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Frau HOLLES Volk

 

Band 3.1

 

Die Wette – Sturmsurfer im Norden

 

 

Angela Scherer-Kern

 

 

 

 

Das komplette Werk von Frau Holles Volk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten, auch die der auszugsweisen Kopie, Vervielfältigung und Verbreitung gleich durch welche Medien, sowie der Übersetzung bedarf der ausdrücklichen, schriftlichen Genehmigung der Urheberin.

Kontakt: atelier@lunartis.de

 

 

Text und Foto ©Angela Scherer-Kern

Erschienen 2019, überarbeitet 2020

Umschlaggestaltung: ©Angela Scherer-Kern

 

Weitere Werke der freischaffenden Künstlerin und Buchautorin

Angela Scherer-Kern: www.lunartis.de

 

 

Für meine Familie und die Kinder dieser Erde

Gefahr

Entferntes Donnergrollen am Morgenhimmel.

„Was?“, schrie Jasi entsetzt auf. „Das kann doch nicht wahr sein? Dass sie unseren Wald fällen wollen! Es ist doch der Wald von unseren Freunden!!“

Sie sprang entsetzt auf und schmiss dabei fast ihren Teller um.

„Heute ist außerdem die Frühlings-Tagundnachtgleiche! Genau dieses Fest wollten wir nachher im Wald feiern. Natürlich dürfen wir heute Morgen nicht in den Wald, wegen dieser blöden Schule. Und jetzt das! Ich war extra um sechs Uhr wach heute Morgen. Da schien noch die Sonne! Da war alles noch soo schön! Aber jetzt. Alles sowas von doof. Das darf einfach nicht wahr sein! Wie können sie so etwas tun? Diese supermegabescheuerten Pluvos! Wie können sie so unendlich grahausam sein?!“

Jasi kamen die Tränen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Choi saß mit trauriger Miene und hängenden Schultern am Frühstückstisch der Eisenschmidt-Huhns und stocherte im Müsli herum. Der sonst so große Appetit war auch ihm gänzlich vergangen.

Ihr Vater beschwichtigte sie und zuckte mit den Schultern:

„Aber Jasi, es ist doch noch gar nichts entschieden! Ich sagte doch, sie werden darüber noch abstimmen. Am nächsten Montag ist die Gemeindesitzung. Erst dann wird entschieden, was mit dem Wald geschehen wird. Kiesabbau ist wichtig. Wir leben nun einmal in einem Gebiet mit hohem Kiesvorkommen. Kies ist ein gemeinnütziger kostbarer Rohstoff, der eben nicht überall vorkommt. Kies brauch man unbedingt zum Hausbau und zum Straßenbau. Der Hafen zum Beispiel, der wurde zum Teil mit unserem Kies gebaut. Nur so konnte die neue Hafencity entstehen. Irgendwo muss ja der Kies herkommen. Vergiss nicht auf einmal, dass ihr im Sommer gern zum Baggersee zum Schwimmen geht. Der war auch nicht immer da, der Baggersee. Der ist nur durch die Kiesabbauarbeiten entstanden. Sie suchen jetzt nach einem neuen Gebiet, um Kies abzubauen. Ich bin ja auch nicht glücklich darüber. Das kannst du mir glauben!“

Er sah wirklich nicht glücklich aus. Er war aber vor allem über die heftige Reaktion seiner Kinder irritiert.

Ein Donnerschlag ganz in ihrer Nähe, gefolgt von einem Blitz.

Auch Hanna Eisenschmidt-Huhn versuchte sie zu beruhigen:

„Die Diskussionen laufen schon seit über zwei Jahren. Es geht hin und her. Je nachdem, welche Partei gerade das Sagen hat. Bald ist wieder Wahl und da ist es wieder wichtig für sie, Wählerstimmen einzufangen. Sie wissen ganz genau, dass viele Bürger der Gemeinde gegen weiteren Kiesabbau in der Nähe ihrer Häuser sind. Zumal es tatsächlich Alternativgebiete zum Abbauen hier gibt. Ich glaube fest daran, dass es eine gute Entscheidung geben wird. Die Parteien werden schon einlenken. Es geht um Wählerstimmen. Da müssen sie sich auf Kompromisse einlassen, sonst sind sie weg vom Fenster. Egal ob es sich hier um den Wald eurer Freunde…“

Dabei hatte sie wieder ihre halb geschlossenen Augen und leicht sonderbare Stimme, wie sie es sich seit den ersten Kontakten mit den Ätherischen des Frau Holles Volkes vor Weihnachten so angewöhnt hatte. Sie wusste genau, dass es sich bei ihren Freunden aus dem Wald um jene unsichtbare Spezies handelte, die sie und ihr Mann Tanno nach wie vor nicht sehen konnten, wobei es Tanno egal war. Sie aber hatte von Anfang an eine strikte innere Abwehr gegen alles aufgebaut, was mit den Ätherischen auch nur im Geringsten zu tun haben konnte, und sah seither in ihnen nahezu eine Bedrohung ihrer guten alten familiären Ordnung und überhaupt.

