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Frau HOLLES Volk

 

 

Band 3.2

 

Die Wette . Strecke machen im Osten

 

 

von Angela Scherer-Kern

 

 

 

Das komplette Werk von Frau Holles Volk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten, auch die der auszugsweisen Kopie, Vervielfältigung und Verbreitung gleich durch welche Medien, sowie der Übersetzung bedarf der ausdrücklichen, schriftlichen Genehmigung der Urheberin.

Kontakt: atelier@lunartis.de

 

 

Text und Foto ©Angela Scherer-Kern

Erschienen 2019, überarbeitet 2020

Umschlaggestaltung: ©Angela Scherer-Kern

 

Weitere Werke der freischaffenden Künstlerin und Buchautorin

Angela Scherer-Kern: www.lunartis.de

 

Für meine Familie und die Kinder dieser Erde

 

 

Himmelsscheibe auf Erden

Fleißig lag unterdessen gemütlich in Alenas Rucksack im Schulreisebus Richtung Elbsandsteingebirge mit Zwischenstopp in Halle.

Fleißig liebte das tiefe Brummen des Busses und war in Nullkommanichts eingeschlafen, wie die komplette Klasse.

Da durchdrang eine recht schrille Stimme das gemütliche Schnorcheln:

„So, meine lieben Schölerinnen und Schöler, nun heißt es Aufwachen! Da wör wider Erwarten enorm gut dorchgekommen sind, können wör tatsöchlich unseren vollen geplanten Plan dorchzöhen. Jetzt heißt es aussteigen und einen kleinen Spazörgang dorch die gute Waldluft des Mittelberges unternehmen. Wir besuchen einem Ort, den öhr fast schon erraten könnt, denn das Motto der Hinreise ist kein anderes als, Burgon?“, forderte die permanent überdrehte Musiklehrerin Frau Dompfaff mit ihren sonderbaren Sprachangewohnheiten den in der letzten Reihe schnarchenden Mitschüler von Alena auf. Der bekam einen Pusch in die Rippen und wusste so gar nicht, wo er sich gerade befand, während die anderen sich natörlich über das Motto der Reise namens Burgon lustig machten. Klar, dass das hängenblieb und nicht das wahre Motto.

Alle hatten entspannt gedöst, mit Stöpseln im Ohr, auch wenn Frau Dompfaff, bei dem Namen musste sie auch Musiklehrerin werden, ihre privaten Beethovens, Haydns, Mozarts und Vivaldis zum Besten gegeben hatte. Nach den ersten zwei Fahrtstunden aber gab es Protest von der einen Klassenhälfte und, hört, hört, jeder durfte sich einen Titel wünschen, den sie dann über ihr Tablet und Busanlage abgespielt hatte. Allein mit dieser weltoffenen Geste hatte sie ausnahmslos alle im Boot, also Bus.

Der zweite Lehrerbegleiter war Herr Walkenried, Sport und Mathe. Er war in letzter Sekunde für ihren Geschichtslehrer eingesprungen, der plötzlich krank geworden war. Mathe fiel hier glücklicherweise weg, blieb Sport. Und der konnte, wenn er wollte. Die Warmlaufrunden im Sportunterricht drehten sich nicht einfach auf der Rennbahn um den Sportplatz der Schule, wie normal üblich, nein, weit gefehlt! Es ging an der äußersten Begrenzung des Schulgeländes entlang. Über Stock und Stein, durch Maulwurfshügel, unter Büschen hindurch, hinter Bäumen entlang. Regelmäßig fiel einer von ihnen wegen verknackster Haxen aus. Zudem liebte er Waldläufe und Läufe zum Wald, um dort Waldläufe zu machen und um dann wieder vom Wald zurück zu laufen. Danach waren immer alle restlos k.o., sogar die Sportfreaks. Die stöhnten dann immer genüsslich, denn ausgepowert zu sein, machte sie glücklich. Die anderen kamen bisweilen erst zum Ende der Folgestunde völlig entkräftet an. Egal, Herr Walkenried blieb dabei. Sie konnten sich also auf etwas gefasst machen im Elbsandsteingebirge.

Der recht nüchterne Mathelehrer hatte jedoch für die Klasse auch einen unbestritten großen Vorteil: Er hielt sich an Zahlen und Fakten. Die waren bekanntlich mit wenigen Worten auszudrücken. Normalerweise hätten sie allein während der Fahrt einen durchgehenden vierstündigen Vortrag ihres Geschichtslehrers gehört, denn dem fiel bei jedem Stichwort eine Geschichte zur Geschichte ein.

„Burgon. Du bist das Motto der Fahrt!“, riefen seine Mitschüler ihm zu und er strahlte, weil er das immer tat. Alena verrollte ihre Augen, denn für sie war er der dümmste von allen. Sonnyboyblödmann. Mit einer Frisur, die keine war, Klamotten, die keinen Stil hatten und auch zu nichts zuzuordnen waren. Vor allem hasste sie seine Lässigkeit. Ihm war alles egal. Gute Zensuren, schlechte. Im Unterricht machte er sein Ding oder unterhielt die anderen, kam aber trotzdem irgendwie mit.

„Yeah! Das fängt ja Spitze an! Danke, danke, danke! Uh, uh, uh!“, rief er in die Runde mit der entsprechenden Geste, dem affenartigen Kratzen unter dem Arm, als würde er sich selbst kitzeln. Seine Fangemeinde antwortete mit:

„Uh, uh, uh!“ Ausnahmslos alle machten den Affen. Außer Alena.

Dümmer ging’s gar nicht mehr. Nicht auszuhalten! Bloß raus hier. Alena flüsterte in ihren Rucksack:

„Fleißig. Wir gehen raus. Irgendwas mit der Himmelsscheibe. Alles dreht sich heute um die Himmelsscheibe, was auch immer das ist. Kommst du mit? Egal wo wir sind, auf keinen Fall weglaufen!“

„Aber nicht doch, Blacky. Ich werde dir doch niemals weglaufen!“, sagte, klar, der Sonnyboysuperblödmann Burgon.

Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und meinte nur:

„Zisch ab, Herr Supermotto.“

Er grinste sich einen und stieg aus.

„Er ist lustig. Mit gefällt diese lustige Geste. Macht gute Laune!“, meinte Fleißig und versuchte, Burgon hinterher zu schauen. Dabei fuchtelte er mit seinen kurzen Ärmchen und versuchte die Affengeste zu imitieren.

„Fleißig, fall bloß nicht auf diesen Supertrottel rein. Das ist alles nur Show. Da ist nichts, absolut gar nichts dahinter. Er ist ein selbstverliebter Idiot, ein absoluter Hirni. Glaub’s mir!“

Fleißig hob eine Augenbraue und schwieg besser. Das Grinsen beließ er in seinem Bart.

Es waren nur 300 Meter durch den Wald. Aber sie gingen nicht direkt geradeaus des Weges, nein, nicht mit Herrn Walkenried. Im Zickzack. Herr Walkenried zackig vornweg. Der Rest zackig hinterher. Sah von oben wie eine Schlange aus. Die ersten waren mit Herrn Walkenried schon da, als die letzten losgegangen waren, klar. Letztere schummelten dann auch.

Das konnte was werden, wenn sie richtig lange Touren machen wollten. Mindestens zwei lange Wanderungen standen auf dem Plan zusätzlich zur Dresden-Sightseeing-Tour. Wie gut nur, dass Frau Dompfaff eine gemütliche Seele war. Sie würde, wie auch jetzt, das ewige Schlusslicht der Klasse bilden und die mitnehmen, die nicht die Sportlichsten waren.

Alena trabte in der Mitte zwischen beiden Gruppen lustig voran, denn sie hatte ja Fleißig im Gepäck. Sie war weder beliebt in ihrer Klasse noch unbeliebt. Sie mochte diese Cliquenbildungen nicht sonderlich. Zwei engere Freundinnen hatte sie. Die eine war Umay, in Hamburg geboren mit türkischen Eltern, und Suvi, in Estland geboren, kam mit zwei Jahren nach Deutschland. Die war einen Kopf kleiner als sie und magersüchtig. Was die drei verband waren ihre blasse Hautfarbe und die schwarzen Haare. Umays Haare waren natürlich von Natur aus schwarz, Suvis Haare waren gefärbt, Kinn lang mit geradem Pony, also Japan-Style. Vor kurzem waren ihre Haare noch türkis und im Original waren sie hellblond. Da sind noch zwei weitere Mädels in ihrer Klasse mit gefärbten Haaren, aber die hörten komplett andere Musik und waren anders drauf. Nur zum Sport versuchten sie, in die gleiche Gruppe zu kommen, weil das dann doch verband und sie ein gutes Team waren. Es war sonderbar, denn einzeln waren sie alle fünfe eher mittelmäßig, aber zusammen… gerade im Volleyball. Ihr Volleyball-Team hieß ‚United Colors‘ und alle wollten mit ins Team. Auch beim Handball, Fußball, Völkerball, egal.

Mittlerweile war Alena auf der Lichtung mit dem langen leicht schiefen Aussichtsturm angekommen.

„Aleeena! Huhuuu!“, kreischte es von ganz oben. Ihre beiden Freundinnen waren tatsächlich in der Sportlergruppe vornan gewesen.

„Ich will da auf keinen Fall hoch“, antwortete Fleißig vorsorglich. Alena winkte hoch und sagte an Fleißig gewandt:

„Krass! Sieh dir diesen Turm an! Der ist ja schräg und dann noch geteilt. Aber der Spalt ist genau senkrecht und sieh nur, wo führen die Betonstreifen nur hin?“

Sie hörte ihren Lehrer erklären:

„Bei diesem Streifen handelt es sich um die Sichtachse zum Brocken. Jeder weiß…“ Herr Walkenried blickte in rätselnde Gesichter und seufzte.

„Das kann jetzt nicht wahr sein! Ab heute weiß es jeder: Der Brocken ist der höchste Berg des Harzes. Zur Sommersonnenwende geht die Sonne genau hinter dem Brocken unter. Von hier aus gesehen. Wir stehen hier auf dem 252,2 Meter hohen Mittelberg und befinden uns im südlichsten Zipfel von Sachsen-Anhalt. Stellt euch auf die Linie und schaut in die Richtung in die unsere bronzezeitlichen Vorfahren vor 3.600 Jahren den Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende beobachtet haben. Und das nicht nur ein Jahr, sondern über einen langen Zeitraum von geschätzten 300 Jahren und sicher mehr.“

Alle stellten sich auf den Betonpfad und schauten mit einem andächtigen „Ah“ in Richtung Brocken, irgendwo hinter den Bäumen.

„Eine weitere Sichtachse…“ Herr Walkenried ging ein paar Schritte zu einem weiteren in der Erde eingelassenen Betonstreifen und fuhr fort:

„Eine weitere Sichtachse führt zum Kulpenberg vom Kyffhäuser, und zwar zum Sonnenuntergang auf den 1. Mai. Um welches Datum handelt es sich hier, Alena?“, rief Herr Walkenried Alena hinterher, da sie allein zum Himmelsspiegel rübergegangen war und nun an dessen Umzäunung stand.

„Walpurgis oder Beltane“, antwortete Alena mechanisch.

„Die Namen habe ich noch nie gehört“, meinte Fleißig und kletterte aus der Tasche.

„Fest des Lebens! Fest der Fruchtbarkeit! So heißt es bei uns! Beim Barte meiner Großmutter, das hier muss man gesehen haben! Der Himmel ist in der Erde! Ein Zauberauge! Unglaublich!“, sagte er und starrte wie hypnotisiert auf eine große, spiegelnde, leicht gekrümmte Scheibe, die in der flachen Umzäunung und dort direkt über dem Fundort der Himmelsscheibe auf dem Boden lag.

