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Frau HOLLES Volk

 

Band 3.3

 

Die Wette –

Burgenhopping im Westen

 

 

Angela Scherer-Kern

 

 

Das komplette Werk von Frau Holles Volk ist urheberrechtlich geschützt.

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Kontakt: atelier@lunartis.de

 

Text und Foto ©Angela Scherer-Kern

Erschienen 2019, überarbeitet 2020

Umschlaggestaltung: ©Angela Scherer-Kern

 

Weitere Werke der freischaffenden Künstlerin und Buchautorin

Angela Scherer-Kern: www.lunartis.de

 

Für meine Familie und die Kinder dieser Erde

 

 

 

Baumige Überraschung

Hanna saß am Steuer. Sie freute sich, dass sie endlich einmal wieder einen Bully fahren konnte. Sie hatten mit den Beifußens getauscht. Diese würden dann mit ihrem Auto zum Schichtwechsel in den Odenwald kommen, und mit deren Bully und den Kindern die Reise gen Süden fortführen. Früher hatte sie mit ihrem ersten Freund einen Bully, Matratze hineingelegt und ab durch Europa ging es. Oder einfach nur an die See. Waren schon tolle Zeiten gewesen und irgendwie fühlte sich das sofort wieder so an, kaum, dass sie den Motor anließ.

Die Kinder hatten es sich gemütlich eingerichtet. Natürlich jeder mit seinem eigenen Kopfkissen. Choi fing damit an, also rannten die anderen beiden auch noch einmal los. Hanna tolerierte die Reiseecke im Kofferraum, die für Frau Holles Volk hergerichtet wurde. Denn es war Betti, die mit ihrem Benjamini ankam, mit einer breiten länglichen Pflanzschale mit Erde und einem braunen Farn, Moos und Gänseblümchen. Schließlich stellte sie noch einen Flechtkorb mit einer Art Wurzelhöhle dazu. Die Hälfte des Flechtkorbs hatte sie mit Erde gefüllt und Karotten hineingesteckt und das ganze dann mit einer kleinen Jutedecke abgedeckt.

Hanna wunderte sich über überhaupt nichts mehr. Wenn es dem Hausfrieden, oder dem Reisefrieden diente, war es eben so. Hauptsache, sie fuhren mit dem Bully, in dem genug Platz war für alle und alles und vor allem für alle Befindlichkeiten. Und sie saß am Steuer.

Kaum, dass sie losfuhren, krähte Simi:

„Hunger! Festmahlspicknick!“

Simi hatte ewig gebraucht, bis sie ihre Schlafmulde in Jasis Kopfkissen feengerecht geformt hatte. Das war eine anstrengende Arbeit, also knurrte der ätherische Magen.

Also rief Jasi:

„Hunger! Wo haben wir unsere Stullen?“

„Stullen?“, kam es empört von Simi.

„Nein, keine Sorge, wir haben auch an dich gedacht. Wir haben Feen-Stullen“, lachte Choi.

Simi war entzückt. Feen-Stullen! Nur für sie. Das schmeichelte überaus.

Tanno schob den Reiseproviant-Korb in die Mitte des Busses zurück, so dass alle hineinlangen konnten. Die Kinder saßen alle auf der Rückbank. Links Jasi, Mitte Choi und rechts Kyr. Einen weiteren Sitz hatten sie in weiser Voraussicht drinnen gelassen. Das war jetzt Simis Platz, mit Jasis Kissen.

„Feen-Stullen? Was ist denn das? So etwas haben wir auch?“, fragte Hanna und blickte in den Rückspiegel.

„Ja. Natürlich, guck!“, Choi hielt die Feen-Stulle hoch und es bröselte, so dass er sie gleich wieder ins Butterbrotpapier zurücklegte.

„Wow! Das sieht ja lecker aus. Nein, Hanna, du musst nach vorn schauen! Ich zeige es dir. Reicht die Feen-Stulle mal nach vorn“, sagte Tanno begeistert.

Feen-Stulle wanderte. Simi verfolgte sie argwöhnisch mit spitzem Mund und spitzen Ohren.

„Ich habe so einen Hunger. Das dauert mir viel zu lange. Wehe, sie beißen in meine Stullis!“, warnte sie.

„Kann ich mal beißen?“, fragte Tanno und sperrte seinen Mund auf.

„Nein!!“, schrien die Kinder alle drei, dass Tanno sich richtig erschrak.

„Okay, okay. Null Problemo. Ich bin ja keine Fee, habe ja meine eigenen Stullen“, meinte er leicht beleidigt und wollte die Feen-Stulle zurückreichen.

„Kannst du sie ganz vorsichig auf das Kissen legen, Papa?“, fragte Choi mit lieber Stimme.

„Sowieso“, meinte Tanno und tat wie gebeten. Hanna grummelte unverstöndliche Worte vor sich hin. Wie ein Pfeil schoss Simi zu ihrer Feen-Stulle und schmatzte laut und genüsslich. Sie war happy. Nach einer halben Stunde hatte sie Teile ihrer Feen-Stulle in kleinste Teilchen zerlegt. Im Elbtunnel dachte sie, es wäre spontan Nacht geworden. Choi erklärte ihr den Elbtunnel, der fast neben dem Alten Elbtunnel unter der Elbe durchführte. Den kannte sie von ihrer Orakeltour letztens.

Sie wusste sofort, wo sie jetzt aus dem Tunnel herauskommen würden, nämlich im Hamburger Hafen. Sie schwehte schnell zu Kyr und rief ganz aufgeregt:

„Dort drüben, schaut nur! Dort waren wir! Dort ist das blaue Haus, auf dem wir Ferro-Wiko kennengelernt haben. Er arbeitet bestimmt jetzt bei dem riesigen Schiff dort. Ob er uns sieht? Ob sie uns sehen?“, fragte Simi in einem liebevollen Ton.

„Vielleicht“, meinte Jasi.

„Schaut ihn euch an! Auf der Brücke vor den blauen Containern von Ferro-Wiko!“, rief Choi mit einem Mal aufgeregt.

„Das ist er!“, rief Jasi und ihre Stimme überschlug sich fast. Sie hatten die Anschnallgurte auf das Äußerste gespannt, um rechts hinaussehen zu können. Simi jubelte.

„Wer ist da?“, fragte Hanna, aber eigentlich wollte sie es nicht wissen.

„Der Brückenkoboldälteste über alle 2.500 Brücken von Hamburg“,

„Ach. 2.500 Brücken!“

„Toll, was ihr alles sehen könnt und wisst. Knorke“, kommentierte Tanno und versuchte auch irgendetwas oder irgendjemanden zu erspähen.

„Du rast auch viel zu schnell. Wir können gar nichts erkennen“, meinte er zu seiner Frau.

„Er winkt uns zu!“, rief Kyr. Alle winkten zurück. Auch Tanno.

„Winken kann man immer, ob man jemanden kennt oder nicht. Freuen sich die Hafenarbeiter“, meinte Tanno zufrieden. Hanna schüttelte nur den Kopf. Wackeldackel. Daswar erst der Anfang, seufz.

Tatsächlich, der Brückenkoboldälteste stand in seiner vollen Größe mit breiten Beinen auf der Brücke, zu erkennen an seiner kurzen Fransenjacke, und winkte ihnen zu. Das Funkeln seiner Augen war bis zur Autobahn zu sehen.

Schon waren sie vorbei.

Sie freuten sich, dass er sich gezeigt hatte. Schließlich unternahmen sie all dies nur für ihn, warum auch immer. Kyr schrieb es Alena, die sofort mit vielen Smileys antwortete.

„Jetzt sind wir einen WH gefahren. Wie oft müssen wir die Strecke noch fahren bis wir da sind?“, fragte Simi.

„Es sind etwa 20 WHs, die wir noch fahren müssen“, sagte Choi. Alle dachten, jetzt käme Protest, aber:

„Wie schön, dann sind wir ja noch lange nicht am Ziel. Ich bin müde“, sagte Simi, gähnte ausgiebigst, schwehte zu ihrer Kissenmulde und rollte sich wohlig, satt und müde neben ihrer Feen-Stulle ein. Eine Hand auf dem Rest der Stulle. Sicher war‘s.

 

„Wieso fahren wir von der Autobahn runter? Machen wir endlich Pause? Ich kann schon nicht mehr sitzen“, fragte Jasi.

„Überraschung!“, rief Tanno, als hätte er die ganzen 3 Stunden Fahrzeit nur auf diesen Augenblick gewartet. Dem war wohl auch so.

Choi und Kyr wachten auf. Simi auch.

„Externsteine? Sind wir schon da?“, fragte Choi.

„Nein, Bad Nenndorf steht hier. Das kann nicht sein. Wir müssen Horn-Bad Meinberg raus. Das ist noch zu früh!“, meinte Kyr, der die Strecke vorher schon genaustens verfolgt hatte.

„Überraschung!“, erschallte es wieder.

„Meint er ein Festmahlshaus?“, blinzelte Simi aus verschlafenen Augen.

„Wir wissen es nicht“, meinte Choi.

„Überraschung!“ Tanno kostete es voll aus.

„Nun ist es aber gut, Tanobakt!“, sagte Hanna leicht genervt. Tanobakt, oh, oh.

„Wir sind gleich da. Es wird euch gefallen. Passt perfekt zu eurem Schulprojekt. Ihr werdet mich lieben!“ Tanno war im siebten Überraschungshimmel, dass es die Kinder kaum aushielten.

Außerdem mussten sie mal.

Sie parkten an einem Park, genau genommen an einem Kurpark, und stiegen aus.

„Fotoapparat nicht vergessen. Viele Fototermine warten! In diese Richtung die Überraschung, in diese Richtung für kleine Jungs und Mädchen!“, rief megafrohgelaunt Tanno. Hanna lächelte nur und hatte auch ein gewisses Funkeln in ihren Augen.

