Prolog
Die alte Dame schaut traurig in die Sitzreihen. Nicht einmal die Hälfte der Stühle ist besetzt. Seufzend beendet Gerda Westerholt ihr Referat, die verbrauchte Luft beschert ihr leichte Übelkeit: „Ich bedanke und freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind, meine Damen und Herren. Kommen Sie gut nach Hause.“
Jedes Mal dasselbe höfliche Klatschen. Die Menschen aus der ersten Reihe beeilen sich, an ihr vorbei zu kommen, manche nicken wenigstens kurz. Aber weshalb waren sie hier? Eine kurze Neugier nur, die nicht befriedigt werden konnte? Oder wissen sie einfach nichts mit ihrer Zeit anzufangen?
„Hat es Ihnen gefallen?“, stoppt sie einen kräftigeren Herren aus vollem Lauf, so um die vierzig.
„Ähem … Doch, schon! Irgendwie ...“
„Was denn genau?“
„Na, ja …?“
„Kommen Sie! Nehmen Sie einen Moment Platz.“
„Also, eigentlich muss ich jetzt ...“
„Na, ein paar Minuten werden Sie doch sicher für eine alte Dame erübrigen können, oder?“
„Ja, also … Klar.“ Er lässt sich auf einen Stuhl der ersten Reihe plumpsen und schaut sich missmutig um.
Sie lächelt triumphierend und blickt ihm tief in die Augen. Einer Seniorin, noch dazu in einem antiquierten, elektrischen Rollstuhl sitzend, schlägt man eben keine Bitte ab. „Haben Ihnen die Kekse geschmeckt?“
„Öh, doch, ja.“
„Dachte ich mir, Sie haben eine ordentliche Menge davon verputzt.“
„Oh, tut mir leid, wenn ich zu gierig war.“
„Aber nein, es freut mich doch, wenn es Ihnen schmeckt. Waren schließlich selbst gebacken. Wissen Sie, ich komme aus einer Zeit, wo die Menschen noch lange nicht solche Gesundheitsfanatiker waren und zudem die Krankenkassen nicht jeden Atemzug von uns registrierten und sanktionierten.“
„Mir scheint, dass Sie außerdem auf manchen technischen Fortschritt verzichten“, wagt er sich vor. „Warum nutzen sie keinen Hilfskörper?“
„Ach wissen Sie“, antwortet sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, „ich gehe nun auch ohne so einen neumodischen Kram auf die Hundertzehn zu. Reicht das nicht?“
„Natürlich, ja. Aber sagen Sie …? Was kann ich denn nun eigentlich hier und heute noch für Sie tun?“
Sie räuspert sich und richtet ihren wässrigen Blick auf ihn. „Schauen Sie mir mal ganz tief in die Augen, junger Mann. Glauben Sie mir, es lohnt sich. Diese Augen haben viel gesehen. Jahrgang 1935! Nicht schlecht, hm?“
„Sicher, aber ...“
„Schschscht! Hören Sie mir einfach ein paar Minuten zu, das ist alles was ich mir wünschen würde.“
„Ja, gut.“
Sie summt leicht. „Hören Sie einfach nur zu. Hören Sie mir zu, was meine Ohren zu hören bekommen haben, von Menschen, die noch älter sind als ich: Meinen Eltern, Großeltern und auch noch meinen Urgroßeltern. Von einer Zeit, in der Hamburg umgeben war von Städten. Städte, die nie verschwunden sind. Städte, deren Mauern bis heute stehen. Deren Straßen nach wie vor existieren, deren Bahnhöfe und Rathäuser ...“
*
Feierabend, denkt er und gönnt sich einen kleinen Umweg durch den Schlosspark. Wie gemalt verabschiedet sich die Sonne an diesem Frühsommerabend am Horizont. Paare knutschen auf den Wiesen, Senior*innen flanieren auf den Wegen lächelnd in Hilfskörpern. Meisen zwitschern in den Bäumen und Büschen, leichte Windböen wehen Gerüche von Blüten heran und die sanfte, bittere Kühle eines leichten Windes unterstreicht alles so wunderbar, dass er heulen könnte. Irgendwie fühlt er sich an vergangene Zeiten erinnert, uralte Zeiten, natürlicher, wahrhaftiger, mit Menschen, die sich durch weniger Technik näher waren … Sein summendes Media erscheint ihm hier wie eine Biene, und doch schaut er genervt auf den blinkenden Armreif. Eine Mail. Schon wieder so ein Quatsch! Seufzend tut er es sich an und öffnet sie. Es schmerzt beinahe, wie sich die Worte und Sätze vor seinen Augen in der Parklandschaft aufbauen:
Das ist Ihre letzte Chance! Gehen Sie umgehend ins Rathaus zurück und erklären Sie Bergedorf zur unabhängigen Stadt! Andernfalls werden Sie diesen Abend nicht überleben!