Sie schmierte weiter die Schulbrote und fuhr fort, zunächst mehr zu sich selbst und wehrte dabei eine unsichtbare Fliege ab:

„Was sage ich da, als sei das schon Gesetz, dass das neuerdings der Wald eurer sogenannten Schulprojekt-Freunde ist. Also egal, ob es sich um den Wald handelt oder einfach um einen Wald, der zu uns gehört, und der zum Wert unserer Erholung erheblich beiträgt. Keiner von uns hat Bock auf diesen Maschinenlärm und Dreck hier in direkter Nähe. Das hatten wir lange genug. Sie haben schon fast um unsere ganze Siedlung gebuddelt. Irgendwann sacken wir noch ab. Das können sie nicht riskieren“, versuchte ihre Mutter, die Kinder und sich zu trösten.

Hagel setzte ein.

„Jasi, mein Täubchen! Komm, es wird sicher alles gut! Seit heute fliegt auch bei uns eine Hummel um das Haus. Ich habe sie heute Morgen sowohl gehört als auch gesehen. Das ist doch ein gutes Zeichen für den Frühlingsanfang! Das könnt ihr euren Freunden erzählen, und in der Schule“, versuchte ihr Vater, sie weiter zu trösten. Er hatte die Frühlingsboten fest einprogrammiert. Aber Jasi war untröstlich:

„Das ist doch jetzt egal! Ob da die Hummel ums Haus fliegt, oder nicht! Siehst du, jetzt donnert es sogar! Das ist ein Zeichen, nämlich ein schlechtes! Das ist so schlimm, was sie machen wollen! Wenn sie den Wald wegnehmen, dann fehlt das schönste Stück Wald auf der ganzen Erde! Wo sollen dann unsere Freunde hin? Die Ätherischen. Sie werden dann alle zu Frau Holle zurückgehen und nihie wiederkommen! Wir werden sie bestimmt nihie wiedersehen können!“

Sie schluchzte erbärmlich. Auch bei Choi kullerten die Tränen. Er, der immer positiv dachte, egal, was war, wusste auch nicht weiter.

„Wir müssen es ihnen sagen, Jass. Sie müssen es wissen. Vielleicht können sie umziehen. Es ist ja noch etwas Zeit. Die werden ja nicht gleich am Dienstag kommen und die Bäume fällen und Kies abbauen. Wir müssen es ihnen heute noch sagen, Jass, trotz der Feier!“, sagte Choi mit schwacher Stimme.

Die Hagelkörner sprangen gegen die Terrassentür.

„Ich bin auch gegen weiteren Kiesabbau bei uns, aber ich verstehe nicht, warum ihr beide jetzt hier weint. Früher war es euch doch auch egal, ob irgendwo ein Baum gefällt wurde, oder nicht. Jetzt auf einmal soll alles anders sein, nur, weil ihr glaubt, dass ausgerechnet dieser Wald ein besonderer Wald ist? Dieses Schulprojekt müsste nun langsam mal zu Ende sein. Das läuft ja schon seit fast drei Monaten. Jetzt kann ruhig wieder Normalität in unseren Alltag einkehren“, kommentierte Hanna verständnislos. Es wäre beinahe ein Pluspunkt für den Kiesabbau an der Stelle des Waldes gewesen, wenn damit auch dieses unsichtbare Volks verschwunden wäre. Aber dieser kurze Gedanke schien selbst ihr zu arg.

„Ist klar, dass du das wieder nicht verstehen kannst! Aber wir sehen sie. Sie gehören zu unserem Leben dazu, basta. Ob Schulprojekt oder nicht. Das ist schon lange vorbei. Sie sind immer da, die guten Wesen der Natur. Wir lassen sie uns von niemanden mehr wegnehmen! Ohne sie ist das Leben leer und tristlangweilig! Es reicht schon, wenn wir es unter unseren Freunden und in der Schule nicht weitersagen können. Aber immerhin sind wir beide uns da eins, und auch mit Kyr und mit Alena, und den Beifußens. Wenigstens die!

