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1. Kapitel

 

Jo Christopher Neumann

 

 

Das schönste an Parteitagen sind doch die Hintereingänge, denkt er, wenn auch nur kurz, denn in beiden Fällen landet man doch am selben Ort und redet sich den Mund fusselig. Wenigstens die Presse bleibt einem zunächst erspart.

„Was für ein Scheißtag“, hört er sich murmeln. Sein ADHS geht manchmal zu sehr mit ihm durch, was immer wieder unfreiwillig zu lautem Denken führt. Für einen Hyperaktiven ist er im Grunde viel zu dick, und gemessen an seinen Konzentrationsstörungen wirkt er mit seinen Pfunden viel zu gelassen. Es ist wie mit den Hummeln, die eigentlich nicht fliegen dürften, es aber doch tun. Genauso, denkt er, ist es mit der Politik: Es ist eigentlich alles hoffnungslos, aber … Na, ja. Vielleicht kann auch Politik am Ende mal eine Hummel sein. Ihn sticht heute jedenfalls dieselbe, und er wird kein Blatt vor den Mund nehmen, egal, was alle anderen sagen. Es ist ja nicht so, dass er sie nicht drauf vorbereitet hätte, aber am Ende würden ihn doch alle fallen lassen wie eine heiße … Er schmunzelt. Kartoffel, denkt er. So nennen uns die jungen Türken. Er meint natürlich die deutschen Bürger*innen mit türkischem Migrationshintergrund. Doch selbst das möchten sie nicht hören, und doch muss er ja irgendwie sagen, wen er meint, wenn … Verdammter Mist, verdammter!

Mit grummelndem Magen, der sich keineswegs bezüglich Nahrungsmangel zu beschweren braucht, starrt er auf das frische Türschild:

 

Eintritt nur durch den Haupteingang!

 

Ja, ja! Natürlich. Corona, ist schon klar.

„Was für ein Scheißtag“, ruft er laut in den Himmel.

Wie zur Bestätigung lässt er einen Furz. Genervt rennt er ums Gebäude, als könne er schnell genug sein, doch selbst ein athletischer Sprinter liefe hier zwangsläufig in die Pressemikrophone.

„Einen schönen guten Morgen, Herr Neumann! Mit welchen Erwartungen gehen Sie heute in den Parteitag?“

„Erwartungen? Kinners, ihr wisst doch: Grün ist die Hoffnung, nicht die Erwartung.“

„Ihr Parteiprogramm beruht auf Hoffnung?“

„Hoffnung darauf, dass man seinen Sinn erkennt, ja!“

Grummelnd hält er auf die geöffnete Tür zu, den Blick zurück zum Journalisten, der sich seiner Kamerafrau zugewandt, zu ereifern beginnt, wie verzweifelt die DGL sein müsse, wenn sie nur noch hoffen könne.

„Stöb!“

Neumann fährt herum. Er schaut und hört einer großen Rothaarigen vom Wachdienst zu, wie sie den Kollegen unterweist: „Sö, nu froogsde ihn nöch Impföswäs, öda Täschd. Un wenna nüschd hod, mochsde hier den Täschd midde Wäddestäbchen ...“

„Hier ist mein Impfausweis“, unterbricht Neumann und hält ihn beiden unter die Nase.

„Nür keene Hägdig, meen Güdsder! Un bidde Obstand höldn, jö? Ün sedzen se doch möl de Mosge rischdisch öff!“

Es lebe die deutsche Gründlichkeit! Beinahe hätte Neumann es laut gesagt.

„Sö, isches glor?“ Der Kollege nickt und die Wachdame will zu ihrem restlichen Team laufen, das vor der Halle vor den erhitzten Streitern und Streiterinnen für deren Recht auf Denkfaulheit die Stellung hält.

„Eine Demonstration war aber heut nicht angemeldet“, stoppt Neumann sie aus vollem Lauf.