Alena sah kurz panisch zu ihrer Klasse hin, aber keiner reagierte auf den kleinen Wichtel. Er trug auch seinen neuen olivgrünen Reisehut. Den hatte die Wichtelcousine-Schneiderin genäht. Den heißen Tipp von Hafenwichtel Spitzhacke hatte sich Fleißig damals sofort hinters Ohr geschrieben.

Alena entspannte wieder. War an sich auch klar, dass da keiner dabei war, der Frau Holles Volk sehen konnte. Keiner reagierte auf die drei Windfeen, die über dem Himmelsspiegel hin- und herflogen, sich über dessen Glitzern freuten und fröhlich kicherten.

Sogleich hatte Fleißig wie aus dem Nichts mit einem Wichtelcousin Bekanntschaft geschlossen. Die Wichtel-Begrüßung war wohl überall Standard: Anstoßen der Bäuche, Anstoßen der Spaten. Wobei der Mittelberg-Wichtel, der sich als der Mittelberger vorstellte, bei näherem Hinsehen eine Sense und keinen Spaten hatte.

Bei genauerem Hinsehen verwandelte sich die Sichel der Sense in die Himmelsscheibe, die in einem Holzring von Riemen festgehalten wurde. Sie waren durch die Lochungen am Rand der Scheibe gezogen worden. Dieser Art Schild war fest verbunden mit einem langen Stock mit spiralförmigen Windungen aus sehr altem Holz, der etwa zwei Köpfe höher war als der Wichtel. Spektakulär!

Der Mittelberger hatte bei noch genauerem Hinsehen das Gesicht voller Zeichen und in seinen Augen konnte man die Feuer seiner Urahnen erahnen. Er trug plötzlich auch nicht mehr seine anfängliche traditionelle Wichtelkleidung, sondern eine Art naturfarbenen Mantel, mit einer gedrehten Kordel über seinem dicken Bauch verschnürt, mit Kapuze, die er aufhatte. Sein weißer Bart reichte bis zu seinen Beinen und war mit vielen Bändern zusammengeschnürt.

Alena war völlig paralysiert von seiner Erscheinung.

„Wir amtieren hier schon seit Generationen als Hüter dieses Ortes, der Kuppe des Mittelberges, der einst unbewaldet war und einen wunderbaren Blick in alle Himmelsrichtungen zu allen Horizonten und in den Himmel erlaubte. Über einige hundert Jahre. Es waren Schamanen, Druiden, Priester, Druidenfürsten, die…“

„Wieso nur diese Menschen? Entschuldige die Unterbrechung…“, wollte Alena wissen.

„Frage gern. Es ist wichtig, dass du dies verstehst. Weil sie diejenigen waren, die ihr Wissen ob der Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde von Generation zu Generation weitergegeben haben. Dies geschah in dieser Region ausschließlich mündlich. Altes Wissen wurde damals hierzulande nur mündlich weitergegeben, allein, um es vor Missbrauch zu schützen. Genaue Worte, genaue Riten mussten zu jeder Besonderheit am Himmel, die auf die Erde einen Einfluss hatte und zelebriert wurde, eingehalten werden. Die Einhaltung der Riten versprach das Wiederkehren all dieser Zyklen, vor allem der Zyklus des Wachsens nach der Winterzeit.“

Alena hüstelte und der Mittelberger nickte ihr zu. Sie erkannte einen Sichelmond in der Mitte seiner oberen Stirn, nein, es war eher ein Boot, eine Barke.

„Du siehst die Barke, das ist gut. Sie ist das Sonnenschiff und symbolisiert den Lauf der Sonne über den Tag- und den Nachthimmel. Ihre Existenz gibt vor allem die Gewissheit, dass die Sonne sicher durch die dunkle Nacht gefahren wird und jeden Morgen von neuem am Himmel zu sehen ist. Der Kontakt zu Menschen aus dem vorderen Orient hatte dieses neue Verständnis des Himmels gebracht und die Barke wurde später als letztes Ornament auf der Himmelsscheibe nachgetragen.“

„Diese einfachen Zeichen, Sonne, Mond und Sterne, stecken offensichtlich voller Symbolgehalt. Wie kann ich das Wissen auf dieser Scheibe erkennen?“, fragte Alena fasziniert. Diese doch recht kleine Scheibe fand sie erst langweilig, aber die hatte es offensichtlich in sich. Ihrem Geheimnis wollte sie jetzt auf die Spur kommen.

„Diese Scheibe wurde zweimal erweitert. Das, was die Menschen am Himmel beobachteten, hielten sie als Gesetzmäßigkeit in einer Art Kalender auf der Scheibe aus Bronze fest. Die Himmelsscheibe wurde einige hundert Jahre benutzt und von Generation zu Generation von Würdenträgern weitergegeben, um als bäuerlicher Kalender zu dienen. Der Dreh- und Angelpunkt, tja, Punkte oder genauer noch Sterne, waren die Plejaden. Dieser Sternenhaufen besteht aus sieben Sternen, die man am Nachthimmel sehen kann. Sind zwar mehr, sieht man aber so nicht. Die Plejaden bestimmten seit jeher die Termine für Aussaat und Ernte, also die wichtigsten Zeitpunkte für die Landwirtschaft.“

Während der Mittelberger ihr die Bedeutung der Stände von Mond und Plejaden in Verbindung mit Sonnenjahr und Mondjahr erklärte, ging er mit dem uralten Druidenstab mit der Himmelsscheibe langsam den Himmelsspiegel hinauf und blieb oben stehen, um vor dort aus weiter zu erklären. Ein spektakuläres Bild mitsamt der Spiegelung. Fleißigs Augen glänzten nun auch im uralten Feuer seiner Vorfahren.

