. Hute kommt hier von hüten, was ein Hut letztendlich auch tut. Ein Wald, in dem damals Vieh gehütet wurde. Warum meint ihr, haben sie ihr Vieh, Schweine, Ziegen, Kühe, Schafe und sogar Pferde, im Wald weiden lassen?“

In der Schule waren Fragen normalerweise äußerst lästig, aber bei Betti und Bert wollten sie alle punkten.

„Weil da viele Pflanzen sind, die ihnen schmecken. Und da sind sie auch geschützt vor schlechtem Wetter“, meinte Jasi, durch Betti ermutigt.

„Ja, weil die Bäume Hüte aufhaben, können sich die Schweine unterstellen!“, neckte sie Kyr. Sie verrollte nur die Augen und sagte:

„Sag du doch mal etwas Gescheites.“ Schweigen.

„Nun, was fressen Wildschweine immer noch sehr gern im Wald?“, half Bert auf die Spur. Am liebsten wollte er selbst alles fragen und natürlich auch selbst beantworten.

„Ach so. Ihr meint Eicheln von den Eichen und lecker Bucheckern von den Buchen. Ja, das macht Sinn. Das ist doch clever!“, meinte Kyr und grinste.

„Richtig. Deswegen war den Bauern natürlich daran gelegen, dass insbesondere diese Bäume erhalten blieben. Solche Art Wälder, in denen früher das Vieh weidete, gibt es in Deutschland nur noch wenige. Die Ivenaker Eichen sind auch Relikte aus einem einstigen Hutewald. Der Hutewald ging dann in die Stallhaltung über und die Wälder wurden oft zur Holzwirtschaft genutzt, wie heute vielerorts…“ Unterbrechung.

„Ja, wie unser geliebter Wald!“, erinnerte sich Jasi an zu Hause und ward sofort traurig.

„Ich verstehe dich, Jasi, aber ohne Holz keine Möbel, kein Papier, kein Hausbau, kein…“, meinte Bert und erntete eine spitze Schnute. Zwei spitze Schnuten, wenn die zweite es gehört hätte, aber die schlief wieder.

„Ihr müsst euch also vorstellen, dass hier überall niedergefressener Waldboden war und diese knorrigen Bäume, die 500-1.000 Jahre alten Eichen und dicken und mehrstämmigen Buchen, die ihr hier überall seht, die stammen noch aus den mittelalterlichen Zeiten des Hutewaldes. Wo ihr jetzt geht, gingen einst Schweine!“, lachte Bert.

„Niemals! Wo ich gehe, gingen hübsche Kühe!“, meinte Jasi. Bei dem Schlüsselwort hübsch, wachte Simi in Jasis Kapuze wieder auf. Es war mittlerweile so, dass die Ätherischen, sobald der Zündschlüssel den Bully startete, im nächsten Augenblick einschliefen. Wobei es den Teenies ähnlich erging. Es war einfach zu gemütlich.

„Habt ihr von mir geredet und mich schon vermisst?“, plingte sie entzückt.

„Klar, denn wir wollten doch unserer hübschen Chamäleonfee und unserem hübschen Wurzelkobold nicht diesen hübschen Urwald von Hessen vorenthalten“, meinte Choi und hob auch ReimHein aus Kyrs Rucksack. Der war arg verschlafen und brauchte einen Augenblick, bis er realisierte, wo er war.

„Viele alte Wurzeln spüre ich hier,

lang hierzubleiben, wünsch ich mir!“ Schon war er verschwunden.

„Such uns einen schönen alten Baum, ReimHein!“, rief Kyr hinterher.

„Die Hunde dürfen aber nicht frei im Wald herumlaufen. Sie gehören an die Leine!“, kam eine mahnende Stimme an ihnen vorbei.

Alle, inklusive Betti und Bert starrten die Mahner grimmig an, dass diese schleunigst weitergingen. Sie hörten nur:

„Die guckten sehr bedrohlich. Mit solchen kann man nicht normal reden!“

„Stimmt!“, rief Bert hinterher. Solche Kommentare hatte er gefressen.