Die Kinder sahen sich ratlos an. Keiner wusste, was jetzt kommen würde, aber sie entschieden sich dennoch für den kurzen Abzweiger in die immergrünen Büsche, denn die anderen hatten noch nicht genug sichtschützendes Laub. Nur Tanno wartete aufgeregt bis endlich alle wieder beisammen waren. Sie gingen durch den Park, einen Weg entlang, der durch eine Wiese führte.

„Seht euch diese Bilder an! Cool sehen die aus. Ganz verwunschene Bilder. Gespenstisch krass. Ist das eine Open-Air-Ausstellung?“, wollte Choi wissen.

„Kann man so sagen. Wartet es ab. Nur noch wenige Meter.“ Tanno machte es richtig spannend.

Dann standen sie plötzlich unter einer Art Baum-Astwerk-Dach-Tunnel-Höhle-Gang-Weg-Allee. Tanno wedelte mit beiden Armen in die Richtung des Weges:

„Willkommen in der Süntelbuchenallee! Sind das besondere Bäume?“

Endlich ist es raus. Er strahlte über alle vier Backen. Alle anderen staunten und Simi schwebte sofort aus Jasis Kapuze zum ersten Baum, Ast, Querast, Querstamm, wie auch immer. Es war nicht klar zu erkennen, wohin was gehörte. Stämme wie Äste wuchsen kreuz und quer, verdrehten sich, verhakten sich. Wuchsen zusammen, wieder auseinander, das alles eher quer als hoch. Die komplette Allee war nicht höher als 15 Meter, dafür aber breit. Sie waren ein Verbund, kaum konnte man einen Anfang oder Ende erkennen. Ein Stamm wuchs hoch, quer und wieder in die Erde zurück, wo er erneut schräg emporwuchs und sich zurückdrehte, einen Seitenast bildete, der sich mit einem anderen Ast verband, verschmolz. Fenster entstanden, Löcher, Türen, Bögen, Brücken, Pfosten, winzige Höhlen, winzige Seen. Stühle, Tische, Bänke, Betten, Schaukeln. Hände, Arme, Beine, Füße, Köpfe, Gesichter, Fratzen, bizarre Wesen.

„Wow! Wie muss das im Sommer hier sein, wenn alle Blätter grün sind. Wie eine große mystische Höhle!“, schwärmte jetzt Jasi.

„Und nachts. Wie ist das erst nachts? Grusel, grusel, mit der richtigen Beleuchtung in grün oder blau oder lila!“, schwärmte Choi.

„Oder in der Dämmerung! Selbst bei hellstem Tageslicht sind hier unendlich viele Gestalten zu erkennen. Es wimmelt voller mystischer Figuren. Schaut hier, und dort! Ein einziges Wunderland!“, schwärmte Kyr.

„Da hast du wahrhaftig recht gehabt, Tanno! Es ist wundervoll hier! Und überall die zarten Blattspitzen. Wir wollen unbedingt noch einmal hierherfahren, wenn alles grün ist. Ich nehme ein Buch mit und setze mich einfach hier hin, oder dorthin, oder dort drüben! Tausend und abertausend schöne Plätze! Selbst ich sehe hier Wesen, die es sonst nicht gibt. Ach, hier verpasst Elisa aber richtig was!“, schwärmte Hanna und zückte als erste ihr Handy, machte ein Selfie mit den krummen Wunderbäumen, wobei sie selbst halb auf einem Querast lag, um möglichst viele Querbäume und Äste mit drauf zu bekommen.

„Mama, ich kann dich auch aufnehmen!“, meinte Jasi und lachte.

„Hier ist ein kleiner Hollerbusch! Ich muss sofort unbedingt Flax holen. Und Sivoobal. Und Egal und ReimHein und…“

„Ist okay, hol sie. Aber nur kurz. Wenn wir weiterfahren, müssen sie wieder zurück, das ist sonst zuviel für…!“, sagte Jasi, während Simi schon verschwunden war und der Rest war sowieso in die Luft geredet. Seufz.

Ja, das war tatsächlich ein feiner Ort für das ätherische Wett-Team.

„Sei locker, lass es fließen“, hörte sie eine Stimme hinter sich, unter sich, über sich, neben sich, um sich herum.

Schon erschienen sie, einer nach dem anderen. Zuerst natürlich Fleißig, was Jasi sofort beruhigte. Überhaupt war sie plötzlich entspannter. Sie freute sich, wie sie sich freuten.

 

Hanna lies sich von nichts beirren und zack, schickte sie ihr Selfie Elisa. Das schien ihr zu gefallen und schickte ihr noch viele hinterher, wobei sie fast auf dem Boden lag, oder zwischen Astgewirren steckte. Sie verwob sich vollkommen in die Struktur der Bäume. Jasi nahm ihre Mutter dabei auf, wie sie fotografierte und schickte es an ihre Gruppe, die sie für die Reisen angelegt hatten. Da waren alle drin: Tanno, Hanna, Choi und Jasi, Elisa, Luigi, Kyr und Alena und die Beifußens.

Hanna war im Rausch. Die bizarren Bäume hatten es ihr angetan und sie redete unablässig mit ihnen. Begrüßte den einen, verneigte sich vor dem anderen, machte einen Knicks, stellte sich vor, stellte ihre Familie vor, tanzte, streichelte alle Äste, die dick und stark waren, obwohl sie parallel zum Boden wuchsen, über mehrere Meter. Dann kamen sie wieder auf dem Boden auf, wurzelten neu und bildeten einen neuen Baum. Kreuz und quer. Zickezacke.

„Ist es nicht unglaublich, wie Mama mit den Baumwesen redet? Es ist wie bei Elisa. Uns verstehen sie nicht, Frau Holles Volk sehen sie nicht, aber die Baumwesen, die ja auch zu Frau Holles Volk gehören, die nehmen sie wahr wie kein anderer“, staunte Choi.

„Mama, nun übertreibst du aber!“, rief Jasi ihr zu. „Ist fast peinlich. Gut, dass keine anderen hier sind“, sagte sie zu den Jungs. Hanna lächelte rüber und schwebte gleich weiter im siebten Bäumehimmel.

„Seht euch Frau Holles Volk an. Simi schweht ganz verliebt hinter deiner Mutter her und macht ihr alles nach! Gefolgt von Fleißig, ReimHein, Gänseblümchenfee, Flax, Egal und über ihr Sivoobal und Hee. Wie eine kunterbunte Schlange! Das braucht dir nicht peinlich sein, Jasi. Freu‘ dich drüber“, sagte Kyr und lächelte entzückt. Aber Jasi war schon beim nächsten Baum und befühlte seine Rinde.

„Oh! Sieh dir Jass an und meinen Vater! Die sind jetzt auch so, so verdreht“, meinte Choi und grinste.

„Hier ist alles ein bisschen verrückter als draußen. Jeder darf so sein wie er will! Jetzt ist Süntelbuchen-Showtime! Oben ist unten, links ist rechts, so, wie es will dreht es sich und wendet es sich. Verbindet es sich und geht hin, wohin es will. Ich liebe sie alle!“, flüsterte Tanno.

„Ich glaube, sie wollen nicht so ein Geschrei. Sie wollen ihre quirlige Ruhe“, flüsterte Tanno weiter und tippelte vorsichtig auf Zehenspitzen weiter.

Er hatte wohl Recht damit, denn selbst Frau Holles Volk verhielt sich leise während sie sich hinter Hanna um Stämme und Äste schlängelten.

„Ich glaube, wir beide sind die einzig Normalen hier. Oder Unnormalen, wenn ich das alles so beobachte“, meinte Choi leise zu Kyr.

„Hier, Jass. Hier ist der Ort für euer Band. Die beiden Bäume, die hier zusammentreffen sagen, dass dies ein guter Ort ist. Sie würden sich freuen“, meinte Hanna, hört, hört! Und staunt, staunt noch mehr!

Jass kam langsam zu ihr, unter einem Ast hindurch, über einen weiteren drüber und wieder sich duckend.

„Gib ihm einen Kuss! Es ist ein Drachenkopf!“, meinte Hanna noch kurz und dort, halte deine Hände hinein und ziehe einen Kreis“, sagte sie noch bevor Jass bei ihr ankam.

„Ja, du hast recht. Kommt alle her. Hier ist wirklich ein guter Ort!“, rief Jasi alle zusammen. Tanno legte nur den Zeigefinger auf seinen Mund und kam mit großen Augen auf Zehenspitzen drunter und drüber herbei.

Sie standen vor einem breiten Baumfenster in Herzform, geformt aus dicken Ästen, oder Stämmen mit drei armdicken Ästen darin, die sich in der Mitte überkreuzten und zum Teil zusammengewachsen waren. Alles war irgendwie miteinander verwachsen. Aus dem einen Ast wuchs ein Ast mit frischen jungen Blättern.

Jasi kramte nach einem grünen Bändsel und umschlang die Mitte des Herzes mit den überkreuzenden Ästen. Es hielt.

Sehr große leise Freude. Foto. Perfekt. Danke.

Süntelbuchen in Bad Nenndorf: Baumbändsel Numero 2.

 

Externsteine, Pauline und die Höhle

Selbstverständlich waren alle Vertreter des Wett-Teams von Frau Holles Volk nach der Süntelbuchenallee nicht zurück in den Wald gereist. Sie meinten, dies würde zu ihrem Training für Eigenverantwortelung zählen, dass sie mitreisen dürften. Das beteuerte Flax mit ernster Miene und Hand auf sein ätherisches Herz. Eigenverantwortelung war ihre neue Bezeichnung für Eigenverantwortung. Heute Abend zu Sonnenuntergang müssten sie sich spätestens bei der Ältesten des Waldes zurückmelden.

Zugegeben, Choi hatte sie mit dem extra für sie eingerichteten Kofferraum des Busses geködert. Allerdings war dies aus purer Not entstanden, weil sie, kaum, dass sie unter der Süntelbuchenallee heraus waren, im Freien anfingen, vollkommen auszuflippen. Hanna war sofort wieder die Alte und wunderte sich argwöhnisch über das Verhalten der Kinder, die in alle Richtungen laut irgendwelche Namen rufend in den Park davonstoben.