„Öch, dos sind jo gaum mal füffzisch Leid. Äbo wennes Ibahand nimmt, rufn wa nodürlisch de Bolizei!“

Und da marschiert sie auf endlosen Beinen davon. Ihr langer dicker Zopf wiegt sich in ihren schnellen Schritten. Irgendwie erinnert der ihn an einen Galgen.

„Impfausweis?“, fragt der Wachmann.

„Wie sieht das denn aus?“, seufzt Neumann, der ihm noch immer denselben hinhält.

 

 

Gabriele Freisinn

 

 

Aufgeregt steigt sie aus dem Auto, ihre klobigen, hochhackigen Schuhe klacken auf den Asphalt. Das weiße Kostümjäckchen mit den Schulterpolstern zurechtgerückt und das geblümte Sommerkleid glattgestrichen, zieht sie schnell noch mal vorm Außenspiegel mit dem Stift über die wulstigen Lippen. Dann holt sie eben noch das Schild vom Rücksitz, bei dem ihr Sohn für einen Taschengeldzuschuss eifrig mitgeholfen hat, und wirft die Tür zu. Den SUV hat sie weit weg vom Parteitag geparkt, man weiß ja nie.

Endlich mal was los, denkt sie, froh, ihr Hausfrauendasein einmal unterbrechen zu können. Es ist ja nicht so, dass sie an keinem Job interessiert wäre, aber in der Arbeitswelt bestimmen doch nur die Männer. Wenn sie überhaupt einen Job bekäme, dann für viel weniger Geld. Schön blöd, dass andere Frauen sich das antun. Außerdem ist eine anständige Mutter ja wohl erst mal für ihr Kind da! Vielleicht, wenn ihr Sohn etwas älter ist … Na, ja: Nun ist er grad mal vierzehn.

Entschlossen wirft sie sich das lange blonde Haar zurück, kratzt sich kurz am üppigen Sitzfleisch, betrachtet ihre makellos rot lackierten Nägel und stolziert mit dem Schild unterm Arm los. Heute wird sie allen mal die Meinung geigen. Dummes Hausmütterchen, nicht wahr? Von wegen! Ihr braucht niemand was vorzumachen, sie weiß genau, was läuft. All die grünen Idioten, die ihr den SUV verbieten wollen, vorschreiben, was sie essen soll und mit diesen blöden Windrädern die Landschaft kaputt machen. Aber das Schlimmste sind ja die vielen Mütter, nein, die ganzen Familien, die wie Schafe auf dieser grünen Welle mitschwimmen. Ihr eigener Sohn droht immer wieder davon erfasst zu werden. Sie hat es echt nicht leicht, ihm klar zu machen, dass das Diktatoren sind und man die Demokratie gegen sie verteidigen muss. Sogar ihr eigener Mann fällt ihr dabei in den Rücken. Wenigstens kriegt sie ihn leicht zum Schweigen. Er ist ja so ein Weichei! Nein, wenn es darum geht, aus ihrem Sohn einen richtigen Mann zu machen, muss sie das ganz allein tun. Was Autos angeht, kauft sie inzwischen aus Prinzip nur noch SUVs. Warum auch nicht? Die sind halt praktisch, vor allem hat man‘s viel leichter beim Ein- und Aussteigen.

Sie erreicht den Vorplatz und erschrickt über die vielen schwarzweißroten Fahnen. Ist das traurig, dass ausgerechnet so viele Nazis hierherkommen. Es ist eben immer das gleiche: Die wirklich Aufrechten bleiben in der Minderheit. Na, da wird es ja mal Zeit, dass jemand wie sie dazu kommt. Ah! Und da vorn stehen schon die Herren Wächter und versuchen Demokratie zu verhindern! Und ne Frau ist auch dabei! Na toll! Wieder eine mehr, die sich von Männern ausnutzen lässt.

Gabi! Da gehst du mal gleich ganz nach vorn hin!

Entschlossen marschiert sie los und hebt ihr Schild:

Schluss mit der Corona-Lüge!

