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Teil I - 1. Kapitel

 

I

 

1. Kapitel

 

Berlin 1999

 

Wo ist Linda? Nicht da? Na und wenn schon. Hab ich eben wieder mal die A-Karte gezogen. A-Karte Num­mer tausend-schieß-mich-tot. Ist doch alles egal.

In dieser Altbauwohnung nah am Ku'damm läuft die angeblich abgefahrenste Privatfete zur letzten Love­parade des Jahrtausends. Etwa wegen der glitzernden Discokugel? Lächerlich!

Die Beats hämmern aus der Anlage. Alle reden, eini­ge Mädchen lachen und kreischen. Eine kleine Plastik­tüte geht herum.

„Probiert schon“, ruft die Gastgeberin. „Die erste ist für jeden gratis, okay?“

Zögernd greift Babs in die Tüte. Die Pille sieht nach nichts aus, wie eine Kopfschmerztablette.

Was soll's.

Die Partygäste bilden einen Kreis, die grauen Pillen auf den ausgestreckten Zungen, die Arme über den Schultern derer, die links und rechts neben einem stehen. Eine neue CD wird eingelegt. Wie ein Pressluft­hammer kracht der dumpfe Beat aus den Boxen: Er-schrocken würgt Babs ihre Pille runter.

Scheiße!

Tiefe Atemzüge. Tiefer. Schneller. Die Reise beginnt. Es ist … Es ist wie … Reden! Sie muss reden! Viel reden. Und schreien. Sie sieht Gebäude, deren Fassa­den Menschen verschlingen und wieder ausspeien. Sie trinkt. Die Bauten verändern sich, ebenso die Leute, die darin wohnen. Eine tickende Uhr schwebt wie eine fliegende Untertasse durchs Bild. Die Häuserwände ver­dunkeln sich.

Babs trinkt mehr.

Plakate legen sich über die Wände und blättern wie­der ab. Graffitistriche ziehen übers Mauerwerk.

Babs trinkt noch mehr.

Linda! Wo ist sie bloß hin?

Lachend und weinend ruft Babs nach ihr. Und trinkt weiter.

Linda, Linda, Linda, beginnt sie zu singen. Ihr wird schwindelig. Das alles ist so albern.

Babs reißt die Wohnungstür auf und stürmt in den Hausflur. Die Tür, der sie mit dem Fuß einen Stoß nach hinten versetzt, knallt ins Schloss. Sie wankt die Trep­pen hinunter. Ein bitterer Geschmack liegt auf ihrer Zunge, bitter vom Alkohol, der Pille oder beidem. Verloren betrachtet sie die beigefarbenen Ka­chelwände des Altbaus mit ihren simplen, aber schö­nen und kla­ren Mosaiken. Mit wachsender Neu­gier schaut sie hoch bis an den hölzernen Rand und drüber weg, wo die Wände nur noch im faden Weiß bis an die grauen Etagendecken reichen.

Jugendstil, denkt sie und: Wir gehören nicht in dieses Haus. Die ganze Stadt gehört nicht mehr um dieses Haus herum, die ganzen kaltschlichten Neubau­ten und der trostlose Nachkriegsschrott. Aber wen in­teressiert das schon? Würde sie mit ihren Freundinnen darüber reden, verstünden die kein Wort.

Ich gehöre nicht zu denen, sagt sie sich.

Babs kämpft sich zum Hauseingang vor und schafft es irgendwie, durch dieses schwere Eisentor zu kom­men, das in Wahrheit nur eine etwas schwerfäl­lige Ein­gangstür ist. Straßenlärm schlägt ihr entgegen und Luft. Endlich! Doch die Luft ist lau, kaum ein Windzug. Schuld ist ein richtig guter Sommer. Sie versucht es trotz­dem, atmet tief ein: Gerüche von Ab­gasen, Zi­ga­ret­ten, Urin und Grillhähnchen ziehen an ihrer Nase vorüber. Taumelnd stürzt sie an einen La­ternen­pfahl und übergibt sich in den Rinnstein. Sie glaubt zu ster­ben, aber dieses Gefühl kennt sie – es wird vorbei­ge­hen. Und trotzdem kommt es Babs vor, als würde sie ge­rade ihr gesamtes Leben hervorwür­gen. Als es vorüber ist, sinkt sie zusammen und ringt mit bren­nendem Atem nach Luft. Nase und Hals er­scheinen ihr wie zu­ge­schwollen.

Der Bahnhof! Sie muss es irgendwie bis dahin schaf­fen. Babs nimmt ihr neues Handy, so eines, mit de­nen man auch fotografieren kann.

„Ludde? Nee, dich wollt ich gar nich anruf'n.“ Sie drückt ihn weg. Schwerfällig zieht sie sich an der La­terne hoch. Einen Moment bleibt sie stehen und prüft, ob sie ihren Beinen noch trauen kann. Es muss gehen. Als sie den Pfahl loslässt, wankt sie einige Augenblicke hin und her. Nach ein paar Schritten läuft sie gegen einen Benz, kippt nach vorn und schlägt auf die Motor­haube. Die Straßenlichter spiegeln ihr Gesicht auf der Frontscheibe, ein Alarm leiert aggressiv in die Nacht. Der Stern drückt in ihren Bauch, sie richtet sich ein Stück auf und blickt auf die Bescherung. Der Stern ist leicht verbogen. Sieht blöd aus. Sie könnte ihn ja einfach ...

„Ey“, brüllt es drei Fenster über ihr: „Was machst du an meinem Auto?“

Ungläubig starrt sie gleich wieder auf ihr Gesicht in der Scheibe. Sie streicht über ihre Wangen und mus­tert sich, als sähe sie einen Film. Fast jeder sagt ihr, sie sei hübsch: kein Make-up, kein Piercing im Nasen­flü­gel. Das ist einfach ein rundes Gesicht mit großen dunklen Augen, einem kleinen Schmollmund, einer fei­nen Nase und leichten Pausbacken.

„Was bist du denn für eine? Ich ruf die Polizei!“

„Gestatten“, sagt sie zu sich selbst und brüllt gegen den Alarm an: „Barbara Schaller! Achtzehn Jahre! Gymnasiastin mit beschissenen Noten! Wohnhaft in Marzahn, in einem Block, wo Kids kaum noch zur Schu­le gehen! Eingesperrt in einer Drei-Zimmer-Woh­nung mit arbeitslosen Eltern, die nur noch vor der Glotze hocken! Ey, aber sonst ist alles okay!“

Wenn man über den Rest nicht redet, denkt sie.

„Verpiss dich, du kleine Ossi-Schlampe! Das ist mein Wagen. Dafür muss man arbeiten!“

Babs macht sich gerade, kämpft wütend gegen die Gleichgewichtsstörungen an und glotzt dabei an sich herunter, auf ihr knallrotes Outfit, die knielangen, na­belfreien Leggins und das kurzärmlige Top mit der grellgrünen Aufschrift „Tekkno“.

„Na warte, du kleine Nazi-Hure! Ich komm runter!“

Sie streicht über ihren kahlrasierten Schädel und schaut noch mal auf den verbogenen Stern. Es wäre wirklich ganz leicht ...

„Arroganter Wessi-Arsch“, murmelt sie, „was weißt du schon!“ Sie beginnt an dem Stern zu drehen, zu zie­hen und zu zerren. Babs hört ein laut klapperndes Ge­trampel im Treppenhaus, die Tür wird aufgerissen und ein fetter, behaarter Kerl im offenen Bademantel knallt mit seinen Holzpantoffeln auf sie zu, stolpert und klatscht wie ein Walross auf die Gehwegplatten.

„Scheiße, verdammt!“

In diesem Moment gibt der Stern nach und Babs tau­melt vom Wagen davon auf die Straße. Ein Taxi bremst quietschend. Sie taumelt weiter. Ein Hup­konzert er­tönt, zu dem sie zischend Tekkno-Beats imitiert, wäh­rend sie an Geschwindigkeit zulegt. Ihr „arroganter Wes­sie-Arsch“ hat sich gerade erst wieder aufgesam­melt und kommt nicht hinterher.

„Ihr klaut schon wie die Polacken“, hört sie ihn noch fluchen.

Wer ist hier der Nazi, denkt sie noch, das Handy wie­der zwischen den Fingern.