„Lass‘ sie, Bert. Sie sind arm. Sie sehen nicht das, was wir sehen. Wir sehen mehr als nur Wald und Bäume! Seht euch mal den Wald an!“, sagte Betti und breitete ihre Arme aus, als wollte sie den ganzen Wald damit aufnehmen. „Das ist ein uriger Baumwunderwald!“

Schon war Bert wieder in der Wald-Spur:

„Seit hundert Jahren, wie gesagt, wächst der Wald wieder wild von unten nach und lichte Stellen entstehen allein dadurch, dass alte Bäume umfallen. Der Hutewald war natürlich deutlich lichter, als wäre ständig einer mit dem Rasenmäher um die alten Bäume gefahren.“

„Wir wollen auch Schafe im Garten. Dann brauchen wir nicht mehr diesen nervigen stinkenden Rasenmäher, wo Papa eh immer flucht und Wutanfälle kriegt“, meinte Choi und klatschte mit seiner Schwester ein. Da waren sie sich mal wieder einig. Schafe im Garten, das wäre cool. Da könnten sie schon mal üben wegen des Biobauernhofs. Vielleicht noch ein paar Hühner dazu? Ihre Eltern würden sich freuen.

Bert hielt einen neuen Lageplan hoch, wo auch immer er den herzauberte, gab die Richtung vor und rief:

„Es ist wohl einzigartig in Deutschland, dass die Hutebäume so nah beieinanderstehen. Schaut dort und dort und dort und dort ist schon der erste markante Baum – eine Paradebuche! Sensationell!“ Da war er wieder, Lehrer Horst.

„Das ist doch ein wunderschöner alter Baum! Ich liebe Buchen! Sie sind so weise! Hier würde es Mama und Elisa gefallen und unserem Baumbändsel“, schwärmte Jasi, da rief es von einem umgefallenen dicken Baum, der halb verfallen und mit fetten Baumpilzen besetzt war:

„Nein, noch nicht. Hab Geduld! Es wird immer besser!“

Das war wohl ein Baumpilzkobold. Um die mächtige Paradebuche spielten eine Horde Windfeen fangen.

Sie gingen weiter und wäre der Weg nicht, es wäre sehr wild-romantisch. Man konnte sich richtig vorstellen, wie die lichten Urwälder Mitteleuropas früher einmal ausgesehen hatten, als Rentiere und Elche das Land durchzogen.

„Im Nebel muss es hier krass sein. Seht euch nur die vielen Kreaturen an, die hier herumstehen oder herumliegen. Dazu mit Moos und Pilzen bewachsen. Wow!“, staunte Kyr.

„Genau. Die perfekten Kulissen für Grusel- und Fantasyfilme“, staunte Choi.

„Wieso sagst du, dass Moose und Pilze gruselig sind? Das stimmt überhaupt gar nicht!“, protestierte Simi aufs Schärfste. Da rief Jasi genau im richtigen Moment:

„Oh, dort! Das ist aber der richtige! Der ist bestimmt der älteste hier. Es scheint nur noch ein dicker Ast am Leben zu sein, oder nicht? Eine Eiche! Ich kann sie erkennen! Die Eichen. Sie haben so eine schrunzelige Borke und ihre Arme sind auch so schrunzelig.“

„Schrunzelig…“, lachte es hinter ihr. Aber sie reagierte nicht. Das war wohl wegen der Ausstrahlung der weisen alten Baumwesen.

„Klingt gut. Geht aber nicht. Wir haben uns bereits für einen entschieden. Einer steht für alle“, rief da ein Blätterkobold aus der alten hohlen Eiche.

Sie nahmen viele Fotos auf, beließen es aber dabei, diesen markanten Baum, wie auch alle anderen, aus der Ferne mit im Bild zu haben, auch wenn es gar zu sehr reizte, sich in seinen großen Hohlraum zu stellen. Sie würden wahrscheinlich alle hineinpassen. Seit den Linden auf der Fraueninsel wollten sie mehr darauf achten, nicht so auf den Wurzeln herumzutrampeln und den Boden dazwischen zu verdichten.

„Es ist so krass, der Gegensatz von Jung und Alt. Hier diese jungen Bäume und dort diese dicken alten knorrigen schrunzeligen Stämme. Der Wald wandelt sich, man kann es richtig sehen. Es ist traurig und schön und ein echtes Wunder!“, schwärmte Jasi. Sie war wieder hin und weg.

Sie standen vor einer alten Drillingsbuche mit jungem Frühlingsgrün.