 

 

Ralf Schwarzhauch

 

 

Blonde Männer und Frauen begegnen einander, lachen, reichen sich die Hände, gehen in die Kirche, feiern Karneval, Erntedank, schaffen, bauen Häuser und singen dabei die Nationalhymne:

 

Einigkeit und Recht und Freiheit

für das Deutsche Vaterland.

Danach lasst uns alle streben,

brüderlich mit Herz und Hand.

 

Einigkeit und Recht und Freiheit

sind des Glückes Unterpfand.

Blüh im Glanze, dieses Glückes,

blühe, deutsches Vaterland.

Blüh im Glanze dieses Glückes,

blühe, deutsches Vaterland.

 

Wir sind das Volk! Und das ist unsere Nation. Lasst sie uns bewahren, wie wir sie geschaffen haben. Wählen Sie die Deutsche Nationale Alternative, DNA!“

 

Ausgerechnet jetzt geistert dieser Werbespot der Rechten durch Ralfs viertelschwarzen Kopf. Bei seiner Mutter, Tochter eines schwarzen GI‘s und einer Deutschen! Genervt setzt er die Maske auf, wühlt sich schwitzend mit seiner in dieser Augusthitze ziemlich überflüssigen Strickjacke durch die Menschen und hält, so entschlossen es die Umstände erlauben, aufs Gebäude zu. Der Wachdienst, der einen Pulk von Verschwörungstheoretikern auf Abstand zu halten versucht, scheint keiner der üblichen zu sein. Man beschimpft die Schwurblerbande nicht weniger unflätig, als die den Wachtrupp, was ihm reichlich unprofessionell vorkommt. Eine schlanke Frau brüllt am lautesten. Sie scheint die Chefin des Wachdienstes zu sein, mindestens 1,80 lang und einen langen, taudicken, roten Zopf tragend, der wie ein Peitsche hin und her schwenkt. Eine Gruppe Pressefotografen weicht vor den heranstürmenden Schwenkern schwarzweißroter Fahnen zurück. „Lügenpresse! Lügenpresse!“

A propos! Er tastet nach seinem Presseausweis, den er in der Brusttasche seines schweißnassen Hemdes deponiert hat, ebenso wie seinen aktuellen Coronatest, der genauso negativ ist, wie die rechten Schwurbler da vorn. Und nun fühlt er auch noch den Stich seiner gestrigen ersten Impfung.

Für einen alten Hasen ist Ralf nervös wie nie. Vielleicht, weil ihm die Dynamische Grüne Liga tatsächlich als letzte Hoffnung erscheint, die letzte Hoffnung für ein starkes, gesundes Land, das felsenfest davon überzeugt ist, ganz nah am Abgrund zu stehen: ein Hypochonder, hoffnungslos sich selbst im Weg stehend, der bereit zum Sprung ist. Schwarzhauch schüttelt sich, ist plötzlich wieder bei sich und seinem vielleicht nicht ganz perfekten Outfit und der Frage, seit wann ihn das nervt.

„Fassen Sie mich nicht an“, schreit eine dick aufgebrezelte, blonde Frau die Wächterherrin an: „Ich demonstriere friedlich!“

„Under laud‘n Nozis, ja?“, brüllt die Wachfrau brutal sächselnd zurück.

„Was kann ich dafür, wenn die mitlaufen? Das ist ein freies Land! Ich bin kein Nazi! Ich weiß nur, dass Corona eine Erfindung der Pharmakonzerne ist.“

„Och, jo? Un worum sin donn wohl soviel dod, hä?“

„Ich kenne keinen! In meinem ganzen Umfeld nicht. Keiner tot, keiner krank! Jetzt kommen Sie!“

Endlich erreicht er den Eingang, hält einem freundlich lächelnden Schrank Presseausweis, vorläufige Bestätigung der kompletten Impfung und den leider ziemlich durchweichten, negativen Coronatest hin.