„Ludde? Ey, wieso rufst denn du mich jetzt an? Ob es mir gut geht? Is doch scheißegal, Mann! Wen inter­essiert das? Dich? Ach, hör doch auf! Du machst dir Sorgen? Ich klinge stoned? Ja und? Ich bin achtzehn! Ich kann klingen, wie ich will! Ja, zum Bahnhof. Bin gleich da. Du auch? Ach nee, ist ja ganz was Neues.“

Es ist noch früh. Ihre Eltern werden wach sein. Babs drückt Ludde erneut weg und schafft es endlich, eine Freundin anzurufen … Nur die Mailbox. Auch gut, sie hat grade eh keine Luft zum Reden. Babs geht langsamer, tupft ihr Handy an die Lippen und überlegt, bei wem sie sonst noch übernachten könnte. Doch es ist hoffnungslos: An diesem Tag ist nie­mand erreichbar, das Klingeln geht im Fetenlärm unter. Also doch nach Hause. Ist ja auch egal.

Mühsam kann sie sich zwingen, weiterzugehen. Sie erinnert sich plötzlich an die Wende, wie sie mit ihren Eltern inmitten jubelnder Menschen stand, Trabis mit Hupkonzerten in den Westen rollten, die Leute auf der Mauer sangen und tanzten, wobei ihre Körper im Licht von Scheinwerfern und La­ternen dunkle Schatten zeichneten. Sie hatte auf den Schul­tern ihres Vaters gesessen, eine achtjährige Göre, die sich dafür eigent­lich schon zu erwachsen fühlte, nun aber mit großen Au­gen umherschaute.

Krampfhaft schließen sich ihre Finger um den Stern. Und sie denkt an das, worüber sie mit dem fetten Benz-Wessie bestimmt nicht reden würde. Am liebsten wür­de sie es vergessen, aber es war und ist zu bedeu­tend. So wichtige Sachen kriegt man nie aus seinem Ge­dächt­nis. Warum müssen Eltern einem bloß immer so viel Schuld einimpfen? Es war doch auch so schlimm ge­nug …

 

*

 

Der Bahnhof. Endlich am Zoo. Jetzt nur noch auf den Bahnsteig. Was, wenn die Rolltreppen wieder nicht ge­hen?

Sie folgt notgedrungen einem Pärchen, da man offen­sichtlich den gleichen Weg hat. Babs hasst Liebespaa­re, zwei glücklich wirkende Menschen, die etwas tei­len, was sie nicht hat. Wenn sie an all die Typen denkt und an …

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Die beiden bemerken nichts um sich herum. Er schmeißt sogar dem Gitarrenklimperer 'ne Münze in den Koffer. Hören die nicht, dass das Geschrammel nichts, aber auch absolut gar nichts mit Musik zu tun hat? Haben wohl eh nur Geigen im Ohr. Und nicht nur das erbärmliche Gezupfe ist scheiße, sondern alles an diesem Typen.

Eigentlich.

„Hi.“ Schwerfällig geht sie vor ihm in die Hocke. Ihr trüber Blick wandert über seine Einnahmen. Sie nimmt ein paar Münzen und zählt nach.

„Haste wieder deine Schülerkarte vergessen?“

Sie nickt. „Kriegst es zurück, Ludde. Weißte doch.“

Er streicht seine langen, verfilzten Haare zurück. Ein faltiges Gesicht kommt zum Vorschein.

„Was'n los?“

„Gar nichts.“

„Seit wann bist du stoned? Und auch noch besof­fen wie nie!“

„Was weißt du schon?“

„Ich weiß, dass ich nichts weiß, Babsilein. Darum frag ich.“

„Bist du mein Vater oder was?“

„War's Ecstasy?“ Er schüttelt den Kopf: „Ecstasy und Alk, stimmt's? Du wolltest mal Architektin wer­den. Er­innerst du dich?“

Sein nöliger Ton geht ihr auf die Nerven, auch wenn sie vermutlich gerade gut mithält. Und ir­gendwie ist dieser abgebrannte Bahnhofskiffer immer für Überra­schungen gut. Es fing an, als sie mal mit umgedrehten Hosentaschen vor ihm ge­standen hat und bedauerte, ihm für diese entfernte Imitation einer Musik nichts geben zu können. Und was machte der? Fragte sie, ob sie eine Fahrkarte hatte, um nach Hause zu kommen. Und dann gab er ihr Geld aus seinen spärlichen Ein­nah­men. Er hatte fast geheult, bis sie die von ihm ab­ge­zählten Mün­zen für eine einfache Fahrt endlich an­genommen hatte. Und manchmal kommt es ihr vor, er würde sie viel genauer und länger kennen als seit die­sem Tag.

Warum hat sie vorher nie darüber nachgedacht? Und warum jetzt? Wie einschlagende Meteoriten hämmern die Gedanken auf Babs' Hirn ein, das in diesem Mo­ment genug damit zu hat, ihrem Körper kontrollierte Bewegungen abzutrotzen. Sie versucht, sich aus der Hocke zu erheben, und landet auf dem Hintern.

„Ich nehm's nie wieder, okay?“

„Hab ich früher beim Dope und Koks auch immer ge­sagt.“

„Beruhig dich! Gekotzt hab ich eh schon.“

„Gratuliere, wie ich sehe, ist nichts auf die Klamot­ten gegangen. Wenn du unbedingt 'n Trip willst, den kannst du haben.“

Sie muss ihn jetzt sehr dämlich anschauen, jeden­falls grinst er breit. Er zupft ein paar Takte, zu wenig, um gut oder schlecht klingen zu können, und spricht:

 

Wait a minute, you will see,

what happens now: your destiny.“

 

Ludde legt das zerkratzte Instrument beiseite. Er steht auf, schließt den Koffer – dank Loveparade prall mit Münzen gefüllt – und nimmt die Gitarre auf den Rü­cken. Behutsam hilft er Babs hoch.

 

*

 

Sie stehen auf der Rolltreppe. Ludde hat ihren Arm um seine Schulter gelegt, in der anderen Hand hält er den Koffer: ein paar mühsame Schritte über den Bahn­steig, dann erreichen sie eine Bank und beide lassen sich auf die Sitzfläche fallen. Die Mün­zen klimpern dumpf. Babs wird erneut übel. Sie beginnt zu würgen, doch nichts passiert. Leise sum­mend wirft sie den Kopf zurück.

Durchatmen.

Die Gedächtniskirche läutet zur Mitternacht. Die Schläge hämmern schwer in Babs' Schädel. Nervös rutscht sie auf der Bank hin und her und schaut in alle Richtungen, wie damals auf den Schultern ihres Vaters. Die Bahnsteige sind leer.

Und das während der Loveparade?

Menschen aus der halben Welt sind in dieser Nacht unterwegs, anderthalb Millionen sollen es insgesamt sein. Auf der Suche nach Partys, Clubs und Diskothe­ken können die sich nicht alle in Luft aufgelöst haben! Und dennoch: keine Menschen­seele.

Während der letzte Glockenschlag nachhallt, fährt ei­ne S-Bahn ein. Die Wagen rattern übers Gleis, bis die Motoren dumpf aufheulen, der Triebzug ab­bremst und langsamer wird. Die Waggons rollen aus und kommen mit einem quietschenden Ruck zum Stehen. Ein harter Zischlaut jagt von den Bremszylindern wie ein Peit­schenhieb über den Bahnhof.

„Na komm, Babsilein.“ Ludde steht auf, hilft ihr an den Zug heran und öffnet die Türen.

„Komisch“, murmelt Babs. „Der Zug ist ja leer.“

„Nicht schlecht“, kommentiert Ludde: „Nicht mal ei­ne verschütt gegangene Schnapsleiche, die dich be­läs­tigen könnte.“

„Das ist ein ziemlich alter Zug, oder?“

Sie steigen ein. Die Waggons sind ungewöhnlich sau­ber. Nirgendwo rollen Colaflaschen herum, ver­stopfen leere Flachmänner und Bierdosen die klei­nen Müll­be­hälter oder liegen alte Zeitungen auf den Bänken. Alles scheint gründlich aufgeräumt, beinahe sterilisiert.

„Hab ich etwas verpasst?“

„Mach dir keine Sorgen, Prinzessin. Du kommst wohl­behalten nach Hause. Die Fahrt wird nur etwas län­ger dauern.“

Er lässt sie auf eine Sitzbank gleiten; eine harte, pri­mitive Holzbank. Dabei rutscht das abgegriffene Buch aus seiner ausgebeulten Hosentasche, das er immer bei sich hat. Er hebt es auf und steckt es wieder ein.