„Die Buchen mit ihren wunderwunderschönen grünen frischen Blättern machen einfach so viel gute Laune. Wie die Linden-Tanten, nur anders. Eher noch behütend, weil ihre vielen feinen Äste sich wie Arme schützend über einem erheben. Und trotzdem ist alles so lichtdurchflutet und freundlich!“, schwärmte sie. Kyr grinste und äffte sie in fast der gleichen Stimme nach:

„Und seht nur, wie die Äste der älteren mächtigen Buchen sich zu einem großen Dach verbinden, um ihre kleinen Babys am Waldboden zu schützen!“

Jasi blieb stehen und sah ihn böse an:

„Du bist doof, Kyr.“ Dann besann sie sich um und meinte mit Nase nach oben:

„Naja, du kannst es eben nicht anders.“

Das ließ er natürlich nicht auf sich sitzen und rief in den Wald:

„Stimmt das, Kumpels?“

„Und wie du anders kannst. Du bist unser Kumpel!“, schallte es aus allen umliegenden Baumwipfeln und Ästen. Die hatte er schon beäugt, wie sie neugierig zu ihnen schauten und sie verfolgten.

Simi schwebte zurück zu Jasi, um sie zu unterstützen und sagte empört:

„Kobolde sind Kobolde und lassen sich nicht mit Feen vergleichen. Sie schweben ja nicht einmal!“ Dann streckte sie noch ihre Zunge raus. Die war bekanntlich blau. Koboldzungen waren grün, egal um welche Koboldgattung es sich handelte. Das stellten sie sogleich auch fest. Frühlingsgrün.

Man glaubt es nicht, mit einem Mal erschienen die Bäume noch grüner, wegen hundert grüner Koboldzungen, die gerade herausgestreckt wurden. Prompt folgte die Antwort der Feen. Der Himmel schien blau zu werden.

Sie vernahmen ein freundliches Lachen:

„Haha! Ihr seid so erfrischend. Das habe ich den ganzen Winter über vermisst, aber der Winter ist auch gut, sich von euch zu erholen. Die Dosis macht es, wie bei allem. Das, was zählt, ist euer aller Zusammenhalt, wenn es darauf ankommt. Das weiß ich sehr gut aus all den Jahren und von den Geschichten unserer Vorfahren, die die Geschichten ihrer Vorfahren erzählten. So ist jeder Baum im Frühling stets jung und zugleich mit dem Alter immer weiser, weil er das Wissen seiner Ahnenkette in sich trägt. Und mit diesem Wissen und wie es jetzt um die Natur steht, so plant er sein Wachsen für die Zukunft und die Zukunft seiner Kinder!“

Wer sprach da? Das Baumwesen der Drillingsbuche? Nichts zu sehen. Doch. Die Augen, die sich auf den Rinden bei Buchen im Allgemeinen zeigen, schienen sich hier zu bewegen, als ob sie sehen würden. Viele unterschiedlich große Augen, die nichts Bestimmtes ansahen und daher alles sahen. Eine Baumweise!

Sofort verschwanden alle blauen und grünen Zungen. Dafür sahen alle mehr und mehr, wie stark allein diese Drillingsbuche von Frau Holles Volk bevölkert war.

Auf einem abgestorbenen Ast wuchsen Baumpilze und darauf saßen Pilzkobolde, die luftigen Vertreter ihrer Spezies. Nicht nur ein Wipfelkobold thronte auf ihrem Blätterdach, nein, eine große Gruppe, wie sie sie zuvor noch nicht gesehen hatten. Mehr noch als auf der Herreninsel im Chiemsee. Oder kamen sie von all den Baumriesen des Urwaldes, um sich hier zu versammeln? Neugierig waren ja bekanntlich alle. Und im Astwerk da wuselte es nur so von Blätterkobolden. Zu ihren mächtigen Wurzeln turnte ein großer Trupp Wurzelkobolde mit weiteren Pilzkobolden und durch ihre Äste wehten fröhlich Windfeen und umschmeichelten zart die frischgrünen Blättchen und ärgerten die Blätterkobolde. Ah, da waren auch zwei Wichteldamen. Blumenfeen waren nicht zu sehen. Unter einer Buche wuchsen selten viele Pflanzen, schon gar nicht andere junge Bäume außer Buchenkindern.

„Bist du es, die als eine für alle steht, liebe Buche?“, fragte Jasi und hoffte, dass sie nun das Baumbändsel anhängen konnte. Doch die Buche verneinte:

„Sehr gern, aber wir haben uns für einen anderen Baum entschieden. Zudem hängen eure Baumbändsel schon an vielen Buchen. Somit habt ihr uns mehr als einmal eure Ehre erwiesen. Nun ist es an der Zeit für unseren mächtigen Freund. Er wird euch gefallen, wenn ihr ihn seht“, sprach das Buchenwesen.