Kopfschüttelnd löscht er die Mail, die anscheinend von so einem vorsintflutlichen Internetcafé abgesendet wurde. Da verkehren heute wohl nur noch verarmte Menschen und Obdachlose. Die blödsinnigen Zeilen verschwinden und seinen Augen gehört wieder allein der sommerliche Park im Juni. Zufrieden richtet er seinen Blick auf den vor ein paar Jahren so gelungen umgebauten CCB-Tower, der mit seiner nüchternen Architektur das Bergedorfer Zentrum seit Jahrzehnten prägt. Nun ist er zwar noch höher, aber auch viel schöner. Und auch die bunten Fassaden des Centerpalastes mit seiner in einen Solarhut eingefassten, mechanischen Uhr sind von hier zu sehen. Allein das noch recht neue Hotel Rundblick, ebenfalls ein Schmuckstück, nordwestlich des Bahnhofs errichtet, kann er hier nicht ausmachen. Doch kann er sich selbst in seinem Stolz schon mal dabei ertappen, Bergedorf wieder als eigene Stadt wahrzunehmen. Trotzdem bleibt es für ihn am Ende albern. Was sind die Leute doch verrückt, denkt er mit Blick auf die Schlossmauern. Am besten zöge man mit der Verwaltung dort hinein: Wie früher, als Burgen und Schlösser noch Regierungssitze waren. Dann würde er sich zum Ritter oder Fürsten erklären und alle Bergedorfer*innen wieder zu Bauern machen.
Er muss lachen und biegt dabei ums Schloss. Er erlaubt sich, das Bauwerk zu umrunden, auch wenn es seinen Weg nach Hause noch einmal verlängert. Nach dieser dämlichen Mail hat er sich das verdient, findet er. Hier auf der Ostseite des Schlosses ist er gerade sogar ganz allein. Perfekt. Und morgen, das nimmt er sich fest vor, wird er deutlich früher Schluss machen …
„Herr Bürgermeister!“
Häh? Er hebt den Kopf.
Ein kräftiger, großer Kerl watschelt mit wedelnden Armen auf ihn zu. „Herr Bürgermeister! Bitte warten Sie!“
Seufzend bleibt er stehen und lacht: „Ich bin Bezirksamtsleiter und kein Bürgermeister.“
Der Typ kommt vor ihm zum Stehen. Schnaufend bückt der sich und braucht eine Weile, bis er wieder hochkommt. Die Krankenkassen dürften viel Geld mit ihm verdienen.
„Kein Bürgermeister?“ Der Mann baut sich in ganzer Größe auf und überragt ihn um mehr als einen Kopf. „Ihr letztes Wort?“, fragt er traurig.
„Wie meinen Sie das denn? Natürlich ist es mein letztes Wort. Ich bin de facto nun mal kein Bürgermeister. Den finden sie im Hamburger Rathaus.“ Mit Blick aufs Media, wo ihm die Uhrzeit entgegen blinkt, fügt er hinzu: „Aber sicher nicht mehr heute.“ Er wendet sich zum Gehen.
„Ein Moment bitte noch!“
„Ich hab Feierabend.“
„Ganz kurz nur, wirklich.“
„Also schön, was ist d…?“
Die Pranken dieses Ungeheuers schließen sich wie Eisenklauen um seinen Hals. Sein Gegenüber verschwimmt vor seinen Augen. Er ringt nach Luft. „K-keine Sorge“, hört er weit weg, „ist gleich vorbei, bestimmt. Gleich haben Sie Feierabend. Für immer.“ Das letzte, was er vor seinen Augen erkennt, ist ein roter Warntext:
Zu hoher Puls! Zu wenig Sauerstoff! Suchen Sie umgehend einen Arzt auf!
Irgendwie schafft er es noch, sein Media aus dem Armreif zu bekommen, bevor sein Peiniger es ihm entreißt und wegwirft. Nur kurz hat sich der Würgegriff dabei gelockert. Das letzte was er hört, sind Schreie. Einen Sekundenbruchteil schöpft er Hoffnung, aber dann legt sich vollkommene Weltraumschwärze und Stille über ihn.