Einen Augenblick schaut der die Papiere sorgfältig an. Dann hebt er wie einstudiert den Kopf, nickt mit so breitem Lächeln, dass es auch unter der Maske zu erkennen ist, und weist in den Gang: „Pressebox vier, bitte. Und halten Sie sich links, wenn Sie reingehen. Ihre Kollegin sitzt schon auf dem rechten Platz.“

„Dankeschön“, nickt Schwarzhauch ebenso freundlich zurück, ohne zu wissen, ob man‘s sieht. Augenblicke später betritt er die Halle. Sein Blick fällt auf diezehn installierten Presseboxen, von denen jeweils zwei dicke, hellgrau gerippte Luftschläuche an die Decke des knapp zwei Geschosse hohen Saals führen. Die Rücken der Saalstühle sind pro Reihe mit Stangen verbunden und haben so wohl anderthalb Meter Abstand. Das Podium befindet sich auf einer erhöhten Bühne. Eins muss man den Mädels und Jungs von der DGL lassen: Sie trauen sich was. Niemand sonst wagt schon wieder einen analogen Parteitag mit Zuhörern vor Ort, nicht mal zur Bundestagswahl. Es ist schon verrückt: Alle anderen Parteien verurteilen das natürlich auf schärfste, und die Schwurbler nutzen die Möglichkeit zum Demonstrieren, obwohl inzwischen gerade die DGL am schnellsten zur Normalität zurückzukehren versucht.

Na, dann, Schwarzhauch, denkt er und schaut etwas betreten auf sein verschwitztes Hemd. Schauen wir uns mal die „Kollegin“ an.

 

Susi Weichkern

 

 

„Ooobstand haldn“, brüllt sie dem verdammten Pack entgegen, das echt nur nerven kann. Da ist vor allem dieser kleine, dicke Blonde, der immer wieder spuckend an die Banderolen herankommt.

„Ick lass ma doch von dir nich eenschüchtern, du Schlampe!“ Und schon sammelt er wieder Speichel in seinen Pausbacken.

„Du, nu werdi oba allmählisch wiedend!“ Sie könnte ihm wirklich die Fresse einschlagen, ja, verdammt! Ist ja nicht so, dass sie diese grünen Schwachmaten wählen würde, aber der ist wirklich genauso blöd, wie die Scheiß-Wessis einen haben wollen. Ein Westberliner ist das bestimmt nicht. Der kommt vermutlich aus tiefster Brandenburger Provinz. So was kann man eigentlich nur noch wegschließen. Wir sind nicht alle so, möchte sie den Pressefuzzis am liebsten zurufen.

Gerade schlägt ihr der Zopf an die Backe, als bräuchte sie einen Wachmacher. Den hätte sie gebraucht, als dieser Bürohengst von der DGL sie angerufen hatte: ob ihr Unternehmen sich den Schutz eines Parteitags zutraue. Man wolle unbedingt einem pandemiebedingt angeschlagenen Unternehmen helfen. Na klar, hat sie gesagt. Logisch. Warum denn nicht? Natürlich hat sie noch genügend Personal. Selbstverständlich sind alle professionell geschult. Ja, das könne sie garantieren!Klar übernimmt sie mit dem Job auch die volle Verantwortung. Als ob sie eine Wahl hätte! Die wenigen Kollegen, die sie in Supermärkten abstellen kann, reißen es wirklich nicht. Und die erst letzten Monat eingegangenen Coronahilfen nützen ihr nun auch nicht mehr viel. Wenn das heute schief geht, geht es eben schief. Dann ist halt alles gelaufen. Das hier ist die letzte Chance für ihr Unternehmen, wenn es denn eine ist.

Wo ist denn der kleine Giftzwerg geblieben? Kurz ist sie zwar erleichtert, aber dann schnell beunruhigt. Angespannt sondiert sie die Reihen der Spinner, aber sie kann ihn nirgendwo entdecken. Ist er nach Hause gegangen? Schön wärs.

