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Ní fírinne éasca - "Keine leichte Wahrheit"



1.

Ein harter Krieg hält Einzug über das Land. Während die jungen Männer der vielen Stämme des Landes sich zum Kampf rüsten,
flüchten sich Frauen und Kinder im Schutz der Dunkelheit in die Tiefen der weiten Wälder.
Angus, der mächtigste Krieger eines kleinen Dorfes nahe der Ostküste, führt sein Heer siegessicher in die Schlacht dem Westen entgegen. Siegreich sehen sie dem langen Ende des Krieges eines halben Jahrhunderts entgegen.
Da plötzlich ergreift der feindliche Heerführer das Schwert, streckt Angus nieder.
Taumelnd versucht Angus sich in Sicherheit zu bringen. Die Wunde an Rücken und Flanke klafft immer mehr auf. Er fällt.
Über ihm dehnt sich der Schatten des feindlichen Heerführers aus, eine ehrvolle Pose ziert seinen geschmückten Panzer.
Angus rappelt sich auf, hebt den Dolch zum Kampf, bereit sein Leben für das seines Volkes zu geben. Doch seine Kraft verlässt ihn.
Erschöpft lässt er die Klinge sinken, schließt die Augen in der Hoffnung, nicht zu leiden.
Feierlich hebt nun sein Gegner das Schwert. Und dann ...


“Und dann? Nun sag schon, Rodin!“ Rodin, ein junger, weiser Mann von etwa zwanzig Jahren mit schulterlangem, blonden, zu einem Zopf gebundenem Haar, klappte das Buch zu. Behutsam schob er seine Brille den Nasenrücken hinauf.
Es war Historienkunde. Um Rodins Füße herum saßen ein Dutzend Halbwüchsige, lauschten Rodins abenteuerlichen Geschichten mit glänzenden Augen. “Und was dann geschah erzähle ich euch ein anderes Mal. Die Stunde ist vorbei.“
Die Kinder maulten. Unbeirrt stand Rodin von seinem Platz auf und ging zum Regal.
Dort stellte er das Buch, das er ausgesucht hatte um den Kindern heute daraus vorzulesen,
in Reih und Glied zurück. Er seufzte. Wie wissbegierig die jungen Burschen doch waren.
Sie erinnerten Rodin an ihn selbst, als er etwa in ihrem Alter, vielleicht kaum älter war. Gedankenverloren starrte er die Buchreihen im Regal an. Über die Jahre waren es viele geworden.
Weit war Rodin nicht gereist, nur aus Büchern und Geschichten, Sagen und Mythen, die seine Ur-Großmutter ihm immer wieder erzählte, kannte er die Welt. Aus dem Dorf selbst war er nur ein einziges Mal getreten.
Zusammen mit seinem Vater besuchte er vor vielen Jahren seinen Onkel in einem benachbartem Dorf. Es lag nur eine Stunde Fußmarsch zwischen den Dörfern. Zu gern hätte Rodin die Welt bereist, fremde Länder und Kulturen gesehen.
Stattdessen hockte er als Lehrer in einer Jünglingsschule, kam kaum außer Haus. Oft zweifelte Rodin daran den richtigen Weg gewählt zu haben. Doch sicher Daheim als weiser Lehrer schien ihm damals erstrebenswerter als ein Leben in der Natur, wo er ständig,
gefährlichen Abenteuern ausgesetzt, ums nackte Überleben kämpfen musste.

Erschrocken tauchte Rodin aus seinen Gedanken auf, als es an seinem Rockzipfel zog.
Pamina, die Enkelin des Dorfältesten, durchbrach seinen Gedankenstrom.
Sie musste sich während der Geschichtsstunde unter die Burschen gemischt haben.
Mit ihrem jungenhaften Auftreten, dem kurzen Haar und der breiten Brust fiel sie nicht besonders unter den Jungen auf. Kurzes Haar? Gestern trug Pamina noch langes! Rodin beugte sich, das Mädchen musternd, über sie.
“Pamina! Was ist mit deinem Haar geschehen?“ Pamina schwieg.
Unsicher starrte sie zu Boden. Scheinbar endlose Sekunden des Schweigens brachen über die Beiden herein.
Dann endlich blickte das Mädchen Rodin von unten herauf an.
“Vater sagte, dass Mädchen den Schwertkampf nicht erlernen dürfen. Dabei wollte ich es so gerne lernen! Ich hab’ geweint und geschrie’n, getobt und gewütet – bis Vater böse wurde. Er meinte, wenn ich schon wie ein Junge den Schwertkampf lernen wolle,
solle ich auch ruhig aussehen wie ein Junge.. und schnitt mir mein Haar ab.“ Rodin schluckte.
Die Gesetze des Dorfes waren gewiss keine Leichten. Doch Pamina lächelte ihn an.
“Sorge dich nicht! Es ist ein kleiner Preis für das was ich nun lernen darf!“
Nun lächelte auch Rodin. Arme Pamina. Wie traurig würde sie erst sein wenn sie erführe, dass sie, trotz ihres jungenhaften Aussehens, den Schwertkampf weiterhin nicht erlernen durfte. So verlangten es nun einmal die Gesetze. Ehe Rodin dem kleinen Mädchen etwas entgegnen konnte war diese schon verschwunden. Rodin seufzte. Arme Pamina.

Langsam streifte Rodin über die matschigen Wege nach Hause.
Über die Jahre hatte sich nicht viel im Dorf verändert. Es war der gleiche blaue Himmel, die selben Stroh- und Holzhütten,
die gleichen staubigen und matschigen Wege wie all die Jahre zuvor. Doch Etwas war anders.
Es war nur ein kleines Detail, das sich geändert hatte. Nur was? Rodin konnte sich keinen Reim darauf machen.
Langsam wurde es Abend und man erleuchtete die bunten Lampions auf den Straßen.
Wie schön sie im seichten Mondschein leuchteten. Heute war das alljährliche Lichterfest.
Als er es zum ersten Mal erlebte war Rodin bereits vier Jahre alt gewesen.
Zuvor hatte er bei seinem Onkel im Nachbardorf gelebt, da sein Vater oft für das Dorf auf die Jagd gehen musste.
Eines Tages begegnete Rodins Vater einem ausgewachsenen Eber und stolperte über eine Wurzel ins Dickicht. Er brach sich das Bein. Man sagte ihm, er könne nie wieder ohne eine Krücke gehen. Im selben Jahr durfte Rodin dem Lichterfest das erste Mal beiwohnen.
Es gab süßes Gebäck für die Kinder und ein Holzpuppentheater. Am Abend zündete man vorm großen Fluss ein Feuer an,
jede Familie eines, und betete zu den Göttern und Waldgeistern um Frieden, Wohlstand und Schutz vor allem Bösen.
Dann sangen die Frauen, die Alten sowie die Jungen, und die Mädchen ihre Lieder. Es waren alte, von Generation zu Generation weitergegebene, rituelle Lieder. Kein Mann durfte sie singen in der Nacht zum Lichterfest. So wollte es der Brauch.
Wer es doch tat, dem drohte Unheil, Krankheit und Tod. Noch vor Rodins Zeit, so sagte seine Ur-Großmutter, durften die Männer die Lieder niemals singen. Doch nun, so sagte man, genügte es, wenn die Männer beim Lichterfest das Singen den Weibern überließen.
Den Rest des Jahres durften sie sie getrost aus voller Brust hinaus in die Welt tragen. Die ersten Mädchen rannten in ihren prunkvollen Gewändern auf die Straße. Sie lachten, sie scherzten, sie trällerten die ersten Weisen, begleitet von einer Flöte die einer der jungen Burschen aus dem heutigen Unterricht spielte. Lustvoll sah Rodin den Mädchen nach. Hätte er doch auch nur ein so schönes Gewand tragen dürfen und mit den Anderen singen. Doch er war nicht als Frau geboren.
Zwar hatte Rodin keine breiten Hüften, wie die Meisten der Frauen aus dem Dorfe, sodass er als eine schöne junge Frau gelten konnte, doch auch breite Schultern und straffe Muskeln fehlten ihm. Rodin war ein hoch gewachsener, dürrer Mann, karg und schmal, gar nicht muskulös wie andere Männer seines alters. Dafür besaß Rodin viel Wissen. Wissen, welches die anderen Männer nie besitzen würden.
Gedankenverloren kehrte Rodin in die Straße ein, die zu seinem Haus führte.
Auf seiner Türschwelle saß eine junge Frau, schlank, mit langem, gelocktem Haar von rosaner Farbe. Aus strahlenden blauen Augen betrachtete sie Rodin. Dieser traute seinen Augen kaum wen er dort vor seiner Türe fand.

Fast hatte Rodin sie nicht erkannt, so groß war sie geworden – und so schön zugleich.
Velia, Rodins Freundin aus Kindertagen, hockte wartend vor seiner Tür. Lange Zeit hatten sie sich nicht gesehen, und nun saß sie dort.
Als Rodin vor sechzehn Jahren ins Dorf zog beachtete ihn Niemand. Kein Kind wollte mit ihm spielen, kein Erwachsener suchte seine Nähe. Nicht einmal sein eigener Vater wusste so recht Etwas mit dem Jungen anzufangen, war Rodin doch zart und schwächlich geraten.
Fast schon wie ein Mädchen. Jeder Versuch des Vaters Rodin in die Kampfkunst einzuführen scheiterte kläglich.
Eines Tages, Rodin saß allein auf einem Hügel weil die anderen Jungen ihn geschlagen hatten, gesellte sich ein kleines Mädchen zu ihm. Sie war ein gutes Jahr jünger als Rodin selbst, sprach und dachte aber ihrem Alter deutlich voraus.
So kam es, dass das Mädchen Rodin fragte, weshalb er so allein auf dem Hügel säße. Rodin erzählte was passiert sei und fing an zu weinen. Wütend über die Schandtaten der anderen Jungen sprang das Mädchen auf, rannte den Hügel hinunter.
Ihre blauen Augen glitzerten im Sonnenlicht und ihr schulterlanges, rosafarbenes Haar flatterte in der leichten Brise die vom Hügel herunter wehte. Aufgebracht stritt das kleine Mädchen mit den Jungen und als es von einem von ihnen geschubst wurde, stürzte sie sich auf ihn. Wieder und wieder drosch sie auf den Jungen ein, so lange, bis dieser genug hatte und sich bei Rodin entschuldigte.
Dieser besah sich erstaunt das Treiben am Fuße des Hügels. Da verdrosch das kleine, zarte Mädchen die Jungen, die fast doppelt so groß waren, wie sie selbst! Als sie fertig geprügelt hatten setzte sich das Mädchen erneut zu Rodin.
Völlig außer Atem und mit Schorf übersäht starrte sie den Hügel hinunter. “Diese Affen! Von denen darfst du dir nichts gefallen lassen! Hörst du?“ Rodin nickte. Recht hatte sie. Lächelnd sah sie nun Rodin an. „Ich heiße Velia. Du bist neu im Dorf, nicht wahr?“
Rodin nickte erneut und nannte seinen Namen. “Rodin. Ein komischer Name.“ Er schluckte. Würde Velia ihn nun auch hänseln,
so wie die anderen Kinder im Dorf? Doch seine Sorge sollte unberechtigt sein.
“Weißt du, Rodin, ich weiß, wie es ist, von den Anderen verachtet zu werden. Wenn du also wieder einmal meine Hilfe brauchst, scheue dich nicht nach mir zu rufen. Ich werde sofort zur Stelle sein.“ Von nun an rief Rodin, immer dann, wenn es nötig war, nach Velia.
Diese verteidigte ihren neuen Freund bis aufs Blut, ließ ihn seitdem nicht aus den Augen.
Rodin störte es nicht, wenn die anderen Kinder hinter seinem Rücken tuschelten und sagten, er sei schwach und ärmlich, weil er sich von Velia beschützen ließ. Für ihn zählte nur, dass er nun eine Freundin hatte! Rodin verglich Velia oft mit einem fauchenden Tiger, der zugleich schön und anmutig war wie ein Schmetterling. Oft trafen sie sich vor der großen Eiche im Dorf, welche gleich neben der Hütte des Ältesten stand. Von dort aus begannen ihre Abenteuer zumeist. Nur an verregneten Tagen spielten sie im Haus, dachten sich Geschichten aus und spielten diese nach.