„Mama, unter den Süntelbuchen warst du viel entspannter. Wartet doch dort vorn auf uns, bis wir das hier geregelt haben. Wir sind gleich wieder da. Sie müssen das noch lernen“, meinte Jasi im Vorbeirennen, als sie versuchte, Simi einzufangen, die versuchte, die Bäume im Schnee auf der Schautafel in echt zu finden. Allein Gänseblümchenfee lag bei einer Schwester mitten auf der Wiese wie das Auge im Sturm, vollkommen ruhig. Um sie herum tobte alles kreuz und quer.

„Jasi weiß auch nicht, was sie will. Unter den Buchen war es ihr peinlich, dass ich mich dort so wohlfühlte, und jetzt ist es ihr nicht recht, wenn ich nicht mehr herumtanze“, schmollte Hanna und steuerte einen Mammutbaum an, unter dem sie verschwinden wollte. Da war aber schon Tanno. Entsetzt fauchte sie ihn an:
„Musst du unbedingt hier pinkeln? An diesen wunderschönen Baum? Nimm doch eine Straßenlaterne oder was auch immer!“

„Ja, nein, ich konnte hier nicht. Ich hatte nur mal so geschaut. Hier ist es viel zu unruhig“, redete sich Tanno heraus und suchte ein ruhigeres Örtchen. Hanna blieb unter dem Baum und sie wurde sofort wieder entspannter. Die Äste des Mammutbaumes hatten etwas von einem Zelt, das sie von der Umgebung abgrenzte und schützte. Jedenfalls wurde sie schon bald gerufen, nachdem alle Vertreter von Frau Holles Volk ihre Plätze im Kofferraum des Bullys gefunden hatten. Sogar ohne Streit. Zwar wurde jeder Platz begutachtet, aber jeder fühlte sich an dem Platz wohl, wie Betti es ihm oder ihr zugedacht hatte. Ein Glück!

„Betti sollte den ganzen Wald einrichten. Sie denkt einfach an alles!“, freute sich Flax. Allerdings gefiel ihm eins nun doch nicht, nämlich, dass Simi einen riesigen Sitzplatz ganz für sich allein beanspruchen durfte.

„Wieso…?“, startete er die Frage mit einem Blick über die Rückbank zu ihrem Kuschelkissen mit Krümeln ihrer Feen-Stulle, an der sie demonstrativ genüsslich pickte.

„Weil ich die Wurzel-Hüterin bin und die ganze Zeit mitfahre. Ihr seid nur Gäste“, frohlockte sie.

„Und wieso…?“ Blick auf die Feen-Stulle.

„Weil ihr zum Essen nicht eingeplant wart. Seid froh, dass ihr jetzt überhaupt mitfahren dürft. Sonst müsstet ihr wieder in den Wald zu eurem Eingenverantwortelungs-Training“, feixte Simi zurück und plingte frech.

Flax hatte verstanden. Sie hatte ihn in der Hand. Sie brauchte nur der Ältesten des Waldes zu petzen, dass er sich aufwieglerisch verhielt und schon war die Reise für heute beendet. Grummelnd und nach einem Ausweg sinnend zog er sich in seinen Benjamini zurück. Die anderen von Frau Holles Volk waren aber vollstens zufrieden mit sich und der Welt und sie konnten ihre Fahrt fortsetzen.

 

Nächster Stopp: Externsteine. Kyr nickte zufrieden, als sie die richtige Abfahrt nahmen. Vom Parkplatz aus ging es ein kleines Stück des Weges zu Fuß an einem Drachen-Krokodilskopf aus einem dicken Baumstamm geschnitzt vorbei… nein, falsch gedacht, nicht vorbei.

Koboldpause.

Die mussten sie sich erstmal dort austoben. Immerhin konnten die Kinder die ganze Truppe mit List vom Restaurant ein paar Meter vorher ablenken. Glücklicherweise stand der verführerische Wind günstig. Nur Fleißig erhaschte eine kleine wurstige Windböe und liebäugelte mit Pommes und Würstchen. Dann streichelte er seinen Bauch und schüttelte bedauernd seinen Kopf. Der Gürtel passte wieder perfekt in seiner ursprünglichen Weite und das wollte er nicht riskieren, obwohl der Duft einfach wichtelhimmlisch war. Genau im richtigen Moment rief Tanno:

„Seht euch diese Felsen an! Gigantisch! Gigantischer als in meiner Erinnerung. Die müssen gewachsen sein in all den Jahren! Seht euch die an!“

Sofort waren alle neugierigen spitzen Nasen und Ohren samt Fleißigs Knollnase vom Drachen und wichtelhimmlischen Düften abgelenkt und wurden magisch in Tannos Richtung gezogen.

„Halt! Stopp!“, rief Jasi energisch. „Keiner geht weiter, bevor er mir nicht zugehört hat und wir einen Hollerbusch gefunden haben!“

Ein Ehepaar, das gerade an ihnen vorbeigehen wollte, bremste unweigerlich bei dem autoritären Tonfall und beäugte verstohlen diese merkwürdige Famile.

„Das ist wohl ein Spiel, Horst“, erklärte die Frau ihrem Mann.

„So, meinst du? Mit Hollerbüschen? Diesen Ausdruck kenne ich aus meiner Kindheit. Ein Wunder, dass sie ihn kennen, erstens den Ausdruck und zweitens den Busch“, staunte ihr Mann und blickte sich nach Hollerbüschen um, sah aber keinen.

„Wir beobachten sie. Vielleicht meinen sie ja etwas ganz anderes, als wir es kennen. Irgendetwas Modernes?“, meinte die Frau und sie drosselten ihr Tempo unauffällig auffällig.

Das war Hanna natürlich nicht entgangen:

„Jasi, rede mal nicht so laut. Die Leute gucken schon“, sagte sie auffällig laut. Ertappt beschleunigte das Ehepaar wieder sein Tempo, etwas.

Jasi war das egal. Alle Vertreter von Frau Holles Volk hatten sich tatsächlich um sie versammelt und lauschten, während die spitzen Nasen und spitzen Ohren allesamt in Richtung Tanno zeigten. Die Felsen waren noch von den Bäumen verdeckt.

„Es gibt folgende Regeln, damit niemand verlorengeht und wir unsere wichtige Aufgabe stets im Kopf behalten. Nur in eurem Wald könnt ihr tun, was ihr wollt und auch da gibt es Regeln. Wir wollen, dass alle wieder gesund und munter zu Hause ankommen. Also:

1. Wir bleiben alle zusammen.

2. Zuerst suchen wir einen Hollerbusch.

3. Wir suchen eine schöne Stelle für unser Bändsel am Felsen.

4. Wir flippen nicht aus.

5. Wir suchen uns einen Ort zum Treffen.

6. Wir suchen weitere geeignete Orte für Bändsel: schöne Bäume, Seen, Quellen, Berge, Höhlen, Flüsse.

Ihr wisst Bescheid, okay? Wett-Team-Ehrenwort? Hand aufs Herz! Ohne überkreuz!“

Alle hielten rasch ihre Hand, einen Finger, drei Finger, zwei, jeder anders, egal, auf das ätherische und menschliche Herz, denn sie wollten schleunigst zu Tanno.

Kyr und Choi hatten sich zwischen Frau Holles Volk gemischt, ebenso Hanna, die nur so tat. So sah es aus, als würde Jasi mit ihnen reden, obwohl sie eher zur Erde hinunterblickte, oder in den Baum hinauf.

„Ah, es handelt sich um eine Wette, Horst“, freute sich die Frau über die Erkenntnis.

„Trotzdem wissen wir noch nicht, was sie unter Hollerbüschen verstehen“, antwortete ihr Mann skeptisch.

„Ja, wir müssen sie weiter beobachten, Horst“, flüsterte die Frau jetzt verschwörerisch. Die beiden hatten wohl völlig vergessen, weshalb sie ursprünglich hier waren. Ach ja: die Externsteine!

„Wann kommt ihr denn endlich!“, rief Tanno ungeduldig.

Da rannten, hüpften, schwehten, flogen, schwebten schon alle zu ihm und staunten. Sie standen auf der großen Wiese vor riesigen Felsen, die wie eine Reihe Riesenwächter nebeneinanderstanden.

„Rie-sen-wäch-ter!“, rief Fleißig ehrfurchtsvoll.

„Jaa!“, stimmten ihm alle zu und verharrten ebenso ehrfurchsvoll. Keiner bewegte sich weiter.

„Riesenwächter von Frau Holle“, sagte Gänseblümchenfee liebevoll.

Choi, Jasi und Kyr staunten über beides: über das Verhalten von Frau Holles Volk und die gigantischen Felsen.

„Punkt 2: Wir suchen einen Hollerbusch. Gehen wir hier erst einmal entlang und halten die Augen…“, sagte Kyr, da rief Simi:

„Dort oben am Felsen ist einer!“

„Genau! Das könnte ein Hollerbusch sein. Nur, wie sollen wir dort hochkommen? Ihr müsst ihn ja irgendwie markieren“, meinte Jasi. Das Ehepaar blieb abrupt stehen und starrte den Felsen hoch.

„Dass sie den erkennen können? Siehst du ihn, Horst?“, fragte die Frau und scannte weiter die Felsen ab.

„Nein. Sie sind jünger. Haben bessere Augen“, erklärte Horst.

„Aber was meinen sie mit markieren? Meinst du… sie… dort oben?“, fragte die Frau und verrollte ihre Augen sonderbar.

„Wir werden sehen“, sagte Horst, der beschlossen hatte, es den Felsen gleichzutun. Er stand felsenfest mit einer perfekten rundum Aussicht.

„Wir können ja alle klettern, bis auf Fleißig. Wir können ja schon mal hoch und markieren und Fleißig sucht sich rasch einen anderen?“, versuchte es Flax.