„Hässön“, wendet sie sich an ihren zuverlässigsten Mitarbeiter. Dieser muskelbepackte Araber ist als einziger im Team größer als sie. Bürger mit arabischem Hintergrund, müsste sie wohl sagen, wenn es nach diesen Parteifuzzis ginge. „Siehsde diesen feddn gleenen Blonden irjendwö?“

„Nee, Chefin. Der hat sich wohl verzogen.“

„Globisch nich. Dör is ma eha ne widalische Zegge.“

„Sollten wir nicht die Polizei verständigen? Das ist doch keine genehmigte Demo.“

„Och, Hässön! Dad sind döch geene hündod Leid! Hald hier mol mit de Jings de Stellung. Isch gugge möl noch däm Zwersch.“

„Alles klar, Chefin.“

 

Olaf Mäuler

 

Na wartet, denkt er und geht die Seitenfassade des Gebäudes entlang. Hier ist alles ruhig, bestimmt kommt er da irgendwo rein. Er kennt solche Wachdienste wie den da. Die haben nichts drauf. In so einem hat er selber mal gearbeitet. Haben ihn rausgeschmissen, weil er einmal im Dienst getrunken hat. War zwar öfter, aber das konnten die ja nicht wissen, sie haben ihn ja definitiv nur einmal erwischt. Und als ob das wirklich ein Problem wäre. Rumstehen kann jeder. Überhaupt: Wenn er trinkt, sieht er ja noch viel klarer.

Sowieso hat doch keiner mehr in diesem Land den Durchblick. Erst hat Westdeutschland im Auftrag des Weltjudentums die DDR von den bankrotten Russen aufgekauft. Und seitdem werden alle versklavt. Nach Westeuropa hat es fast den ganzen Osten erwischt. Nur einige, ganz wenige leisten Widerstand: In Ungarn und Polen, Belarus und Russland natürlich. Da wird noch gedacht! An ihm soll es aber auch nicht liegen, so viel steht fest. Der ganze Corona-Quatsch, der niemals aufhören wird, ist nur die neuste Masche der Unterdrückung. Es wird doch wirklich immer schlimmer.

Er bleibt stehen. Ungläubig starrt er eine frei zugängliche Feuerleiter an. Na, ja. So gut wie frei. Über die Gittertür müsste er schon klettern. Dass man ihn mit den ausnahmslos präparierten Lebensmitteln der Discounter fett werden lassen hat, ist ja nun auch nichtseine Schuld. Der Staat weiß eben, dass es vor allem die armen Menschen zu unterdrücken gilt: die, die keine andere Wahl haben, als bei Discountern einzukaufen. Bei der Vernichtung der DDR haben sie gleich alle ihre Menschen mit den Discountern ruhiggestellt. Kaum einer begreift das, die Menschen sind so entsetzlich dumm! Aber wenn die da oben glauben, er gäbe deshalb auf, dann haben sie keinen Schimmer. Er wird sich auch durch das staatlich zugeführte Fett nicht aufhalten lassen. Er nicht!

Entschlossen ergreift er das Gitter ...

 

Arife Aydin

 

 

Diesen Warten! Fast fühlt sie sich einsamer als in den schlimmsten Zeiten der Pandemie. In ihrer Fantasie sitzt sie ihm Schutzraum einer verstahlten, toten Welt. Der noch beinahe leere Saal verstärkt den Eindruck. Immerhin hätte sie nicht gedacht, dass es in diesem Kämmerchen so angenehm kühl ist. Eine wahre Wohltat bei diesem Höllensommer. Auch wenn es Arife nervt, dass sie hier schon eine Viertelstunde rumsitzt. Die Lüftung surrt, die Schläuche knistern wie welkes Laub. Und dass trotz allem Pipapo bis hierhin doch noch eine Maske getragen werden muss, hatte ihr auch niemand gesagt. Da liegt dieses FFP-2-Mistding nun vor ihr mit dem Lippenstiftabdruck in der Innenfläche. Hat sie es vielleicht mit ihrem Äußeren übertrieben?