Doch eines Tag’s, es war ein verregneter Dienstag gewesen, kamen Soldaten ins Dorf.
Auf großen Pferden, schwarz wie die Nacht, herrlich verziert, ritten sie durchs Dorf und stiegen vor Velias Elternhaus ab.
Zunächst, und auch viele Jahre noch danach, begriff Rodin nicht, was an jenem Tag dort vorgefallen war.
Er hörte Klopfen und Stimmen, Geschrei und Gepolter, Töpfe zerspringen, Weinen und Hufgetrappel. Seine Ur-Großmutter hob Rodin schnell auf, trug ihn ins Haus. Dort versteckte sie den Jungen unter einem der Betten und rannte auf die Straße.
Rauch erstreckte sich über das Dorf, Rodin konnte ihn vom Fenster aus sehen. Lange noch brüllten die Männer und die Frauen kreischten. Man hörte Füße aufgeregt hin und her rennen, das Plätschern von Wasser. Rodin verschloss einfach die Augen.

Es kam Rodin vor wie eine Ewigkeit in der er unter dem Bett kauerte, nicht ahnend, was überhaupt geschehen war.
Stille kehrte im Dorf ein. Noch eine ganze Weile lag Rodin zusammengekauert unter dem Bett, bis er sich schließlich doch hervor wagte um nach dem Rechten zu sehen. Vor Velias Haus standen viele Dorfbewohner.
Starr und regungslos standen sie da. Rodin entdeckte seine Ur-Großmutter, die neben seinem Vater vor dem Haus stand.
Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Rodin, dass das Haus nun mehr kein Haus war, sondern eine zu Asche verfallene Ruine.
Was war nur passiert? In sich gekehrt starrte Rodin diesen einzigen Aschehaufen an. Dann schrak er auf.
Velia! Sie musste noch darin sein! Blitzartig rannte Rodin in die Asche, fiel auf die Knie, fing an nach seiner Freundin zu suchen.
Immer und immer wieder rief er ihren Namen. Sein Vater versuchte Rodin zu beruhigen, Ur-Großmutter weinte.
Alles Bitten und Betteln war vergebens. Rodin grub und grub. Er wollte nicht aufgeben. Nicht eher wollte er aufgeben bis er Velia gefunden hatte! Doch dann wurde er vom Boden aufgehoben. Sein Vater stellte ihn auf die Beine, das Gesicht ihm zugewandt. Gerade wollte Rodin sich losreißen, um weiter zu suchen, als ein donnernder Schmerz seine Wange durchzog. Benommen fiel Rodin auf seinen Hosenboden.
Sein Vater hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. Geistesgegenwärtig packte er Rodin bei den Schultern, sah ihn aus seinen durchdringenden Augen an. „Sohn, hör mir gut zu. Hörst du? Hör zu! Deine Freundin, sie ist weg! Sie haben sie mitgenommen!
Weit, weit weg mit sich genommen! Du musst nun stark sein, Rodin! Sei stark!“ Er nahm den aufgelösten Jungen in seine starken Arme.
Nie zuvor hatte Vater das je getan! Nicht als Rodin geboren wurde, nicht als Mutter starb! Rodin kämpfte mit den Tränen.
Er wollte doch weinen, aber er durfte nicht. Nicht jetzt! Nicht vor Vater! Eine kreischende Frau brach das betretende Schweigen.
Es war Velias Tante. „Wo ist meine Schwester? Wo ist Zuri?“ Man deutete ihr mit einer Geste auf das verkohlte Haus.
Unter den eingestürzten Trümmern in der Asche erkannte man ein verbranntes Haupt. Weinend, schluchzend und kreischend sackte die Frau in sich zusammen. Die Kinder führte man in die Häuser zurück.

Der nächste Morgen war kalt und grau. Nebel hing über den Tälern. An diesem Morgen sollte eine Trauerfeier für Velias verstorbene Mutter abgehalten werden. Der zuständige  Geweihte lief schon seid Stunden die Straßen auf und ab, verstreute Blütenblätter und Morgentau. Die Stimmung war gedrückt.
Nur Rodin begriff den ganze Tumult noch nicht so recht. Vielleicht verdrängte der Junge es unbewusst, vielleicht sah er aber auch beabsichtigt über diese Tragödie hinweg, um nicht an seine Freundin zu denken.
Unter der fahlen Eiche neben dem Haus des Ältesten begrub man die Überreste die einst Velias Mutter gewesen waren. Man trauerte und weinte. Man zündete Lampions und Kerzen an, streute Blumen in den Wind und sang für einen friedvollen Tod.
Die Kinder schickten kleine Boote aus Ästen und Blättern mit ein wenig Asche darauf über den See. Sie sollten eine gute Überfahrt ins Reich der Toten geleiten. Rodin schwieg. Den ganzen Tag hatte er keine Träne vergossen, zu tief saß der Schock über das Geschehene. Nur bei dem Gedanken an Velia wurde ihm schwer ums Herz. Mit Einbrechen der Nacht übermannten ihn nun auch die Tränen.
Wo würde sie nur jetzt sein? Wie es ihr wohl erginge? Nacht für Nacht weinte Rodin, bis seine heißen Tränen ihn endlich einschlafen ließen.

Jeder im Dorf wusste, wohin man Velia gebracht hatte. Alle wussten, wer dafür verantwortlich war. Doch wenn Rodin danach fragte, schwieg man. Unwichtige Ammenmärchen hatte Vater es einst genannt, die brauche Rodin nicht zu wissen.
Als der schweigsame Junge dann plötzlich aus heiterem Himmel, ohne darüber nach zu denken, fragte, was man dort, wo sie nun war, wohl mit Velia machen würde, schickte man ihn Heim. Zu grausam musste das sein, was dort vor sich ging.
Rodin konnte es nicht einmal erahnen. Und nun, nach all den Jahren, nach all den Jahren voller Unwissenheit saß sie vor seiner Haustür. Nach all der Zeit die er auf sie vergebens gewartet hatte. Rodin schluckte. Ob sie sich an ihn erinnern würde?
Angespannt blieb er am Haustor stehen, starrte Velia an. Diese erhob sich gemächlich aus ihrer unbequemen Position, richtete sich auf und strich ihr Haar zurecht. Dann ging sie einen Schritt nach dem Andern vorwärts setzend auf Rodin zu.
Einen halben Meter vor ihm blieb sie stehen. Wartend starrte Velia Rodin an, wartend auf ein Zeichen. Sie sah ihn mit dem selben Blick an wie vor sechzehn Jahren, als sie sich zum ersten Mal trafen. So selbstsicher, so strahlend! Niemand anderes konnte eine solche Tiefe in seinem Blick aufweisen. Sie hob eine Hand zum Gruß. Es war jener Gruß, mit welchem sich die jungen Krieger des Dorfes stets begrüßten. Es war eine Mischung aus Wohlwollen, Vertrautheit und gehobener Disziplin. Jedes Dorf besaß seinen eigenen Gruß unter den Kriegern. Daran konnte man die Stammeszugehörigkeit erkennen.
Früher hatten Rodin und Velia den jungen Männern oft beim Training zugesehen.
Dabei konnten sie auch den Gruß beobachten, mit dem sie sich fortan selbst zu grüßen pflegten. Vielleicht erinnerte Velia sich daran.
Rodin erwiderte den Gruß. “Sagt, edler Herr, wohnt ein junger Mann in diesem Dorf, der erst sechzehn Jahre hier verweilt?
Ich kann Euch leider nicht sagen wie er aussieht, auch seinen Namen habe ich über die Zeit vergessen. Doch er hält nicht viel vom Kampf, ist kein Draufgänger oder Krieger.
Schon von Kindesbeinen an war er nicht kräftig wie andere Jungen. Um ehrlich zu sein, er könnte Eure Statur haben.
Also sagt mir, gibt es einen solchen Mann hier?“ Sie hatte ihn also nicht erkannt. Womöglich sollte er ihr reinsten Wein einschenken.
Womöglich war es aber auch besser, wenn sie ihn vergaß. Vielleicht würde sie nicht lang bleiben. „Verzeiht, aber wer möchte das denn wissen?“ Rodin musterte sie nun genauer. Beim ersten Hinsehen hatte er gar nicht bemerkt, welche Kleidung sie trug.
Velia war gekleidet in rotem Glitzer, eine schulterfreie Bluse zierte ihren Busen. Auch ihr Bauch war unbekleidet. Sehr ungezogen für eine junge Frau. Ihr Beinkleid war weit, ebenfalls von rotem Glitzer, und am Knöchel lief es eng zu.
Um die Hüften hatte sie einen goldenen Gürtel geschlungen. Funkelnde Armreifen verzierten ihre Handgelenke. Zudem ging sie in Harlekin-Pantoffeln ihres Weges. Hätte Rodin Velias Auftreten betiteln müssen, er hätte sie wohl Konkubine genannt.
Rodin umkreiste das Mädchen ein paar Mal, dann blieb er vor ihr stehen und blickte sie fragend an. „Eine orientalische Geliebte etwa? Nein!“ Rodin packte ihr Gesicht, betrachtete es sich näher. Er wollte sich partout nichts anmerken lassen.
“Eure Haut ist zu milchfarben für eine Blüte des Orients!“ Ein lauter Knall zischte durch die Luft. Rodin hatte sich eine Ohrfeige eingehandelt. „Wie könnt Ihr es wagen, mich mit einer gewöhnlichen Konkubine zu vergleichen?!“ Bums! Das traf den Nagel auf den Kopf!
Schmerzend rieb Rodin sich die Wange, er lächelte. Über die Jahre hatte Velia sogar noch an Schlagkraft hinzu gewonnen.
„Wer wollt Ihr dann sein? Die Tochter des Scheichs?“
Rodin lachte herzlich. Nun wurde Velia wütend. „Von Euch muss ich mich nicht so behandeln lassen! Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, dass ein einfacher Krieger ohne Verstand wissen könnte wo ich zu suchen hätte? Fahrt zur Hölle!“ Velia stapfte an Rodin vorbei. Ihr den Rücken zugewandt stand Rodin noch immer an Ort und Stelle.
“Wer sagt, ich sei ein Krieger?“ So ließ Rodin Velia einfach stehen, ging ins Haus, ein Lächeln auf den Lippen. Seine alte Freundin würde bald wieder zu ihm kommen!