„Wie werden wir ihn erkennen? Hier gibt es so viele schöne ehrwürdige Bäume, alle, und der Wald ist so groß…“, fragte Jasi besorgt bei so vielen Möglichkeiten in diesem urigen Wald.

„Nimm drei Buchenästchen in der Dicke deines kleinen Fingers, vielleicht einen Tick weniger, und brich sie in gleiche Längen von eineinhalb Händen. Wenn ihr an einen Abzweiger kommt, dann halte die Buchenstäbchen in beiden Händen vor dir fest und sprich:

Bitte zeigt uns den Weg zu dem Einen, der für alle steht. Wirf die Buchenstäbchen mit einem leichten Dreher in der Hand auf den Boden vor dir. Sie werden euch die Richtung zeigen und euch führen. Er sitzt schon am Fenster und wartet auf euch.“ Die Buche lachte wieder. Sie klang äußerst fröhlich.

Sie einigten sich sofort, dass jeder ein Ästchen suchen würde. Hatten sie auch gleich, checkten sie mit Jasis kleinem Finger, maßen danach die Länge ab, fertig. Perfekt, dort war auch schon eine Wegabzweigung. Jasi konzentrierte sich, hielt die drei Buchenstäbchen in ihren Händen vor sich und sprach:

„Bitte zeigt uns den Weg zu dem Einen, der für alle steht.“ Dann warf sie die Buchenstäbchen zu Boden.

„Sehr gut“, kommentierte die Drilligsbuche.

Alle starrten auf das Mini-Mikkado auf dem Weg. Eindeutig.

Sie strahlten. Es klappte!

„Können wir die Buchenstäbchen auch verwenden, wenn wir woanders sind?“, fragte Kyr sehr praktisch denkend.

„Natürlich. Ich will euch verraten, wie es eure germanischen Vorfahren zu ihrer Zeit so handhabten: Sie orakelten mit den Stäbchen, oft hatten sie mehrere, 7, 9 oder 13. Sie ritzten Kerben in die Stäbchen, in jedes andere, die dann eine Bedeutung hatten. So entstanden die ersten Runen. Diese warfen sie zu einer Frage, meist vor wichtigen Ereignissen, so, wie du es eben getan hast, und lasen in dem Bild, wie welche Stäbchen zueinander lagen. Natürlich waren es geübte Druiden, Schamanen, Seher, die die Zeichen deuteten. Das war zum Teil nicht einfach, denn so manches Mal stand ihr Leben auf dem Spiel, wie auch bei anderen Formen des Orakelns, wenn ein positiv gedeutetes Orakel nicht eintraf. Oder wenn es ein negatives Omen war, das aber keiner hören wollte“, erklärte nicht Bert, sondern die Buche selbst. Bert war ganz hingerissen und meldete sich, denn er hatte noch eine Ergänzung, die er loswerden wollte. Die Augen nickten ihm lächelnd zu.

„Es heißt, der Name Buchstabe habe sich aus diesen Runen in Form der Buchenstäbchen entwickelt. Manche ritzten Kerben ein, manche Zeichen, eben Runenzeichen, die ihr schon gesehen habt. Zuerst wurden diese als Orakel, später auch als Schriftzeichen verwendet.“

„Ach!“, kam es von den Teenies bei dieser neuen Erkenntnis. Buchen-stab, Buch-stabe. Gut möglich.

„Schade, dass wir keine Festmahlsdecke mithaben. Hier wäre solch ein schöner Platz für ein Picknickfestmahl“, schwärmte Simi.

„Da hast du recht. Wir haben nicht nur keine Picknickdecke mit, sondern auch kein Essen“, meinte Kyr und fügte ganz rasch hinzu, da ihre spitzen Ohren bedenklich nach unten zeigten: „Aber lecker Essen gibt es gleich heute Mittag in der Burg. Und auch bestimmt lecker Nachtisch.“

Gerettet. Sie verabschiedeten sich von der Drillingsbuche und führten ihren Weg fort. Mittlerweile nahmen sie viele und auch sehr unterschiedliche Vogelstimmen wahr. So manch eine Vogelstimme, die Bert nicht erraten konnte, ließ den Urwald tatsächlich urig klingen. Die Äffchen stimmten ebenfalls mit ein. Klar, wer damit anfing. Kyr. Natürlich im nächsten Atemzug gefolgt von Choi und im übernächsten Atemzug von Bert. Also ward der Urwald auch sofort beheimatet von Gorillas und Chimpansen und unzähligen kleinen tobenden und kreischenden Kobold-Äffchen. Betti und Jasi ließen es sich nicht nehmen und schwangen als Lemuren mit von Ast zu Ast. Täuschend ähnlich.