„Nein. Alle den gleichen Hollerbusch! Diese Wiese hier vorn ist übrigens ein guter Treffpunkt, falls doch einer verlorengeht“, meinte Jasi.

Tanno war schon ein paar Meter weiter und sagte:

„Seht mal, dort unten am Felsen sind überall Fenster drin! Ah, ein Wächterhäuschen. Ich organisiere das mal, dass wir reinkönnen. Ich entsinne mich schwach, dass dort eine sonderbare Höhle ist, über die sich schon viele ihren wissenschaftlichen oder verträumten Kopf zerbrochen haben. Übrigens über die Externsteine überhaupt. Ich erzähle euch gleich mehr in der Höhle!“

„Wir gehen zum See. Dort vorn sind auch noch Büsche. Vielleicht…“, rief Hanna ihm nach.

„Dort vorn ist einer!“, rief Hee im Vorbeiwehen. „Dort vorn, am See, bei dem sonderbaren Felsen am Fuß des ersten Riesenwächters.“

„Was haben die nur mit den Hollerbüschen? Das ist doch wirklich sehr auffällig, Horst, sag doch mal was! Du stehst so da und bewegst dich nicht“, meinte seine Frau und zerrte an seinem Ärmel. „Komm, ich glaube, sie haben einen gefunden! Wir müssen ihnen folgen.“

Na gut. Horst folgte. Er war auch neugierig, das konnte er nicht leugnen. Wenn das nicht wäre, könnte er wohl ewig an der gleichen Stelle stehen bleiben. Die Felsen hatten so etwas überaus Beruhigendes und Erdverbundenes.

„Tatsächlich! Dort oben auf dem Felsen wächst ein Hollerbusch! Hier sind sogar uralte schiefe Stufen, die hinaufführen. Vielleicht sind auch welche an der anderen Seite… Uuuh!“, rief Choi plötzlich erschrocken aus, als er am Felsen vorbei dessen andere Seite erkunden wollte, weil dort oben Hollerbüsche standen.

Alle standen wie angewurzelt vor der Vorderseite eines etwa zwei Meter hohen Felsens, aus dem von Menschenhand eine große bogenförmige Nische herausgemeißelt worden war. Das Unerwartete war zudem eine Art Badewannen-Sarg im Felsen unter dem Bogen, in den genau die Form eines Erwachsenen hineingearbeitet worden war.

„Das ist ja ein gruseliger Ort“, meinte Hanna und trat einen Schritt zurück.

„Ist das ein Sarg? Hat da mal jemand drinnen gelegen?“, fragte Choi und studierte den Ort neugierig. Sonderbarerweise war von Frau Holles Volk niemad zu sehen. Sie waren wohl hinter dem Felsen.

„Wo sind sie?“, fragte Jasi und suchte sie neben dem Felsen.

„Ah, ja, dort oben seid ihr schon alle. Na, dann markiert mal rasch. Da bin ich aber froh!“, meinte Jasi erleichtert. Kyr und Choi waren kurz vom Sarg abgelenkt und kletterten den kleinen Steinpfad hinauf, der auf jenen Sargfelsen führte.

„Horst, sieh nur! Sie sind dort oben. Dort steht tatsächlich noch ein Holunder. Sie meinen den gleichen Busch, den wir kennen. Ob sie jetzt markieren?“, fragte die Frau ihren Mann und schaute rasch zur Seite, als sich Kyr und Choi zu Frau Holles Volk vor den Hollerbusch stellten. Jene verweilten kurz unter dem Busch, allesamt. Sehr gut. Markiert. Erledigt.

„Markierung erledigt“, rief Kyr runter. Jasi lächelte erleichtert:

„Prima!“

„Haben sie…?“, bohrte die Frau.

„Weiß ich nicht“, meinte der Mann.

„Hast du nicht hingesehen, Horst? Du bist doch ein Mann“, fragte die Frau entrüstet.

„Nein, wieso. Wir wollten nur den Hollerbusch sehen. Ich habe dem Hund zugesehen“, sagte Horst, der Fels.

„Aber…“

„Ist doch egal. Achtung, er kommt!“, rief Horst. Zu spät. Ein Retriever kam geradewegs aus dem flachen Seewasser auf sie zugelaufen und fing an sich zu schütteln.

Hanna und Jasi sprangen rasch zur Seite und die Frau bekam die volle Dusche ab. Von den Hundebesitzern keine Spur. Die waren wohl sicherheitshalber abgetaucht, denn die Frau schimpfte wie ein Rohrspatz, allerdings mehr mit ihrem Mann als mit dem Hund.

Horst musste sich das Grinsen arg unterdrücken und ging einfach auf Chois Frage ein, ob da wohl jemand drinnen gelegen hat:

„Ja, da hat bestimmt mal jemand drinnen gelegen. Aber man weiß es nicht so ganz genau. Es kann mit dem Kreuzigungsrelief zu tun haben, mit der Kapelle, die hier einst stand, mit den Einsiedlern oder Mönchen, die hier in den Höhlen lebten. Jedenfalls hatte die Kirche hier einiges verändert. Die Kirche sagt, es sei die Nachbildung des Grabes von Jesus in Jerusalem. In Verbindung mit dem großen Kreuzabnahmerelief, also dem in den Felsen gemeiselten Bild, welches sich links über der Höhle befindet. Es stellt die Szene dar als Jesus vom Kreuz abgenommen wurde. Daher könnte dieses Bogengrab das Grab von Jesus darstellen, von welchem er dann auferstanden war.

Es kann aber eben auch ein Grab gewesen sein, wie es die frühen Christen um das 3. oder 4. Jahrhundert in den römischen Katakomben genutzt haben. Bogengräber. Es fehlt allein der Sargdeckel.

Die Höhle hier schräg über uns soll etwa vor 1.000 Jahren entstanden sein. Wahrscheinlich haben sie eine bereits vorhandene Höhle erweitert, oder mehrere. Manche Mönche oder Einsiedler nutzen derartige Höhlen auch heute noch gern, übrigens weltweit, weil sie durch das Leben in der Natur und Abgeschiedenheit ihre Nähe zu Gott, dem großen Geist oder wie auch immer finden wollen. Oder eben einfach zur Natur. Zu jener Zeit wurde ein Altar in der Höhle errichtet und damit wurde diese christianisiert. Was vorher war, weiß man eben nicht. An den Felsen haben sich leider schon viele ausgetobt. Obwohl es nur Stein ist, erfuhren diese Felsen unzählige Veränderungen im Laufe der Zeiten. Es ist alles zigmal umgestaltet worden. Das erkennen wir auch an den unterschiedlichen Bearbeitungsspuren und den vielen Löchern für Holzbalken. Jetzt ist es daher kaum möglich zu erfahren, was vorher dort geschehen war.“

Er hatte etwas zu Lehrerhaftes an sich, das die Kinder etwas skeptisch schauen ließ. Samt Frau Holles Volk, das sich oben auf dem Bogengrab an der Stelle aufhielt, zu der die Treppen von beiden Seiten des Felsen hinführten. Okay, Sivoobal befand sich schon auf dem Weg zur Felsspitze des ersten Wächterfelsens und Hee umwehte ihn dabei mit einer Böe Freundinnen.

„Ich suche schon mal einen geeigneten Ort für das Bändsel!“, rief er unterwegs runter.

Fleißig positionierte sich selbstverständlich mittlerweile direkt vor Horst.

„Interessant, was den Menschen so alles einfällt“, staunte er und wartete auf die Fortführung des Vortrages.

Hanna wollte eigentlich weiter, aber auch nicht unhöflich sein und nickte pseudointeressiert, schließlich konnten die Kinder hier ja etwas lernen.

Allein Tanno war ernsthaft begeistert, der sich gerade zur rechten Zeit wieder zu ihnen gesellte:

„Vielleicht stammt aber auch alles aus vorchristlichen Zeiten, welches dann durch die Hand der Kirche verändert wurde. Das haben sie ja seinerzeit überall so gehandhabt. Besonders Karl der Große war da im 8./9. Jahrhundert sehr umtriebig. Vielleicht auch hier. Ich meine, überall auf der Welt wurden Stätten verändert, wenn sich der Glaube verändert hatte. So haben sie auch hier in unserer Region versucht, alle heidnischen Plätze zu vernichten oder sie haben sie auf sich selbst zugeschneidert.“

„Meinen Sie wirklich?“, sagte die Frau mit leicht spitzem Mund.

„Ja, alles ist möglich. Natürlich. Funde aus der Altsteinzeit, also etwa vor 12.000 Jahren, belegen, dass diese Gegend hier besiedelt war. Also ist es durchaus möglich, dass solch ein markanter Ort schon immer ein Zentrum für rituelle Zwecke gewesen war, die damals der Verehrung der Natur und ihrer Kräfte gedient hatten, wie auch immer sie sie sahen und nannten. Diese Felsen sind schon sehr herausragend.

Zudem führte hier auch eine alte Handelsstraße vorbei.“

Lehrer Horst nickte ihm anerkennend zu und übernahm das Wort:

„Oben auf dem Turmfelsen sind Reste einer Höhenkammer. Man muss sich natürlich die Holzwände noch vorstellen, die einst dazugehörten. Sensationell ist ein rundes in den Felsen gehauenes Fenster über eine Art Altar. Dieses Fenster ist exakt zum Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende ausgerichtet. Wie ein Himmelsauge. Wer weiß, ob das die damaligen Christen geschaffen haben, oder Menschen zuvor. Dieses Fenster erinnert ein bisschen an die Himmelsscheibe von Nebra, wegen der Himmelsausrichtungen. Kennen sie diese? Auch sensationell“, erklärte Lehrer Horst.

Die beiden, Sensationell-Horst und Tanno hatten sich mittlerweile auf den Sargrand gesetzt und palaverten weiter. Die Frauen standen unschlüssig daneben.

„Aber der See ist von einer Frau. Das weiß man genau“, sagte die Frau zu Hanna.

ReimHein wollte sich gerade abwenden und mit Egal und Flax auf Erkundungstour gehen, da hielt ihn der hübsche Reim natürlich wieder zurück.