Es war schon beinahe Mitternacht als es an Rodins Tür klopfte. Eilig öffnete Rodin die Augen. Er hatte seid Tagen einen unruhigen Schlaf gehabt. Aus unerfindlichen Gründen konnte er einfach nicht vernünftig einschlafen.
So starrte er Nacht für Nacht die hohe Zimmerdecke an, las in seinen Büchern, zeichnete die freie Natur oder besah sich diese durchs Fenster. Schlief er dann doch, so träumte er von vielen Absonderlichkeiten. Lieber verband er den Geist mit nächtlichem Treiben,
als Albträume zu träumen! Auch diese Nacht plagten ihn die Gedanken. Doch das laute Klopfen an seiner Tür riss ihn aus dem Gräuel heraus. Im weichen Nachthemd gekleidet, das Haar offen, verließ Rodin sein Bett, angelte nach seiner Brille auf dem Nachttisch.
Kalt war diese Nacht. Es regnete in Strömen. Erneut klopfte es an der Tür. Der Klang des pochenden Holzes hallte in Rodins Hinterkopf deutlich nach, so verschlafen war er. Und wieder klopfte es. “Ja doch! Ich komme! So beruhigen Sie sich doch! Um Himmels Willen.
Wer mag das sein zu dieser späten Stunde?“ Mit der Kerze in der Hand wollte er gerade die Tür öffnen, dann hielt er inne.
„Wer ist denn dort?“ Nach Dieben zu fragen erschien ihm sinnlos, würden diese ihm niemals freiwillig sagen, dass sie Diebe waren.
Sollte vor der Tür der Tod lauern, so hatte Rodin im Falle des Falles noch immer die Kerze in Händen, mit der er sich zu verteidigen wusste. Eine Frauenstimme antwortete von der anderen Seite. Sie bat ihn, sie herein zu lassen. Irgendwo hatte Rodin diese Stimme schon einmal gehört. Nur wo? Behutsam öffnete er die Tür. Vor ihm im Türrahmen, völlig durchnässt und halb erfroren, stand Velia. Rodin schmunzelte. Wahrscheinlich hatte sie nicht gewusst, wohin und so kam sie zu Rodin zurück. Damit hatte Rodin gerechnet.
Schnell ließ er das Mädchen ein, legte ihr eine warme Decke aus Büffelfell um und platzierte sie vorm Kamin.
Dann machte er ein Feuer. Schließlich setze sich Rodin neben das vom Regen nasse Mädchen. „Ich dachte, du wolltest schon über alle Berge sein? Was machst du ausgerechnet vor meiner Tür?“ Rodin wagte sich nicht Velia anzusehen. Diese starrte unbeirrt ins Feuer.
“Ich wusste nicht wohin. Ich kam noch nicht dazu, in diesem Dorf mit den anderen Bewohnern ein Wort zu wechseln. Bilde dir bloß nichts darauf ein!“  Sie rümpfte die Nase und wandte das Gesicht ab. Auch Rodin wandte nun das Gesicht zum warmen Schein des Feuers.
Einige Minuten verstrichen, bis der junge Mann gemächlich aufstand. Er hielt seinem Gast eine Hand entgegen.
„Komm! Wenn ich ehrlich bin, hatte ich dich bereits erwartet.“ Rodin hatte schon am Abend ein Zimmer für Velia vorbereitet.
Es war das alte Zimmer seines Vaters. Er war vor Jahren schon zu Rodins Onkel ins Nachbardorf gezogen, dort konnte man sich besser um seine Gebrechlichkeit kümmern. Somit hatte Rodin also stets ein Zimmer frei, falls Gäste sich ankündigten.
Rodin geleitete sie in ihr Gemach. Dort wies er sie auf trockene, aber alte Kleider hin, welche Velia sich borgen durfte.
Diese gehörten einst Rodins Mutter. Auf dem Gehölz am Schrank stand sogar noch ihr Name.
Marina. Nur einmal hatte Rodin seinen Vater ihren Namen sagen hören. Es war der Tag ihrer Beerdigung gewesen.
Marina war damals, es war ein Jahr nach Rodins Umzug ins Dorf, an Tuberkulose erkrankt.
Einige Zeit wartete Rodin noch vor der Türe auf Velia. Als sie endlich heraustrat, wollte er seinen Augen nicht glauben.
Die Kleidung passte wie angegossen. Zusammen verließen sie das Haus, der Regen hatte ausgesetzt.
Das Lichterfest sollte im Morgengrauen beginnen. Im weichen Licht der umherhängenden Laternen gingen sie ihren Weg zum Waldrand. Von dort aus würden sie den Weg zum See im Dunkeln ersuchen müssen. Sie betraten den Wald voller Erfurcht, das Licht hinter ihnen im Dorf verschwamm.

2.

Vor vielen hundert Jahren lebten wundersame, magische Wesen in den Wäldern.
Sadistische Kobolde lockten einsame Männer in den Wald. Oft verweilten sie dort wochenlang, irrten Nacht für Nacht umher. Es heißt, mitleidige Feen würden sich ihrer annehmen und sie aus dem Dickicht führen. Lebend ist keiner Jener, der die Geschöpfe je gesehen haben sollen. Nur einmal schaffte es ein Soldat aus dem Gestrüpp, viel einer Magd, die auf der Suche nach Pilz und Geflecht war, vor die Füße. Er stammelte ihr das Gräuel hin.
Noch ehe sie zur Hilfe rufen konnte, verstarb der Mann an Ort und Stelle.
Als sie mit einigen starken Männern zurück kehrte, war der Leichnam verschwunden.
Nur ein Geflecht von Moos, Gras und Lavendel blühte an einer nun erhöhten Stelle.


Rodin schwieg. „Das klingt alles sehr traurig. Weiß man, was mit dem Mann geschehen ist, nachdem die Magd ihn dort liegen lassen hat, um Hilfe zu suchen?“
Rodin schüttelte den Kopf. Was mit dem Mann geschehen war, war nicht überliefert.
Die Magd, die den Erschöpften aufgefunden hatte, berichtete nur von einer kleinen Erdanhöhung die anstelle des Körpers erwachsen war. Mehr wusste man nicht über den Vorfall. Velia schlang das Tuch um ihren Schultern enger um sich.
Wind zog auf, es roch nach frischem Regen. Raureif klebte am hohen Gras zu ihren Füßen.
“Woher weißt du so viel über die Mythen?“ Ihre tiefblauen Augen hafteten an Rodins Gesicht. „Ich bin Lehrer in einer kleinen Schule für die Jünglinge im Dorf.
Schon als ich klein war erzählte Ur-Großmutter mir oft Geschichten und Sagen, die andere Kinder im Dorf oft schon kannten. Bei meinen späteren Studien beschäftigte ich mich
häufig mit solcherlei Mythen und Sagen.“ Ein Lehrer also. Ein Lehrer der den Kriegsgruß kannte. Nicht verwunderlich, betrachtete man, wie viel Rodin wusste.
“Ich kenne deinen Namen noch nicht.“ Das stimmte. In der Eile des Gefechts hatte Rodin vergessen ihr seinen Namen zu nennen. Hastig suchte er nach einem Namen, den er Velia ohne Gefahr nennen konnte. „Man nennt mich Ruairi. Du verschwiegst mir deinen Namen ebenfalls, als ich dich danach fragte.“ Beide sahen einander nicht mehr an.
Stur blickten sie gen Richtung in die sie zu gehen gedachten. „Velia. Mein Name ist Velia.“
Endlich sprach sie ihren Namen aus. Dieser Klang in ihrer Stimme, lange hatte Rodin darauf gewartet endlich wieder ihre Stimme zu hören. Ein kärgliches Schweigen unterbrach das Gespräch. Nur die Äste unter ihren Füßen knackten zuweilen, hie und da raschelte ein Strauch. Leises Plätschern des vom Baum fallenden Taus war zu hören.
Es war Velia, die das Gespräch neu begann. „Du sagtest, deine Ur-Großmutter hätte dir Geschichten erzählt, die andere Kinder aus dem Dorf schon kannten. Wieso du erst nach einigen Jahren?“ Velia war neugierig geworden. Schließlich wollte sie wissen, mit wem sie es zu tun hatte, wenn dieser ihr so fremde Mann ihr ein Nachtlager bot.
“Mein Vater wohnte in diesem Dorf, zusammen mit meiner Mutter. Mutter starb früh, ich war noch sehr klein. Da mein Vater sich nicht kümmern konnte und meine Ur-Großmutter
den jungen Weibern Unterricht gab, zog ich als Kind zu meinem Onkel. Erst Nachdem mein Vater einen schrecklichen Unfall hatte, hatte er Zeit, mich zu sich zu holen.
So zog ich, als ich bereits älter war, in dieses Dorf. Mein Onkel, und auch dessen Frau,
erzählten mir nie Geschichten und Sagen. Sie duldeten mich bloß, weil ich ihr Neffe war.“
Velia stockte. Diese Kindheit kam ihr bekannt vor. Wage erinnerte sie sich daran etwas ähnliches als Kind bereits einmal gehört zu haben.
Gerade wollte sie den jungen Mann noch einmal nach ihrem alten Freund fragen, da blieb er stehen. „Da vorn. Siehst du die Lichter? Dort findet das Fest statt.“ Munter stapfte Rodin den Lichtern entgegen. Velia blieb allein ein paar Meter hinter ihm zurück.

Es herrschte bereits regen Treiben, als Rodin und Velia an der Feuerstelle ankamen.
Inmitten des Getümmels saßen die Jungen und Mädchen. Aufgeregt unterhielten sie sich und spekulierten, was diese Nacht wohl geschehen würde. Abseits, nah am Wald, hatten sich die Männer nieder gelassen. Sie wollten den Frauen, die bereits rege ums Feuer tanzten und mit Blüten und Kräutern um sich warfen, nicht im Wege stehen.
An einem überschaubaren Platz in Nähe der Flammen ließen sich auch Rodin und Velia nieder, beobachteten das Spektakel.
“Als ich damals das Dorf verließ, war gerade die Jahreswende zu Ende gegangen.“
Velia zog ihre Beine enger an sich heran. „Ich tanzte mit den anderen Mädchen ums Feuer, sang all die Lieder mit, lauschte der herrlichen Stimme der Kantorka.“
Die Kantorka. Es war eine sorbische Bezeichnung für die Vorsängerin, dessen Stimme und Gesang so wunderschön war, dass alle anderen Frauen vor Neid erblassten.
Diese sangen das Lied der Kantorka lediglich nach. Wer es wohl in diesem Jahr sein würde?
Für gewöhnlich entschied es sich in der Nacht zum Neujahr. Das war vor ein paar Tagen gewesen. Velia schielte zu Rodin herüber. „Du bist ein wenig älter als ich. Dennoch kann ich mich nicht erinnern, dich in frühester Kindheit im Dorf schon einmal bemerkt zu haben.“
Rodin schluckte. Sollte nun doch alles auffliegen? Velia zog die Schultern in die Höhe.
“Vermutlich war ich einfach noch zu jung.“ Damit beließen sie es auch dabei.