„Der Sonnenkalender, was du an den Horizontbögen erkennen kannst, wurde später noch hinzugefügt. Schau auf meinen Kopf.“

Der Mittelberger schlug seine Kapuze nach hinten. Er präsentierte Alena und Fleißig und all den anderen Vertretern von Frau Holles Volk, die sich mittlerweile um den Himmelsspiegel versammelt hatten, aus purer Neugier, versteht sich, seinen kahlen Kopf auf den die Himmelsscheibe aufgezeichnet war. Umrahmt war diese von vielen Linien, gewellt, gerade, zackig, Kreisen und vielen Zeichen. Er deutete an den Anfang einer der beiden Horizontbögen.

„Dazu muss die Scheibe flach gehalten werden. So, wie ich sie trage, wurde sie nur zu späteren Zeiten getragen. Sie hatten Löcher in den Rand gestanzt, um die Scheibe in einen Rahmen zu spannen. Ich kann sie auch von meinem Druidenstab abnehmen, sieh… so…“

Er nahm die Scheibe ab, richtete sie nach der Richtung der Zeichnung auf seinem Kopf aus und hielt sie flach auf seiner Hand.

„Genau hier, am Anfang dieses Horizontbogens geht die Sonne zur Sommersonnenwende unter, genau hinter dem Brocken.“ Er zeigte mit dem Eckpunkt des Sonnenbogens auf der Himmelsscheibe in die Richtung des höchsten Berges im Harz.

Alena nickte anerkennend. Er steckte die Scheibe gleich wieder auf den Stab und hielt sie würdevoll aufrecht.

Und die Sonnenbarke wurde mit Gold nach weiteren vielen Jahren aufgelegt.“

„Sonnenbarke? Die Sonne fährt also in einer Art Schiff durch die Nacht, wie sie auf deiner oberen Stirn gezeichnet ist?“, wiederholte Alena um sicher zu gehen, dass sie es richtig verstanden hatte.

„Ja, genau. Es hat etwas zu bedeuten, dass gerade jetzt diese alten Kultstätten wieder zum Leben erweckt werden. Nachdem viele derartige Kultstätten wie heilige Haine und alte Eichen durch die neue Religion vernichtet worden waren. Doch archäologische Luftaufnahmen machten es möglich und der Einsatz vieler begeisterter Menschen, dass Vergessenes wieder an die Oberfläche gelangen konnte und nun auf gute Weise genutzt wird.“

„Warum meinst du, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist?“, fragte Alena.

„Weil die Menschen hier in diesem Land jetzt mit diesem Wissen, dass es sich hierbei um einen heiligen Gegenstand handelt, umgehen können. Die meisten jedenfalls. Es wird nicht mehr vernichtet, sondern sie analysieren und lernen es verstehen. Und so manch einer wird sich in die Zeit hineinversetzen können. Wir flüstern ihnen Ideen dazu ins Ohr, wenn sie darüber nachdenken. Aber alles müssen sie nicht wissen. Manche geheimen Worte bleiben geheim und damit auf immer.

Die geweihte Himmelsscheibe ging durch viele Hände, durch rituelle Übergabehandlungen, die sich über einen längeren Zeitraum zogen. Nur einmal kam es zu einer gewaltsamen Aneignung wegen Sippenstreitigkeiten. Doch sie wurde in dieser Region weiter gehütet und genutzt bis sie in einem letzten heiligen Akt hier der Erde zurückgegeben wurde. Der Hüter der Himmelsscheibe hatte seine Insignien mit in die Erde gegeben und war als einfacher Bauer weitergezogen. Ich weiß nicht, wohin. Zwei Schwerter, zwei Beile, zwei Armspiralen und einen Meißel. Es waren seltene Prunkwaffen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie verzweifelt ich war, als plötzlich dieser pluvoste Pluvo aller Zeiten seinen ungepflegten Spaten ansetzte und die Himmelsscheibe auf rohe und ehrfurchtslose Weise der Erde entriss. Dieser Ort wurde über so viele Jahrhunderte von meinen Vorfahren gehütet und nun sollte ausgerechnet zu meiner Zeit derartig Unfassbares geschehen?“

Fleißig war der Ohnmacht nah und musste sich setzen. Der Mittelberger legte ihm seine freie Hand auf die Schultern und lächelte.

„Beim Barte meiner Großmutter, ich setzte alle Hebel in Bewegung, um vom Verbleib der Himmelsscheibe zu erfahren. Aber ich kann mich als Hüter des Ortes nicht weit entfernen, außer dass ich zu Frau Holle zurückgehe. Ich blieb also und wartete, denn ich trage die volle Verantwortung. Ich habe Frau Holles Volk um Unterstützung gebeten und siehe da. Endlich, eines Tages, kamen andere Menschen, um sich diesen Ort anzusehen. Sie kamen mit Respekt, mit Neugier und mit zarten Händen und Werkzeugen. Und alles nahm seinen Lauf bis zum jetzigen Status. Eine sehr aufregende Zeit.

Die Himmelsscheibe hat nun einen guten Platz gefunden. Sie ist unter Aufsicht eines würdigen Vertreters unseres Wichtelvolks, dessen wahren Namen ich nicht verraten darf. Ihr dürft ihn den Hallenser nennen. Sie haben schon vieles entschlüsseln können, die fleißigen Menschenköpfe, aber die Himmelsscheibe birgt noch einige Rätsel in sich, denn sie hatte damals den Blick und das Wissen des Himmels aus vielen Jahren Menschheitsgeschichte mit in die Erde genommen.“

„Und letztendlich auch die Macht über dieses Wissen“, schlussfolgerte Alena.

„Ganz genau. Weißt du, wann die Himmelsscheibe gefunden wurde?“, fragte der Mittelberger.

„Ehrlich gesagt, wusste ich bis heute nicht viel, eher gar nichts über sie. Tut mir leid“, entschuldigte sich Alena.