Zum Donnerwetter – wir können ja nichts dafür, dass ihr sie nicht sehen könnt! Da könnt ihr wenigstens uns den Spaß lassen! Aber der Spaß ist jetzt nicht mehr lustig! Es ist soho schlimm alles!“, sagte Jasi entsetzt, warf ihren Stuhl um und rannte hoch in ihr Zimmer. Tür zu. Wamm.

Donner und Blitze jagten sich.

Hanna sah Hilfe suchend zu ihrem Mann. Der sah Hilfe suchend zu seinem Sohn.

Hagel ging in Regen über.

„Da braucht ihr mich gar nicht so anzusehen. Ich sehe es genauso wie Jass! Wir können sie nicht einfach wegdenken, wenn wir sie sehen. Seit wir sie sehen, können wir die Natur viel besser verstehen. Das mit dem Wald, das ist schon ganz schön schlimm! Wir müssen unbedingt in den Wald, um ihnen das zu sagen, um zu retten, was zu retten geht, sofohort!“, sagte Choi bestimmt nach Feenart und stand ebenfalls auf.

„Aber Choi, nun sei vernünftig. Ihr habt doch Schule. Außerdem werdet ihr bei dem Wetter im Wald sicher niemanden antreffen, weder Mensch noch Feen, noch sonst irgendwen. Da werdet ihr dieses, dieses Volks, ganz bestimmt nicht sehen“, sagte seine Mutter bemüht ruhig und packte die Brote in Butterbrotpapier. Sie war leicht ratlos, die Augen immer noch halb geschlossen.

Es schüttete draußen dermaßen, dass die Terrassensteine nicht mehr zu sehen waren und sich ein kleiner See vor der Terrassentür gebildet hatte.

„Geh‘ bitte hoch zu deiner Schwester und sage ihr, dass sie sich fertig anziehen soll. Ich bringe euch heute ausnahmsweise zur Schule. Bei diesem Wetter braucht man ja Gummistiefel. Heute Nachmittag reden wir weiter darüber. Je nach Wetter kann ich euch ausnahmsweise zum Wald bringen, mit Gummistiefeln, wenn das so wichtig für euch ist“, bot Tanno seinem Sohn unerwartet an. Er war ansonsten der absolute Shuttle-Service-Muffel.

„Danke Papa, zur Schule wäre gut, wenn du uns hinbringst. Aber heute Nachmittag wollten wir mit den Beifußens hingehen. Da braucht uns keiner von euch zu fahren“, meinte Choi und drehte sich um.

Während er nach oben ging, sagte Tanno zu seiner Frau:

„Was haben die Beifußens, was wir nicht haben?“

„Sehr viel Fantasie und noch mehr Geduld“, meinte Hanna achselzuckend.

Der Regen wurde weniger.

„Vielleicht auch ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen. Eigentlich können wir von Glück sagen, dass die Beifußens da sind. Wahrscheinlich ist es ihr reiferes Alter. Vielleicht sind sie entspannter, weil sie nicht mehr zur Arbeit müssen. Sie sind ein bisschen schräg, aber schwer in Ordnung, der Feuerwehroberhauptmann und die Hexe“, meinte Tanno in Erinnerung an die überaus gelungene Faschings-Party bei den Beifußens.

Als Choi in Jasis Zimmer eintrat, lag seine Schwester schluchzend auf dem Bett.

„Jass, komm. Papa will uns zur Schule fahren. Das wird schon. Ich bin da ganz sicher!“, sprach Choi seiner Schwester und sich selbst Mut zu.

„Ich gehe heute nicht in die Schule! Ich bin krank! Ich muss in den Wald, um ihnen davon zu erzählen. Da kann ich nicht in die Schule gehen und so tun, als wäre nichts. Es ist alles so schrehehehehecklich!“, schluchzte Jasi weiter.

„Jedenfalls müssen wir es Kyr sagen. Er ist bestimmt schon auf dem Weg zur Schule. Der Schulbus ist schon längst weg. In der Pause bereden wir dann, was wir weiter unternehmen wollen. Hier zu Hause können wir nichts ändern und in den Wald können wir bei dem Unwetter auch nicht. Komm, Jass, zieh dich rasch an. Wir wollen los“, ermutigte er sie.

