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Weihnachten der Wahrheit

"Wann kommst du heute von der Schule?" Meine Mutter stand in unserer Küche und kochte Wasser für den Tee den ich jeden Morgen trinke bevor ich mich auf den Weg zur Schule mache. Erst als sie mich für eine Weile gespannt ansah bemerkte ich, dass sie auf meine Antwort wartete.

"Ich muss nach der Schule noch in die Stadt, ich brauche ein Buch aus der Bibliothek, also komme ich spät zurück. Aber wartet nicht mit dem Essen auf mich, ich kaufe mir einfach in der Stadt etwas." Ich lächelte sie an und ging zu unserem Eichenholz-Küchenschrank und kramte nach dem Honig. In Wahrheit hatte ich aber gar nicht vor in die Stadt zu fahren, in Wahrheit hatte ich vor nach der Schule zu meinem Freund zu gehen. Meiner Mutter konnte ich jedoch keinesfalls die Wahrheit sagen, ebenso wenig wie meinem Bruder Edmund, Edi, wie ihn jeder nennt. Er ist neunzehn, zwei Jahre älter als ich, er denkt er muss mich immerzu beschützen. Sonst stört mich das eigentlich nicht, im Prinzip habe ich eine überaus gute Beziehung zu ihm, aber in Hinsicht auf Florian, meinen Freund, übertreibt er durchaus. Sowohl Edi als auch meine Mutter denken von Florian, dass er genauso ist wie sein Vater und sein älterer Bruder, in Wirklichkeit ist er aber völlig anders, zumindest vom Charakter her. Sie sehen sich zwar alle zum Verwechseln ähnlich, so sehr, dass man sie nur durch ihr Alter unterscheiden kann, zwischen ihren Persönlichkeiten jedoch, liegen Welten. Sein Bruder und sein Vater sind selbstsüchtig und rebellisch, nicht einmal das Gesetz kann ihre Machenschaften aufhalten. Wenn sie einen Nutzen davontragen begehen sie ein Verbrechen, nahezu als wäre es ihnen gleichgültig ob sie erwischt würden oder nicht, manchmal sogar nur um Frust abzubauen. Florian aber ist das exakte Gegenteil, viel reifer als die Beiden, herzensgut, charmant, gescheit und auch athletisch, weil er den Frust durch Sport abbaut im Gegensatz zu seiner Familie. Er ist das perfekte Beispiel dafür, dass man trotz einer schweren Kindheit ein liebevoller und lebensfroher Mensch werden kann. Seine Mutter nämlich starb als er noch sehr jung war, doch bei dem Rest seiner Familie hat er nie wieder denselben Halt gefunden, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Aber genau wegen diesen Dingen habe ich mich in ihn verliebt, weil er durch seine harte Vergangenheit zu dieser herzhaften Person wurde. Meine Familie sieht diese Gründe nicht, die ich habe ihn zu lieben. Bis auf meinen Vater, der mich verstehen kann, ich weiß zwar nicht wieso, aber ich bin unendlich froh darüber, dass wenigstens einer meiner Verwandten zu mir hält.

 

"Du isst in letzter Zeit kaum noch zu Hause." Meine Mutter reicht mir einen Teelöffel für den Honig. Ich wusste nicht was ich ihr antworten sollte, also zuckte ich nur mit den Schultern. Meine Mutter sah mich trotzdem noch erwartungsvoll an, doch meine Rettung stand schon im Türrahmen. Edi trug hellblaue Jeans und den olivgrünen Kapuzenpullover mit der gelben Aufschrift unserer heimischen Fußballmannschaft, welchen er mindestens einmal in der Woche trägt, seit er dort spielt, und seine Haare saßen wie jeden Tag perfekt, obwohl sie wie immer unglaublich zerzaust waren.

"Streitet ihr schon wieder?"