„Wollten wir nicht in diese Höhle?“, unterbrach Jasi.

„Gleich. Ich will noch kurz erfahren, was der See mit welcher Frau zu tun hat“, meinte Hanna, der Frau freundlich zulächelnd.

Bei dem Wort See klingelte es spontan in Jasis, Chois und Kyrs Ohren und die drei gingen lächelnd ein paar Schritte zurück zu einem Baum direkt am See. Hanna verfolgte sie mit einem Auge. Jasi fuchtelte nach einem blauen Bändsel und hängte es an einen Ast über dem Wasser. Hielt nicht. Alle guten Dinge sind drei. Trotzdem nicht.

„Da ist etwas faul mit dem See. Zu jung, nicht echt, künstlich. Dabei sieht er so aus, als wäre er schon immer hier gewesen. Es passt alles perfekt zusammen“, meinte Jasi, während sie leicht enttäuscht zurückgingen.

„Wir versuchen es trotzdem mit der Höhle, okay? Wenn hier eventuell schon lange eine Höhle war, bevor sie von Menschen noch erweitert wurde, dann wird das Höhlenbändsel zufrieden sein“, sagte Kyr und die beiden anderen stimmten ihm zu.

„Der See ist der Höchstseligen Fürstin Pauline zur Lippe zu verdanken. Sie wollte die Gegend verschönern und 1837 wurde schließlich der Bau des Dammes vollendet, der die Wiembecke aufstaut“, erklärte gerade die Frau. Blicke. Aha. Wegen Pauline hielt das Bändsel nicht. Trotzdem schöne Idee von Pauline.

„Das hätte ich euch gleich sagen können“, hörten sie von hinter sich aus dem See.

„Oh ja, liebe Seefee Sybilla! Wir werden beim nächsten Mal daran denken, vielen Dank“, sagte Choi liebevoll. Er bekam immer gleich solch einen liebevollen Ton, wenn er mit Seefeen sprach.

„Ihr dürft mich Sybilla-Pauline nennen. Sie war solch eine reizende romantische Frau und ihr zu Ehren will ich auf immer so heißen“, sagte Seefee Sybilla-Pauline.

„Sehr gern, Sybilla-Pauline!“, sagte Choi.

„Nein, nur Pauline hieß sie. Fürstin Pauline zur Lippe“, korrigierte die Lehrer-Frau. Anstrengend. Sie fuhr fort:

„Rüpel haben den Teich Anfang des letzten Jahrhunderts wieder abgelassen. Magische Orte ziehen auch immer wieder Leute an, die die Magie nicht wirklich verstehen. Hier fuhr sogar mal eine Straßenbahn hindurch! Mitten durch diese stattlichen Felsen! Unfassbar, nicht wahr?“, sagte die Frau mit Riesenaugen, die Simi auch gleich hatte. Simi saß sofort wieder auf Jasis Schulter. Bei den Augen war ihr unwohl, überhaupt, gefiel ihr das hier nicht sonderlich.

„Eine Straßenbahn!“, wiederholte Hanna höflich erstaunt.

„Ja, eine Straßenbahn. Mitten durch die Felsen. Sehen Sie, dort, wo jetzt ein Fußweg durchführt. Über 20 Jahre lang. Unglaublich. Aber seit etwa 60 Jahren haben sie diesen romantischen Teich von Pauline zur Lippe wieder angelegt. Hat also ein gutes Ende gefunden“, sagte die Frau zufrieden.

„Wir wollen in die Höhle!“, quängelte Choi.

„Ja, die Kinder wollen weiter. War nett, mit ihnen zu plaudern. Sehr interessant“, verabschiedete sich Hanna höflich.

„Oh ja, 70 Millionen Jahre sind schon ein stattliches Alter für die Riesen!“, sagte Tanno und erhob sich. Fleißig war begeistert. Er wusste es, es waren Riesen. Aber so alt, das hätte er nie gedacht. Da müsste doch auch irgendwo ein Cousin oder eine Cousine zu finden sein?

„Es sind wahrhaftig räselhafte Spuren und Zeichen, die hier überall zu finden sind. Sogar Runen, wer weiß wie alt. Eine Höhle, die von Menschen in Stein geschlagen wurde. Ein Sarkophag. Das Kreuzigungsrelief. In den Felsen gehauene Treppen, eine Höhenkammer im Turmfelsen. Das Himmelsauge. Wissen Sie, wie man diese Felsenformationen nennt?“, fragte Horst.

„Nein, und das wollen wir auch jetzt nicht wissen“, flüsterte Choi zu Jasi. Sie waren schon etwas vorgegangen, um die trägen Erwachsenen mit sich zu ziehen. Aber der Sensationell-Lehrer Horst mit seiner durchdringenden Lehrerstimme war überall zu hören.

„Nein. Wissen Sie es?“, fragte natürlich Tanno. Allein Fleißig freute sich und hechtete mit seinen kleinen Beinchen hinter Horst her. Kyr bemerkte, dass Fleißig kaum das Tempo halten konnte und bot ihm seinen Rucksack an. Diese Höhe kannte er von Alena jetzt bestens und stellte sich sogar so auf Kyrs Rucksack, dass er ihm bequem über die Schultern gucken konnte.

„Es handelt sich um eine zerklüftete Wollsackverwitterung aus Granit und hartem Sandstein, weil es aussieht wie vollgestopfte Säcke mit Schafwolle, eben ohnen Ecken und Kanten, rund geschliffen. Waren Sie schon im Höhlenfelsen? Es ist sehr zu empfehlen“, fragte Lehrer Horst.

„Wir kommen gern mit. Wir waren schon lange nicht mehr dort, nicht wahr, Horst?“, fügte die Lehrerfrau rasch hinzu. Hanna seufzte innerlich.

„Wunderbar, dann wollen wir uns die Höhlen gemeinsam ansehen. Kommt alle, hier entlang!“, rief Tanno fröhlich. Die Kinder standen schon am Drehkreuz zum Höhlenfelsen.

Lehrer Horst begann ganz wichtig, kaum, dass sie im ersten Höhlenraum standen:

„Die Höhle besteht aus drei Räumen, die zum Teil durch Ausbrennen vergrößert worden waren. Ganz genau, ausbrennen. Sie haben richtig gehört. Wenn ich mich recht entsinne, haben das die Kelten weit vor Christi Geburt schon praktiziert. Der Sandstein wird dadurch poröser und lässt sich besser bearbeiten. Im Jahre 1155 wurde hier eine Kapelle geweiht. Direkt hinter dieser Wand befindet sich das Kreuzabnahmerelief, das wir draußen schon bewundert haben und einzigartig ist im Norden Europas. Begnadete Mönche haben wohl diese steinhauerliche Meisterleistung vollbracht. Übrigens gab es im Mittelalter viele Klöster in dieser Gegend.“

Hanna überlegte indes, was sie heute Abend bei Tannos Bruder zu essen bekommen würden. Tanno nickte beeindruckt. Er liebte Vorträge und vergaß die Welt um sich herum.

Fleißig nahm sofort wieder eine korrekte Haltung an. Die Erklärgeste konnte er nicht anbringen, weil er sich weiter an Kyrs Kragen festhalten musste. Hee und Sivoobal waren irgendwo oben auf den Felsen. Egal und ReimHein strollten zufrieden in der Höhle herum. Im Felsen war es ein bisschen wie unter der Erde, nur, dass die Erde fehlte. Aber es roch modrig, das mochten beide. ReimHein suchte nur vergeblich nach Wurzeln, die normalerweise immer irgendwo Steine durchdrangen. Hier handelte es sich aber alles um massiven bearbeiteten Fels mit vielen Vertiefungen im Boden, in der Decke als Kuppel, in den Wänden. Mit mittelalterlichen Gravuren und einer Figur mit Schlüssel gleich am Eingang, die Simi so gar nicht mochte, genauso wenig wie die Fratze in der Haupthöhle.

Gänseblümchenfee lag draußen, mitten auf der Wiese bei einer Schwester und überließ den anderen die Erkundungstouren. Sie markierte quasi den Treffpunkt. Simi war auf Jasis Schulter. Sie mochte diesen Ort nicht und wollte schnell wieder raus.

„Du wolltest doch ein Bändsel hier hinhängen. Das wollen wir jetzt schnell erledigen, weil wir uns noch um das Felsenbändsel oben kümmern müssen. Flax ist auch nicht da. Er muss irgendwo draußen sein. Ich will ihn suchen. Nun mach schon, Jasi. Das dauert alles viel zu lang hier in diesem kohomischen Steinloch“, maulte sie.

„Dann hilf mir, hier einen Ort zu finden, wo das Bändsel sich wohlfühlt, dann können wir hier wieder raus und die Stufen nach oben erklimmen“, ermutigte Jasi die Chamäleonfee.

Das lenkte ihren Unmut ab und sie schwehte rasch von einer Kammer zur anderen.

„Ich weiß gar nicht, warum ich keinen meiner Cousins hier treffe. Wo sind sie nur alle?“, fragte sich Fleißig plötzlich. Er langweilte sich nun doch, weil nichts Besonderes außer Kirche, Kapelle, Kloster, Pilgerstätte und Einsiedelei gesagt wurde. Horst wirbelte nur so mit Jahreszahlen herum und es war schnell klar, dass nichts Genaues mehr erklärt werden konnte, alles Mutmaßungen. Älteres an diesem Ort konnte weder durch Funde noch durch Messungen bewiesen werden.

Als Simi aus dem in den Stein gehauenen Fensterloch hinunterschaute rief sie:

„Schau mal, dort unten ist dieser komische Leichenstein, den ich…. Iiiihhh!“, schrie sie plötzlich auf. Fleißig hielt sich den Bauch vor Lachen. Flax war plötzlich außen vor dem Fenster aufgetaucht und hatte Simi damit erschreckt.

„Das war dafür, dass du mich Flax genannt hast. Hast wohl gedacht, ich kriege das nicht mit!“ Schon war er wieder verschwunden.