„Deswegen bist du hier. Um darüber zu erfahren. 1999. Pünktlich zur Zeitenwende. Welches nicht an einem Datum festgemacht werden kann, weil die Zeitenwende nicht an einem Tag geschieht, sondern sich in einem Zeitraum abspielt, in welchem wir uns immer noch befinden.“

„Du meinst also, dass die Himmelsscheibe genau jetzt gefunden wurde, weil die Menschen jetzt besser damit umgehen können und sie nicht gleich wieder zerstören wie einen Baum?“, fragte Alena nach.

„Ja, du wirst sehen, wie schön sie im Museum geschützt und bestaunt werden kann. Für alle Menschen zugänglich! Sie haben die Arche Nebra gebaut, die allein ihretwegen der Sonnenbarke nachempfunden ist. Hier, diese wundervolle Umsetzung durch den Himmelsspiegel. Der kunstvolle Aussichtsturm, die Sichtlinien. Fleißige Menschen haben sich so viele Gedanken gemacht. Andere fleißige Menschen setzen diese um. So kann alles erhalten und an eure Nachfahren weitergegeben werden.

Jetzt werden sogar wieder Sonnenwendfeiern in Ringheiligtümern, in den Kalenderanlagen gefeiert.“ Fleißig war bei jedem ‚fleißig‘ um Millimeter gewachsen. Beide Wichtel lachten jetzt ausgelassen.

„Ja, auch wenn sie von Grabräubern gefunden wurde, doch es hat sich ja alles gefügt, wie es sich hat fügen sollen.“ Der Mittelberger lächelte Alena zu und nickte.

„Und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich dies alles miterleben darf. Welch eine Ehre für mich!!!“, sagte er und hob dankend seine Arme samt Druidenstab und Himmelsscheibe gen Himmel.

„Und für mich, dass du mir das alles erzählt hast. Danke Mittelberger. Vielen Dank“, bedankte sich Alena mit der Geste des Dankes, Hand auf das Herz.

„Jetzt sorge ich dafür, dass der Himmelsspiegel immer gut zu sehen ist. Den Löwenzahn lasse ich natürlich hübsch emporwachsen. Aber das Gras halte ich kurz. Auch die Sichtachsen halte ich frei, damit die heutigen Menschen sich wenigstens etwas in die Gedanken hineinversetzen können, die die Menschen damals hatten“, erklärte der Mittelberger und ward wieder in seiner traditionellen Wichtelkluft. Er kürzte mit einem gekonnten glatten Sichelschnitt zwei neugierige Grashalme. Danach schärfte er die Schneide der Sense mit einem Schleifstein.

Klong! Ein sonderbares Klong-Geräusch erklang vom Himmelsspiegel. Da erblickte Alena einen kleinen Löwenzahnjüngling, der verdattert auf dem Himmelsspiegel saß und sich seine Blumenflügel wieder zurechtzupfte.

„Jetzt habe ich nur einen Augenblick mal nicht aufgepasst! Das ist eigentlich meine Hauptaufgabe, die Kobolde und Feen davon abzuhalten, gegen den Himmelsspiegel zu fliegen. Sie denken, der Himmel geht einfach so in der Erde weiter. Er ist wohl gerade aus dem Winterschlaf aufgewacht und hat vergessen, dass der Himmel oben und die harte Erde unten ist, auch wenn es anders auszusehen scheint. Es kommt immer wieder vor, dass sie voll auf dem polierten Stahl aufprallen. Den übrigens ich auf Vordermann halte. Glänzt der Himmelsspiegel nicht himmlisch?“

Er streichelte ihn liebevoll mit einem kleinen blauen Putztuch.

„Oh ja! Himmlisch!“, staunten Fleißig und Alena gleichzeitig.

 

„Fest des Lebens und der Fruchtbarkeit also?“, wiederholte Alena nachdenklich.

Als ob keine Zeit vergangen wäre als der Mittelberger ihr von der Himmelsscheibe berichtet hatte, ging Herr Walkenried darauf ein:

„Ja, ganz genau. Das beschreibt das Fest am besten. Walpurgis ist das Lebens- und Fruchtbarkeitsfest unserer heidnischen Vorfahren…“

Die anderen schienen noch genau an der Stelle hängengeblieben zu sein. Es war tatsächlich, als hätte die Zeit stillgestanden…

„…heidnischen Vorfahren…“, wiederholte Alena leicht verächtlich.

„Du bist bestimmt auch so eine von den Hexen, die zu Walpurgis um den Brocken fliegen, was? Bei euch zu Hause steht sicher dein Besen schon parat, dauert nicht mehr lange bis zu Walpurgis. Das ist doch das Heidenfest schlechthin!“, sagte, natürlich, Superdepp Burgon. Der war jetzt echt schwer zu ertragen. Alle lachten. Außer Herr Walkenried. Der sah unerwartet ernst in alle anwesenden Klassengesichter und erklärte ruhig und sachlich:

„Dazu möchte ich eines klarstellen: Als Heiden wurden einfach pauschal Andersgläubige bezeichnet. Es war tatsächlich eine abschätzende Abgrenzung der damals mit allen Mitteln missionierenden Vertretern des christlichen Glaubens, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckten. Es geschahen unzählige Gräueltaten im Namen eines Gottes, dessen damaliger Vertreter auf Erden, nämlich Jesus, ursprünglich von Liebe und Mitgefühl gepredigt haben soll. Viele haben aus der fehlgeleiteten grausamen Vergangenheit gelernt. Aber es gibt leider immer noch Fanatiker, die nicht erkennen, dass bei acht Milliarden Menschen auf der Erde ein Miteinander nur mit gegenseitiger Toleranz möglich ist. Gewaltfreiheit im Namen aller Götter, so sollte es sein!