"Wir streiten nicht, deine Schwester hat mir nur eben gesagt, dass sie heute schon wieder nicht mit uns zu Abend essen wird." Mein Bruder warf mir einen misstrauischen Blick zu.

"Morgen bin ich hier, ich verspreche es hoch und heilig."

"Wie auch immer trink deinen Tee aus, wir müssen langsam los." Mein Bruder schüttelte seine Autoschlüssel und nahm seinen dunkelgrauen Anorak vom Haken neben unserer großen, weißen Eingangstür. Ich nahm noch einen letzten Schluck von meinem Früchtetee und schlüpfte in meine dunkelblaue Daunenjacke, die Edi mir schon bereithielt.

 

Vor der ersten Stunde saßen ich und meine beiden besten Freunde, Philipp und Johanna, im Innenhof der Schule und tranken den Kaffee, den Edi und ich mitgebracht haben. Dort saßen wir so gut wie jeden Morgen um Neuigkeiten auszutauschen, denn der Hof unsere Schule war sehr schön mit Pflanzen dekoriert und wirkte auf uns Schüler unheimlich entspannend. Johanna kenne ich seit ich hier zur Schule gehe. Am ersten Schultag kam sie in die Klasse, ein blondes Mädchen, relativ groß und recht schlank, und wir waren von Anfang an auf derselben Wellenlänge. Philipp hingegen kenne ich schon fast mein ganzes Leben lang. Er ist mein Nachbar seit wir Kleinkinder waren und unsere Familien sind gut miteinander befreundet. Anna, der Spitzname meiner Freundin, suchte nach ihrem Lippenstift.

"Willst du heute Nachmittag einkaufen gehen, Kathi, ich brauche noch Weihnachtsgeschenke für meine Eltern?"

"Ich kann nicht, ich bin mit Flo zum Essen verabredet." Philipp sah mich hinter seinem Chemie Buch hervor an.

"Deine Eltern wissen darüber nicht Bescheid nehme ich an?"

"Natürlich nicht, obwohl mein Vater hinter mir steht, er versucht mir zu helfen meine Mutter von Flo zu überzeugen."

"Hast du dich schon mal gefragt wieso?" Ich und Anna sahen ihn verwirrt an, doch bevor Philipp weiterreden konnte läutete es zur Stunde.

 

Den ganzen Vormittag wollte mir der Gedanke nicht aus dem Kopf gehen, was Philipp mit dieser Aussage andeuten wollte. Er hatte schon eine Stunde vor mir aus und ich hatte keine Möglichkeit mehr ihn zu fragen.

"Du wirkst heute so nachdenklich. Alles ok?" Florian saß am Steuer, wir waren am Weg in den Park eines anderen Ortsteils.

"Ja, Philipp hat mich nur verwirrt, alles in Ordnung." Ich lächelte ihn an und nahm seine Hand, die auf der Mittelkonsole lag.

"Gut, ich wollte mit dir noch über Weihnachten reden. Es sind nur noch zwei Tage bis dahin."

"Du weißt, ich muss den Tag mit meiner Familie verbringen, meine Mutter wird sonst misstrauisch." Betrübt sah Flo aus dem linken Fenster seines alten Mitsubishis.

"Es tut mir leid, aber wir können uns am Tag danach sehen." Er parkte den Wagen auf einem abgelegenen Parkplatz, ich drückte ihm einen dicken Schmatzer auf seine weiche Wange und auf seinem Gesicht breitete sich wieder ein Lächeln aus. Ich stieg aus dem Auto, hob eine Handvoll Schnee auf und formte ihn zu einer Kugel, Flo hatte es nicht einmal bemerkt und ich traf ihn genau im Gesicht. Wir gingen durch den verschneiten Park auf das Wirtshaus zu, indem wir vorhatten zu essen.

"Ist das nicht dein Vater auf dem Tisch beim Fenster?" Ich sah in die Richtung, in die Flo zeigt, drinnen brannten alle Lichter also erkannten wir ihn beide sofort.