„Ja, du hast recht... Und Alena muss es auch wissen. Und die Beifußens.“ Jasi setzte sich auf. „Wir wollten uns doch um drei Uhr bei den Beifußens treffen und zusammen in den Wald gehen wegen der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Frau Holles Volk feiert sicher schon den ganzen Tag. Oh je! Wie werden sie reagieren, wenn wir ihnen das erzählen? Heute, ausgerechnet heute! An solch einem besonderen Festtag! Das ist schon ganz schön schrecklich. Aber zusammen werden wir das schon schaffen, Jass!“ Choi, der Diplomat, fand einfach immer ermutigende Worte.

Also fuhren sie los. In der Schule bekamen beide so gut wie gar nichts mit vom Unterricht. Jasi sah immerzu mit traurigen Augen zu Kyr rüber, der ja seit diesem Schuljahr in ihrer Klasse war. Er starrte sie irritiert an, weil er nicht wusste, was los war. In der Pause konnten sie endlich reden. Er war natürlich ebenso erschüttert.

„Ich habe davon gehört. Immer mal wieder. Aber ich dachte nie, dass es dabei um unseren Wald ging. Das Gebiet, das sie bis jetzt abgebaut haben, ist doch eh schon so groß. Bis jetzt war es mir ziemlich egal. Der Baggersee ist schon coolknorke.“

Jasi unterbrach:

„Egal, ja, egal war es mir auch! Aber Egal wird es nicht egal sein! Und allen anderen bestimmt auch nicht! Was wird mit ihnen werden? Wenn der Wald nicht mehr da ist! Was können wir nur tun? Irgendwie müssen wir es ihnen sagen. Aber ausgerechnet heute ist das Frühlingsfest. Ausgerechnet heute fängt der Frühling an. Wir können es ihnen doch nicht bei ihrer heiligen Feier sagen. Sie sind immer so fröhlich. Ich will ihre gute Laune einfach nicht mit solch einer Schreckensbotschaft von oberdummen Pluvos zerstören. Es ist zu furchtbar!“, schluchzte sie wieder.

Kyr seufzte:

„Du hast recht. Heute ist das wirklich sehr, sehr, sehr ungünstig. Am besten ist, wir sagen es ihnen erst morgen. Heute wollen wir die Feier nicht stören. Lasst uns das auf jeden Fall erst einmal alles mit den Beifußens besprechen, wenn wir nachher zu ihnen gehen. Sie haben mehr Ahnung darüber, was man tun kann. Ich werde gleich Alena die schlechten Neuigkeiten schicken. Dann weiß sie schon mal Bescheid. Sie wollte doch auch heute kommen. Oh ne, jetzt auch noch Erdkunde…“ Beide stapften mit hängenden Schultern wieder in ihren Klassenraum und vergruben ihre traurigen Gesichter hinter den Atlanten.

Der Tag verging sehr schleppend. Das Mittagessen in der Kantine wollte auch nicht schmecken. Das Gerede von ihren Kameraden nervte sie ungemein. Die drei saßen etwas abseits von allen und überlegten traurig, was alles geschehen könnte. Endlich Schulschluss. Endlich nach Hause und auf zu den Beifußens. Um halb drei Uhr standen sie alle, auch Alena, schon vor der Haustür von Betti und Bert Beifuß. Die beiden öffneten fröhlich wie immer und riefen alle herein. Doch sie sahen sofort an den betretenen Gesichtern, dass irgendetwas nicht stimmte.

Bert rief leicht irritiert:

„Was ist los mit euch? An solch einem herrlichen Tag? Die Sonne ist gerade wieder durchgekommen! Das ist die freudige Einladung in den Wald. Sie werden alle schon auf uns warten. Die Feier begann bei ihnen ja bereits um sechs Uhr heute Morgen. Sie werden schon in bester Partylaune sein! Aber was um Himmels Willen ist mit euch los?“

Er schob alle durch ins warme Wohnzimmer.

Auf dem Tisch standen ein Beutel und eine frischgrüne Kerze.

„Nun erzählt uns erst einmal, was los ist. Was ist geschehen?“, fragte Betti mit leichten Stirnfalten.

Die Kinder erzählten, zum Teil alle parallel, von der schwelenden Bedrohung für den Wald ihrer Freunde, wovon sie heute erst erfahren hatten. Die Beifußens nickten und versuchten, die aktuelle Situation um den Wald zu erklären. Eine Bürgerinitiative gegen den Kiesabbau in der Nähe des Siedlungsgebietes hatte mittlerweile ein vielversprechendes Umdenken in Gang gesetzt. Alternativen zum hiesigen Abbau seien gefunden worden. Nun wäre der letzte Schritt die Abstimmung am Montag und sie wären fest davon überzeugt, dass es gut für den Wald ausgehen würde. Die wirklich aussichtslose Zeit würde nun hoffentlich hinter ihnen liegen. Zu einhundert Prozent könnten sie es natürlich noch nicht sagen, aber sie wären sehr zuversichtlich.