Das Fest begann mit einem lauten Paukenschlag. Das Zeichen, Ehrfurcht walten zu lassen.
Die Frauen begannen, ihre rituellen Tänze ums Feuer zu tanzen.
Eifrig klatschen die Jungen und Mädchen, die Männer und Frauen im Takt.
Für Velia war es ein schönes Gefühl, noch einmal diese Festlichkeiten erleben zu dürfen, so,
wie sie sie früher schon erlebt hatte. Nun kam eine der jungen Frauen auf Velia zu.
Sie musste sie im tanzen erspäht haben. Dass eine Frau, während diesem Fest nicht mit den Anderen tanzte, war eine Absonderlichkeit. Sie reichte Velia die Hand, bedeutete ihr,
mit ihr zu tanzen. Zunächst weigerte Velia sich. Als nun auch Rodin sie ermunterte,
ließ sie sich allerdings mitziehen. Unbeholfen beobachtete sie ein Weilchen die Schritte der Anderen. Lange hatte sie die altertümlichen Tänze nicht mehr getanzt.
Ob sie die Schritte vielleicht vergessen hatte? Doch dann begann sie, leichtfüßig wie sie war,
die einzelnen Schritte zu tanzen, so, als ob sie nie etwas anderes getan hätte.
Lange hatte Velia auf ihr altes Leben verzichten müssen. Doch nun fühlte es sich an, als sei sie niemals fort gewesen. Velia tanzte und tanzte, immer weiter und weiter.
Schließlich setzten die jungen Frauen zum ersten Lied an. Es sollte die diesjährige Kantorka hervor bringen. Auch Velia sang mit den Frauen. Rodin lauschte bedächtig ihrer weichen Stimme. Es erstaunte ihn, dass sie die ganzen Tänze und Lieder aus ihrer frühen Kindheit noch so gut kannte. Aus vollem Herzen sang Velia, laut und klar, kein Ton war misslungen.
Inmitten des Liedes hielten die Frauen inne und lauschten dem Mädchen.
Als Velia bemerkte, dass sie die Einzige war, die noch sang, stockte sie. Sekunden vergingen im Schweigen, dann nahm die älteste Frau im Dorf ihre Hand. Es war Rodins Ur-Großmutter.
Sie setzte Velia eine Blumenkrone auf, band ihr weiche, lederne Armbänder um und drückte ihr den rituellen Stab in ihre zierlichen Hände. Unsicher starrte Velia umher.
War das ihr ernst? Die Frauen gaben den Weg zum Ufer frei. Mit zitternden Schritten ging Velia ihren Weg. Sie fasste Mut, sang laut die ersten Zeilen des Liedes, die anderen Frauen folgten sogleich. Zugleich begannen sie, um die Kantorka herum zu tanzen.
Diese atmete tief durch. Ließ den Stab über den Köpfen kreisen, tanzte weiche, schöne, geschmeidige Schritte im Schein des Feuers. Sie sah aus wie eine tanzende Fee, so dachte Rodin. Versunken in ihr Rhythmusgefühl starrte er sie an.
Der Tanz endete, Velia sah sich um. Ihrer und der Blick Rodins kreuzten sich. Er hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Verschüchtert ließ Velia den Stab fallen, rannte ins tiefe Dickicht.

Lange hatte das Fest in dieser Nacht nicht gedauert, nachdem Velia verschwunden war.
Rodin war schon kurze Zeit, nachdem Velia den Platz verlassen hatte, zum Dorf zurück gegangen. Der Weg kam ihm allein noch um einiges länger vor, als er ohnehin schon war.
Als er endlich Daheim einkehrte zog er die Stiefel aus und rieb sich die schmerzenden Füße.
Ein paar Mal war er über eine Wurzel gestolpert oder auf einen Stein getreten.
Seine Gedanken jedoch kreisten immerzu darum, wo Velia sich wohl nun aufhalten mochte.
Wozu bemühte er sich darüber nach zu denken? Sie kannte den Wald ebenso gut wie Rodin selbst. Sie würde sich schon zurecht und bald aus dem Gestrüpp heraus finden.
Übermüdet, die Feierlichkeiten hatten sich länger gezogen als erwartet, striff Rodin
sich das Hemd vom Körper, legte die Stiefel beiseite und zog den Rest seiner Bekleidung aus.
Nackt wie er war stapfte er durchs Haus. Abrupt blieb er vor seinem Spiegel stehen, betrachtete sich ausgiebig darin, als er bemerkte wie er aussah. Rodin war dürr, zu dürr für einen Mann seines alters und seiner Größe. Er blickte an sich hinab. Wie erbärmlich er doch war! Ein Geflecht aus schwarzer Tinte zierte Rodins Leistengegend. Er konnte sich nicht daran erinnern wann er es bekommen haben musste. So lange prangte es schon auf seinem bloßen Körper. Mit jedem einschneidenden Erlebnis glaubte Rodin mehr und mehr es würde sich ausbreiten. Lächerlich! Eine endgültige farbliche Zeichnung breitet sich doch nicht einfach so aus! Das Delirium schien Rodin zu übermannen, sodass er sich augenblicklich vom Spiegel abwandte und sich schlafen legte.

Der Regen prasste Velia erbarmungslos ins Gesicht. Sie rannte und rannte, immer tiefer rannte sie in den von dichten Bäumen angesiedelten Wald. So lange, bis sie sicher war,
dass niemand sie noch zu sehen vermochte. Dann blieb sie stehen.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wie hatte sie sich nur einreden können, sie könne
wider ein Teil dieses Dorfes sein? Hatten alle Anderen sie doch längst vergessen,
oder erkannten sie nicht mehr! Müde und erschöpft rieb Velia sich die schmerzenden Augen.
Nüchtern bemerkte sie, dass ihr die Tränen ihre Wangen hinunter schossen.
Das Schlimmste an ihrer Misere schien ihr zu sein, dass sie hergekommen war um ihren Jugendfreund Rodin zu finden. Bis jetzt blieb diese Art Erfolg aber aus.
Velia zitterten die Knie. Kalt war es und es regnete in Strömen auf sie hinab.
Zudem wusste sie nicht einmal mehr wo sie war. Wie würde sie nur wieder Zurück finden?

Wenn du dich einmal in den Wäldern verläufst werden dir die Geschöpfe des Waldes helfen nach Hause zu finden. Vorausgesetzt du bringst ihnen ein Opfer.“

Urplötzlich schoss Velia dieser Gedanke durch den Kopf. Wo kam er nur her?
Doch sie wusste, sie hatte vor langer Zeit einmal etwas über die Geschöpfe des Waldes gehört. Früher sagte man, dass Kobolde die starken Krieger eines jeden Dorfes in die Wälder lockten, ließen sie umherirren bis sie starben. Ob Velia wohl selbiges Schicksal zu erleiden hatte? Womöglich hätten die Geister und Kobolde Mitleid mit einem armen, verirrten Mädchen, obgleich der äußere Schein trügen konnte!
Zu ihren Füßen lagen Äste umher, trocken, da sie vorm Regen durch viele Blätter geschützt waren. „Oh, na gut! Eine andere Möglichkeit scheint sich mir nicht zu zeigen!“
Rasch zündete Velia ein kleines, eher schmächtiges Feuer an und ließ sich auf dem kalten Waldboden nieder. Bedächtig presste sie die Handinnenflächen gegeneinander und begann zu beten. Es überraschte Velia, dass sie die rituellen Worte nach so langer Zeit noch beherrschte,
hatte sie sie doch eine Ewigkeit nicht gehört. Doch eine Sache fehlte noch : Das Opfer!
Schnell sah sie sich um. Was sollte sie den Geistern bloß hier Draußen im Nirgendwo darbieten? Ihr Blick fiel auf das goldene Fußkettchen, welches sie am Gelenk trug.
Es war mit goldenen Glöckchen verziert. Verunsichert nahm sie es ab.

Der starke Regen riss einfach nicht ab. Durchnässt hockte Velia vorm Dorfeingang,
die Knie stark angezogen um sich zu wärmen. Starr starrte Velia auf den Moosbewachsenen Boden. Zu tief saß der Schock, den sie davon getragen hatte, als sie den Weg zurück gefunden hatte. Ganz allein war sie dort im Wald gewesen. Allein im strömenden Regen.
Die Tropfen glitzerten um sie herum wie tausend Diamanten. Plätschernd fielen sie von den Bäumen, Sträuchern und Blättern zu Boden. Velia rannte. Durch die Pfützen, über den überfluteten Waldboden rannte sie immer tiefer durchs Geäst.
Als sie tief genug gerannt war legte sie schnaufend eine Rast ein. Niemand konnte sie hier finden. Wolkenbehangen thronte der düstere Himmel über ihr. Velia legte den Kopf in den Nacken, starrte in die Lüfte. Wieso war sie überhaupt ins Dorf zurückgekehrt?
Natürlich wollte sie ihren alten Jugendfreund Rodin wiedersehen. Der gewünschte Erfolg blieb allerdings bisher aus. Noch hatte sie den jungen Mann nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen seid sie das Dorf aufgesucht hatte. Langsam zweifelte sie daran, ob sie Rodin jemals finden würde. Von ihrem seelischen Laster erdrückt ließ Velia sich auf dem kalten Waldboden nieder. Den Kopf legte sie auf einen Stapel zusammen geklaubter Blätter.
Noch immer regnete es. Ihre rosafarbenen Locken klebten trist an ihrem Körper, ebenso wie
die Kleider, die sie sich von Ruairi geliehen hatte. Ruairi! Wie unachtsam war sie gewesen, hatte sie ihn doch allein beim Fest gelassen. Ihre Scham vor ihm zu tanzen war wohl stark genug gewesen um ihre Achtsamkeit zu untergraben. Wenn sie zu ihm zurückkehren sollte,
würde er sie abweisen? Oder würde er sich wohl sorgend auf sie stürzen?
Velia schloss die Augen. Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie hätte niemals herkommen dürfen, dies glaubte sie nun endlich zu wissen! Stille kehrte ein.
Ein glockenhelles Kichern durchbrach den Klang des sanften Regens, der als einziges Geräusch im Wald zu vernehmen gewesen war. Erschrocken setzte sich Velia auf,
blickte wild um sich. Ein heller Schein ließ sich in der Dunkelheit, in weiter Ferne erblicken.
Es wirkte wie ein verirrtes Glühwürmchen. Verwirrt stand Velia auf, ging dem winzigen Schimmer entgegen. Beim näheren herantreten erkannte Velia was es war.
Es war ein winziges Männchen mit Flügeln wie Schmetterlinge. Velia lachte. Ihr Lachen erhellte den ganzen Wald. Lächerlich sah es aus, das Männchen. Es trug ein rotes Beinkleid und winzige Schuhe aus Blättern gefertigt. Zudem war es dick und rundlich und hatte eine Glatze. Eine große Knollennase zierte sein altes Gesicht. Dazu die Schmetterlingsflügel.
Wie abstoßend und zugleich amüsant! In der Hand des kleinen Männleins thronte
ein Zauberstab, der mit einer Schleife umwickelt war. Böse blickte das kleine Geschöpf Velia an. Diese erstarrte schmunzelnd, den Blick noch immer auf es gerichtet.
“Verzeihung. Ich wollte mich nicht über dich amüsieren. Sag, kennst du vielleicht den Weg hinaus aus diesem Wald?“ Der Blick des kleinen Mannes entspannte sich, dann schloss er die Augen. „Natürlich kenne ich den Weg, dummes Gör!“ Seine Stimme war hoch und schrill, durchdringend wie ein Delfinschrei. Velia musste ein Lachen unterdrücken.
Diese Gestalt war einfach zu komisch. Doch ihr Schmunzeln verriet sie. Wieder kehrte ein eisiger Blick ein mit dem dieses kleine Geschöpf sie anstarrte. Dann erhob er die Stimme.
“Hör mal, du! Niemand lacht ungeschoren Raphael die Schmetterlingsfee aus!“
Beleidigt schwebte er im Kreis um Velia herum. Oh, ja, Velia hatte enorm große Angst vor diesem makabren Winzling. Das Lachen konnte sie nun nicht länger zurückhalten.
Wütend zückte Raphael seinen Zauberstab. „Du willst nach hause sagst du? Ich kenne den Weg! Aber das wird dich etwas kosten!“ Er hielt Velia Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger vor die Nase und rieb sie aneinander. „Und was? Ich habe kein Gold!“ Velia wischte sich die Tränen aus den Augen, so sehr hatte sie lachen müssen.
Raphael grinste. Schließlich deutete er auf Velias goldenen Fußkettchen, das sie ihm widerwillig als Opfer darbot.
Einige Minuten später stand sie da, am Waldrand, vor ihr der Dorfeingang.