„Interessanter Schmöker“, versichert er. „Habe ich schon zigmal gelesen. Muss ich dir unbe­dingt mal lei­hen.“ Dann dreht er sich um und steigt aus.

Nach so langer Zeit will er ihr diesen abgegriffe­nen Papierfetzen leihen? Und was meint er damit: Die Fahrt wird länger dauern?

Ludde geht zurück zur Bahnsteigbank und greift nach dem Koffer. Noch einmal schaut er sich zu Babs um, winkt und geht zu den Rolltreppen.

Die Türen schlagen zu. Babs fährt herum. Im sel­ben Augenblick geht ein Ruck durch die Wagg­ons. Sie fällt zwischen die Sitze. Hämmernd und rum­pelnd, als hätte jemand vergessen, die Bremse zu lösen, fährt die S-Bahn an. Die Motoren jaulen wie eine Meute angebun­dener Kampfhunde, die kurz davor sind, sich gegen­sei­tig zu zerfleischen. Die Stromschiene zischt und knis­tert, während die stählernen Räder sich in einer frühen Kurve krei­schend am Schienenstrang reiben. Ihr Kopf schlägt unterhalb des Fensters an die Wand. Sie fühlt sich wie von einer unsichtbaren Hand zu Boden ge­drückt. Die Arme auf der Sitzfläche ver­schränkt, war­tet sie ab. Ihr bleibt auch nichts anderes übrig.

Nach einer Weile gleitet die S-Bahn an den nächs­ten Bahnsteig heran.

Station Tiergarten, oder? Natürlich Tiergarten, was denn sonst? Könnte sie doch nur aus dem Fens­ter schauen!

A-Karte-tausend-schieß-mich-tot und eins, denkt sie.

Eine verspätete Turmuhr schlägt noch einmal Mitter­nacht.

Teil I - 2. Kapitel

 

2. Kapitel

 

Ludwig

 

S7! Das haben die beiden gesagt: S7 Richtung Fried­richstraße.

Vielleicht hat er Glück und der Zug, den er gerade einfahren hört, ist schon seiner. Eilig läuft er die Trep­pen zum Bahnsteig hoch. Bloß den Zug nicht ver­pas­sen! Aber diesmal wird er drauf achten, dass er nicht wie neulich in den falschen steigt.

Hat es gerade gedonnert?

Er knüpft schnaufend sein Jackett zu. Ein Gewit­ter fehlte noch, denn den Schirm hat er im Studen­tenheim liegengelassen. Die mildsäuerliche Früh­lingsluft nach dem leichten Regen wirkt wie eine Droge, mit einem Blick auf die Armbanduhr atmet er sie tief ein.

Tatsächlich schon Mitternacht.

Ludwig hätte nie gedacht, dass der Besuch bei seiner Tante so lange dauern würde, ohne sich dabei zu lang­weilen. Schon seit zwei Wochen in Berlin hat er sich endlich einmal mit ihr treffen müssen. Dass er auf dem Weg zu ihr in den falschen Bus gestiegen ist, passt mal wieder.

Tante Marianne ist sehr viel aufgeschlossener als sei­ne Eltern. Probleme mit seiner Frisur hatte sie trotz­dem. Grinsend fährt er durch seine langen, schwarzen Haare – feucht vom Nieselregen – und befühlt seine stetig wachsenden Koteletten: je dicker, desto besser. Er hat sich an die Blicke der Passanten gewöhnt, die ent­setzten Alten, die grin­senden Kinder, die Bewun­de­rung vieler anderer Studenten und vor allem Studen­tinnen. Ja, hier hat er etwas richtig ge­macht.

Wie sehr er doch sein kleines Dorf satt hat. Alle es­sen, trinken und rauchen, als gäbe es kein Mor­gen. Sie schuften wie besessen, erfinden jede er­denkliche, zu­sätzliche Arbeit, um nur nicht nachdenken zu müs­sen und sei es nur wegen der ländlichen Trostlosig­keit. Aber es ist ja viel mehr, und junge Leute wie Ludwig, die nach dem Krieg fragen, sind böse, undankbar und überhaupt. Er fragte seine Tante, sie bot ihm einen Schnaps an. Er hat ein Glas getrunken, ein bisschen Mut für diesen Hard Days Night Club, in dem Helga und Sonja ihn gleich noch treffen wollen, ein zweites lehnte er ab. Die Flasche hat noch dage­standen, als er ging.

Wie lang so eine Treppe sein kann, dafür sorgt allein Ludwigs Gedankenwelt. Als er schwer at­mend den Bahnsteig betritt, kommt der Zug gerade ruckelnd zum Stehen.

Soll er jetzt wirklich noch zu diesem Club fahren? Da spielen um diese Zeit noch Beatbands. Helga und Sonja werden sicher noch da sein: Er solle sich nicht wun­dern, das Hard Days Night liege in einer Industrie­brache. Sie glauben eh, er traut sich nicht. Für ein ner­vöses Landei halten sie ihn. Hätte er bloß nichts von seinem Dorf aus dem Wendland erzählt. Aber schlim­mer wäre, wenn sie ihn einen lahmarschigen Spieß­bürger tituliert hätten, das haben sich manche Studen­ten schon von ihnen an­hören müssen. Die beiden wür­den sicher stau­nen, wenn er jetzt noch dort auftauchte. Er könnte doch wirklich mal versuchen, ganz locker zu sein und … Muss man da eigentlich tanzen?

Er schaut auf die Waggons und die Zuganzeige.

S7! Na also. Die Richtung stimmt auch. Aber was stimmt nicht? Da ist dieser leichte Druck im Ohr. Den hat er seit diesem merkwürdigen Knall.

Er schüttelt den Kopf. Irgendetwas ist hier nicht normal. Vielleicht, weil niemand sonst auf dem Bahn­steig steht? Na gut, es ist spät, aber … Hey! Das hier ist Berlin! Der Waggon vor ihm ist ebenfalls leer. Er läuft zum nächsten: auch niemand da. Beim dritten liegt ein Arm auf einer Bank. Da braucht jemand Hilfe! Er zieht die Türen auf, steigt ein und hastet an den Tat­ort.

„Du meine Güte ... Warten Sie! Ich helfe Ihnen.“

Zögernd greift er unter ihre weichen Oberarme, fühlt die Wärme unter den Achseln. Während er der jungen Frau auf die Bank hilft, schlägt ihm Schweiß- und Alkoholgeruch entgegen. Was sie an hat, ist nicht viel mehr als ein ungewöhnlicher Ba­deanzug. Und ihr kah­ler Schädel: als käme sie aus dem KZ!

Die Türen schlagen zu. Beide fahren erschrocken zusammen. Er dreht sich um und muss seine Fluchtim­pulse begraben, denn der Zug fährt weiter. Er lässt sich ihr gegenüber auf die Bank fallen und blickt sie schluckend an. Ein peinlicher Schauer überkommt ihn beim Gedanken, sie gehalten zu haben. Ihr hübsches Gesicht rührt ihn, hält ihn davon ab, sich woanders hinzusetzen, denn vor allem ist sie ihm unheimlich. Sie erwidert seinen Blick, wenn auch aus halb geschlosse­nen Augen. Gott sei Dank ist sie bei Bewusstsein. Mit langen Haaren wäre sie bestimmt wunderschön. So irre, wie sie schaut, könnte sie aus einer Klinik geflo­hen sein. Vielleicht gab es da so eine Art Badetherapie, bei der sie nicht ins Wasser wollte? Er schiebt sich die Brille am Nasenbein hoch, spürt ihr Misstrauen.

„E-entschuldigen Sie: Darf ich Sie was fragen?“

„Tust du schon.“

„Äh …. ja! Das ist doch die S7, oder? Richtung Fried­richstraße, richtig?“

„Na klar.“

„Puh! Dann ist ja gut.“

„Gar nichts ist gut.“

„Wie? Ach so! Ja, tut mir leid. Kann ich irgendwas für Sie tun?“

„Vielleicht mit dem Gesieze aufhören! Was soll denn das? Bist doch kaum älter als ich.“

„Oh! Ich darf Sie duzen? Einfach so?“

„Nee, kannst mich auch mit nem Doktortitel anquat­schen, wenn's dir Spaß macht.“

„Ja gut, also … Ludwig. Ludwig Meyer.“ Sie rea­giert nicht auf seine gereichte Hand, antwortet nur knapp mit „Babs“.