Choi war so in seine Affenrolle vertieft, dass er nicht merkte, wie eine kleine Wandergruppe vorbeistratzte, ihn freundlich belächelte und wieder verschwand. Dann stimmten die anderen wieder lachend ein. Keiner erzählte ihm von seinem Affensolo.

Sie fotografierten sich gegenseitig als Affen oder Äffchen und nahmen jede Menge kleiner Videos auf. Alena und Burgon wurden damit sofort überschüttet. Prompt kam ein Bild von Burgon in Affenpose aus einem tristen Schulhof. Aha, Pause in Hamburg. Burgon kannte sich ja in Sachen Affen bestens aus. Sofort folgte noch eine Fotoreihe mit seinen Affengesellen hinterher. Alena schickte nur einen Affen-Emoji mit Händen vor den Augen als Kommentar.

Bert hatte seinen Plan eingesteckt. Er wollte sich nun auch voll und ganz auf die Buchenstäbchen einlassen. Obwohl er an der nächsten Abzweigung doch heimlich nachschaute, dass sie sich nicht gar zu weit weg von ihrer Runde entfernten. Man könnte hier nämlich den ganzen Tag verweilen. Allerdings, wenn die Buchenstäbchen es meinten, und der besagte Baum mit dem neuen Namen Einer für alle sich am anderen weiten Ende des Urwaldes befand, dann müssten sie wohl umplanen. Er hoffte aber, dass die Buchenstäbchen ihren knappen Zeitplan kannten…

Nur ein wenig wunderte er sich, dass die Buchenstäbchen mit einem Mal den direkten Weg zum Ausgang vorgaben. Kam da überhaupt noch ein markanter Baum?

Natürlich! Die spektakuläre Wappeneiche. Sie hat mit 7,38 m die dickste Taille der Urwald-Eichen. Die Drillingsbuche hatte immerhin 8,90 m. Man bräuchte bestimmt sechs Menschen, um sie angefasst mit ausgestreckten Armen zu umarmen.

Die Wappeneiche war insofern spektakulär, dass sie nicht nur sehr alt war, sondern extrem bizzar. Ein großer Teil war nämlich schon seit Längerem abgestorben, aber ein dicker Ast hielt sich tapfer und trug frische grüne Blätter. Der Waldboden war übersät von jungem Adlerfarn, der sich langsam aufrollte.

„Ist es nicht wieder unfassbar, wie schrunzelig diese alte Eiche ist und dann als Kontrast dieses junge Grün? Alles an ein und demselben Baum!“, meinte Kyr mit einem Zwinker zu Jasi. Dazu konnte sie nichts sagen. Alle nickten fast andächtig.

„Schrunzelig gibt es gar nicht“, kommentierte Choi.

„Jetzt schon, seit deine Schwester es erfunden hat. Und es passt, sieh dir diesen Baum an. Es ist die Mischung von schrullig und runzelig“, rechtfertigte Kyr Jasis Wortschöpfung. Beide, Jasi und Simi, hoben ihre Augenbrauen. Sie trauten dem Frieden nicht so recht.

Da dachte Jasi an das Baumbändsel.

„Nein, auch hier nicht. Weitersuchen!“, erschallte es aus mehreren Richtungen. Sie konnten alle Gedanken lesen. Manno.

„Aber wir sind gleich am Parkplatz zurück und hier auf meiner Karte ist kein imposanter alter Baum mehr vermerkt“, meinte Bert und hielt die Karte als Beweis hoch, als ob Frau Holles Volk irgendetwas damit anfangen könnte. Sie wussten es nun mal besser.

Windfeefreundinnen flüsterten Simi etwas ins Ohr und sie grinste:

„Ihr sollt noch einmal orakeln.“

„Du meinst, wir sollen die Buchenstäbchen nach der Richtung fragen, in der wir gehen sollen? Aber es gibt doch nur eine Richtung…“, meinte Jasi.