*
„Höh?“ Der Professor hebt den Kopf. Aus seinen müden Augen folgt er einem Media, das in hohem Bogen eiernd ins Gebüsch schlägt. Mit knurrendem Magen und noch mehr Durst geht der alte Stadtstreicher hin. Mühsam das Media mit seiner dünnen, adrigen Hand aufgefischt, will er das Gerät näher untersuchen, da lässt ihn eine schreiende Frau zusammenfahren. Sein Blick fällt auf einen reglosen Körper an der Schlossmauer. Ein zweiter spitzer Frauenschrei erzittert seinen mageren Leib: Hübsch, blond mit Pferdeschwanz und engen Sportklamotten richtet eine Joggerin ihr Media wie ein Kruzifix auf Satan. Da ist aber nur ein dicker großer Mann, der sich die Ohren zuhält und davon trottet. „Mörder“, ruft sie. Mit etwas Abstand folgt sie ihm einige Schritte.
Der Professor nutzt die Gelegenheit und tritt ungesehen ans Opfer. Es ist ihm unangenehm. Der alte Stadtstreicher mag keine Toten, und das Media will er wirklich nur haben, um darin zu lesen. Er sammelt gern Wissen, behält es für sich oder redet mit jemandem drüber, wenn es wen interessiert. Dieser tote Mann wird das Gerät nicht mehr brauchen. Leider ist das Display erloschen und um es wieder zu aktivieren, braucht er dessen Daumen.
„Och, Mann“, seufzt der Professor leise. Es ist weder der rechte noch der linke. Der hat dann sicher so was neumodisches, hinter die Augen implantiertes. „Das tut mir jetzt wirklich leid“, murmelt der Professor. „Bitte verzeihen Sie.“ Vorsichtig richtet er die Kameralinse aufs Auge. Als sich nichts tut, hebt er mit zusammengepressten Lippen das Augenlid an. Piepend leuchtet das Display auf, und dem Professor pfeift ein erleichterter Atemzug durch die Zahnlücken. Dann schaut er erschrocken zur Joggerin hoch. Die wimmert laut vor sich hin, steht breitbeinig da. Mit ausgestreckten Armen hält sie ihr Media in beiden Händen, filmt weiter den abziehenden Fleischberg. Der alte Mann schaut einmal mehr auf ihren fast bis zum Hintern fallenden Pferdeschwanz und natürlich auch auf den Hintern. Da bricht sie ab und telefoniert. „Polizei? Ja, hier wurde einer umgebracht!“
Nun erwacht der Professor aus seiner Trance. Er sieht zu, dass er verschwindet.
*
„… gilt es laut rhein-elbischem Nachrichtendienst als erwiesen, dass russische Hyperschallrakten auf preußischem Boden stationiert werden …“ Die Stimme der Nachrichtensprecherin dröhnt aus dem Wandschirm. Seufzend und kopfschüttelnd nimmt Yilmaz einen letzten Schluck und schaut auf die leere Flasche. Bitter lachend erinnert er sich an den Moment, als er sie aus dem Schrank genommen und sich gefragt hat, ob sie nun halbvoll oder halbleer gewesen ist. So oder so hat er nun eine halbe Flasche Weinbrand intus. Und mindestens zweieinhalb Stunden hat er dagesessen und gesoffen. Zweieinhalb, halb …Halbe, halbe, halbe, halbe: Nun steht er auf und erhält dabei gefühlt einen Hammerschlag auf den Kopf. Er wankt, bekommt sein Gleichgewicht einigermaßen unter Kontrolle und torkelt in den Flur. Dort glotzt er in den Spiegel und mustert seine dicke, eingefallene Visage. Yilmaz fängt an zu lachen. Dann weint er.