„Ah! Babs wie Barbara, nicht wahr? Sie mögen … Äh, du magst keine Doktoren, wie?“

Sie sinkt der Länge nach auf die Bank.

„K-kann ich dir irgendwie helfen?“

Als sie nicht antwortet, steht er auf, beugt sich über sie: „Sag doch! Kann ich etwas für dich tun?“

„Fass mich nicht an“, schreit sie.

Ludwig weicht zurück, fährt hoch und flüchtet zwei Schritte auf den Gang. Mit klopfendem Herzen starrt er auf den Mercedes-Stern, dessen scharfe Abbruch­kanten sie ihm zitternd entgegenhält.

 

Hans

 

U!S!A! United States of America! Die Vereinigten Staaten.

Hans hat lange nicht mehr dran gedacht, dabei wol­lte er bis vor einigen Jahren unbedingt dorthin aus­wan­dern. Aus dem Land der arg begrenzten ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, so sah er es damals.

„Now they call it swing“, summt der kräftige Blond­schopf, nachdem er sich von den Kameraden loseisen konnte und den Geruch von Bierdunst, Ziga­retten und Brat­würsten hinter sich gelassen hat. Warum man einen Neuzugang in die Partei immer in einer Eck­knei­pe begießen muss, wissen die Jungs allein. Er summt weiter vor sich hin und steppt über den Gehsteig. Sein Hut sitzt nicht gerade, er versucht, es zu korrigieren, aber nun sitzt die unartige Filzkappe zur anderen Seite schief.

Schade, dass keiner der Kameraden zum Tanzen ge­hen mag: Sie sind so stillos. Im Grunde sind es Rat­ten. Beim Tanzen kann man die aufregendsten Frauen der Stadt treffen, besonders zu Swing. Dort trifft er all die Menschen, die wissen, was gut ist. Seine Sammlung an Schellackplatten zum Beispiel: Louis Armstrong, Billie Holiday, Fletcher Hender­son, Coleman Hawkins und so viele weitere Jazzper­len.

Gut, dass man seinen Lieblingsschuppen – den Spie­len sei Dank – wieder geöffnet hat. Jazz und Swing als Neger­musik und Ruhestörung zu begrei­fen, ist lächer­lich. Was gut ist, ist gut. Basta!

Wenigstens zum Sport kann er den Haufen bekeh­ren. Turnen weniger, obwohl ein genauso geschmei­diger wie muskulöser Körper viel beweglicher und schlag­kräftiger ist. So wie er gern tanzt, tänzelt er beim Bo­xen, und seine linke Führ- und die rechte Schlag­hand bringen es ebenso wie seine Kombina­tionen. Bis­her hat er jedenfalls noch jeden aus dem Haufen auf die Bret­ter geschickt.

Abwechselnd folgt einer Steppeinlage ein Schatten­boxen.

„I'm on my way, Baby“, flüstert er einer Schaufens­terpuppe zu.

Ja, denkt er, ich komme aus ihren Reihen. Wir sind al­le eine große Gemeinschaft. Ich darf diese Hammel­hor­de führen und das ist gut so. Vielleicht kann ich aus die­sen Krähen Schwäne machen. Vielleicht bringe ich sie sogar noch zum Tanzen.

Seufzend geht er durch den Eingang der S-Bahn-Sta­tion Bellevue und stampft mit aufkommenden Kopf­schmerzen unruhig die Stufen zum Bahnsteig hoch.

Was …? Ein lauter Knall lässt ihn zusammenfah­ren.

Wütend erinnert er sich an die von einem Pennä­ler geplatzte Brottüte, bei der er so zusammenzuck­te, dass die Kameraden sich vor Lachen bogen. Über vier Häu­ser­blocks hatte er den Knirps gejagt. Das war noch pein­licher als bei seinem ersten Boxkampf, wo die Klopf­signale ihn erschreckten. Das Grinsen hätte sich sein Gegner besser gespart: Zum Gong lag der nämlich auf den Brettern.

Ordnung, denkt er.

Seine Augen werden glasig, die Lippen zittern. Die Aufstände, das Knallen der Gewehrkugeln: Wieder sieht er, wie sie sich schützend vor ihn wirft, auf ihn stürzt und unter sich begräbt, ihr toter Körper minu­tenlang wie ein schweres, schützendes Schild über all dem Chaos darüber. Auch wenn er noch ein Kind war, er hörte die wilden Zurufe und die ersten Schüsse, noch bevor sie überhaupt verstand, was geschah. Trotzdem verließ er sich auf sie, darauf, dass seine Mutter mehr sah als er.

Eine Turmuhr schlägt Mitternacht. Er hört die S-Bahn einrollen und legt ein paar Schritte zu. Am Bahn­steig stutzt er. Es ist sein Zug, die S7. Irgendetwas beschäftigt ihn, gibt ihm das Gefühl, keine gewöhnliche S-Bahn-Fahrt vor sich zu haben. Er fühlt sich wieder wie ein Kind, ein Junge auf dem Jahrmarkt, hin- und hergerissen zwischen Wahrsa­gerinnen, Zauberern und Geisterbahnen.

Come on, Hans! Das sind nur die Biere.

Er geht an einen Waggon und reißt die Türen auf, als bräuchte es allen Mut, um ein Tor zu einer schreckli­chen Wahrheit zu öffnen. Als wäre ihm bisher noch zu viel erspart geblieben! Er geht hinein und fängt erschrockene Blicke auf. Ein selt­samer, großer, lang­haariger Mann hat sich über jemanden gebeugt. Er läuft hin und bleibt stehen. Schluckend nimmt er sei­nen Hut ab. Auf der Bank liegt eine kahlköpfige, kaum bekleidete Gestalt.

„Gott sei Dank“, ruft der Langhaarige. „Sind Sie zu­fällig Arzt?“

„Nee.“ Fassungslos streicht er sich über die dün­nen Haarschichten im Nacken und an den Schläfen. Unter zunehmenden Herzschlägen bringt er seinen Seiten­scheitel in Form.

In diesem Moment schlagen die Türen zu. Er fährt zusammen und geht in die Knie. Ein Klappern zieht durch alle Waggons. Der Zug fährt an.

Er steht auf, schiebt diesen glotzenden Lulatsch zur Seite und klatscht dem zarten Burschen da auf die Wan­gen. „Mensch, Junge! Kannste mich hören?“

Nichts. Er richtet den Knaben an der Schulter auf. Als der wieder nach vorn kippt, fängt er ihn am Brust­kasten ab … Am Brustk...?

„Mein Gott! Das ist ja ein Mädchen!“

„Ich weiß.“

„Warum hat sie kein Haar? Was ist hier los?“

„Keine Ahnung. Ehrlich.“

Hans mustert die Gepeinigte, die leise vor sich hin murmelt. Ein Kerl mit langen Weiberhaaren und ein Mäd­chen ganz ohne. Was hat das zu bedeuten?

Irgendwie schade, denkt er noch, sie hat so ein hübsches Gesicht.

Für einen Moment erträumt er sich, sie zum Tanzen auszuführen, zu lange hat er das nicht mehr getan. Sie zittert. Er riecht eine Fahne – sie hat deutlich mehr ge­trunken als er – zieht sein Jackett aus und deckt ihren Oberkörper zu.

„N-nach Hause“, stammelt sie hoffnungslos, „ich will doch bloß nach Hause.“

„Wie sieht sie denn aus?“, fragt er den Langhaari­gen, „Haben Sie schon mal so einen Aufzug gese­hen?“

„Nein, bestimmt nicht. Es erinnert an einen Badean­zug, oder?“

„Ein Badeanzug?“ Sein abfälliger Blick streift den seltsamen Jesus-Mann. Ja, wie Jesus sieht er aus. Aber was macht Jesus in einer S-Bahn?

Nein, denkt er, ganz so schlimm kann es noch nicht sein. Ich lebe!

„Hey, Fräulein! Was ist mit Ihnen los? Was ist pas­siert? Was hat man mit Ihnen gemacht?“

Na, Mahlzeit: Sie glotzt einfach nur.

Hans geht mit dem Gesicht ganz nah ans Fenster, bis er seinen Scheitel zwischen Stirn und Scheibe quetscht. Da draußen ist nichts als pechschwarze Fins­ternis, keine Straßenlichter, Leuchtreklamen, erleuch­tete Fenster oder Fahrzeuglichter, nicht mal Strecken­beleuchtung. Dabei fährt die Linie hier durch keinen Tunnel.