„Wenn das anders ausgeht, dann werde ich mich an die alte Eiche von der Waldfee anketten. Oder am besten ich klettere hoch und baue mir ein Baumhaus und komme erst runter, wenn die Gefahr vorüber ist“, sagte Alena in Kampfesstimmung.

„Knorkidorki! Genau, ein Baumhaus! Da kommen wir alle mit. Mit einem Korb, den wir an einer Leine für Essen herunterlassen“, überlegte Choi die Idee weiter.

„Aber mit einem Geländer. Dann komme ich auch mit“, vergewisserte sich Jasi.

„Ja, klasse Aktion! Im Wald haben wir sogar guten Empfang“, stimmte auch Kyr begeistert zu.

„Kinder, Kinder! So weit wird es sicher nicht kommen. Es besteht kein akuter Grund, diese Panik mit in den Wald zu nehmen. Wir werden unseren Freunden nichts von einer Bedrohung erzählen, die sogar quasi wieder vom Tisch ist. Wir sind überaus zuversichtlich. Nun kommt, wir wollen die Sonne wieder scheinen lassen und endlich zur Feier in den Wald. Der Frühling wartet!“, lachte Bert Beifuß mit seinem entwaffnenden Sonnenlachen und hatte damit die Gemüter fürs Erste etwas beruhigt.

 

Equinox, wos ist denn dos?

„Was? Wir sollten was mitbringen? Oh Mist! Die habe ich total vergessen!“, stellte Jasi fest und hatte neben ihrer Hand sofort wieder ein P auf der Stirn.

„Wir haben genug Samen für eine große bunte Blumenwiese mit. Das reicht für uns alle. Wir sollen sicher kein komplettes neues Feld einsäen“, bot Betti freundlich an, was alle begrüßten. Keiner von den Teens hatte bei der ganzen unerwarteten Aufregung daran gedacht, die zu Hause bereitgestellten Samenbeutel mitzubringen.

Gartenwichtel Emsig hatte es Kyr gestern Abend noch spontan an der Terrassentür zugerufen. Pflanzensamen für ein Ritual, so meinte er. Was auch immer das sein sollte.

Sie hatten daraufhin erst einmal die Beifußens gefragt, was sie mitnehmen könnten, denn sie würden es nach der Schule und vor dem Wald nicht schaffen, mit dem Rad zum Gärtner zu fahren, oder gar gefahren zu werden. Bert gab ihnen Tipps für viele Möglichkeiten. Also hatten alle fieberhaft bei sich zu Hause nach entsprechenden Samen gesucht. Alena hatte Sonnenblumenkerne aus dem Müsli und Fenchelsamen aus dem Teebeutel herausgepult, Kyr hatte das erste Mal in seinem Leben zwei Äpfel gegessen, um an die Kerne zu kommen, und Jasi hatte etwas für sich und ihren Bruder aus dem Vogelfutterhaus stibitzt. Ihre Beute wartete heute überall umsonst auf ihren Einsatz. Vergessen. Vor Aufregung.

Gut, dass wenigstens auf die Beifußens Verlass war. Das Wetter hatte sich beruhigt. Erst einmal. Es brauchte wohl eine Pause. Wie alle. Ein paar Sonnenstrahlen schauten tatsächlich durch die grauen Wolken.

Warm eingemummelt und mit Anti-Matsch-Schuhen ausgerüstet begaben sie sich zu Fuß auf den Weg über das wieder angetaute und daher äußerst matschige und rutschige Stoppel-Maisfeld. Sie gingen unter lautem Stöhnen vorbei an einem frisch abgeladenen noch dampfenden und stinkenden Misthaufen und erreichten nach zwanzig Minuten den Hollerbusch am Waldrand.

 

„Kein Wesen zu sehen“, sagte Alena. Alle drehten sich in alle Richtungen, sahen nach oben, nach unten und schüttelten den Kopf.

„Wir sind ja auch viel zu spät“, maulte Jasi. „Ist vielleicht auch besser so.“

„Jass, nun sieh mal nicht alles so zappenduster. Es wird schon einer auftauchen“, meinte Choi beschwichtigend und leicht genervt. Alle lauschten und guckten sich um.