Denk nicht so furchtbar biodeutsch, ermahnt sie sich. Nervös hämmert sie ihre schwarz lackierten Fingernägel auf die etwa einen halben Meter tiefe Ablagefläche, ein über die volle Seite ausgeklapptes Brett. Darüber das gleichlange Fenster mit Blick auf die leere Bühne. Wo bleibt denn jetzt der Journalist …? Sie fährt zusammen. Echt jetzt? Keine Zehntelsekunde geklopft und schon hetzt er rein? Ein kleiner Windhauch zieht in die Box. Ein hagerer Typ mit Brille steigt quasi an Bord dieses 5-m2-Würfels. Der Ärmel seiner muffigen Strickjacke unterm Arm wedelt ihr vors Gesicht.

„Hallo, Frau …?“

Immer dieser aggressive Signalton!

Bitte Abstand halten“, fordert eine Frauenstimme vom Band.

„Oh“, ist alles, was von ihm kommt. Für ihren Geschmack atmet er übertrieben tief aus. Als sich ihre Blicke treffen, hält er die Luft an. Betreten schaut er zur Seite, aber dann nimmt er wie ein Soldat Haltung an.

„Schwarzhauch“, erklärt er: „Ralf Schwarzhauch, Media-TV West ...“

Mensch, ist dieser Signalton laut! Das hört man doch im ganzen Saal. Peinlich!

Bitte Abstand halten!

„Ach, ja. Türlich! Tschuldigung!“ Er zieht die schmale Hand zurück. Dass er das nach all der Zeit noch nicht drauf hat … Na, ja. Viel könnte nicht passieren. Seine Hand ist vom ständigen Hände desinfizieren nicht weniger aufgeraut als ihre. So sehr sie sonst auf ihr Äußeres achtet, mit Cremes hat sie es nicht so.

„Aydin! Arife Aydin!“

Lächelnd schaut er auf ihre Maske. Sie dreht sie schnell um.

Hastig setzt er nun die Kopfhörer auf, prüft die Anschlüsse und richtet das Mikro vor seinen dicken Lippen zurecht. Erst jetzt erkennt sie, dass er seinem Namen alle Ehre macht. Da ist tatsächlich ein Hauch Schwarz auf seiner Haut. Prompt ist er ihr etwas sympathischer.

„Kann ich Ihnen mit der Technik …? Oh, Sie kennen sich aus?“

In der Tat trägt sie längst Kopfhörer und Mikro. „Ich hatte schon ein paarmal das Vergnügen“, nickt sie.

„Welches übrigens ganz auf meiner Seite ist. Sie sehen umwerfend aus, wenn ich das so sagen darf.“ Er schaut dabei angestrengt nach vorn auf die Bühne. „Test! Test! Test! Regie? Könnt ihr mich hören?“

Alles klar“, rauscht es in seinem Mikro.

Die Sitzreihen haben sich gefüllt. Am Podium tut sich was. Der Parteitag der Dynamischen Grünen Liga kann jeden Augenblick beginnen. Nervös fährt der Journalist sich durchs Haar und schaut etwas verzweifelt zu ihr hinüber. Sie weiß, dass sie bildschön ist, so sehr, dass es für manche Männer weh tut. So wie er gerade die Nase rümpft, scheint ihm aber wohl ihr Parfüm zu kräftig. Das kennt sie von diesen deutschen Kartoffeln, zu denen er am Ende eben doch gehört.

Okay, Schwarzhauch?“, ruft der Regisseur durchs Mikro: „Drei, zwo, eins ...“

2. Kapitel

 

Ralf Schwarzhauch

 

 

„Liebe Zuschauer, mein Name ist Ralf Schwarzhauch und ich begrüße Sie live vom Parteitag der Dynamischen Grünen Liga, kurz DGL.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.07.2021
ISBN: 978-3-7487-8893-5

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