„Was ist denn bloß los?“, wimmert das Mädchen hinter ihm: „Ludde! Wo bist du?“

Armes Ding, sagt er sich. An der nächsten Station gibt er dem Schaffner Bescheid. Der soll einen Arzt rufen … Das Licht flackert! Polternde Schläge erschüt­tern den Waggon! Was …?

Es folgen weitere Schläge, ein Inferno von Erschütte­rungen und krachenden Geräuschen. Die Waggons werden durchgeschüttelt, als seien sie entgleist und schlitterten nun über Schotter und Steine. Der Wagen scheint jeden Moment umzustür­zen. Was kann er tun? Was kann er diesmal besser machen? Was ist anders, was …?

„Nein“, schreit er. „Nein! Aufhören!“

Hans sieht die kahlköpfige junge Frau von der Bank taumeln und in den Jesus laufen, beide fallen zu Boden. Er selbst glaubte, Halt an einer Stange gefunden zu haben, doch die löst sich gerade unter seinen Händen auf. Er stürzt auf eine Sitzbank und prallt mit dem Ober­kiefer an die Rückenlehne.

Stöhnend findet er sich auf dem Gang liegend wie­der. Mit verschwommenen Blick starrt er an die Wagen­decke.

„Schluss“, brüllt er.

Wie auf seinen Befehl scheinen die Erschütterun­gen aufgehört zu haben, das Licht flackert weiter. Er stöhnt vor Schmerzen und schmeckt Blut.

„Ha-haben Sie das gesehen?“, hört Hans sich brüllen. Als er keine Antwort bekommt, richtet er sich auf und wischt sich mit seinem Taschentuch das Blut aus dem Gesicht. Erschrocken schaut er sich um, glotzt auf die muffig grünbraunen Wände völlig anderer, alter Wag­gons mit ihren weißen, in schwarzem Altdeutsch be­dru­ckten Hinweis-Schil­dern. Der Triebzug ist wie vom Erdboden ver­schluckt worden. Der Signalpfiff einer Dampflok lässt Hans erneut zusammenfahren. Er springt auf und sucht nach den Türen: Die finden sich nur noch an den Wagenenden. Draußen schwirren Lichter durch das Höllenschwarz, wabernden Quallen und Wasserblasen gleich. Die Lichterschau erinnert ihn an Fotos, wie sie sein Vater – ein begeisterter Amateur­fotograf – einst in einer eigenen Dunkelkammer ent­wickelte. Langsam bilden sich Konturen, zeichnen sich hölzerne Balken, große Eingangstü­ren, Schilder und Menschen ab. Die Personen bewegen sich, sprechen unverständlich: eine ver­zerrte Geräuschkulis­se, als drückte man die Nadel eines Tonarms zu fest auf den Plattenteller.

„Hallo“, ruft er und schlägt gegen die Türen, „hört uns jemand? Wir wollen hier raus!“ Doch die Menschen da draußen scheinen nur blasse Ge­spenster zu sein. Sie sind da, obwohl der Zug wei­terfährt.

„Hilfe“, schreit die junge Frau, plötzlich wieder auf den Beinen, und trommelt hysterisch gegen die Fens­ter. Und da ist ja auch wieder der Jesus: Er glotzt nur auf die sich nicht voll entwickelnden bewegten Bilder. Wenigstens die beiden sind keine Einbil­dung.

Hans schüttelt sich, herrscht sich selber an: „Ord­nung! Zusammenreißen!“

Er zwingt sich in einen festen Stand. Was immer hier passiert, es muss dafür eine logische Erklärung geben. Er muss Verantwortung übernehmen. Füh­rung! Die meis­ten Deutschen sind nun mal ver­weichlichte Schwäch­linge, Bedenkenträger und Bremser. Er ist stark! Ein Macher wie Adolf Hitler!

 

Mariechen

 

„So, mein Dämel“, murmelt sie. „Dann wollen wa ma kieken.“

Ein kleines Bündel geschnürt, wiegt Mariechen ihren kleinen Körper und summt eine Melodie. Sie könnte heulen, doch sie lächelt. Immer wenn es am schlimms­ten ist, schaut sie von oben auf sich und all die andern herab, beobachtet die Szene wie ein Stück auf der Volksbühne oder einer Operette im Theater des Wes­tens: Orte, an denen sie ohne manch betuchtem Freier nie gewesen wäre.

Es riecht nach verfeuerter Kohle. Mariechen stößt den Geschmack dünner Kohlsuppe hoch. Ihr Magen knurrt. Mal wieder eine dicke Erbsensuppe mit Bock­wurst und Kartoffeln, das wär's. Sie rückt sich ihr schwarz glänzendes Kleid zurecht, greift be­herzt in ihre knapp verhüllten Brüste, damit sie im plüschum­randeten Ausschnitt voll zur Geltung kom­men.

Der Krieg is nich dit Wahre, mein Dämel. Dit Siegen. Dit Verlieren. Dit Sterben und Hungern. Du nimmst ma die Männer, Dämelchen. Marschmusik und Tamtam: lächerlich. Frieden wäre mal ne ulkije Sache, du Dämel in Memel. Warst lange jenug dit Väterchen, dit ich dank dir nich mehr habe. Veränderung ist das Stich­wort.

Sie lächelt weiter, für nichts und niemanden – nicht mal das kleinste Glas für ihr Spiegel­bild steht zur Verfügung – doch nach den Rundungen ihres drallen Leibs ist Lächeln ihr größtes Kapital, das will geübt sein. Da steht sie wie eine aufgehübschte Liliputa­nerin, eine etwas zu obszön gefertigte Puppe, die die Wahr­heit ihrer früh herangewachsenen Kurven abbildet und die Fantasie ihrer Freier beflügelt. Das pausbacken­run­de, kindliche Gesicht verschwindet hinter einem fast schon clownesken Berg von Schminke. Sie betont die klei­ne runde Nase, ver­sucht, sie über dem kirschro­ten, erd­beerförmigen Schmollmund nicht zu sehr unter­ge­hen zu lassen. Ihre kräftigen Wimpern wirken wunder­bar falsch, das mögen die Männer, und ihre ku­gel­run­den blauen Augen erst recht. Den langen gelb­blonden Haarschopf hat sie am Hinterkopf zu einem ver­spielten Knäuel zusammengebunden. Lange Strähn­chen krüm­men sich links und rechts im Nacken, zwei kräftige Locken fallen beidseitig über ihre Wan­gen.

Mehrere Turmuhren beginnen Mitternacht zu schla­gen. Zwei Jahre ist es her, als sie hier – gerade sech­zehn – aus dem Zug stieg. Derselbe Zug, dieselbe Dampf­lok, die gerade stapfend, zischend und pfei­fend dieselben dunkelgrünen Wagen hinter sich her an den Bahnsteig zieht. Heute steigt sie wieder ein. Lange hat sie auf ihren Wirtschafter einreden und seine Beden­ken zerstreuen müssen. Allein der Hun­ger mag seinen Argwohn gezähmt haben. Morgen früh muss sie zurück sein, doch wie schön wäre es, aufgehalten, ja entführt zu werden. Landet sie am Ende erneut bei ihm, hätte sie wenigstens einen kleinen Ausflug in die Freiheit ge­nossen. Kommt sie mit leeren Händen, gibt es Schlä­ge.

Morgen um neun. Noch vor wenigen Minuten über­morgen. Fast eine halbe Ewigkeit, zumindest eine gan­ze Anzahl von Stunden, wo vieles passieren kann. An­dere ferne Welten geistern durch ihren Kopf: Seeun­geheuer, Piraten, Kapitäne und Wissen­schaftler, die Aben­teuerlektüre ihrer anhaltenden Jugend. Sie glaub­te, genug Bücher verschlungen zu haben, das Leben war­tete.

Ein schönes Leben hat sie sich eingebrockt. „Keene neunzehn und schon klugscheißend wie ne Alte“, hat ihr Wirtschafter mal gesagt. Mariechen öffnet die Tür eines Waggons mit festem Griff. Sie steigt die Stufen hoch und schließt sie wieder, da niemand weiteres zu­zu­steigen scheint.