"Aber die Frau ist doch nicht deine Mutter, kennst du die Frau?"

"Nicht das ich wüsste." Ich nahm seine Hand und legte einen Zahn zu. Unauffällig setzte ich mich im Restaurant mit dem Rücken zu dem meines Vaters, sodass mein Freund die fremde Frau und ihn beobachten konnte. Der Speisesaal des Hauses wirkte durch die hohe Decke riesig und war für einen Wochentag überraschend viel besetzt. Wir saßen ebenfalls direkt am Fenster und ich bewunderte die schöne Weihnachtsdekoration mit den vielen Lichtern im ganzen Raum und auch draußen um das Restaurant.

"Er gibt ihr eine kleine Schachtel." Ich wollte mich gerade umdrehen, aber Flo hielt mich gerade noch auf.

"Siehst du was drinnen ist?" Er schüttelte den Kopf, aber er ließ meinen Vater nicht aus den Augen.

"Philipp hat heute Morgen so eine Andeutung gemacht." Florian sah mich ratlos an.

"Ich habe ihm und Anna erzählt, dass mein Vater unsere Beziehung verstehen kann, und er hat mich darauf hingewiesen, dass ich mir überlegen sollte wieso das wohl so ist."

"Denkst du er kennt die Frau?" "Ich habe keine Ahnung."

 

Draußen glänzte der erst kürzlich gefallene Schnee in der Morgensonne. Es war schon bald Mittag, Florian und ich waren gestern noch lange unterwegs gewesen und hatten gegrübelt wer diese Frau gewesen sein könnte. Ich setzte mich auf, schlüpfte in meine cremefarbenen, flauschigen Hausschuhe und machte mich langsam auf den Weg in die Küche. Es war Samstag und normalerweise müssten alle schon wach sein und beim Frühstück sitzen, ich konnte aber keinerlei Geräusche von unten wahrnehmen. Niemand war zu sehen und der Esstisch war voll von Nudelboxen vom Asiaten, vermutlich noch vom gestrigen Abendessen.

"Papa war gestern auch nicht zu Hause. Er hat länger gearbeitet." Edi stand in grauer Jogginghose grauem Pullover hinter mir.

"Ein Geschäftsessen?" Er sah mich misstrauisch an.

"Ich habe ihn gestern gesehen. Er war essen mit einer Frau."

"Wer war essen?" Unsere Mutter sah abwechselnd mich und Edi an.

"Philipp." sagte er knapp. Meine Mutter nickte kurz.

"Wollt ihr beiden Frühstück?"

"Ich nicht, ich mach mich gleich auf den Weg zu Johanna." Ich warf meinem Bruder noch einen letzten Blick zu und ging in Richtung Badezimmer. Edi rief mir nach, dass er mich hinfährt und warf seinen Computer an. Frisch geduscht zog ich mir eine dunkelblaue Bluse über, zwängte mich in meine Jeans, ging wieder zurück ins Wohnzimmer und schaute meinem Bruder über die Schulter.

"Sie hat sich stark verändert." Edi drehte den Kopf zu mir und zog die Mundwinkel hoch. Er sprach gerade über Videotelefonie mit einer alten Freundin, die weit weggezogen ist.

"Bist du fertig, können wir fahren?"

"Wieso willst du nicht über sie reden?" Er ignorierte meine Frage und reichte mir meine Jacke. Auch im Auto sagte er kein Wort und ich fing an mir Gedanken zu machen. Wieso hat er unserer Mutter nicht gesagt wen ich wirklich gesehen habe? Wieso hat er nicht auf die fremde Frau reagiert?

"Soll ich dich später auch wieder abholen?"

"Nein, Philipp fährt mich."

"Er ist nur ein Jahr älter als du, ich halte es nicht für vernünftig, dass du mit einem Führerscheins-Frischling mitfährst."

"Mach dir keine Sorgen, er passt schon auf mich auf." Ich ließ mir einen Kuss auf die Wange drücken und ging anschließend in Annas altmodisch schönes Haus.

 

Nach einigen Stunden bei Johanna und einem Kinofilm mit Philipp trat ich durch unsere verwunderlicher Weise nicht zugesperrte Haustür.

"Hallo?" Meine helle Stimme hallte durch unsere beinahe leere Eingangshalle. Keine Antwort. Ich ging durch unser winterlich dekoriertes Wohnzimmer ins Arbeitszimmer meines Vaters. Ich schob die schwere Tür auf und fand hinter dem prachtvollen Holzschreibtisch nur seinen leeren Drehsessel vor. Scheint tatsächlich niemand hier zu sein. Ich drehte mich um und sah ein Paket unter dem Christbaum, den mein Vater diesen Vormittag aufgestellt haben muss. Aber wer sollte einen Tag vor Weihnachten schon ein Paket unter den Baum stellen? Ich sah erneut um mich um mich zu vergewissern, dass wirklich niemand hier war. Ich nahm die Schachtel in die Hand und hob sie auf Augenhöhe hoch, darauf stand nur die Aufschrift 'amazon.co.uk'. Zuerst dachte ich es könnte ein Weihnachtsgeschenk sein, das meine Eltern bestellt haben, andererseits aber hätten sie es doch dann in Geschenkpapier verpackt. Vorsichtig löste ich das Klebeband, das dabei jedoch laute Geräusche verursachte. Ich spähte in die Schachtel, Unterwäsche. Rote Frauenunterwäsche mit weißen Verzierungen, darin vergraben ein Kuvert mit der Aufschrift 'Dein Haserl'. Das Rattern des Garagentores riss mich aus meinen Gedanken. Ich versuchte alles wieder so hinzustellen wie ich es vorgefunden hatte, warf mich auf unseren breiten, bequemen Wohnzimmersessel und tat als lese ich die heutige Zeitung.

"Seit wann liest du Zeitung?" Mein Vater sah mich verwundert an und ich lächelte ihn nur an, weil mir auf Anhieb keine gute Ausrede einfiel.

"Warum bist du eigentlich schon so früh zurück, ich dachte du bleibst nach dem Film noch bei Philipp?"

"Ich habe Mama gestern versprochen, dass ich heute zu Hause esse." Mein Vater nickte mir zu und verschwand in seinem Arbeitszimmer ohne das Paket unter dem Baum zu beachten.

Gemeinsam stehen Edi und ich in der Küche, er wusch das Geschirr vom Abendessen und ich trocknete es anschließend ab.

"Du hättest mir sagen können, dass du eine neue Freundin hast."

"Bitte?" Mein Bruder sah mich mit seinen großen blauen Augen verblüfft an.

"Ich hab das Packerl unterm Baum heute Nachmittag gesehen und reingeschaut." Noch immer sagte er kein Wort. Er starrte stur in meine Richtung, obwohl ich das Gefühl hatte er sah durch mich hindurch.

"Das ist nicht für mich. Hör zu, ich wollte nicht, dass du es so erfährst, aber Papa", mir stiegen Tränen in die Augen und ich drehte mich von meinem Bruder weg, ich wollte es einfach nicht wahr haben.

"Die Frau mit der du ihn gesehen hast, sie ist seine Affäre, schon seit ein paar Monaten." Ich drehte mich um und wollte weg, mir völlig gleichgültig wohin, doch mein Bruder hielt mich am Handgelenk fest. Er drehte mich zurück zu sich und schloss mich fest in seine Arme. Ich vergrub mein Gesicht tief in seinen weichen Pullover. Tränen rollten mir über meine Wangen und mit jedem Schluchzer drückte mein Bruder mich fester an sich.

Impressum

Texte: by Katrina Ryder (katrina.ryder@gmx.at)
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2014

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