„Oh… Du… Warte nur, wenn ich dich erwische… Du Flax du!“, rief sie wütend plingend aus dem Fensterloch.

Jasi musste ihr Lachen rasch unterdrücken, denn, wenn eine Fee auf Zinne war, oh, oh, dann durfte man nicht noch Salz in die Wunde streuen. Sie rief die beiden:

„Kommt mal mit. Ich glaube, Choi hat einen Ort für unser Bändsel gefunden. Er hat recht, wenn er meint, es müsse ja die möglichst älteste Stelle sein, wo vielleicht früher einmal eine natürliche Höhle im Felsen war, bevor die Menschen hier herumgekratzt und gefeuert haben.“

„Das ist so ähnlich wie bei der Lichterhöhle vom Sandhampel im Elbsandsteingebirge. Da haben sie Sand herausgekratzt und die Höhle damit richtig vergrößert. Aber es war ursprünglich eine alte Höhle, also hat das Bändsel dort gehalten. Schaun wir mal, wie es hier ist. Außerdem muss hier mindestens eine Höhle dabeisein, bei solch prächtigen Felsen. Das spüre ich“, nickte Fleißig eifrig.

Die drei Kinder durchforsteten die drei Höhlen, die durch niedrige Gänge verbunden waren und fanden keinen Ort für das Bändsel.

„Es ist alles so glatt hier. Keine Ritzen oder Ecken“, sagte Choi und zuckte mit seinen Schultern.

„Seht mal, dieses Zeichen, das aussieht wie Vogelbeine ohne Vogel“, meinte Jasi, da rief Horst von nebenan:

„Das sind wohl Runenzeichen. Weiß man aber nicht genau.“

Die drei verrollten ihre Augen. Auch Hanna, die sich lieber zu den Kindern mit ihren Unsichtbaren gesellte, als weiter einen Vortrag zu hören. Hört, hört!

„Okay, Jass. Dann klemm das Bändsel doch hier einfach mal ein. Hier ist ein kleiner Spalt“, sagte Choi.

„Liebe Höhle, magst du unser Bändsel annehmen?“, fragte Jasi und Hanna lauschte.

Das Bändsel hielt vorerst, schien aber noch zu überlegen und rutschte dann doch langsam zu Boden. Hee wehte mit einen kleinen Böe Windfeefreundinnen durch die Gitterstäbe der fest verankerten Eisentür herein und wirbelten sanft um das Bändsel.

Hanna staunte und ging intuitiv aus dem Weg. Das Bändsel schwebte sanft am Boden entlang. Zack. Horst trat drauf. Dieser Unwissende!

„Entschuldigung. Könnten sie kurz Ihren rechten Fuß heben. Mir ist da mein Band heruntergefallen“, fragte Kyr höflich.

„Oh, ja, natürlich!“ Irritiert machte Horst einen großen Schritt zur Seite. „Hier zieht es auf einmal so? Ach, wo war ich stehen geblieben?“

Tanno hatte aufgepasst und half ihm auf die Sprünge:

„Beim Lippischen Landesherrn Graf Hermann Adolf zu Lippe-Detmold, der im 17. Jahrhundert diese Region in seinen Besitz…“

Hee und ihre Freundinnen wehten das Band weiter bis in die erste Höhle und mit einem kurzen Wirbel blieb das Bändsel tatsächlich an einer Stelle in der Höhle hängen.

Hanna klatschte begeistert:

„Es hat sich seinen Platz selbst gesucht! Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte! Aber hier ist natürlich auch Durchzug, überall Türlöcher. Aber der Wirbel hier hoch war bestimmt ein feeischer Zauber. Toll!“

„Ja, hier sieht es nicht ganz so bearbeitet aus wie die anderen Flächen. Vielleicht war hier der älteste Teil, von wo aus diese Höhle erweitert wurde. Eigentlich waren es ursprünglich sogar drei Höhlen, die später miteinander verbunden wurden. Also müsste ja bei jeder Höhle ein ältester Ort zu finden sein. Denn die alten Kelten haben sicher nicht einfach so drei Höhlen nebeneinander in den Felsen gemeiselt. Das wäre ja ein Generationenprojekt gewesen. Es müssen ja schon kleine Höhlen im Ansatz vorhanden gewesen sein. Jetzt rede ich schon wie Lehrer Horst oder Papa“, meinte Choi.

„War er überhaupt Lehrer?“, fragte sich Kyr.

„Lehrer für Deutsch und Geschichte an Realschule und Gymnasien in Bielefeld“, kam die Antwort von nebenan.

Die Kinder grinsten. Hanna auch.

Hanna fragte so ganz nebenbei:

„Müsst ihr nicht noch ein Foto aufnehmen? Für die Schule?“

Na klar doch. Positionieren, Bändsel und Mutter in die Mitte, Rest drumherum.

Höhle in Externsteinen: Höhlenbändsel Numero 3!

„Alena und die Beifußens werden sich freuen. Es geht weiter!“, freute sich Kyr und schickte ihnen das Höhlenbändselfoto.

„Wieso eigentlich auch Alena? Sie geht doch gar nicht in eure Schule?“, fragte Hanna im Modus Argwohn.

„Sie hilft uns ein bisschen. Im Elbsandsteingebirge hat sie Fotos gemacht. Die zeigen wir in der Schule und sagen, dass sie von Alena sind. Es ist bestimmt auch interessant für die anderen“, argumentierte Kyr.

„Dann könnt ihr auch all unsere Urlaubsfotos mitnehmen“, kam Tanno mit dieser blendenden Idee aus der Höhle nebenan.

„Nein, Papa. Das geht nicht. Es sollen doch keine Fotos aus dem letzten Jahrtausend sein, sondern von jetzt und außerdem auch digital. Wir bekommen schon allein ganz viel zusammen“, meinte Jasi und rasch darauf:

„Jetzt wollen wir hoch auf den Felsen!“

 

Polleneese Holleneese

„Gleich hier neben dem Höhleneingang führt eine Steintreppe hoch zum Plateau. Dort haben sie den Felsen damals geplättet“, wusste dieses Mal Frau Lehrer Horst zu berichten. Sogleich verliessen alle die Höhle und stiegen die Treppen hinauf. Schnell waren die Kinder oben, begrüßt von den beiden strahlenden Kobolden Sivoobal und Flax.

„Ist das nicht wunderbar? Solche Felsengipfel sind der absolute Hit! Ich kann hier von Gipfel zu Gipfel springen, seht zu!“, rief Sivoobal und sprang los. Natürlich verloren sie ihn sofort aus den Augen, weil er hinter dem nächsten Gipfel verschwunden war. Kam aber gleich wieder zurückgesprungen, überglücklich.

„Jetzt bist du nicht nur ein Wipfelkobold, sondern auch ein Gipfelkobold! Zu Hause kriegst du eine Urkunde! Gratulation, Sivoobal!“, beglückwünschten ihn Choi und alle anderen.

Sivoobal grinste und fragte:

„Urkunde, ist das was zum Essen? Oder ein tolles blubberndes Getränk?“

Choi lachte und meinte:

„Lass dich überraschen!“

Das war etwas für Kobolde. Die Urkunde wurde nun ausgiebigst diskutiert, alle Möglichkeiten durchsponnen. Es konnte nach allem Abwägen eigentlich nur etwas Fantastisches aus dem Reich der menschlichen Speisen und Getränke sein.

„Mit einem Stück Papier kannst du ihm jetzt nicht mehr kommen“, lachte Jasi.

„Das Felsenbändsel bitte schön!“, erinnerte sie Simi. Sie hörten schon die Lehrerstimme nahen, was alle zum unverzüglichen Handeln veranlasste.

An das Geländer oder zwischen die Felsbrocken hinter dem Geländer? Einfach probiert. Festgebunden. Kurz gewackelt. Eine Windbö. Kreisel um die Kinder, die sprangen hoch, wollten es fangen. Wollte es aber nicht. Wehte weiter. Hinüber zum nächsten Felsen. Klar. Dort war ein Felsenfenster. Da blieb es liegen. Erstmal. Toll.

„Schnell. Wir müssen rüber!“, rief Jasi und alle rannten panisch los. Sie drängelten an den verdutzten Erwachsenen vorbei, die enge steile Treppe hinunter. Hetz, hetz, vom Höhlenfelsen hinunter. Zum Felsen nebenan, der Treppenfelsen genannt wurde, obwohl hier beim ersten Felsen auch Treppen waren.

Über die Treppenfelsentreppen gelangten sie über eine kleine schwindelerregende Eisenbrücke auf den Felsen nebenan, den Turmfelsen. Irritiert standen sie da und wunderten sich. Hier war wohl einst besagte Höhenkammer. Unten Höhlenkammern und hier eine Höhenkammer. Richtig gerade Wände waren in den Felsen gehauen worden. Da war das runde Fenster mit einer dubiosen Säule davor, die die meisten Altar nannten. Konnte genauso gut ein Sitzplatz zur Beobachtung gewesen sein.

„Das ist das Himmelsauge, von dem Lehrer Horst gesprochen hatte. Von hier soll man also den Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende exakt beobachten können. Was hatten die Sonnenstrahlen nur damals angestrahlt?“, überlegte Choi und kraulte seinen nicht vorhandenen Bart.

„Huhu!“, rief Jasi. Sie winkte durch ein weiteres Loch, das anscheinend ein von Menschenhand geschaffenes Fenster gewesen war. Alle schauten durch das Fenster und direkt hinüber zur Plattform auf dem Höhlenfelsen. Dort standen jetzt Tanno und Hanna, das Lehrerehepaar im Schlepptau. Alle winkten ihnen zu. Hannas Blick wirkte fast sehnsüchtig.

„Mama tut mir ein bisschen leid“, meinte Jasi.

„Seht, seht! Hier liegen überall Centstücke und anderes Geld. Tss. Soll wohl Glück bringen. Und mittendrin liegt unser rotes Bergbändsel, toll“, rief Kyr erfreut. Aber nicht lange. Das Bändsel bewegte sich wieder.