„Der Zug hat sich eindeutig verwandelt“, ruft ein großer langhaariger Mann, wohl ein Südländer. Mit der Brille sieht er aus wie ein junger Professor.

„Blödsinn“, grollt ein attraktiver Blondschopf zu­rück, wenig kleiner als der andere, dafür umso mus­kulöser. „Züge verwandeln sich nicht.“

„Der hier hat sich aber verwandelt“, keift eine Kahl­köpfige in knappem Trapezkostüm zurück.

Na, dit kann doch spannend werden, mein Dämel­chen, denkt sich Mariechen.

„Ich sage es nochmals“, donnert der Blonde mit sei­nem Bass: „Züge verwandeln sich nicht. Ich für mei­nen Teil hab was getrunken. Wie sieht es bei Ihnen aus?“

„Ich hatte einen Schnaps“, sagt der Südländer.

„Bier, Wein, Sekt, Vodka ...“, beginnt die Kahlköp­fige aufzuzählen.

„Da haben wir's doch!“ Der Blonde verschränkt die Arme. „Wir haben alle was intus. Das muss es sein! Wahrscheinlich sind wir umgestiegen und ha­ben es nicht mal gemerkt.“

„Aber wo fahren denn noch solche alten Dampfzü­ge“, fragt der Schulmeister-Jesus. Für einen Südländer hält Mariechen ihn nicht mehr: Dafür be­nimmt er sich ir­gend­wie nicht südländisch genug.

Der Zug fährt an. Die drei taumeln und erschre­cken.

„Der Zug hatte gehalten“, schimpft der Blonde: „Seht ihr? Es ist jemand zugestiegen: Haben wir auch alles nicht gemerkt. Sehen Sie, wollte ich na­türlich sagen. Wir sollten uns vielleicht mal vorstel­len.“

„Dit is doch mal ne Idee, wa?“ Mariechen stolziert lächelnd auf die drei seltsamen Fahrgäste zu: „Ick bin dit Mariechen. Dit Funkemariechen, vastehta?“

Sie schweigen.

„Na ick kannte mal eenen aus Köln. Da machen'se doch Karneval. Und wo ick doch wirklisch Mariechen heiße. Und ick funkel och, wa?“ Die Hände auf den Hüften wendet sie ihren Ausschnitt abwechselnd den jungen Männern zu. Aber immer noch schwei­gen alle und schauen sie an wie eine Litfaßsäulen-Reklame.

„Ich glaub das nicht“, hört sie den Blondschopf fluchen. „Warum kommen wir hier nicht raus? Und wie viele Fantasiegestalten werden hier noch ein­steigen?“

„Keene Sorge, Süßer. An mir is allet echt. Willste mal anfassen? Kostet nüscht.“

So wie die Blicke der Herren zwischen ihr und der Kahl­köpfigen wechseln, wirken alle drei orientierungs­los. Mariechen fasst Mut und setzt sich vor ihnen hin. Zögernd nehmen die Männer gegenüber Platz. Noch zö­gern­der sinkt die Kahlköpfige neben ihr auf die Bank. Sie verbirgt etwas unter ihren Fingern. Ein Mes­ser?

Trotz vieler Fragen schlägt Mariechen ihre Beine über­einander und zeigt unterm rüschenbesetzten, weißen Unterrock ihre mit dunklen Netzstrümpfen bestückten Schenkel. An ihren Füßen glänzen schwar­ze Lackschuhe mit hohen Absätzen. Sie ist stolz auf ihre runden Ober- und die schlanken Un­terschenkel, auch wenn die Beine gern etwas länger sein könnten. Triumphierend schaut sie zu, wie die beiden Männer verstohlene Blicke riskieren. Da geht doch was! Und so schnieke wie der Blonde angezogen ist, hat er viel­leicht sogar Geld.

„Also derart habe ich mich noch nie verfranzt“, grum­melt der Langhaarige.

„Manchmal lohnt es sich, een paar Stationen wei­ter­zu­fahren. Ick liebe so eenen Zug inner Nacht, wenn man janz unter sich ist. Na kommt schon! Et jibt doch schlimmeret, wa?“

Beide schauen verlegen zur Seite.

„Ick will nach Marzahn“, fährt Mariechen ermu­tigt fort. „Hätten de Herren nich Lust, mir zu beglei­ten? Eh, ick mach euch'n rischtisch juten Preis!“

„Danke, meine Zuckerschnute“, winkt der Blonde ab, „aber wir haben jetzt andere Probleme.“

„Dit müssen große Probleme sein, wenna euch so een Anjebot entgehen lasst.“ Sie lehnt sich zurück und ver­schränkt die Arme im Nacken. Ihr voller Busen strafft sich. „In so nem handlichen Format wie mir kriegta so schnell keine mehr. Übernachtn könnt ihr och bei mir, für umsonst. Is ja schon spät, wa? Allet keen Problem, ihr Hüb....“

„Halt endlich die Klappe!“

Leise aber deutlich, denkt Mariechen. Verdutzt schaut sie ihre Sitznachbarin an: „Hastet wohl och schon vasucht, wie?“

„Der Langhaarige steht auf. „Einen Schnaps hatte ich. Einen einzigen! Auch wenn ich's nicht gewöhnt bin, davon kann ich nicht dermaßen betrunken sein, dass ich die Orientierung verliere. Wo fahren bitte noch solche alten Züge?“

„Wat heißt denn alt, meen Hübscher? Falls de so eenen der janz neumodischen Triebwajenzüge vamisst, de testen se jerade in Hamburg. Weeßick von nem Lok­führer, den ick mal hatte. Und ick in­teressier' ma nämlisch für allet Moderne, wissta?“

Der Langhaarige schaut sie fragend und traurig an: „Dieser Zug hat sich jedenfalls verwandelt. Wie ist das möglich?“

„Na, damit kennick ma ja noch viel besser aus. Eben doch ena zuviel, wa? Ditte bloß eenen hattest, sags'te bestimmt immer.“

„Der Zug ist alt“, stimmt der Blonde dem Langhaari­gen zu, „aber die Triebzüge, die sie jetzt eben doch schon in Berlin einsetzen ...“ - fragende Blicke zu Ma­riechen - „ … sind schließlich noch brandneu. Die fahren noch nicht überall.“

„Neu?“, fragt die Kahlköpfige. „Das ist alles das reins­te Museum hier.“

„Ick versteh nur Bahnhof, Herrschaften.“ Marie­chen strahlt den Blonden an: „Und een kleenet Schlückchen zu viel macht jar nüscht. Dit heitert dir bloß uff, wa?“

„Es macht mehr, als mir lieb ist“, entgegnet er.

„Man hat uns hier reingeschmissen“, erklärt die Kahlköpfige. „Vertrieben. Ausgestoßen.“

Fragend neigt der Blonde den Kopf zur Seite: „Aus­gestoßen? Warum sollte man das tun?“

„Weil wir nichts wert sind.“

„Was soll das heißen, nichts wert?“

„Wir haben alle versagt.“

„Versagt?“ Der Langhaarige schiebt sich die Brille hoch. „Inwiefern denn versagt?“

„Total?“, fragt sie zurück.

Die kleine Dirne schaut sich rätselnd um. „Also bei mir hat noch keena vasagt. Da müsstet ihr mehr intus ham. Dit habter nich. Det sieht mein fach­männischet Auge.“

„Wir waren in einem Triebzug“, bemerkt der Lang­haarige.

„Sicher“, bestätigt der Blonde. „Aber irgendwann müssen wir umgestiegen sein.“

„Dit is allet jut und schön, meene Hübschen. Ick sag ma imma, Kontakt uffnehm muss man mit de Men­schen, egal wat se für'n Tick haben. Ick jeden­falls bin und bleibe dit Mariechen. Und jetzt seit ihr endlisch ma dran, Herrschaften!“

„L-ludwig Meyer“, stellt sich der Langhaarige vor: „'Zeihung.“

 

„Hans Zimmer“, kommt es zackig vom Blonden. Ma­rie­chen strahlt ihn an. Dieses Mannsbild nimmt sie im­mer mehr gefangen ... Das unwillige „Babs“ der Kahl­köpfigen holt sie zurück.

„Na also“, Mariechen berappelt sich, „dit hätten wa schon mal. Und wo wollta nu eigentlisch hin?“

„Ich wollte in der Friedrichstraße raus“, erklärt Hans, „ins Hotel meines Onkels.“

„Mein Ziel war der Lehrter Stadtbahnhof“, erklärt dieser Ludwig unruhig.