Stundenlang hatte Velia nun vorm Dorfeingang gehockt. Noch immer wagte sie sich nicht zu Ruairi zurück zu gehen. Womöglich würde er sie ohnehin hinauswerfen, hatte sie doch seine Gastfreundschaft schamlos zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt.
Velias Augen suchten die Ferne. Immer noch glaubte sie daran, sie hätte nicht zurückkehren sollen. Über ihr erhob sich ein düsterer Schatten. Groß und breit gestaltet war er,
ein mächtiger Schatten. Erschrocken sprang Velia auf, bereit sich zu verteidigen, wenn sie es musste. Kampfbereit wirbelte sie herum und ... blickte Ruairi ins Gesicht.
Verblüfft ließ sie die Fäuste sinken. Wie konnte so ein schmächtiger Gesell einen solch atemberaubenden Schatten werfen? Einige Minuten vergingen in denen das Mädchen ihn starr anblickte.

Rodin blickte aus dem Fenster. Stunde um Stunde hatte er dagelegen, unfähig zu schlafen, aus Sorge, Velia könnte etwas zugestoßen sein. War es doch eine ganze Nacht schon her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Hoffentlich würde sie bald heimkehren.
Widerwillig begann Rodin sich in seine Kleider zu begeben. Vorsichtig band er sich das Haar zurück, setzte sich die Gläser auf die Nase. Blind wie ein Maulwurf war Rodin nicht.
Doch es konnte gefährlich für ihn sein ohne seine Brille hinaus zu gehen.
Er hatte seinen Entschluss gefasst: Rodin musste und wollte Velia im Wald suchen gehen.
Auch wenn seine Chance sie zu finden durch den starken Regen geschmälert waren.
Rodin schüttelte den Kopf. Nicht verzagen. Es würde schon Alles gut gehen.
Unachtsam angelte er ein Buch vom Nachttisch und rannte hinaus in den Regen.
Am Tor angelangt entdeckte er eine durchnässte Gestalt am Torbogen sitzen.
Ihr Haar war nass und hing in langen rosafarbenen Locken schlaff herunter.
Ihre Kleider klebten am nassen Körper. Das war ganz sicher Velia! Er erkannte sie an den Kleidern, die er ihr geliehen hatte. Ein paar Meter vom Bogen entfernt blieb er stehen,
das Buch, welches er sich vom Nachttisch genommen hatte, schützend über seinen Kopf haltend. Er hielt inne. Wie war sie aus dem dichten Wald entkommen?
Und noch viel wichtiger war, weshalb sie nicht sofort zu ihm gestoßen war!
Wollte sie ihn etwa nicht mehr sehen? Hatte sie genug von ihm? Oder schämte sie sich gar mit Rodin in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, weil er kein großer Krieger war?
Wie töricht! Sie musste doch wissen, dass Muskelkraft nicht Alles im Leben sein konnte!
Eingenommen von seiner Erkenntnis ging er festen Schrittes auf sie zu.
Das Mädchen erschrak, als Rodins Schatten breit über sie fiel. Sie sprang auf, ging in eine sichere Pose zurück. Rodin blieb etwas entfernt von ihr stehen, schenkte ihr kein überglückliches Lächeln um ihr zu zeigen, dass er sich darüber freute, dass Velia unversehrt war. Stattdessen hielt er weiterhin das Buch über seinem Kopf, bedeutete ihr mit einem Kopfnicken ihm zu folgen. Ohne ein Wort zu sagen machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte in das Haus, in welchem ich seine Stube befand in der er die Jungen unterrichtete.
Velia schloss hinter sich die Tür. Rodin ging weit ins Zimmer hinein, legte das tropfnasse Buch auf eines der niederen Schränke. Stille durchzog den Raum. Es kam Velia vor wie eine Ewigkeit. Schließlich setzte sie zum Gespräch an. „Wie kann ich dir jemals danken?
Das ist schon das zweite Mal, dass du mich aufnimmst, Ruairi!“ Rodin schwieg. Zu tief saß die Endtäuschung über Velias Verhalten. „Wie lange sitzt du schon am Dorfeingang?“
“Wie bitte? Ich..“ „Ich habe dich etwas gefragt!“ Velia schluckte. So zurückweisend hatte sie Ruairi noch nicht erlebt. „Ich weiß es nicht. Ein paar Stunden vielleicht.“ „Achso.“
Rodin blickte Velia nicht an. „Diese Nacht ist dein Quartier, welches ich dir hergerichtet habe. Morgen in der Früh bist du verschwunden! Verstanden?“
Velia schluckte. Hatte sie Ruairi etwa sehr verärgert? Hätte sie womöglich gleich zu ihm gehen sollen?
In der folgenden Nacht lagen beide wach. Keiner von ihnen konnte oder wollte schlafen. 

Der neue Morgen erwachte in hellen Sonnenstrahlen die das gesamte Dorf warm durchfluteten. Vögel zwitscherten schon in den frühen Morgenstunden aufgeregt ihre Lieder.
Die Frauen vollrichteten schon seid einigen Stunden ihre tägliche Arbeit.
Sie holten frisches Wasser aus den Brunnen und Bächen, wuschen die Kleider, bereiteten die Mahlzeiten zu, sammelten Pilze und Kräuter, Früchte und Beeren, putzten das Haus und hüteten die Kinder. Die Männer leisteten Reparaturen an Häusern und dem Dorfeingang.
Zu stark hatte das Wetter in der vergangenen Nacht gewütet.
Velia war gerade dabei sich anzukleiden um das Haus zu verlassen, so, wie Ruairi es verlangt hatte. Die Kleider, die er ihr für das Fest gegeben hatte, legte sie behutsam auf einen Hocker neben dem Bett. Vorsichtig band Velia die lederne Dolchscheide mit einer Schnalle an ihrem Oberschenkel fest und steckte das Messer hinein, das sie zu ihrem eigenen Schutz immer bei sich trug. Zwar fühlte sie sich in ihrer eigenen Kleidung fast noch fremder als in denen Ruairis, doch daran konnte sie nun nichts ändern. Nackt wollte sie schließlich nicht aufbrechen müssen. Züchtig band Velia sich die Haare zusammen, so, wie es sich für eine Frau ihres Standes gehörte. Sie wollte nicht noch mehr Aufsehen erregen als sie ohnehin schon getan hatte. Die Tür schwang mit einem lauten Knall auf. Velia erschrak.
Im Türrahmen stand Ruairi, gut gelaunt und mit einem Buch in der Hand.
“Wo bleibst du denn? Du lässt die heute Morgen wohl viel Zeit!“ Er lächelte.
Freute er sich etwa, dass Velia nun verschwinden würde? Oder hatte er seine Meinung geändert? „Nun komm schon! Wir haben viel zu tun!“ Rodin drehte ihr den Rücken zu.
Velia konnte nicht sehen wie demütig seine Miene sich verzog.

“Und dort drüben bewahre ich meine Schätze auf. Bücher wohnen hier reichlich, denn ich lese viel! Bedien dich, solltest du Interesse haben.“ Rodin stellte ein Buch ins Regal an der Wand. „Du kannst hier bleiben solange du willst. Im Zimmer nebenan steht ein Bett für dich bereit. Dort habe ich genächtigt wenn ich mich in einem Buch verloren habe und es zu spät war um den Weg nach Hause anzutreten. Halte nur bitte Ordnung in diesem Zimmer.
Mein Arbeitstisch steht dir frei zur Verfügung. Da fällt mir ein!“ Rodin betrat das kleine Nebenzimmer. Am Arbeitstisch befand sich ein Geheimfach, aus dem er etwas heraus holte.
Schnell steckte er es in seine Jacke. Velia musste nicht wissen, was er dort verbarg.
Den Schlüssel behielt er bei sich. Während sein Gast ihr neues Heim begutachtete,
verließ Rodin das Zimmer. Wie immer stellte er einen Stuhl in die Mitte des Raumes.
Um den Stuhl herum platzierte er zwölf Kissen auf dem Boden.
Heute war ein gewöhnlicher Unterrichtstag. Die Jungen müssten bald eintreffen um seinen Geschichten zuzuhören. Gerade suchte er ein passendes Buch aus dem Regal, als Velia wider zu ihm stieß. „Es ist sehr nett von dir mich in deinen Räumen wohnen zu lassen, bin ich doch nicht mehr als eine Fremde. Vielen Dank, Ruairi.“ Sie küsste seine Wange.
“Sag, heute kommen doch die Kinder zum Unterricht, nicht wahr? Kann ich dir behilflich sein?“ Rodin stockte. Wenn Velia beim Unterricht half konnte es leicht passieren, dass sie seinen Namen herausfand. Nicht zuletzt, weil die Kinder ihn Alle Rodin nannten.
Entgeistert blicke er Velia an. „Nein danke. Ich komme mit der Horde gut allein zurecht.
Du kannst den Frauen bei der Arbeit helfen und Kräuter und Gemüse sammeln.
Ich hoffe du kannst kochen?“ Er lächelte. Velia nickte und verließ die Stube.
Draußen lehnte sie sich gegen die Tür. Was war das nur für ein Pochen in ihrer Brust?
Heimlich spähte Velia noch einmal durch das kleine Fenster in der Tür, beobachtete Ruairi eine Weile. Dieser saß regungslos auf seinem Stuhl, starrte ins Leere.
Er war so ein wunderschöner Mann. Selbst wenn er wütend war. Velia erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Aufgeregt drehte sie der Tür den Rücken zu und rannte den Frauen des Dorfes entgegen, bereit, ihnen bei aller Arbeit zu helfen.

3.

Ein Hüne pariert den Angriff des Gegners, beugt sich heroisch über Angus.
Dieser öffnet die Augen und starrt in ein paar leere, bleiche Augen, getrübt von einer Nadel.
Mias! Der großgewachsene Mann stößt einen furchterregenden Schrei aus, bereit seinen treuen Freund Angus mit allen Mitteln zu schützen. Der Angreifer schreckt zurück,
lässt das Schwert fallen. Die Chance! Mias springt auf den Gegner zu, erhebt die Lanze seines Stammes, versperrt ihm den Weg. Seinen dunklen, nackten Oberkörper ziert eine Bärenpranke, das Zeichen seines Dorfes. Der Gegner lacht. Er scheint den Feind nicht ernst zu nehmen. Mias setzt zum ersten Stich an, trifft den Panzer am linken Brustbein, dort,
wo ein jedermann Herz liegt. Immer tiefer drückt er die Lanzenspitze durch den Panzer in das Fleisch des Teufels, der im ihm gegenüber steht.
Angus beobachtet keuchend das Geschehen. Er weiß, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit auf Erden. Der schwarze Schatten sinkt zu Boden, bleibt regungslos liegen.
Triumphal löst Mias die Lanze aus der Brust des Unbekannten, bricht in Siegesgeheul aus.
Ein Pfeil trifft seine ungeschützte Brust, durchdringt Fleisch und Muskel.
Unbeirrt bleibt der Hüne stehen, sucht verwirrt in der Dunkelheit umher, nach Demjenigen, der den Pfeil gelöst hat. Niemand ist ausfindig zu machen. Besorgt beugt Mias sich über Angus, hält ihn in seinen Armen. Angus scheidet von der Welt, Mias bittend, seiner Frau zu berichten, er sei auf dem Schlachtfeld gestorben. Voller Trauer hebt Mias den Leichnam seines Freundes auf seine starken Arme, überquert unbeirrt das Schlachtfeld.
Es kümmert ihn nicht, dass einige noch kämpfen.
Im Dorf des Freundes angekommen bringt er die Leiche zu seiner Familie.
Die Frau weint, die Tochter, noch ein Baby. Sie begreift nicht was geschehen ist.
Die Beisetzung ist prunkvoll geschmückt. Eine Woche dauert das Fest.
Dann kehrt auch Mias zu seiner Familie zurück.