„Oh nein! Nicht schon wieder! Wo willst du hin? Hier ist es doch so schön!“, rief Choi dem Bändsel zu. Nutzte nichts. Es wollte sich einen anderen Platz suchen. Weg war es.

„Schnell, wir müssen wieder hinunter. Oh, seht, es fliegt am Himmelsauge vorbei. Wir müssen zurück über die Brücke. Kommt!“, rief Jasi und setzte sich in Bewegung. Auf der anderen Seite der Brücke angekommen bremste sie abrupt. Da stand Fleißig mit günem Gesicht, der klammerte sich an den Brückenpfeiler und bewegte sich nicht.

„Oh, Fleißig! Oh, entschuldige! Wir haben schon wieder total vergessen, dass du diese Höhen nicht magst. Komm, schnell in meinen Rucksack“, sagte Kyr leicht panisch, hockte sich vor den Wichtel und versperrte ihm den Blick zur Brücke und was darunter lag. Langsam löste sich der Wichtel von seinem Platz und krabbelte in Kyrs Rucksack. Drinnen hörten sie ein erleichtertes Seufzen. Da seufzten alle erleichtert.

„Jetzt schauen wir erst einmal, wo alle sind, dann suchen wir weiter. Gänseblümchenfee ist noch auf der Wiese. Der kleine leuchtende Punkt dort unten, das müsste sie sein. Simi ist hier auf meiner Schulter und Fleißig in deinem Rucksack“, versuchte Jasi, sich und damit alle zu sammeln.

„Wir beide sind hier oben und Hee fegt auch immer hier vorbei“, rief Flax von über ihnen.

„Egal und ReimHein sind in einer Felsspalte mit Wurzeln neben der Höhle unten“, rief Hee im Vorbeiwehen. „Und das Bändsel ist hier vorn! Seht, kurz unter euch!“

Alle drängelten sich ans Geländer und siehe da: Da hing das rote Felsenbändsel fest an einem kleinen Busch an der Felswand.

Externsteine: Felsenbändsel Numero 3.

„Es hängt an einem Hollerbusch! Wie schön!“, rief Jasi beglückt und alle klatschten erleichtert ein.

„Huhu, Mama!“, schrie Choi runter. „Mach mal ein Foto von uns hier oben!“

Klar machte sie das. Mit dem fröhlichen Bändsel, das sie nicht sah.

Sie drängelten wieder an gefühlten tausend Leuten die Treppe hinunter. Tanno, Hanna und das überengagierte Lehrerehepaar kamen ihnen entgegen. Hanna sah so gar nicht glücklich aus. Das konnte man ja nicht länger mit ansehen. Jasi kam zur Rettung:

„Mama, ich habe irgendwo meinen roten Glitzi-Lieblingsstift verloren. In der Höhle unten hatte ich ihn noch. Hier aber nicht mehr. Kannst uns suchen helfen? Du hast immer solch eine gute Findernase.“

„Frau Hanna, die Höhenkammer dürfen Sie sich nicht entgegehen lassen!“, versuchte Frau Lehrer Horst, sie zurückzuhalten.

„Die Kinder haben viele Aufnahmen gemacht, die ich mir ansehen kann. Ich helfe eben suchen. Wenn wir den Stift gleich gefunden haben, komme ich hinterher. Bis gleich“, sagte sie und drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie rannte fast die Treppen runter.

„Ein Herz für Mütter, was?“, grinste Choi.

„Ich weiß auch nicht. Sie sind ja sehr nett und Tanno fährt voll auf sie ab, aber ich kann gar nicht mehr zuhören. Es ist einfach zu viel. Ich gehe lieber herum und freue mich so an allem. Ich muss nicht immer wissen, was, wann, wo, von wem“, sagte sie schulterzuckend.

„Nun weißt du, wie es uns in der Schule geht“, lachte Choi.

„Das ist etwas völlig anderes!“, protestierte Hanna, ganz Mama.

Sie waren unten angekommen. Sie mussten sogar noch kurz in die Richtung der Höhle zurückgehen, um nach ReimHein und Egal zu schauen. Die saßen tatsächlich immer noch in der Felsspalte und ließen es sich gutgehen. Als Kyr meinte, sie wollten die Felsen entlang in die andere Richtung gehen, auch unter den Bäumen durch, wo auch noch Felsen herausschauten, kamen sie natürlich mit. Auch Gänseblümchenfee gesellte sich wieder zu ihnen. Die ätherische Familie war komplett. Jasi atmete tief durch. Auf dem Felsen weiter vorn sahen sie natürlich auch Leute sitzen. Es war zu viel los hier.

Erst schauten sie sich aber noch die andere Seite der Felsformation an und gingen quasi den ehemalige Straßenbahn-Weg zwischen dem Treppenfelsen und dem Wackelsteinfelsen hindurch auf die andere Seite. Tatsächlich. Alles sah ursprünglicher aus. Hier konnte man noch mehr Gesichter in den Felsen erkennen, insbesondere Tiere. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. So musste die andere Seite auch einmal ausgesehen haben, bevor sie nach und nach geschliffen und verformt worden war.

Sie gingen wieder zurück durch die Passage und nach rechts den Weg vor den Felsen entlang.

„Früher haben sie einfach nur den Stein sprechen lassen und das noch deutlicher hervorgehoben, was der Stein schon vorgezeichnet hat. Es gibt Bildhauer und Steinmetze auch heute, die das können. Sie erfühlen das. Das hat Tanno erzählt. Damit kann ich mehr anfangen, auch wenn ich Buchhalterin bin. Es ärgert mich auch, dass immer alles so extrem ist, dass einfach ein Kunstwerk übergemalt oder überbaut oder zermeißelt wird, nur weil an etwas anderes geglaubt wird, ob politisch oder religiös. Wenn es keinem wirklich schadet, dann kann doch alles nebeneinander existieren. Naja. Egal. Wollen wir hier mal schräg nach oben in den Wald? Irgendwie muss man ja auf diesen Felsen dort kommen“, schlug Hanna vor. Es dauerte nicht lang, da saßen sie auf dem Felsen, den sie von unten angepeilt hatten. Und – sie waren tatsächlich mal allein mit ihrer schönen Aussicht.

Zeit für Selfies.

Dann gingen sie weiter durch den Wald, querfeldein. Hanna war wie ausgewechselt. Es war ihr Lieblingsthema.

„Seht euch diesen Baum an! Die küssen sich! Foto!“, rief sie. „Und wenn man quer guckt, dann sind es zwei Augen. Wie schön!“ Sie schlenderte weiter und kam schon wieder in eine Art Tanz.

Die Kinder grinsten sich an. Denn wieder zog sie das komplette Wett-Team von Frau Holles Volk hinter sich her, ohne es zu merken. Es tauchten nach und nach noch weitere Waldbewohner auf, die sich ihnen anschlossen.

„Mama, wenn du das sehen könntest. Du führst eine richtige Polonaise Blankenese an. Kommt, wir machen auch mit!“, rief Jasi und nichts war ihr mehr peinlich. Nun, es waren auch keine anderen da.

„Frau Holles Volk, schaut, so machen wir das!“ Jasi fasste die Schultern von ihrer Mutter, hinter ihr Choi, dann Kyr und dann, ja dann begann der neue Volkstanz für Frau Holles Volk – die Polloneese-Holleneese! Oft in drei Reihen übereinander, fliegend, schwebend, schwehend, gehend oder durch das Wurzelreich hüpfend. Die Wurzelkobolde kamen mal nach oben, mal tauchten sie wieder ab. Es war ein riesiges ätherisches Volksfest.

Sie tanzten um den nächsten besonderen Baum. Der Stamm war sonderbar gespalten, breit auf der einen Seite, schmal auf der anderen. Das so entstandene längliche Loch war etwa mannshoch bevor er wieder zusammengewachsen war und oben eine Blätterkrone bildete.

Das war natürlich wieder eine Gaudi, denn beim Tanz um den Baum gab es ein riesiges Durcheinander wegen der langen Tanzreihen. Aber Hanna merkte das nicht. Sie peilte schon den nächsten Baum an und stoppte abrupt. Natürlich, war klar, alle liefen auf. Eine Riesengaudi! Doch plötzlich waren alle mucksmäuschenstill.

Sie blickte auf eine Buche, deren Stamm sich noch unter der Erde zu teilen schien, die sich weit öffnete und eine ganz besondere Form hatte.

„Es gibt noch andere Schulprojekte und Baumverehrer!“, sagte Hanna strahlend.

Denn an dem Baum baumelten bereits vergnügt einige bunte Bändsel.

„Das ist eindeutig ein Wunsch-Baum!“, stellte sie glücklich fest. Die Kinder staunten. Die komplette ätherische Polleneese-Holleneese-Gesellschaft verteilte sich unter, im und über dem Baum. Sie blickten erwartungsvoll auf Jasi.

„Warum sehen sie mich so an? Was soll ich tun?“, fragte sie irritiert. Aber die Ätherischen schwiegen.

„Du trägst die Bändsel, Jass. Du hast auch grüne Baumbändsel mit. Ich glaube, das ist ein Ort für ein Bändsel“, meinte Choi.

„Wenn nicht hier, wo sonst?“, sagte Kyr.

„Natürlich ist das ein perfekter Ort für eure Bändsel. Er hat uns gerufen!“, sprach die Buchhalterin Hanna. Hört, hört! Der Wald verwandelte sie vollkommen.

„Hast du auch ein Stück für mich? Ich möchte einen Wunsch anbinden und der Wind trägt ihn dann in alle Himmelsrichtungen. Das machen die Tibeter mit ihren Gebetsfähnchen auch“, fragte sie fröhlich.

Jasi kramte in ihrer Tasche und zog ein grünes Bändsel heraus, und zog und zog. Es wurde immer länger.

„Komisch. Ich dachte, Betti hätte alle in gleiche Längen geschnitten“, sagte sie und da war das Ende in Sicht.