„Da! Ich höre Musik!“, rief Alena. „Von dort!“ Sie deutete nach links.

„Ja, genau, Flötenspiel!“, rief Kyr hocherfreut.

„Wir gehen einfach Richtung Musik! Da wird sicher das Fest stattfinden! Prima!“, rief Bert.

Gesagt, getan - Wichtelehrenkodex.

Nach nur wenigen Schritten wunderten sich alle, denn es wurde schlagartig immer dunkler. Als hätte einer das Licht ausgeknipst, so schwarz schien der Himmel mit einem Mal.

„Es sieht aus, als würde es gleich ein furchtbares Unwetter geben. Es fühlt sich überhaupt nicht danach an, sondern es ist einfach nur irgendwie furchtbar dunkel. Wir sollten etwas schneller gehen und nah beieinanderbleiben. Ich höre die Musik ganz deutlich. Die Musikkapelle muss direkt vor uns sein. Sie können nicht mehr weit sein“, meinte Betti und zog Alena und Choi ganz nah zu sich, denn die beiden standen in greifbarer Nähe. Alena konnte es normalerweise überhaupt nicht ausstehen, wenn jemand sie einfach so anfasste und auch noch nah an sich zog. Das ging gar nicht! Jetzt war sie schon froh darum. Normalerweise wäre sie auch nicht jetzt um diese Uhrzeit im Wald gewesen. Normalerweise hätte sie mit ihren Freunden nach der Schule irgendwo abgehangen. Aber was war schon normal? Normal war uncool. Dann doch lieber hier, wo es ein bisschen kribbelte.

Die Musik und die menschlichen Besucher in Folge bogen rechts ab. Der Wald hatte eine recht rechteckige Form. Er wurde vor circa 30 Jahren als Nutzwald für die Holzwirtschaft angepflanzt. Daher standen die einzelnen Fichten in gleichmäßigen Abständen in Reih und Glied. Der Wald ging dann in einen älteren über. Aber besagte Freunde hielten sich hier auf und hatten diesen Wald als ihren Hauswald angenommen, da sich in ihrer Mitte eine ältere Eiche befand. Diese hatten die Waldarbeiter aus unerfindlichen Gründen stehen lassen, als sie damals den Wald mit den Fichten neu angepflanzt hatten. Vielleicht weil die Liebe zu den Eichen in den Herzen der Deutschen doch tief verwurzelt war.

 

„Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo wir hier sind“, sagte Jasi unbehaglich.

„Wenn die Musik nicht wäre, würde ich schreiend weglaufen! Das ist richtig gruselig hier!“, sagte Choi, dem auch sehr mulmig zumute war.

„Hier ist es sogar noch düsterer als in deinen Gedanken, Jasi. Wenn wir nur Licht hätten, eine Taschenlampe oder so“, meinte Kyr. Er versuchte irgendetwas zu erkennen, wenigstens den nächsten Baum.

„Ich habe doch eine Taschenlampe an meinem neuen Smartphone! Gesagt, getan!“, rief Bert glücklich aus. Alle rollten innerlich mit den Augen, weil sie mittlerweile Berts Vorliebe für alle Gerätschaften, die mit Kommunikation zu tun hatten, kannten. Das kam genau in der richtigen Sekunde, denn sie stolperten querfeldein über Stock und Stein, durch Matsch und Gestrüpp durch den dunklen, schemenhaften Wald immer der Musik hinterher. Alle hatten nun endgültig die Orientierung verloren. Sie vertrauten voll und ganz darauf, dass die Musik ihnen den Weg wieß. Das Licht war daher extrem hilfreich. In der Aufregung hatten sie alle völlig vergessen, dass sie ja selbst in ihren Handys Taschenlampen-Apps hatten. Alena hatte zwar daran gedacht, es aber verschwiegen. War aufregender. Jetzt aber nicht mehr. Die Dunkelheit nahm irgendwie kein Ende und das war sehr unbehaglich. Sie war schon froh, wenigstens ein bisschen zu erkennen.

Über die Brombeerranken mussten sie hohe Schritte machen. Ganz nach Storchenart stapften sie einer hinter dem andern voran.

Dann drehte die Musik wieder deutlich nach rechts durch den finsteren Wald.