„Ich muss nach Marzahn“, seufzt Babs.

Mariechen schaut sie mit großen Augen an: „Na, Mensch! Jenau wie icke! Dit passt doch! Und de Herren nehm' wa mit, hm?“

„Ich glaube nicht, dass wir da jemals ankommen“, sagt Babs traurig.

Jetzt wird auch Mariechen unruhig. Tatsächlich sind sie schon eine ganze Weile unterwegs. Sie müssten längst am Lehrter Stadtbahnhof gehalten haben. Ande­rer­seits gibt ihr das Gefühl, dass hier tatsächlich einiges nicht stimmen kann, auch Hoff­nung. Ist es nicht das, worauf sie gewartet hatte? Das große Un­be­kannte? Et­was, dass sie aus ihrem trostlosen Leben her­ausreißt?

„Da kommt ne Station“, ruft Ludwig.

„Dit muss schon Friedrischstraße sein, meen Hüb­scher.“ Sie nickt dem Blonden zu. Schade, dass er gleich verschwunden ist.

„Egal wo“, sagt er. „Ich steig aus.“

„Ich auch“, sagt Babs.

„Und ich erst.“ Ludwig steht bereits.

Eigentlich müsste selbst Friedrichstraße schon vor­bei sein, überlegt Mariechen, aber was nützt es schon? Marzahn wird es bestimmt noch nicht sein und genau da hätte sie die Männer nun mal gern.

Die Lichter des Bahnsteigs nähern sich. Da stehen sie und verharren an der Tür. Nur Mariechen bleibt traurig sitzen. Es wird sich eben gar nichts ändern. Ihr Leben wird so traurig bleiben wie eh und je. Was hat sie denn erwartet? Zauberei?

Und dann jagen die Lichter wie ein Komet heran.

Und vorbei.

„Neiiin“, kreischt Babs.

„Das darf doch nicht wahr sein“, brüllt Hans. „Ist das ne Entführung oder wie?“

„Da muss ein Signal falsch gestellt sein“, mut­maßt Ludwig verzweifelt.

„Kapiert es endlich“, wimmert Babs: „Wir sind Ausge­stoßene. Abgeschoben ins Nichts. Uns will niemand haben!“

„Wer weiß, wofüret jut is“, murmelt Mariechen mit gestiegenem Puls ans dunkle Fenster.

Teil I - 3. Kapitel

 

3. Kapitel

 

Babs

 

„Komm zu dir!“ Hans schüttelt sie an den Schul­tern: „Hör auf zu heulen, verdammt ...! Aaaah!“ Er lässt von ihr ab und starrt auf seinen Handrücken.

Babs hält den Mercedes-Stern hoch, bereit, mit der Bruchkante ein zweites Mal zuzustoßen.

„Was bist du bloß für ne verwahrloste Göre!“

Genau das bin ich, denkt sie.

Deshalb bin ich hier. Aus mir wird nie was. Das Abi schaff ich doch im Leben nicht! Und ich will Architek­tin werden. Wie dumm bin ich eigentlich?

Aus verheulten Augen schaut Babs die drei abwech­selnd an.

Mariechen ist Prostituierte, denkt sie. Dafür wird die wohl bestraft. Hans muss ein Neonazi sein, mit seinen kahl geschorenen Schläfen, traditionell wie ein Alt­nazi aus den 50zigern … Nee, 40er waren das, oder? Nein, eigentlich müssten es doch die 30er ge­wesen sein. Ver­dammt!

Sie ist wirklich eine Null in Geschichte. Hat sich nie drum gekümmert. Wer denkt bei KZs und Gas­kammern auch noch an Jahreszahlen?

„Beruhigt euch mal jetze, Mensch! Wa können doch nüscht ändern. Irjendwann muss der Zuch ja halten, nech? De Kohle reicht ja nich ewig.“

„Aber wo halten wir dann?“, fragt Ludwig völlig von der Rolle. Panisch blickt er um sich. „Wir müs­sen doch schon weit in der Zone sein. Und ich hab mei­nen Ausweis nicht dabei, verdammt!“

Abwesend stochert der Student mit seinen langen Fingern in einer Geldbörse herum. Wofür mag er be­straft werden? Für seine Verpeiltheit? Nein, das reicht ja wohl nicht. Er scheint doch geradezu ein Mus­ter­schü­ler … Hat er gerade Zone gesagt?

„Was redest du von einer Zone?“, schimpft Hans, während er Blut von der Hand lutscht.

„Babs schaut Ludwig böse an: „Hast wohl die Wende verpasst, wie?“

„Was für ne Wende?“, fragt Hans

Nun funkelt Babs ihn wütend an: „Du spielst den Alt­nazi, stimmt's?“

„Was heißt hier Alt?“

„Jetzt kapier ich's! Du bist einer von diesen Reichs­bürgern, nicht? Die so tun als ob.“

„Was heißt denn so tun als ob? Natürlich bin ich Reichs­bürger. Das sind wir ja wohl alle.“

„Ja, ist schon klar. Wusste ich's doch.“

„Da ist er ja!“ Ludwig hält seinen Ausweis hoch. „Gott sei Dank!“

Ehe Babs etwas sagen kann, halten alle inne. Das nahende Licht würde niemandem Hoffnung geben, der Zug ist inzwischen an zu vielen Bahnhöfen vorbeige­rauscht: Friedrichstraße, Hackescher Markt, Alexan­derplatz … Doch diesmal wird das Stampfen der Lok langsamer. Der Zug fährt tatsächlich in einen Bahnhof ein. Babs ist schnell auf den Beinen, doch Hans ist als Erster an der Tür.

„Marzahn“, sagt er enttäuscht.

Tatsächlich! Das muss die Turmuhr der Marzah­ner Dorfkirche sein, die gerade halb eins schlägt. Wieso nur hat dieser mysteriöse Museumszug zwi­schendurch an keiner Station gehalten? Egal, es ist Marzahn.

Mariechen nickt Babs zu und zeigt zum Fenster. „Na, erkennstet wieder? Hier sind wa rischtisch, wa?“

„Ja“, murmelt Babs unsicher. Sie weiß beim Ausstei­gen nur noch, dass sie nach Hause will. Sie läuft ein­fach in die gewohnte Richtung los. Es kann ja gar nicht stimmen, was sie erlebt hat. Das Problem muss in ih­rem Kopf liegen.

A-Karte-tausend-schieß-mich-tot-und-zwei.

Lauf einfach!

 

Ludwig

 

Ludwig starrt die Dampflok an. Und den Schaff­ner. Entschlossen geht er auf ihn zu. Mit seinem gezwirbel­ten Schnauzer starrt er den Studenten an, als käme er vom Mars, und Ludwig ist überzeugt, dass er ähnlich dumm schaut. Sein Gegenüber trägt eine Uniform wie zu Kaisers Zeiten. Sollten sie hier tatsächlich in der Vergangenheit sein? Der Gedan­ke, sie wahrhaftig zu er­leben, macht ihm Angst und weckt doch gleichzeitig seine Neugier. Es wäre einfach großartig, zu sehen, wie es wirklich war.

„Entschuldigen Sie“, versucht er es: „Gestatten Sie mir eine etwas – nun ja – merkwürdige Frage?“

„So wie se aussehen, junger Mann, rechne ich mit nüscht anderem. Aber nur zu, man fracht mir oft je­nuch Sachen, det globste jar nich.“

„Welches Jahr haben wir?“

„Bitte, wat?“

„Welches Jahr?“

„Det meen'ste nich im Ernst.“

„Doch, wirklich.“

„Also, det hat ma noch keena jefragt. Det schlägt allet. So betrunken kannste doch jar nich sein!“

„Frag ihn doch gleich, ob wir noch'n Kaiser ha­ben“, ruft Hans hinüber.

„Seita denn alle miteinander bekloppt?“ Der Schaff­ner tippt sich an die Stirn.

Mariechen kommt herangelaufen und greift unter Ludwigs Arm. „Nu lass ma gut sein, meen Hüb­scher. Kannst ja mir fragen, wa? Natürlisch ham wa nen Kaiser. Und der is gerade mit die halbe Welt in Kriech, unser Dämel.“

„Na, na, Fräulein! Etwas mehr Respekt, wennick bit­ten darf! Det erwartick och von nem Hurenweib! Dein Onkel tut ma jetz schon leid. Ick hoffe, er wird dir vom Hof jagen! Det hier issn' anständiger Ort!“

„Schon jut, Alfred. Lange bleebick hier bestimmt nich.“

Ludwig lässt sich von Mariechen wegführen, Hans folgt.