„Ist doch klar. Es soll genug für uns alle sein. Ich habe mein Schweizer Taschenmesser mit. Da ist eine kleine Schere dran“, meinte Hanna vollkommen selbstverständlich, holte es heraus und klappte die Schere aus. Fleißig und seinesgleichen, es waren sieben weitere Wichtel und Wichteldamen, hatten Herzchen in ihren Augen, als sie dieses praktische Werzeug erblickten. Das musste Hanna gut festhalten, denn so manch einer oder eine hatte es insgeheim schon im eigenen Besitz…

Hanna schnitt das Band in mehrere Teile und reichte jedem ein Stück.

„Oh, eines ist übrig. Ich habe mich verzählt! Wie kann das nur sein? Ich? Egal. Das soll wohl für euer Volks sein, was sonst?“, sagte sie, zuckte mit ihren Schultern und reichte es Jasi.

„Ja. Genau so ist es. Danke, Mama“, meinte Jasi. „Dann schaun wir mal. Jeder kann ein Stück des grünen Baum-Bändsels an den Baum hängen, mit Wunsch oder ohne, wie er will. Und du, Simi, bekommst das grüne Bändsel, weil du die Wurzel-Hüterin der Ältesten unseres Waldes bist. Sprecht euch ab, was ihr an Wünschen in den Baum hängen und in den Wind geben möchtet. Ich hänge es dann für euch auf.“

Oh, da bekam Simi aber große Augen. Das Blau strahlte, wie es seit dem Lichtfest-Ritual, wo sie als Erdberg die Schale mit dem Immergrün und dem jungen Lichtchen getragen hatte, nicht mehr gestraht hatte. Sehr ernst, wie sie solche Rollen trug, rief sie alle Ätherischen zu sich und sie beratschlagten. Dabei standen sie so eng zusammen, dass es aussah wie ein großes buntes pulsierendes Licht. Sie kamen aber überraschend schnell zu einem Entschluss, noch bevor die Kinder und Hanna ihre Bändsel angehängt hatten:

„Für das Wertschätzen der Natur von Seiten der Menschen. Wir sagen extra Natur und nicht Frau Holle, damit alle Menschen wissen, was gemeint ist, obwohl es das Gleiche ist“, verkündete Simi mit einem zustimmenden Nicken aller ätherischen Vertreter dieses Ortes und des Wett-Teams. Der Baum raschelte, obwohl die Blätter nur zaghaft zu sehen waren und noch gar nicht rascheln konnten. Zudem vernahmen sie eine Art tiefes Grummeln und leichtes Beben. Jetzt hatten alle zugestimmt.

Jasi ging feierlich mit dem Bändsel für Frau Holles Volk zu einem Zweig. Um sich zu vergewissern, sah sie Simi und Frau Holles Volk an. Die nickten allesamt geradezu ungeduldig, weil sie es kaum abwarten konnten, und band endlich das Bändsel fest. Fröhlich wehte es durch kichernde Windfeen im Wind.

„Mögen all unsere Wünsche in den Wind getragen werden, in alle Himmelsrichtungen, auf dass sie in Erfüllung gehen“, sagte Hanna und band auch ihr Bänsel an. Jasi, Choi und Kyr taten es ihr gleich. Der Baum hatte viele Äste, an die sie bequem langen konnten.

Alle Bändsel wehten beschwingt. Die Kinder klatschten mit Hanna ein und mit Frau Holles Volk, was natürlich etwas dauerte.

Fototermin. Hanna liebte es und schickte ihr Bild gleich an Elisa. Dieses eine Mal ging es ihr nicht um das insgeheime Wetteifern der beiden Damen. Sie freute sich einfach und wollte die Freude teilen mit einer Freundin, die sie verstand und sich mitfreute.

Wunschbuche neben den Externsteinen: Baumbändsel Numero 3.

„Jetzt wollen wir aber versuchen, wieder zum Weg zurück zu finden. Die anderen werden uns sicher schon suchen“, meinte Hanna, ging aber ohne Eile weiter.

„Mal sehen, was der Wald uns noch zeigen möchte. So viele schöne Bäume, besondere Bäume. Welch ein schöner Ort. Hier ist es doch tausend Mal schöner als diese völlig verfremdete Vorderseite der Felsen. Oh, seht, hier sind wieder Felsen! Lasst uns einfach mal um diesen herumgehen.“

Damit meinte Hanna wohl um den Felsen herumtanzen, grins. Die große Volksversamnmlung des Frau Holle Volkes unter der Wunsch-Buche hatte sich bereits dort wieder aufgelöst und allein das Wett-Team zog mit ihnen weiter. Sivoobal von Ast zu Ast, ähnlich Flax, denn nicht immer waren die jungen Blätter stark genug. Hee umflog sie, Simi war bei Jasi in der Kapuze, Fleißig auf Kyrs Rucksack und Egal und ReimHein waren heimlich in Hannas lange Umhängetasche geklettert. Fortan wunderte sie sich ständig über den intensiven Pilzgeruch im Wald, obwohl es doch März war und eigentlich noch kein Pilz zu sehen war, außer Baumpilzen, auf die Choi sie hinwies. Das nahm sie als Erklärung an, verbunden mit einer gewissen Luftfeuchtigkeit und Windrichtung, naja, der Mensch kann sich viel erklären.

 

Riesenwächter

„Oh seht, hier sind Runen-Zeichen! Witzig, dass wir genau diese Stelle gefunden haben, mitten im Wald, ohne sie zu suchen. Ich habe erst kürzlich davon gelesen, ohne Ortsangabe, aber mit genau diesen Fotos. Das müssen sie sein. Sie machen den Anschein, alt zu sein, sind es aber nicht“, sagte Hanna. Alle befühlten die Felsgravuren. Sie waren in guter Schreibhöhe eingeritzt worden.

„Die Muster sehen aber aus wie die Externsteine hier. Dazu ein Sonnenzeichen. Mond. Das Flüsschen hier. Nur komisch, dass hier ein See ist, denn der ist ja erst durch Pauline hier entstanden und gerade mal 180 Jahre alt, sogar mit Unterbrechungen. Unser Bändsel wollte nämlich nicht dort halten“, meinte Kyr.

„Hm“, überlegte Hanna. „Nun, ich weiß nicht, ob es hier noch einen anderen See gibt, aber das ist eine durchaus logische Erklärung. Das hast du gut erkannt. Ich habe zu den Runenzeichen gelesen, dass diese von einem Herrn List, der Ende 1800, Anfang 1900 gelebt hatte, erfunden worden waren, nach dem Vorbild der älteren durch Funde belegten Runen. Ihr kennt die alten Runen sicher von Haitabu. List meinte, seine erfundenen Zeichen seien ariogermanische Zeichen einer alten reinrassigen Priesterschaft aus dem Osten. Und diese wurden hier auf dem Felsen in der Neuzeit noch einmal verändert und machen jetzt den Anschein des Älteren. Der Glaube an eine Art Edelmenschenrasse, die über allen anderen stand, sog Hitler auf wie Muttermilch und schaffte es, dass ihm Massen folgten, ohne nachzudenken“, startete Hanna zögerlich eine Erklärung. Kyr fragte nach:

„Ach, ist das der, von dem Hitler seine schräge reinrassige urgermanische Ideologie übernommen hat, jedenfalls zum großen Teil, die er dann allen überstülpen wollte? Dazu gehörten doch auch ein paar von diesen Runen?“

„Oh. Ihr wisst doch schon mehr, als ich dachte. Ja. Sie hatten versucht, eine Art germanisch-christilich-heidnische reinrassige Weltanschauung zu prägen. Also ein richtiger Cocktail von Weltanschauungen. Dazu missbrauchten sie einige Runenzeichen, wie man am Hakenkreuz und dem SS-Zeichen erkennen kann“, erklärte Hanna.

„Ja, nur zu dumm ist, dass sie nicht überlegten, wer überhaupt die Germanen waren. Wir hatten gerade in der Schule, woher eigentlich der Begriff Germany, Germanien, Germanen kommt. Das war nämlich eine Fremdbezeichnung. Kann sein durch den römischen Geschichtsschreiber… Wie hieß der noch, Jasi?“, überlegte Kyr und Jasi ergänzte:

„Das war doch Tacitus etwa 100 n. Chr., der versucht hatte, für die vielen verschiedenen Stämme, die es früher gab, eine allgemeine Bezeichnung zu finden. Zuerst ab den Alpen und rechts vom Rhein. Später auch die nordischen Stämme hoch bis Skandinavien.“

„Oh, ihr kennt euch gut aus! Ich habe meine eigene private Geschichtsstunde“, freute sich Hanna.

„Damals hatten wohl die Gallier diesen Sammelbegriff verwendet, also kann der Name erstmals von den Galliern stammen. War doch so, Jasi?“, fragte Kyr nach. Jasi stimmte ihm zu:

„Ja, genau. ‚Gallier‘ war auch eine Art Sammelbegriff von den Römern für keltische Stämme im Bereich Frankreich, Belgien, Luxemburg, aber auch auch im Süden. Kennt man von Asterix und Obelix.“

Hanna stöhnte:

„Oh, welch ein Durcheinander. Also quasi links des Rheines die Gallier, die auch Kelten waren, und rechts die Germanen, die auch Kelten waren.“

„Genauso ein Sammelbegriff waren die Kelten, die südlich der Germanen bis zu den Alpen hin gesiedelt hatten. Im Prinzip waren es für die Römer alles Barbaren“, erklärte Kyr weiter.

„Also gab es die Römer und die Barbaren. Barbarien hätte wohl ein großer Teil von Europa heißen müssen. Nur ein kleines Überbleibsel gibt es noch in unserem Land: Bayern, Bavaria“, resummierte Hanna. Die Kinder lachten. Hanna überlegte weiter:

„Wenn man aber bedenkt, dass hier in unserem Land schon vor 500.000 Jahren dauerhaft gesiedelt wurde, war

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9171-5

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