Eine Weile schritten sie schweigend weiter. Pllötzlich rief Jasi:

„Oh seht, dort vorn, da wird es wieder hell! Ein Glück! Es wäre auch ziemlich merkwürdig, wenn die Musik aus diesem dunklen Wald kommen würde. Ein Frühlingsfest muss doch im Hellen stattfinden!“

Tatsächlich, schemenhaft kam Licht in Sicht. Rasch gingen sie darauf zu, denn auch von dorther schien jetzt die Musik zu erklingen. Bloß raus aus dieser Dunkelheit.

Gerade in dem Moment, als Bert, der mit seiner Taschenlampe allen voran lief, den ersten Schritt aus dem dunklen Schatten heraus in den sonnigen Teil machen wollte, der jetzt richtig blendete, rief eine laute tiefe Stimme:

„Stopp!“

Bert bremste abrupt, sodass sie ihm fast alle hinten aufliefen.

„Was ist los?“, „Bert, was soll das!“, „Warum stoppst du?“, riefen alle irritiert.

Da hörten sie die Stimme, die da sagte:

„Bevor ein jeder in die Sonne schreiten darf, habt ihr noch eine kleine Aufgabe zu erfüllen.

Jeder möge darüber nachdenken, was ihn derzeit bekümmert, Sorgen bereitet, belastet, ärgert, beängstig oder was ihn traurig macht.

Egal was oder wieviel.

Jeder für sich, nur in Gedanken.

Das hat einen ganz einfachen Grund.

Heute dürft ihr dieses ganz einfach hier zurücklassen im dunklen Teil des Waldes.

Ihr lasst es ganz einfach zurück in der Dunkelheit.

Alles in Gedanken.

Jeder für sich.

Die Dunkelheit wird all diese schweren Gedanken mit sich forttragen, hinfort.

Verstanden?

Es kann beginnen!

Wer will?!“

Bert meldete sich sofort:

„Prima! Dann nichts wie weg damit – ich komme!“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung in den dunklen Wald und einen Riesenschritt auf den sonnenbeschienenen Waldboden.

„Wow! Fühlt sich das gut an! Wenn ich das nur schon früher gekannt hätte. Ich bin zehn Kilo leichter. Danke!“

Nach kurzem Nachdenken trat einer nach dem anderen mit einem großen Schritt auf die Sonnenseite. Alena brauchte noch etwas. Sie überlegte sorgfältig. Dabei ging sie auf der Schattenseite hin und her und gab ab und noch einmal ab und noch einmal ab und schritt schlussendlich auch mit einem zufriedenen Lächeln und einem beherzten Schritt auf die Sonnenseite.

„Ja, das tat gut!“, sagte sie und wirkte wie befreit, wie alle. Außer Jasi. Das merkte aber niemand.

Sie sahen sich um.

„Und? Seht ihr irgendjemanden? Ich höre wieder die Musik und die kommt von dort vorn“, fragte Choi, zugleich erleichtert, dass die Musik aus dem Sonnenteil ertönte und nicht wieder in den dunklen Wald zurückführte. Der war sowieso verschwunden, aufgelöst, weggezaubert. Alles war Licht durchflutet. Aber das wunderte mittlerweile keinen mehr. Sie nahmen es einfach so hin. War halt so.

„Ich schätze, das gehört zu einem Plan, den sie sich für uns ausgedacht haben“, meinte Kyr.

So stapften sie weiter quer durch den Wald der Musik hinterher bis sie wieder vor dem Hollerbusch standen. Von dort vernahmen sie die Musik dieses Mal direkt aus der Mitte des Waldes.

„Jetzt kommt die Musik von der alten Eiche. Da bin ich ganz sicher! Wenn dort nichts ist, dann führen sie uns nicht nur um den Wald, sondern auch an der Nase herum“, meinte Alena, lächelte aber dabei. Also gingen sie Richtung alte Eiche und genau, dort sahen sie eine kleine ätherische Musikgruppe unter einem braunen Farnwedel. Sie spielten auf allerhand kleinen Musikinstrumenten ein langsames Tanzliedchen. Das ganze bunte Frau Holle Volk des Waldes bewegte sich dabei langsam um die alte Eiche. Sie machten Bewegungen, als würden sie etwas in die Erde hineinlegen.

Fleißig trat hervor:

„Schön, dass ihr gekommen seid und uns gefunden habt! Habt ihr etwas zum Einsäen mit?“

Fleißig schien in seinem Element. Durch seinen fluffigen Bart lächelte er von einem Ohr bis zum anderen und stand vor ihnen mit der linken Hand auf seinen Spaten gestützt und die rechte Hand mit der Geste der Konzentration.