Ich halte mich für einen wissenschaftlich orientierten Menschen und stehe Religionen sehr kritisch gegenüber. Jeder kann glauben, an wen oder was er möchte, solange dieser Glaube frei von Gewalt in jeder Form ist. Ich selbst gehöre keiner Religion an, bin also konfessionsfrei und darf mich damit zur mittlerweile größten Gruppe zählen. Ich interessiere mich für alte Kulturen, ihre Bräuche und ihren Glauben. Es besteht gar kein Zweifel daran, dass Menschenopfer aus heutiger Sicht ein absolutes Tabu sind. Ebenso Tieropfer. Ansonsten ist es hochinteressant, wie naturverbunden unsere Vorfahren glaubten, welchen Wesenheiten oder Gottheiten sie huldigten. Mit welcher tiefen Hingabe sie ihre Feste feierten und ihre Rituale draußen in der Natur abhielten. Denn es ging um die Natur. Die Natur im Verlauf des Jahres. Die Natur, von deren Fortbestand sie abhingen. Sie waren sehr gläubig, meist nicht nur an einen Gott.“

Herr Walkenried hüstelte. Er war wohl gerade von sich selbst über seine unerwartet vielen Worte überrascht. Er nickte Alena zu, die ausnahmsweise jedes Wort interessiert aufgenommen hatte und nun übernahm:

„Dabei sahen sie unsere Erde mit all ihrem Leben auch als Teil eines größeren Ganzen, das wir nur nicht fassen und nicht sehen können! Etwas, das außerhalb unserer beschränkten Vorstellungskraft liegt. Etwas, das mit unserer beschränkten Technik noch nicht gemessen werden kann. Nur, weil wir heute die vielfältigen Wesenheiten nicht sehen oder messen können, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht existieren.“

Fleißig nickte eifrig. Mittlerweile hatten sich noch mehr Windfeen um den Himmelsspiegel und ihn versammelt. Parallel zum Thema der Klasse lauschten die Ätherischen gespannt, was Fleißig ihnen aus seinem heimischen Wald erzählte.

Fleißig hatte es sehr lange ausgehalten, einfach nur zuzuhören, doch jetzt war seine Zeit und er war in seinem Element samt Erklärgeste. Er fühlte sich ganz wie die Lehrer.

 

„Wowowow, Alena! Das ist ja richtig uh, uh, uh!“, grölte, klar, Super-Burgon, gefolgt von einem Superecho samt Affenarmgeste.

Herr Walkenried ging überhaupt nicht darauf ein, was Alena schon ärgerte, weil das wieder so derbe dumm von diesem Supertrottel gewesen war.

Fleißig und der Mittelberger lachten in ihre Bärte und imitierten die Affenarmgeste. Sie fanden es lustig und mit ihnen die ganze ätherische Zuhörerschaft.

Alena verdrehte ihre Augen.

„Wie meinst du das genau, Alena? Erzähl uns mehr von deinen Gedanken“, forderte der Mathe- und Sportlehrer sie auf und machte dabei einen Schritt von der Betonlinie Richtung Kyffhäuser herunter, gefolgt von allen anderen. Er hatte eigentlich immer einen kleinen eifrigen Trupp hinter sich, der bei jedem seiner Schritte sofort reagierte.

Ausnahmsweise mal nicht genervt erzählte Alena von ihrem Wissen, von dem die anderen nicht so viel wussten.

„Wenn ich also einem Teil des größeren Ganzen hier auf der Erde Achtung erweise, sei es dem Wasser, den Bäumen, dem Obst, den Felsen, den Quellen, den Blumen, den Tieren, der Erde an sich, dann erweise ich indirekt auch dem großen Ganzen meinen Respekt. Es fehlt den meisten Menschen einfach an Liebe für die Natur, dann würden sie nämlich erkennen, dass alles miteinander verflochten ist.“

Umay rief:

„Ja, in Indien werden alte und besondere Bäume mit bunten Bändern geschmückt. Das ist doch hübsch und ehrt den Baum. Wenn wir alle nicht bewusster an die Natur denken, dann will ich keine Kinder haben. Es ist ja jetzt schon so, dass sie in dem Dreck der sogenannten Zivilisation leben und damit klarkommen müssen, den die Menschen heute ihnen hinterlassen.“

Eine hitzige Diskussion entfachte.

Frau Dompfaff hatte sich mittlerweile mit den Nachzüglern dazugesellt. Das war ihr Thema:

„Den meisten sogenannten modernen Menschen öst dör dörekte Bezug zur Natur komplett verlorengegangen! So öst dör trauröge Stand dör Dinge, ganz genau! Umso schöner, dass wör an diesem Ort sein dörfen, wo die Hömmelsscheibe gefunden wurde. Und wie gut, dass die Hömmelsscheibe genau zur röchtigen Zeit gefunden wurde. Döse ganze Region hör in Sachsen-Anhalt börgt einen großen Reichtum an wahren kulturellen Schätzen!“

„Ich kann das alles tolerieren, aber ich glaube erst, dass die Brennnessel Heilkräfte besitzt, wenn sie im Labor in ihre kleinsten Teilchen zerpflückt wurde und diese uns dann eine Bestätigung ihrer Kraft über ihre tatsächlichen Inhaltsstoffe liefern. Ich brauche handfeste Beweise. Ein interessantes Thema, was sagst du, Burgon“, kam es von Herrn Walkenried. Nun war er wieder ganz sachlich Herr Mathe. Alena, Fleißig und der Mittelberger hoben ihre Augenbrauen. Burgons persönlicher Fanclub war still. Er hatte außer Floskeln noch nichts dazu beigetragen und wand sich etwas. Doch dann überraschte er:

„Es würde der Menschheit nur guttun, wenn sie sich ihrer Wurzeln in der Natur endlich mal wieder bewusstwerden würde, auf der ganzen angeblich so hochentwickelten Welt. Dann hätten auch unsere Nachfahren noch etwas von dem vielfältigen Leben unserer Erde! Und Umay könnte ihre zehn Kinder kriegen“, setzte er letzteres natürlich noch hinzu, um wieder Affengelächter einzuheimsen.