„... stimmte das Parlament der Stationierung von Truppen an der preußischen Grenze zu“, hört er die Nachrichtensprecherin: Eine weibliche Stimme aus dem Wohnzimmer, als säße dort jemand und wartete auf ihn, darauf, dass er endlich wieder aus dem Flur zurückkäme, um wieder neben ihr Platz zu nehmen und zu kuscheln … Wütend zerrt er den Hilfskörper aus der Garderobe. Grummelnd und schluchzend fährt er rückwärts hinein, verschließt die Schnallen an Armen, Bauch und Beinen und hat dabei das Gefühl, sich eine Zwangsjacke anzulegen. Genervt wischt und tippt er auf dem Display seines Medias herum, bis er endlich die App für dieses Mistding gefunden hat. Verzweifelt aktiviert Yilmaz dieses verfluchte und verdammte Wunderwerk der Technik, mit dem er immer noch seine körperliche Versehrtheit vortäuschen muss. Zunächst war das ja ganz lustig, doch mittlerweile hat er die vielen Blicke mit einer Mischung aus Mitleid und Argwohn – wo doch so viele Alte wilde Unfälle mit diesen Dingern verursachen – ziemlich satt. Ganz gleich, was man damit alles anstellen kann – mehr als ein gesunder Mensch – man gilt als behindert und gehört nicht dazu. Ein Signal piept und ein Klicken zieht sich durch die verkabelten, künstlichen Gelenke. Und schließlich noch mal ein dreifaches Piep-Piep-Piep und ein finaler Summton.
„Haben wir‘s wieder geschafft“, murmelt er und rülpst.
Zurück im Wohnzimmer, öffnet er die Tür zum Balkon. Milde Abendbrisen wehen ihm ums Gesicht und der Jahrmarktlärm aus Stimmen und Musik vom gerade beginnenden Sommerdom schlägt ihm entgegen. Die Nachrichtensprecherin erzählt nun von einem entlaufenen Serval, jenen afrikanischen Wildkatzen, die immer häufiger gezüchtet und mit Siamkatzen zu den halbwilden Savannas gekreuzt werden. Mal wieder: Vor allem in Journalen dürfen entlaufene Servale kaum mehr fehlen, so dass man die schlanken, leopardenartig gefleckten Tiere mit den langen dünnen Beinen, kleinen Köpfen und großen Löffelohren schon lange nicht mehr für Leoparden oder Geparde hält. Fast könnte man meinen, sie würden inzwischen wild auf mitteleuropäischen Äckern vorkommen. Und im Moment könnten sie sich bei diesen Temperaturen sicher ganz wohl fühlen. In zwei, drei Wochen brütet die Hitze eh wie im afrikanischen Busch. Ein schöner Sommeranfang, denkt er, ein schöner Frühsommer 2045, bestimmt sehr bald noch trockener und noch ein wenig heißer als jemals zuvor. Und was hat er davon? Melek … Warum nennt er immer noch diesen Namen? Die Depressionen und der Knochenkrebs waren das einzig echte an ihr. Sieben verflixte Jahre hat sie ihm was vorgemacht und die meiste Zeit davon gejammert und geschimpft. Heute sind es auf den Tag genau sieben Wochen, als er sie das letzte Mal gesehen hat, sie beide im Bett lagen und auf Meleks Mörder gewartet hatten, einer Mörderin, wie sich herausstellte. Noch jetzt fühlt er die Schmerzen in seiner Hand, als Meleks Fingernägel sich hinein krallten, als zwei Kugeln durch die Decken in die Silikonkissen fetzten und gegen die Westen schlugen. Als die Killerin des osttürkischen MIT in der Überzeugung, beide getötet zu haben, das Zimmer verlassen hatte. Blieb die Hoffnung, dass Esra, alias Melek, mit neuer Identität wieder Kontakt zu ihm aufnahm, mit einem chirurgisch veränderten Aussehen zwar, aber letztlich doch seine Melek … Esra …
Er schüttelt den Kopf. Fünf Wochen Minimum. Klar. Besser mehr, sicher. Aber trotzdem … Nein, sie kommt nicht zurück. Es ist vorbei. Er kann sich nach einer Neuen umsehen. Haha! Auf so einen alten Fettsack haben die Damen ja grad noch gewartet. Hätte er das nötige Kleingeld, könnte er es mit einer Liebes-Androidin probieren … Auch lustig. Aber da ist ja noch seine tolle Arbeit bei der Mordkommission! Ja, wie könnte er die vergessen? Er lacht brachial auf. Zitternd beginnt er gleich wieder zu weinen. Der Hilfskörper hindert ihn daran, auf dem Balkon zusammenzusinken. Mit verschwommenem Blick, schaut er aus seinen tränenden Augen einer Stadtdrohne nach, die wie eine übergewichtige Libelle friedlich über das festliche Treiben da unten hinweg rattert. Es wirkt, als flöge sie direkt in die westlich des Hafens
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Jan Christoph Nerger
Bildmaterialien: Jan Christoph Nerger
Cover: Wilfried Abels, Jan Christoph Nerger
Lektorat: Maren Osten
Korrektorat: Maren Osten
Übersetzung: keine
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4276-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für eine noch kreativere Zukunft.