„Wo ist eigentlich Babs?“

„Is wohl schon vorjelaufen. Wohnt ja hier irjend­wo.“

 

 

 

Hans

 

„Hör mal zu, Mariechen, das mit dem Kaiser war jetzt aber ein Scherz.“ Hans schaut ihr tief in die Augen, überzeugt, dass sie sich gleich mit einem Grin­sen verrät. Aber dieses kleine Weib hat sich er­staunlich im Griff. Und auch ihn, so wie sich ihre warmen Finger um seinen Oberarm gelegt haben. Sie führt ihn und diesen Ludwig geradezu ab wie Sträflinge und betrach­tet beide wohl als fette Beu­te.

„Tut ma leid, wennick dir enttäusche, meen Hüb­scher. Aber lange jeht dit bestimmt nich mehr.“

„Der Kaiser ist ein alter Mann im holländischen Exil“, empört sich Hans.

„Ist?“, fragt Ludwig: „Er starb dort 1941.“

„Jetzt reicht es!“ Hans reißt sich von Mariechen los. „Woher willst du wissen, was in fünf Jahren ist?“ Er rich­tet einen drohenden Zeigefinger auf ihn: „Du willst mir Angst einjagen. Dir gefällt auch nicht, dass ich Na­tio­nalsozialist bin. Ich glaube, jetzt weiß ich auch, wa­rum du lange Haare hast. Weil du dir gewöhnlich Zöpf­chen flechtest, stimmt's? Du bist so ein streng reli­giö­ser, orthodo­xer Jude! Ha! Und bist doch saufen gegan­gen!“

„Ich bin ein evangelisch erzogener Student der Bun­des­republik Deutschland“, widerspricht ihm der Stu­dent: „Mach in Berlin Deutsch und Geschichte an der Freien Universität. Und zwar 1967. Und du bist wirk­lich ein Nazi, oder?“

 

Hans schluckt. „D-das kann doch alles nicht wahr sein.“ Seine Beine werden weich. Er sinkt zu Boden.

Das ist Blödsinn, denkt er, unmöglich.

Und doch quält ihn der Gedanke, was wäre, wenn alles stimmte: Wieder eine Republik? Wieder so ein Chaos wie in Weimar? Nein, ein zweites Mal könnte er das nicht ertragen.

 

Mariechen

 

„Ihr kommt jetzt eenfach mal mit, wa? Is doch wirk­lisch det beste jetze.“

„Wohin denn?“, fragt Hans und steht auf. „Hier schla­fen doch schon alle.“

„So jut wie“, versichert Mariechen. „Bis uff'n paar Besoffene im Dorfkrug vielleicht, det hier draußen is nämlisch hinterste Provinz, ihr Süßen.“

Hans sieht fantastisch aus. Eine echte Heldenfi­gur, eine, die Frauen in Schwierigkeiten hilft. Wie gut trifft es sich da, dass sie tatsächlich welche hat. Vielleicht ist er ja doch mutig und nur ein bisschen geräuschemp­findlich. Angst vor der Zukunft scheint er auch zu haben, was Mariechen ihm nachfühlt, auch wenn sie fest daran glauben will, dass es nur noch besser wer­den kann. Morgen sind die beiden nüchtern und werden sich wieder an alles erinnern. Oder an gar nichts, je nachdem. Dabei könnte sie deren Gerede von verschiedenen Zeiten fast vermis­sen: Es hat was von ihren geliebten utopischen Ro­manen.

Während sie durchs Dorf gehen, erklärt Marie­chen, dass auf dem Hof ihres Onkels Arbeit wartet. Und das ein paar Hände mehr dabei nicht schaden.

Sie schaut auf die Dorfkirche mit ihrem treppenarti­gen Mauerbau am Dachstuhl des Turms. Wie schön er sich im Mondlicht abzeichnet: für manche ein schauri­ger, für Mariechen ein friedlicher An­blick.

Erinnerungen an ihre kurze Kindheit kommen beim neuen Schulhaus hoch, vor allem an die ungewöhn­lich umfangreiche Bibliothek. Sie seufzt. Vor sechs Jah­ren zog sie dort mit ihren Mitschülern um. Im selben Jahr baute der Müller Triller neben seiner Mühle die Wind­turbine und versorgt sich seitdem mit eigenem Strom. In Mariechens Fantasie drehen sich überall Wind­turbinen und machen dre­ckige Schlote über­flüssig.

„Mein Arbeitsplatz ist eigentlich ein Hotel und kein Stall oder Acker“, hört sie Hans sagen: „Wo sollen wir denn schlafen? In einer Scheune?“

„Erraten, meen Hübscher. Ne Bahnsteigbank is nich so bequem wie een weichet Heubett, wa? Au­ßerdem würdeste uff'm Bahnhof schnell vom Wacht­meesta uff­jelesen werden.“

„Das ist sehr nett“, bedankt sich wenigstens Lud­wig: „Für eine Nacht wird’s schon gehen.“ Die ganze Zeit schaut er sich um und putzt seine Brille.

„Keene Ursache, meen Süßer.“

„Was ist das hier?“, hören sie Babs fluchen.

Da ist sie wieder. Das kahlköpfige Mädchen wankt hilflos durchs Dorf, hält ein schwarzes Notizbuch in die Höhe und murmelt etwas wie „kein Netz, ver­dammt! Kein Netz!“ Will sie etwa in der Luft Fische fangen?

Das Mädchen weicht zurück, als sich ein bellen­der Hund am Grundstückszaun aufrichtet.

„Warum stehen hier so kleine Häuser? Oh, mein Gott! Das sieht ja alles noch älter aus als vor der Wende!“

„Schon wieder diese Wende“, hört Mariechen Hans knurren: „Was meint sie denn bloß damit?“

Ludwig zuckt mit den Schultern.

Und dann verliert Babs wohl endgültig die Ner­ven: „Die Plattenbauten“, schreit sie. „Da vorn müssten sie doch sein. Wo sind die verdammten Plattenbauten? Wo ist mein beschissenes Zuhause?“

Teil I - 4. Kapitel

 

4. Kapitel

 

Babs

 

„Uffstehn, ihr Schlafmützen!“

Babs fährt erschrocken hoch. Das hereinfallende Son­nenlicht erscheint ihr gleißend hell. Ein Luftzug weht herein. Draußen kräht ein Hahn.

„Mandy, äh ...? Mariechen“, mault sie: „Bist du ver­rückt? Mach das Tor zu!“ Ihr Schädel brummt, ein bit­te­rer Geschmack liegt auf ihrer Zunge. Es pikt und krib­belt: frischer Heuge­ruch zieht ihr in die Nase.

„Nee wirklisch, Herrschaften. Kiekt mal, wo die Son­ne steht!“ Mariechen tritt aus ihrem Schatten hervor, eine hechelnde Dogge im Schlepp. Verwirrt schaut Babs auf ihr graues Arbeitskleid: Die kleine Dirne hat sich in eine Landarbeiterin verwandelt. Ihr blondes Haar ist bis auf die letzte Strähne unter einem Kopf­tuch verschwunden. Fast wirkt sie wie ein dunkles Ge­spenst.

Ein paar Meter weiter liegen die beiden Typen auf ei­nem Heuballen. Der Blonde, dieser Hans, hat et­was von Brad Pitt, aber seine grünen Augen haben Babs ge­ängstigt. Und Ludwig wirkt wie ein zurückgebliebe­ner aus den 70ern oder noch früher. Sie werden auch ge­rade erst wach.

Mariechen stellt eine Schüssel auf den Ballen ne­ben Babs. Die weiße Emaille erinnert an ein kleines Wasch­becken.

„Die is fa dir, Süße. Wenn de Herren sich am Brun­nen frisch machen, könnta ihr ja de Schüssel voll machen und rinn tragen, wa?“

„Steht's zu Diensten“, deutet Hans, gerade auf die Beine gekommen, säuerlich an.

Soll ich jetzt vielleicht Spargel

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jan Christoph Nerger
Bildmaterialien: Jan Christoph Nerger
Cover: Jan Christoph Nerger
Lektorat: Gisela Baudy, Christian Baudy
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3406-2

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