Einige Jungen schluchzten. Andere starrten Rodin mit glänzenden Augen an.
Dieser klappt das Buch zu, schob die Brille bis auf die Nasenwurzel zurück und erhob sich.
“Das war die Sage um Angus’ Tod, dem größten Krieger, den dieses Dorf je hatte.“
Behutsam stellte er das Buch in das Regal zurück. Pamina, die sich wie immer unter die Jungen gemischt hatte, sprang euphorisch von ihrem Kissen auf.
“Wenn ich groß bin will ich sein wie Angus! Mutig und stark! Und furchtlos! HAH!“
Sie schlug die Luft mit ein paar Fauststößen. Rodin wandte den Kindern noch immer den Rücken zu. „Angus war bestimmt nicht ohne Furcht, Pamina.“
“Aber dem Tod hat er wagemutig ins Auge geblickt. Vor was konnte Angus schon Angst haben?“ Rodin drehte sich um, sah Pamina liebevoll an. „Davor, seine Familie, seine Liebsten sterben zu sehen.“ Jetzt erhob Tonnio die Stimme. „Also wenn ich einmal groß bin möchte ich sein wie du, Rodin! Ich möchte auch so viel Wissen und den Anderen berichten was ich weiß!“ Rodin lächelte. Das ehrte ihn sehr. „Dann musst du aber viel mehr lesen, Tonnio.
Das Wissen sammelt sich nicht von allein an!“ Tonnio schmunzelte.

Es war schon recht spät als Velia in ihrem neuen Zuhause eintraf. In ihrem Arm hielt sie einen Strauß Chrysanthemen, in einem Korb trug sie Kräuter, Wurzeln und Gemüse mit sich.
Noch schaffte Rodin Ordnung in der kleinen Stube in der er die Kinder seine Geschichten lehrte. Geräuschlos stellte Velia den Korb auf den Boden, legte die Blumen hinein.
“Soll ich dir beim Aufräumen helfen, Ruairi?“ Gespannt wartete sie auf eine Antwort.
“Nein, nein! Ich bin schon fertig. Komm! Lass uns zusammen zu Abend essen.“
Sie verließen den Unterrichtsraum und gingen den Weg zu Rodins Haus.
Diese Nacht würde Velia wohl noch einmal dort verbringen.

Rodin war bereits einige Stunden erwacht als es an der Haustür klopfte.
Sollte er es einfach weiter klopfen lassen? Oder sollte er aufstehen um zu öffnen?
Wenn er liegen blieb, die Decke anstarrend, würde er nie erfahren, weshalb jemand zu solch einer frühen Stunde an seiner Tür klopfte. Andererseits war es schön einfach nur da zu liegen und sich seinen Gedanken hinzugeben. Rodin seufzte. „Also schön.“ Langsam erhob er sich von seinem provisorischem Nachtlager und ging zur Tür. Dort angekommen hielt er inne, starrte zur Treppe im Flur hinauf. Ob Velia schon erwacht war? Sie war am gestrigen Abend schnell eingeschlafen, sodass Rodin sie in sein Bett getragen hatte. Er selbst quartierte sich auf dem weichen Läufer vorm Kamin. Dort hatte er es ebenso warm.
Es klopfte erneut, diesmal kräftiger. Rodin öffnete die Tür. Vor ihm auf der anderen Seite der Tür stand Sumon der Schalk, wie man ihn zu nennen pflegte. Sumon war dafür bekannt den anderen Dorfbewohnern Streiche zu spielen und seien sie oft auch noch so hinterhältig gewesen. Doch heute sah man ihm die Ernsthaftigkeit an. Er zog die Stirn kraus,
sodass sich darauf tiefe Furchen bildeten. „Rodin! Du musst kommen! Komm schnell!
Komm zu unserm Haus!“ Hurtig packte Sumon Rodin am Arm und zog ihn mit sich.
Im rennen stolperte Rodin ein paar Mal fast über seine eigenen Füße.
Halbnackt rannte er also seinem Freund hinterher. „Sumon! Ist etwas passiert, dass ich fast unbekleidet aus meinem Haus entführt werde? Habe ich Grund zur Sorge?“
Ohne ihn anzusehen rannte Sumon weiter. „Sienna geht es nicht gut! Sie hat starke Schmerzen. Ich glaube, dass das Kind jetzt kommt!“ Rodin blieb stehen.
Sienna, Sumons Frau, war schon einige Zeit schwanger. Auch wusste man, dass die Geburt keine leichte würde. Aber wieso kam Sumon damit zu Rodin? Wieso ging er nicht zur Dorfältesten Frau. Diese müsste doch wissen was zu tun ist. Auch Sumon blieb stehen.
Wieder packte er Rodin bei den Armen. „Komm, Rodin! Du hast so viel darüber gelesen.
Und dir vertraue ich in diesem Dorf am meisten! Das Leben meines Kindes und das meiner Frau liegt nun in deiner Hand! Ich bitte dich!“ Rodin begann erneut zu rennen.
Ungeduldig stürzte der junge Mann in das Haus seines Freundes, ließ sich den Weg zur werdenden Mutter zeigen. Sumon folgte ihm. Rodin setzte sich auf einen Schemel vor den Unterleib der jungen Frau. Angestrengt blickte er sie an. „Sienna! Du weißt, ich habe so etwas noch nie gemacht. Aber zusammen schaffen wir das! Du musst tief einatmen und das Kind mit aller Kraft hinausschieben.“ Dann wandte er sich den anderen Frauen im Zimmer zu.
Er wies sie an warmes Wasser zu bereiten und Tücher zu holen. Ebenso verlangte Rodin nach einer Schere. Er wusste nicht genau was er da tat. In seinem Kopf folgte er lediglich den Anweisungen die er gelesen hatte und den Ratschlägern seiner Großmutter.
Einige Stunden dauerte es bis das Neugeborene auf der Welt war. Während dessen fiel Sumon, wahrscheinlich durch die Qualen die seine Frau erlebte, in Ohnmacht.
Rodin hielt das schreiende Kind im Arm. Beruhigt lächelte er den Spross an. Es war ein kerngesundes Mädchen mit einer kräftigen Lunge. Dann sah er die Mutter an.
Sienna ging es sichtlich schlechter als ihrem Kind. Dennoch verlangte sie danach, ihre Tochter in ihre Arme gelegt zu bekommen. Nun kam auch Sumon wider zu sich.
Gerührt von dem Anblick seiner Frau, die seine Tochter hielt, schluchzte der junge Mann los,
setzte sich neben die Beiden und sah äußerst zufrieden aus.
Sienna legte ihm das Kind in den Arm und bat alle, außer Rodin und ihre Mutter hinaus.
“Rede mir Wahrheit, Rodin. Ich werde sterben, nicht wahr?“ Rodin blickte zu Boden.
Sienna hatte während des Vorgangs sehr viel Blut verloren. „Nun, es gab einige unerwartete Komplikationen. Ich möchte nicht sagen, dass..“ Sienna unterbrach ihn. „Rodin. Ich kenne dich nun schon sehr lange. Wenn es so ist, dann sieh mir in die Augen und sag mir, dass ich leben werde!“ Er konnte es nicht. Er konnte seine Freundin nicht belügen. Rodin drehte sich traurig dem Fenster zu. „Verzeih, Sienna. Ich hätte dich ebenso gern erhalten wie das Kind.“
In der darauf folgenden Nacht starb Sienna an ihrem hohen Blutverlust.

Die Trauerfeier für Sienna war nur von kurzer Dauer. Sumon wollte sich nicht zu lang an den Schmerz klammern, hatte er doch nun ein Kind zu versorgen. Rodin bot Sumon an, ab und zu für ihn auf das Mädchen aufzupassen. Doch Velia hielt ihn davon ab, musste Rodin doch selbst die Kinder unterrichten. Also übernahm Velia die Aufgabe das Kind zu hüten damit Sumon seinen Pflichten als Krieger nachkommen konnte.

Bald schon schmückte das ganze Dorf seine Häuser. In den nächsten Tagen hatte sich ein Krieger aus einem befreundeten Nachbardorf angekündigt. Wieder wurden die Lampions aufgehangen, die Kleider gerichtet. Am Dorfeingang warteten nun alle Männer auf den Ankömmling, auch Rodin. Die Frauen warteten auf dem Dorfplatz.
Nur Velia lief mit Ageha, Sumons Tochter, auf dem Arm im Dorf umher. Velia hatte ihr diesen Namen gegeben. Der Ageha war ein ganz besonderer blauer Schmetterling.
An einem sonnigen Nachmittag hatten sie Draußen gespielt. Dort hatte das kleine Mädchen einen tiefblauen Schmetterling entdeckt. So kam Ageha zu ihrem Namen.
Heute war ein ganz besonderer Tag. Auch Velia wollte sehen, wer der Fremde war.
Doch Ageha konnte sie nicht allein lassen. Also hob sie das Mädchen hoch und schlich sich zum Dorftor. Eine Masse von Männern stand ihr im Weg.
Alle jubelten und grölten. Dann teilte sich die Masse in der Mitte. Velia blieb allein,
mit Ageha auf dem Arm, inmitten der Männer stehen. Alle sahen sie nun an.
Nun konnte Velia den Ankömmling genau sehen. Er war groß gewachsen, hatte gebräunte Haut und helle, milchweiße Augen. Er trug kein Hemd, sodass Velia auf seiner dunklen Brust ein Stammeszeichen erkennen konnte. Es war eine Bärenpranke.
Langsam ging sie auf den Riesen zu, streckte eine Hand nach ihm aus. Ungerührt blieb er stehen. Jetzt konnte Velia das Wappen berühren. Darunter spürte sie den Herzschlag des Hünen. Vorsichtig setzte Velia Ageha auf den Boden, legte dann ihr Ohr an die Brust des Kriegers. Sumon nahm während dessen seine Tochter an sich. Velia schloss die Augen, lauschte dem Herzschlag. Der Mann ließ sie gewähren.
“Ich kenne dich!“ Velia flüsterte. „Ich weiß wer du bist.“ Der Hüne tastete nach Velias Gesicht, berührte es an jeder Stelle. Er erschrak. „Du lebst? Aber... wie ist das nur möglich?“
Velia nahm seine Hand. „Komm! Ich werde dir beim Fest alles erzählen. Folge mir.“