„Es gibt bei einem Weg immer zwei Richtungen“, sagte Simi leicht spitz, weil Jasi das, was ihre Windfeefreundinnen gesagt hatten, anzweifelte.

„Okay, wenn du es sagst“, sagte Jasi auch etwas spitz. Diese Feen. Dieses Mal wollte Choi die Buchenstäbchen werfen. Tatsächlich. Einmal umdrehen bitte und zurück des Weges.

„Sie führen uns irgendwie an der Nase herum. Kann das sein, Bert?“, sagte Jasi, die Simi lieber nicht ansah.

„Wenn ich ehrlich bin, wäre ich gleich den anderen Weg gegangen, aber dann hätten wir diesen wunderschönen Baumältesten nicht gesehen. Das hat also schon alles seinen Sinn“, sagte er anerkennend und nickte der Wappeneiche zu.

„Diese Eiche lieb ich sehr,

der Älteste des Urwaldes lebt auch hier!“, reimte ReimHein, der soeben aufgetaucht war. Simi hatte ihn wohl fix geholt.

„Oh!“, kam es von allen.

„Verzeihung, dass wir ihn nicht gesehen und begrüßt haben“, meinte Jasi und suchte den Baum nach ätherischen Zeichen ab.

Da, auf der obersten Spitze des alten verrottenden Stammes, saß ein Wipfelkobold, streckte seine grüne Zunge heraus und rief:

„Er lebt zurückgezogen in und kurz über den Wurzeln im Innern des Stammes. Das ist der älteste Teil des Baumes. Er wird nicht mehr allzulange in dieser Hülle leben und daher freut er sich umso mehr, dass ihr hier seid. Eure Älteste des Waldes hatte es ihm bereits angekündigt. Er hofft sehr, dass nun eine neue Zeit kommen wird, in welcher Menschen die Natur mit anderen Augen sehen und sie mehr wertschätzen. Die Natur ist der größte Schatz, der gut behütet werden will. Dann werden die Menschen auf ewig ihre Freude daran haben und sie werden reich von ihr beschenkt werden. Habt ihr verstanden, ihr Pluvos aus dem Norden?“

Nun streckte er seine grüne Zunge wieder heraus. Prompt kam die wohl tausendfache Antwort in blau, worauf natürlich die Kobolde nur gewartet hatten. Die uralte knorrige Wappeneiche strahlte mit einem Mal in leuchtendem Grün. Enorm, was Koboldzungen so bewirken können. Man muss also genau hinsehen, um den Unterschied zwischen Koboldzunge und echtem Blatt zu erkennen.

„Ja, natürlich verstehen wir dich sehr gut. Deswegen sind wir hier! Danke Wipfelkobold…“ Blaue Zungen. Korrektur:

„Danke, Urwaldwipfelkobold und danke Ältester dieses wertvollen Urwaldes!“, rief Kyr hoch und Richtung Baumsockel.

Also gingen sie den Weg wieder zurück und warfen bei der nächsten Abzweigung noch einmal die Buchenstäbchen. Mittlerweile hatte jeder der Teenies drei Buchenstäbchen im eigenen Besitz. Konnte man immer mal gut gebrauchen.

Sie sprachen gemeinsam:

„Bitte zeigt uns den Weg zu dem Einen, der für alle steht.“

Dieses Mal warfen alle drei gemeinsam. Dann standen sie davor und rätselten. Die Stäbchen zeigten dieses Mal nicht eindeutig die Richtung an. Da lachte Betti:

„Seht euch nicht die Stäbchen an, sondern den freien Platz dazwischen!“

Ja, eindeutig ein Pfeil!

Sie hörten eine sehr alte krächzende Stimme:

„Manchmal muss man darauf achten, was dazwischen zu sehen ist. Dies ist jetzt kein wirkliches Orakel. Bei einem wirklichen Orakel wird alles gelesen, die Lage der Stäbchen überhaupt und zueinander und was zwischen den Stäbchen schwebt.“

Sie drehten sich in die Richtung um. Auf einem liegenden morschen dicken Stamm, der fast voll bemoost war, saß ein winziges Moosweiblein. Ganz ähnlich den Moosweiblein beim Watzmann und doch ganz anders. Sie trug einen Hut mit vielen kleinen grünen Antennen. Kurz schien es Jasi, als hätte dieser bemooste Stamm sie gerade angezwinkert.

„Du meinst, liebes Moosweiblein, es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9175-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /