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Wie geht's dir?

Schämst du dich manchmal, wenn du Leute belügst, die dir wichtig sind? Du weißt nicht genau wieso es dich so sehr hemmt ehrlich zu antworten – nur einmal – auf diese vermaledeite Frage:



„Wie geht’s dir?“

 


Gar nicht gut. Miserabel. Aber du schweigst. Du schweigst, sagst dann gut, damit du sie vergessen kannst. Diese kleine, unbedeutende Frage.

Der Person, der du dabei ins Gesicht gelogen hast, hat viele Gesichter. Ein alter Schulkamerad, ein Bekannter, dessen Namen du schon längst nicht mehr kennst, aber das eindringlichste Gesicht von allen, ist das Gesicht einer Person, die dir wichtig ist. Die alles für dich bedeutet und der du keine Vorwürfe machen würdest, hätte sie auf „Und dir?“ mit „Eigentlich nicht so gut.“ geantwortet.

Also warum hängen diese Dämonen dann wie lästige Gewichte an deinen Lippen? Es bringt nichts zu ziehen und zu zerren. Sie bewegen sich keinen Zentimeter, bis du nicht das sagst, was sie dich sagen hören wollen.

Und wieder passiert es. Die Person, die dir heute gegenübersteht, hat dich das schon viele Male gefragt. Jahrelang. „Wie geht’s dir?“ Du lächelst und schielst im Geiste auf dein Skript, in der Hoffnung eine Änderung vorzufinden.

„Gut und dir?“

Für eine Millisekunde – könntest du schwören – wirst du skeptisch beäugt. Ja, bitte finde heraus, dass es nicht so ist. – Nein, warte, tu’s nicht! Auch wenn ich es so gerne wollte… Will ich es denn? Bitte frag doch, ob ich mir sicher bin. Sag, dass du siehst, dass es nicht so ist! Bitte. Bitte! Bittebittebitte!!!

„Auch. Aber sag mal, ist wirklich alles okay?“

Und dann brichst du, als hätte jemand eine gewöhnliche wirkende Scheibe zerschlagen, weil diese Person wusste, dass dahinter etwas verborgen liegt.

Es dauert keine Sekunde, da liegt ihr euch auch schon in den Armen und es fühlt sich so ehrlich und sicher an, du wünschtest, du hättest schon früher improvisiert. Einfach die Wahrheit gesagt. Behutsam streichelt man dir über den Kopf, während du Rotz und Wasser heulst, manchmal vom Schluckauf unterbrochen wirst, weil du ja endlich erzählst, was sich über die Jahre auf deinem Herzchen angesammelt hat. Es war so schwer und mit jedem verlorenen Wort wird es endlich leichter.


Die Arbeit läuft nicht so gut, die Schule ist ein Graus. Du fühlst dich missverstanden von der Welt und hast keine Perspektive. Manchmal ist da diese Leere in dir, ohne ermittelbaren Ursprung. Du glaubst, du bist abnormal, sagst du dann. Vielleicht depressiv, vermutest du. Kann es einem denn so unglaublich schwer fallen, morgens aufzustehen? Es gibt nicht viel, das dich motiviert und es scheint immer weniger zu werden.

Nachdem ihr euch von der Umarmung löst, blickst du unsicher auf, bekommst nach diesem Gefühlsausbruch aber nicht die Reaktion, die deine Dämonen dir unheilvoll verkündet hatten. Es waren keine Vorwürfe zu hören, niemand sah missbilligend auf dich herab. Stattdessen sagt man dir, dass das normal ist, vollkommen menschlich. Jeder macht das mal durch, erst neulich ging es deinem Gegenüber nicht anders. Aber das Reden würde ihm helfen, ihm Kraft geben. Solltest du jemals wieder Probleme haben, stehen seine Türen offen, denn du bist dieser Person unheimlich wichtig. Das sagt sie dir – bestimmt und ohne zu zögern.
Angenehm überrascht schließt du deshalb die Augen. Als hättest du endlich deinen Frieden gefunden, einen enorm großen Schritt gewagt und dabei gesiegt. Es fühlte sich großartig an.

Aber der Übergang in die Realität zerquetscht dir umso mehr das Herz, denn als du die Augen wieder öffnest, sind die Hirngespinste und rosaroten Visionen verschwunden. Du hast immer noch nicht geantwortet.

 


„Ja, bin nur ein bisschen müde.“



Danach verabschiedet ihr euch und jeder geht wortlos seinen eigenen Weg.

 

 

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Bildmaterialien: favim.com
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2015

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