Alena verschlug es den Atem.

„Ich wusste, dass er es draufhat. Ich wusste es! Das sehe ich an seinen Augen.“

„Augen, wieso? Die sind nur blau“, meint Alena irritiert.

„Nicht das Blaue. Ins Schwarze musst du sehen. Darin kannst du sehen…“, meinte Fleißig.

„Wir sehen also, das eine schließt das andere nicht aus. Damit wollen wir unseren kurzen Exkurs in die Bedeutung von Natur von früher und heute für jetzt beenden. Ein Thema, das wir gern zum Abend fortführen können. Nun wenden wir uns wieder dem Ort zu, auf dem wir stehen. Der Mittelberg.“ Dabei stampfte er zweimal auf, gefolgt von einer Fußtrommel des kompletten Fantrupps außer Burgon. Der grinste. Herr Walkenried fuhr leicht beirrt fort:

„Ihr seid unfassbar. Nun. Der Mittelberg…“ Fußtrommel.

Der Mathelehrer gab auf und hielt sich an seinem Faden fest:

„Man mutmaßt anhand der spektakulären Funde, dass dieser Ort einst eine Art Sternwarte war. Hier oben haben sie also den Himmel genaustens beobachtet. Die Himmelsscheibe von Nebra wurde von unseren Vorfahren vor 3.600 Jahren mit großer Sicherheit von Druiden, Druidenfürsten, Priestern, Schamanen zu rituellen Zwecken und Sterndeutungen geschaffen und genutzt. Also eine Art Sonnenkalender. Eine Wallanlage um den Mittelberg…“ Fußtrommel. „…und weitere Ausgrabungen unterstützen diese Auslegung und die Wichtigkeit und Heiligkeit dieses Ortes.“ Alena räusperte sich.

„Ja, Alena“, ging Herr Walkenried darauf ein. Er gab ihr sonderbarer Weise das Gefühl, momentan die einzig Normale der Gruppe zu sein.

„Die Wallanlagen wurden erst später errichtet, nachdem die Himmelsscheibe begraben wurde. Die, die die Wallanlagen gebaut hatten, wussten nichts von der Himmelsscheibe“, gab sie ihr Wissen vom Mittelberger weiter. Herr Walkenried staunte:

„Ja, da hast du recht! Ich meinte auch nur, dass alles, die Wallanlagen, Ausgrabungen und die Himmelsscheibe die Wichtigkeit dieses Ortes unterstreichen. Und das über einen immens langen Zeitraum! Diese ganze Region muss früher von heiligen Orten durchzogen gewesen sein, die der Beobachtung des Himmels dienten, wie dem Mittelberg… STOPP!“

Er riss seine Hände hoch, um den Ansatz der Fußtrommeln im Keim zu ersticken. Geglückt. Füße leise zu Boden, leicht enttäuscht.

„Gut so. Weiter zu nennen die Kreisgrabenanlage oder das Sonnenobservatorium Goseck, keine 20 Kilometer von hier, dessen Alter auf sage und schreibe 7.000 Jahre geschätzt wird und von einigen namenhaften Archäologen als das älteste entdeckte Himmelsobservatorium der Welt bezeichnet wird. Hört, hört!“ Das unterstrich er mit dem ausgestreckten rechten Zeigefinger in die Luft. Fleißig war begeistert. Die Affen auch.

„Und nicht zuletzt werden wir unsere Klassenreise mit der Kreisgrabenanlage Pömmelte abrunden. Dieser Ort liegt auch nur eine Fahrstunde von hier entfernt südlich von Magdeburg. So könnt ihr einen direkten Einblick in eine der Kreisgrabenanlagen unserer Vorfahren gewinnen. Ihr Alter wird auf etwa 4.000 Jahre geschätzt, also etwas älter als die Himmelsscheibe begraben wurde. Wann geschah dies noch, Umay?“, fragte Herr Walkenried plötzlich. Doch Umay war ein Zahlenmensch und antwortete ohne nachzudenken:

„Vor 3.600 Jahren!“

„Korrekt. Zur Kreisgrabenanlage Pömmelte dann an Ort und Stelle mehr.

Übrigens zeigt uns die Himmelsscheibe die bislang älteste konkrete Darstellung des Kosmos weltweit!“ Dabei betonte er weltweit dermaßen, dass seine Stimme vor Aufregung fast wegkippte.

„Hört, hört!“, schob Burgon ein. Affengeräusche, Fußtrommeln und Zeigefinger in die Luft.

Uff.

„Ja. Weltweit! Man vermutet, dass diese kostbare Scheibe seinerzeit rituell genau hier vergraben wurde, wahrscheinlich, weil eine gewisse Zeit, die wir das Zeitalter der frühen Bronzezeit nennen, zu Ende ging. Das war ein allgemein üblicher Brauch, damit dieser mit Sicherheit hochheilige Gegenstand nicht in die Hände der Feinde gelangen konnte.“

„Herr Walkenried. Rituell vergraben und rituelle Zwecke, was kann man sich darunter vorstellen?“, fragte Suvi, die gerade wieder unten angekommen war. Sie war die letzte, weil sie wohl zweihundert Fotos allein vom Treppenaufgang des Aussichtsturms aufgenommen hatte.

„Eine gute Frage, die ich sogleich an meine geschätzte Kollegin Frau Dompfaff weiterleiten möchte. Ich bin nicht der Ritualmensch, obgleich mich die alten Bräuche schon sehr interessieren. Ein Dompfäffchen hat mir ins Ohr gezwitschert, dass Sie sich da ein bisschen auskennen“, leitete er galant zu seiner Kollegin über. Das erste Mal, dass er kurz gelächelt hatte. Dompfäffchen, so, so. Abgespeichert.