„Dies ist eine heilige Zeit, wisst ihr? Wir haben heute quasi ein doppeltes Equinox!“ Er grinste. Wenn seine Ohren nicht im Wege gewesen wären, dann hätte er wohl einmal um seinen Kopf herum gegrinst.

„Equinox? Wos ist denn dos? Wozu haben wir die Saat mitgenommen? Wozu habt ihr uns durch diesen dunklen Wald geleitet und jetzt stehen wir hier in der Sonne? Und wozu…“

Weiter kam Alena nicht, denn sie wurde von einer bekannten Stimme unterbrochen:

„Wozu? Wozu?“ Doch niemand war zu sehen.

„Nun, worauf wartet ihr alle? Baut fix eine Brücke!“

Kyr und Jasi reagierten sofort. Kyr erspähte einen dicken Ast und legte ihn mit dem einen Ende auf einem alten Baumstumpf ab. Jasi rief noch Choi und Alena herbei und gemeinsam hievten sie einen größeren Stein auf die andere Seite als Brückenpfeiler. Ast abgelegt. Brücke fertig.

„Na also! Wozu rufen und keine Brücke in der Nähe, das ist schon ungünstig. Zur Not nehme ich auch mal eine Holz-Stein-Brücke“, grinste da kein anderer als der Brückenkoboldälteste Waage, Wächter über alle 2.500 Brücken Hamburgs. Ziegenbart. Lange Fransenjacke mit langen Fransen und alles schleifte wie eine Schleppe hinter ihm auf dem moosig-matschigen Waldboden. Er stand leicht im Schatten. Kobolde mochten direktes Sonnenlicht nicht so gern. Das wäre nicht gut für ihren Äther, meinten sie, was wohl auch stimmte. Denn sie hatten tendenziell eh mehr Energie als Feen oder Wichtel und wenn sie dazu noch viel Sonnenenergie tankten, oh, oh.

Er zwinkerte Fleißig zu, der sofort vergessen hatte, dass ihm eigentlich gerade die Show gestohlen wurde. Egal, denn was ein Ältester machte, das hatte so seinen Sinn, wenn man diesen auch nicht gleich erkannte.

„Equinox ist meine Lieblingszeit. Erstens klingt es einfach genial, Equinox, und zweitens verbindet es wie eine Brücke. Equinox gibt es genau zweimal im Jahr. Zum Frühjahr und zum Herbst. Heute ist die Frühlings-Tagundnachtgleiche. Sie ist der Übergang vom Winter über den Frühling zum Sommer. Genau in einem halben Jahr ist dann die Herbst-Tagundnachtgleiche. Sie ist der Übergang vom Sommer über den Herbst zum Winter hin. Equi bedeutet so viel wie gleich, hat also etwas mit einem Gleichgewicht zu tun. Und was gibt es schon Schöneres als ein harmonisches Gleichgewicht! Nox bedeutet Nacht, also die Nacht, die gleich lang ist wie der Tag. Morgen schon werden die Tage langsam wieder länger. Deswegen, meine liebe Alena, haben wir euch noch einmal durch die dunkle Zeit geschickt, damit ihr noch besser versteht, was Licht bedeutet. Und damit auch Equinox.

Ist es nicht schön, quasi für das innere Gleichgewicht einfach mal was abzugeben, loszulassen, was man nicht mehr braucht, was einem ärgert, stört, kümmert, traurig macht oder gar beängstigt? Einfach die Vergangenheit in der Vergangenheit lassen zu dürfen?“ Er zwinkerte Alena mit seinen funkelnden Augen zu. Sie nickte und grinste. Sie liebte diesen Brückenkoboldältesten. Er war so herrlich schräg.

„Gleichermaßen kümmern wir uns heute auch um die Zukunft! Wozu? Wozu beides – Vergangenheit und Zukunft?“ Dabei zeigte er mit seinem spitzen Zeigefinger auf einen unsichtbaren Punkt neben der Eiche. Alle sahen dorthin und hielten ihren Kopf schief.

„Wegen Equinox! Wenn man etwas Altes abgibt, dann hat man auch wieder Platz für etwas Neues. Das ist wie in meinem Kleiderschrank“, bemerkte Jasi.

„Jetzt verstehe ich Mamas Frühjahrsputz! Sie macht das unbewusst richtig!“, rief Choi laut aus, freudig über diese Erkenntnis.

„Fleißig sprach von einer doppelten Equinox. Wahrscheinlich meinte er das deshalb, weil wir zweimal etwas abgeben: einmal in Gedanken und dann die Blumensamen“,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9170-8

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