“Ich habe dich nur ein einziges Mal gesehen. Aber du bist mir lange im Gedächtnis geblieben, mein Freund. Nachdem du Vater nach Hause brachtest betraten Krieger dieses Dorf.
Sie brannten unser Haus nieder. Einer von ihnen packte mich und hob mich auf sein Pferd.
Dann ritt er davon, mit mir. Weit entfernt von zu Hause wuchs ich auf.
Ich musste tanzen um meinen Herren zu gefallen, sodass ich versorgt wurde. Ich war nicht mehr wert als eine gewöhnliche Haremsdame.“ Velia trank einen großen Schluck Wein.
“Was mit Mutter geschah weiß ich bis Heute nicht.“ Der Große wandte sich ihr zu.
“Sag mir deinen Namen, Tochter des Angus.“ „Man nennt mich Velia, Sir.“
“Ich bin Mias. Ich war ein enger Vertrauter deines Vaters. Ich bemitleide, was dir zugestoßen ist.“ Velia schüttelte den Kopf. „Es ist Nichts. Aber sag mir, Mias, kannst du die Schönheit der Welt und ihr Leid sehen?“ Mias lächelte. „Ich bin erblindet als ich die Mannesprobe im Alter von 14 Jahren ablegte. Meine Brüder erlaubten sich einen Schabernack.
Dabei blendeten sie mich unwiderruflich. Sie trauerten um mein Augenlicht, ich vergab ihnen.“ Velia wurde still. Wie traurig seine Geschichte doch war.
Mias legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Gräm dich nicht. Ich komme auch so gut zurecht.
Ich bin stark und schlau. Ich kenne mich in den Wäldern sehr gut aus. Sorge dich nicht um mich.“ Wieder lächelte er. Auch Velia lächelte.
“Sag, Mias, brauchst du eventuell eine Weggefährtin auf deinem Heimweg?“

Das Fest dauerte bis tief in die Nacht hinein. Es wurde gelacht und getanzt, getrunken und
gegessen, denn die Frauen hatten ein Festmahl für den Ehrengast zubereitet.
Lange hatten sie nämlich keinen Besuch aus dem Nachbardorf erhalten. Und nun, da es endlich wider soweit war, durfte man sie nicht für misstrauisch und unfreundlich halten.
Rodin war früh Heim gegangen. Schließlich hatte er am darauf folgenden Tag ein paar Kinder zu unterrichten. Velia blieb noch eine ganze Zeit bei Mias.
Erst in den frühen Morgenstunden kehrte Velia in Rodins Haus zurück.
Vorsichtig suchte sie im Halbdunkeln die Zimmer ab und fand Rodin in eine Decke aus Schafswolle gewickelt vorm Kamin. Er schlief bereits tief und fest. Velia lächelte.
Dann ging sie auf den jungen Mann zu, beugte sich über ihn um zu sehen, ob er tatsächlich schlief. „Ruairi? Bist du noch wach?“ Sie flüsterte. Rodin drehte sich im Schlaf zu ihr.
“Ruairi, ich muss dich verlassen. Noch heute Nacht! Hörst du? Such nicht nach mir.
Ich gehe mit Mias ins Nachbardorf.“ Velia küsste Rodins Wange. „Danke für deine Geduld und Gastfreundschaft. Leb wohl!“ Schnell packte Velia ihr Hab und Gut zusammen.
An der Türe drehte sie sich noch einmal um. Sie würde Ruairi niemals vergessen.

Am Dorfeingang wartete Mias schon auf Velia. Beide trugen nur leichtes Gepäck bei sich.
Ohne zu zögern traten sie im Morgengrauen ihren Weg an. Etwa melancholisch blickte Velia immer wider zum Dorf zurück, blieb einen kurzen Augenblick stehen, bis sie sich davon lösen konnte. Auch Mias bemerkte es. „Weißt du, du kannst immer noch umkehren.
Man kümmert sich doch hier um dich. Der Junge, der die Kinder unterrichtet.. er hat dich doch sogar aufgenommen. Wieso also gehst du von deiner Heimat weg?“
Velia schluckte. Was sollte sie nur darauf antworten? „Also, ich...ich gehe fort, weil...
weil... weil ich mehr von der Welt sehen möchte. Genau!“ Sie nickte. Gleichzeitig wurde sie rot im Gesicht. Lügen konnte Velia gar nicht. Zu ihrem Glück war Mias blind und konnte nicht sehen wie rot sie war. Dieser bleib stehen, wandte sich ihr zu.
“Du bist keine gute Lügnerin, Velia. Was ist der wahr Grund?“ Auch wenn Mias blind war konnte Velia ihm scheinbar Nichts vormachen. Sie seufzte. Also gut.
“Ich bin auf der Suche nach dem, der Schuld trägt an Vaters Tod. Ich will ihn endlich dafür bestrafen, was er unserer Familie angetan hat!“
Mias zog die Stirn kraus, packte das Mädchen bei den Schultern und schüttelte sie.
“Bist du verrückt? Du kannst doch nicht allein gegen jemanden antreten, der deinen Vater getötet hat, deinen Vater! Dein Vater war ein großer, mächtiger Krieger! Und du bist nur ein..
ein...“ „Ein kleines, schwaches Mädchen. Sag es doch!“ Velia riss sich los.
“Du glaubst nicht daran, dass ich in der Lage bin Rache zu üben! Das musst du auch gar nicht! Aber ich hatte mir dennoch etwas mehr Unterstützung von dir erhofft, Mias!
Wenn du mir nicht helfen willst, dann suche ich eben auf eigene Faust nach diesem Mistkerl!“
Wütend stiefelte Velia an Mias vorbei. Besorgt blieb er stehen. Sie war genauso stur wie ihr Vater. Mias lächelte. Vielleicht unterschätzte er Velia nur etwas.

Um die Mittagsstunde erreichten die Wanderer Mias’ Dorf. Der Torbogen war reich verziert und um das Dorf herum waren Beete voller Blumen gepflanzt. Unter diesen Blumen erkannte
Velia sogar einige ihrer Lieblingsblumen. Vorm Dorfeingang spielten Kinder.
Die Jungen ahmten die Jäger ihres Dorfes auf einer Jagd nach, die Mädchen tanzten durch die Beete und sangen ihre Stammeslieder.
Sie erinnerten Velia sehr ans sich selbst, als sie in ihrem Alter gewesen war.
Mias war schon einige Meter voraus gegangen. Er winkte ihr zu.
Schnell beeilte sich Velia ihm zu folgen, wollte sie doch nicht die ganze Nacht vor dem Dorfeingang verbringen. Velia wurde ebenso herzlich empfangen wie Mias, als er in ihr Dorf kam. Auch diese Nacht würde ein Fest stattfinden. Diesmal allerdings zu Ehren Velias.

Die Nacht war lang und klirrend lag die Kälte über dem Land. Velia lag die ganze Nacht hindurch wach, starrte unentwegt an die Zimmerdecke. Mias hatte sie bei sich und seiner Familie aufgenommen. Jetzt lag sie mit seinen Töchtern in einem Raum und versuchte zu schlafen. Vergebens. Zwar war diese Familie äußerst herzlich und gastfreundlich zu ihr gewesen, ihre Gedanken jedoch kreisten schlafbehangen um Rodin.
Wieso hatte sie ihn im Dorf nicht angetroffen? Wollte er sie nicht sehen?
Oder war er etwa längst ausgezogen seine Freundin zu suchen, so, wie es sich für einen ehrenvollen Mann gehörte?
War er auf seinen Reisen verunglückt und würde sie ihn eventuell sogar nie wieder sehen können? Velia drehte sich auf die linke Seite. Ihr Ausdruck verriet Melancholie, wusste sie doch nichts über den Verbleib ihres Freundes. Eine Träne rollte ihr über die Wange.
Velia schloss die Augen. „Oh, Rodin.. Wo bist du nur, mein Freund?“, flüsterte Velia.

Der Morgen war kühl. Rodin erwachte erst als die Sonne schon fast an ihrem höchsten Punkt angelangt war. Ausgeruht und bereit den Tag zu beginnen streckte er alle Viere von sich.
Dann stand er auf. Es war schon fast Mittag. Fröhlich betrat er Velias Zimmer um sie zu wecken, als er bemerkte, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Er zog die Schultern hoch.
Vermutlich war sie schon vor einigen Stunden erwacht und aus dem Haus gegangen, um den Frauen bei der Arbeit zu helfen. Schnell zog Rodin sich an, band sein Harr und verließ das Haus. Am Dorfbach saß ein kleines Mädchen und weinte. Es war Ageha.
Für gewöhnlich pflegte Velia sich um diese Zeit um das Mädchen zu kümmern.
Doch sie war nicht bei ihr. Merkwürdig. Auch bei den arbeitenden Frauen schien Velia nicht zu sein, denn diese huschten von Platz zu Platz um ihre Arbeiten zu verrichten.
Wo konnte sie denn nur sein?

Draußen am Himmel zogen sich die Wolken zusammen. Es würde wohl bald regnen.
Still saß Velia auf ihrem Bett, starrte aus dem Fenster ihrer Behausung. Sie seufzte.
Hätte sie vielleicht das Dorf nicht verlassen sollen? Sie schüttelte den Kopf.
Schwachsinn! Hätte sie das Dorf nicht bei dieser Gelegenheit verlassen, hätte sie bald schon vergessen für was sie noch lebte. Rache und der Wunsch ihren Jugendfreund Rodin zu sehen, so, wie er jetzt war. Das waren ihre einzigen Ziele. Dann schiffen ihre Gedanken ab, landeten willkürlich bei Ruairi. Er war so ein schöner Mann. Fast ähnelte er Rodin als kleinen Jungen.
Einmal hatte sie geglaubt, dass Ruairi Rodin sei. Doch das konnte nicht sein!
Ruairi würde sie doch nie belügen und Rodin würde sich nicht absichtlich vor seiner Freundin verstecken! Es konnte einfach nicht wahr sein!
Abrupt ging die Tür auf. Mias streckte den Kopf ins Zimmer. „Velia! Komm mit mir.
Ich möchte dich jemandem vorstellen!“ Schnell zog Velia sich an, folgte Mias aus dem Haus.
Etwas verschüchtert von den Blicken der ihr fremden Dorfbewohner huschte Sie hinter dem Hünen her. Etwas geduckt schaute sie durch die Reihen von Menschen die am Wegesrand stehen blieben um die zu begaffen. Alle waren sie groß und entweder schlank oder muskulös gebaut, mit gebräunter Haut und dunklem Haar. Die Meisten von ihnen besaßen blaue Augen.
Nervös zupfte Velia an Mias Ärmel. „Mias, wohin führst du mich?“
Ihr muskulöser Begleiter legte einen Finger auf seine Lippen und bedeutete ihr Stille einzuhalten. Vor einem kleinem, aber sehr schmuckvollem Zelt blieben sie stehen.
Mias hob den schweren Stoffvorhang hoch, bot Velia einen Durchschlupf dar.
Vor der hinteren Zeltwand saß, etwas vorgebeugt, eine kleine düstere Gestalt.
Rauch stieg auf und schwirrte im Zelt umher. Die Gestalt hoch einen Arm und deutete auf Velia. Die Finger waren lang und Spitz, als ob sie lange Spinnennetze spannen.
Velia setzte sich auf die andere Seite des Zelts. Langsam rutschte der Gestalt der seidige Stoff vom Haupt, es kam Velia wie eine Ewigkeit vor. Aus durchdringend bernsteinfarbenen Augen starrte die Gestalt sie an. Es war ein alter Greis der dort vor ihr saß.

4.