„Görn. Aber öch denke, auch Sie putzen jeden Morgen öhre Zähne, kämmen söch, waschen söch. Das öst im Grunde ein Morgenrötual. Abends lesen Sö öhren beiden kleinen Köndern söcher eine Gute-Nacht-Geschöchte vor, ömmer nach dem Zähneputzen und bettfertig machen, am gleichen Ort, jeder hat den gleichen Sitzplatz, dö gleiche Kuscheldecke. Dös kann man als rituelle Handlung bezeichnen, denn dös öst eine Handlung, dö stets gleich abläuft, söch wöderholt, im Rahmen von gewössen Regeln, mit einer gewössen Konzentration…“

Bei dem Ausdruck Konzentration nahm Fleißig natürlich sofort eine kerzengerade Haltung ein.

„…Meist bei religiösen oder weltlichen Festen oder Abläufen. Wör hat da eine Idee?“

„Die frösische Tözörömonö! Ich meine natürlich friesische Teezeremonie“, rief Alena begeistert. Alle lachten. Vor allem die Affen. Natürlich lachten alle wegen ihres Versprecherlies, was Dompfäffchen überhaupt nicht wahrnahm. Manchmal übertrieb sie es mit den Ös, das konnte ansteckend sein. Es war besonders häufig, wenn sie aufgeregt war. Manchmal sprach sie sogar komplett Ö-frei. Dann konnte man sich aber schon Sorgen machen, denn dann war sie meist krank.

„Öhr braucht nicht zu lachen. Das öst ein wunderbares aktuelles Beispöl eines rötuellen Ablaufs. Alle Schritte sind genau und in aller Ruhe vorgegeben. Noch andere Ideen“, fragte Dompfäffchen weiter. Den Spitznamen hatte ihr werter Herr Kollege soeben ungewollt geprägt.

„Die viel krassere japanische Tözörömönö!“, rief Burgon, wer sonst. Alle brüllten, Alena und Herr Walkenried verrollten ihre Augen und Dompfäffchen begriff überhaupt nicht, weshalb das so zum Brüllen war.

Alena lenkte alle wieder zurück aus dem Dschungelgehabe:

„Hochzeiten laufen nach bestimmten Ritualen ab.“

„Das Wünschen und Auspusten von einer Geburtstagskerze.“ Affennicken.

„Begräbnisse.“ Affen-Uuh.

„Alle möglichen Feste.“

„Nach Hause kommen, Puschen an, Bier raus, vor den Fernseher, Tagesschau. Punkt 20 Uhr. Jeden Tag.“ Affenlachen.

„Das Händewaschen nach den Klogehen.“ Affenlachen.

„Öch sehe, öhr habt es im Prönzip vörstanden“, trällerte Dompfäffchen. Nun verrollte auch sie ihre Augen.

Der Vorteil bei Herrn Walkenried war, dass er keine stundenlangen monotonen Vorträge hielt wie ihr Geschichtslehrer. Mit diesem würden sie wohl allein vier Stunden an diesem Ort verbringen.

Der Nachteil bei Herrn Walkenried war allerdings, dass man sich besser jeden Satz quasi eins zu eins merken musste, denn er liebte nichts mehr als Zitate seiner eigenen Worte. Alena nahm ihn sicherheitshalber auch selbst mit ihrem Smartphone auf, denn sie wollte keine Abhängigkeiten. Das war das Praktische an einem Smartphone. Leider wurden die Worte wegen der vielen Störgeräusche nicht gleich in Text umgewandelt. Aber das Diktat half auch gleichzeitig beim Lernen.

Was hatte das jedoch mit Abhängigkeit zu tun? Super-Burgon war nämlich der auserwählte Aufnehmer der Klasse. Dazu hatte er sich selbst auserkoren, wer sonst? Leider bekam er sofort mit, als Alena ihn in seiner ach so coolen Haltung und seinem neusten Smartphone auf Aufnahme nur einen kurzen Augenblick beobachtete. Er zwinkerte ihr charmant zu und rief:

„Kostet dich ein Eis, wenn du die Aufnahme haben willst, Blacky. Die anderen kriegen es umsonst.“ Dann zwinkerte er den beiden neben ihm stehenden Mädels zu, die ihn umso mehr anhimmelten.

Alena machte eine ablehnende Geste, indem sie den Finger in ihren Hals steckte, was natürlich ihrem Lehrer nicht entging. Er schien auch Augen im Hinterkopf zu haben:

„Alena, das ist prima, dass du dich freiwillig für das Thema Fundumstände meldest. Damit meine ich den Weg der Himmelsscheibe aus der Erde heraus bis ins Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle.

Jeder wird übrigens ein kleines Thema mitnehmen und in der Schule in der nächsten Woche eurem Geschichtslehrer vortragen. Er soll ja auch wissen, was ihr alles gesehen und gelernt habt.“

Burgon feixte sich sichtbar eins.

„Burgon. Du erzählst deinen Mitschülern etwas über die Jahreskreisfeste im Allgemeinen. An diesem Ort hier können wir deren Bedeutung über diese Sommersonnenwendlinie, die zum Brocken hinzeigt, verstehen. Wenn du ganz clever bist, bringst du gleich das Thema Rituale mit ins Spiel.“

Jetzt grinste Alena schadenfroh. Das blieb Herrn Walkenried natürlich auch nicht verborgen, also ging das Spielchen weiter:

„Wieso hat man eigentlich diesen Aussichtsturm hier errichtet und was hat der Schnitt im Turm zu bedeuten, was meinst du, Alena?“

Die erklärte unbeirrt, als sei das bereits ihr Referat:

„Der vertikale Schnitt markiert die Sichtachse zum Brocken zur Sommersonnenwende, wenn die Sonne also am längsten Tag des Jahres hinter dem Brocken untergeht. Somit kann man den Aussichtsturm als überdimensionale Sonnenuhr verstehen.

Damals war die Kuppe des Mittelberges sicher unbewaldet und man konnte von hier aus

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9167-8

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