Die Dämpfe umnachten die Wege, die Morgenröte lässt auf sich warten.
Erschöpft und halb niedergestreckt gehen die Soldaten dem letzten Zug entgegen.
Ein letztes Mal wollen sie ihre Familien wiedersehen, bevor es zu spät sein würde.
Viele von ihnen würden die hiesige Nacht nicht lebend überstehen. So auch Angus.
Sich auf den starken Armen seines treuen Freundes abstützend liegt er inmitten des Schlachtfeldes. Ob er je Frau und Kind ein letztes Mal in seine Arme schließen könne?
Seine wundervolle Frau Zuri, sicher wartete sie schon Daheim mit einer kräftigen Mahlzeit auf ihn. Und auch seine kleine Tochter wartete gewiss bereits auf die Rückkehr des Vaters,
stolz seine Geschichten und Erlebnisse hören wollend. Unter den betäubenden Schmerzen, seine Familie in Gedanken, bricht sein Augenlicht. Es ist nun soweit. Das Ende naht.
Melancholisch zügelt der Mitstreiter seine Traurigkeit. Es war an der Zeit.
Sanft legt Angus seinem Freund eine Hand auf die Schulter, flüstert ihm etwas zu.
Dann fällt sein Arm. Er fällt und fällt, bis er den Boden erreicht.
In den Armen seines besten Freundes stirbt ein ehrevoller, hochgeschätzter Held.

Lange hatte Rodin einst gebraucht um diese Worte zu verarbeiten und sie zu verfassen.
Die Überlieferung war notwendig, das wusste er. Das wussten alle.
Benommen klappte Rodin das Buch zu. Er erinnerte sich nicht mehr gut daran wann er Angus zu letzt gesehen hatte bevor er verstarb. War es eine warme Sommernacht? Oder war sie verregnet? Hatte er ihn zu Tage gesehen oder war er mit den anderen Dorfbewohnern zum Abschied zum Dorftor gegangen? Viele Jahre waren vergangen. Kein Wunder also, dass er sich nicht erinnerte. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen.
Ob er sich an Angus’ Gesicht erinnerte? Angestrengt dachte er nach. Vergebens.
Nein! Kein Aussehen brachte er zu Angus’ einstiger Erscheinung zustande.
War er ihm doch so fremd gewesen? Oder war das einfach der Hauch der Zeit, wie Ur-Großmutter es einst beschrieben hatte? Eine Träne entglitt ihm, rollte seine Wange hinab.
Beim Gedanken daran, wie es für Velia gewesen sein muss sowohl Mutter als auch Vater zu verlieren brach ihm geradezu das Herz. Er selbst hatte bei seinem Vater, und eine Weile bei seinem Onkel gelebt. Doch Velia war lange Zeit allein. Wahrscheinlich ohne einen Funken menschliche Liebe gewesen.
Es zog an Rodins Stiefeln. „Warum weinst du? Hast du an etwas trauriges gedacht?“
Einer der Jungen aus seiner Wöchentlichen Stunde stoppte Rodins Gedankenfluss.
Schlagartig wusch er sich die Träne von der Wange und lächelte. Er nickte.
 „Ja. Ich habe an etwas trauriges gedacht. Aber nun ist es in Ordnung. Die Stunde ist vorbei,
ihr Rabauken! Geht nach Hause!“ Sich mit den Kindern neckend schob er sie zur Tür hinaus.
Gute Miene zum bösen Spiel zu machen war schon immer Rodins Stärke gewesen.
Hinter den Kindern schloss er die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und rutschte an ihr herunter bis er schweigend auf dem Boden saß. Empört über sich selbst, dass er sich so schwach gegeben hatte, versenkte er den Kopf in seinen Armen, die er auf seine Knie aufgelegt hatte. Am Morgen hatte er mit einer Dorfbewohnerin gesprochen. Velia hatte sich oft mit ihr unterhalten. Sie erzählte dem jungen Mann, sie habe nicht schlafen können und war im Dorf spazieren gegangen. Dabei habe sie Velia mit dem großen Fremden bei Nacht und Nebel das Dorf verlassen sehen. Aber warum nur war sie fortgegangen?
Hatte es ihr in ihrer alten Heimat nicht gefallen? Hielt sie denn hier Nichts?
Natürlich! Das Einzige was sie hätte halten können wäre er selbst gewesen. Hätte er ihr doch nur die Wahrheit zugestanden. So musste er damit rechnen seine Freundin niemals wider anzutreffen.
Doch jetzt war es wohl zu spät um Reue zu zeigen.

Um sie herum standen Fackeln. Die kleinen Feuer wanden sich nur von Zeit zu Zeit um sich herum. Die dunklen Schatten an den Wänden hingen verstohlen über ihren Köpfen.
Ein Rabe krächzte aus einer der hinteren Ecken. Velia zuckte zusammen.
Der alte Mann hoch den Arm, ließ den schwarzen Vogel darauf Platz nehmen.
“Ich habe dich bereits erwartet, mein Kind!“ Erschrocken über diese feste, kraftvolle Stimme sah Velia den alten Mann an. „Dein Vater war ein großer Krieger. Hoch angesehen.
Auch in unserem Dorf war er beliebt. Obgleich er sich mit Mias’ Bärenstärke nicht zu messen vermochte.“ Velia schluckte. „Ihr.. kanntet meinen Vater?“ Der Greis nickte.
“Jeder in diesem Dorf kannte den mutigen Angus, Angus den Gerechten, der Barbar.
Und alle liebten und suchten seine Nähe.“ Er lächelte. Velia lächelte wehmütig zurück.
Sie selbst wusste so wenig über ihren Vater. Versunken in das schwarze Gefieder des Raben streichelte der alte Mann den Vogel. „Du bist ihm nicht sehr ähnlich, Velia. Du ähnelst der Mutter.“ Sie seufzte. Tatsächlich hatte sie sich erhofft auch nur Irgendetwas von ihm zu haben. Traurig ließ sie den Kopf hängen. „Tröste dich, Liebes. Der Mut, den ich Tief in dir sehe.. er ist der Selbe wie der deines Vaters. Du bist zu großen Taten erkoren!“
Nun setzte sich Mias neben Velia auf den Boden. „Du musst wissen, Ahote  ist unser Dorfseher, ein Orakel. Sein Name bedeutet : Der Ruhelose. Und das ist er auch!
Immerzu umgeben ihn Gedanken und Visionen. Eine ruhige Nacht hat er selten.“
Neckisch lächelte Mias ihn an. Fest starrte Velia Ahote an. Sie wollte, nein, sie musste mehr über sich und ihren Vater erfahren. „Sag mir, Ahote, wie gut kanntest du meinen Vater?
Wie nahe standet ihr euch? Was wusstest du über ihn?“ „Ich sehe, du hast viele Fragen.
Komm zu mir.“ Ahote streckte die Hand nach Velia aus. Diese setzte sich unbeirrt neben ihn.
“Zunächst muss ich wissen, ob du bereit bist die Wahrheit voll in dich aufzunehmen.
Es wird keine Leichte sein!“ Velia nickte. Selbstverständlich wollte sie alles erfahren!
Tief atmete Ahote ein, legte dem Mädchen die Hand auf den Kopf. Velia schloss die Augen.
Ein warmes, schauderndes Gefühl übermannte sie. Ihre Gedanken schwiffen von der
Realität ab. Bald schon war sie ferner dem was sie kannte, tief eingetaucht in anderen Sphären. Ein dichter Nebel verhüllte ihre Gedanken. Schwer nur war Etwas darin zu erkennen. Doch allmählich lichtete sich der gräuliche Schleier vor ihrem inneren Auge.
Dunkle Schemen erhoben sich aus dem Nichts, gestikulierten wild herum.
Langsam, aber nur beschwerlich, waren die Schemen als Menschen zu erkennen.
Einer von ihnen kam ihr bekannt vor. Mias! Nach langem Hinsehen erkannte sie ihn.
Mias war jung, jedenfalls jünger als Heute. Er trug einen langen, schwarzen Zopf, mit Federn und Bändern geschmückt. Durch sein linkes Ohrläppchen war ein Holzpflock geschoben, etwa Mittenfinger breit. Seine Brust war unbedeckt, so, wie Velia ihn kennen gelernt hatte, verziert von einer Bärentatze aus getrocknetem Blut. Das Symbol war äußerst charakteristisch für Mias Stamm. Für alle Indianerstämme hatte der Bär eine besondere Bedeutung.
Um seine Hüften war ein breiter, fester Lederstoff gebunden, darüber eine Art Gürtel, an dem sich verschiedene Messer und Gefäße angebunden fanden. Mias gegenüber stand ein hellhäutiger Mann, groß gewachsen, blondes, kurzes Haar, blau-graue Augen. Sein Mund war schmal, aber seine Wangenknochen waren äußerst markant. Um seinen Kopf trug er ein gewebtes Band an dem sich am Hinterkopf ein paar Federn befanden. Auch sein Oberkörper war unbekleidet, allerdings zierte seine Brust kein Zeichen. Im Gegensatz zu Mias trug der Mann ein langes ledernes Beinkleid. Mit nackten Füßen standen sie da, redeten und lachten.
Das erste Mal seid sie Mias getroffen hatte konnte sie ihn lachen sehen.
Die beiden Männer scherzten unverhohlen miteinander. Dann begann Mias zu sprechen.
 „Und wann wirst du zu deiner Frau und deiner Tochter zurückkehren, Angus?“
Endlich erkannte Velia wer der mysteriöse Fremde war. Vor ihr stand ihr eigener Vater!
Angus’ Lachen verstummte. „Vielleicht werde ich nie zurückkehren können, mein Freund.“

Die Szenerie verschwamm. Erneut zog dichter Nebel vor Velias geistigem Auge auf.
Ein Blitz erhellte die dichten Wolken, dann verzog sich der Nebel. Es war düster, in ein bläuliches Licht getaucht. Es regnete, donnerte, blitzte. Vorm Dorftor stand Angus,
voll bekleidet mit Panzer und Schwert. Neben ihm, typisch bekleidet für sein Volk, Mias.
Er trug einen Dolch an seinem Gürtel, in der rechten Hand hielt er eine Lanze.
Hinter den beiden, etwas Abseits, eine Truppe junger Männer, gemischt aus den beiden Stämmen. Im Dorf, knapp vor der Schwelle, war das ganze Dorf versammelt.
Die Frauen weinten, die Jungen jubelten ihren Vätern zu. Mias’ Frau überreichte ihm ein gewebtes Armband. Sie band es ihm ums Handgelenk. Langsam strich er darüber.
Er konnte spüren wie schön es war, welches Muster es hatte. Zum Abschied nahm Mias seine Familie ein letztes Mal in den Arm, wohl wissend, dass er womöglich nicht zurückkehren würde. Schließlich brachen sie auf, den langen Marsch zum Schlachtfeld antretend.
Wieder verschwamm die Sicht. Velia wusste gar nicht wie ihr geschah.
Es drückte ihr schwer ums Herz. Was würde sie wohl jetzt erwarten? Würde es eine traumatische Erinnerung werden? Der Nebel verzog sich und zu sehen waren Gewitterwolken in der Abenddämmerung. Sie konnte das Schlachtfeld überblicken, überall lagen tote Männer umher. Blutlachen breiteten sich über den Erdboden aus. Es war ein ungeheures Gemetzel.
Noch kämpften einige Krieger standhaft, aber angeschlagen, um ihre Leben, für ihre Familien. Doch langsam fielen sie, einer nach dem anderen gingen sie zu Boden.
Inmitten der bereits Verschiedenen lag Velias Vater, verwundet, nach Luft ringend.
Die Wunde war weit aufgeklafft, er spuckte mehrfach Blut. Langsam, aus einer geringen Distanz, näherte sich schwerfällig eine schwarze Gestalt. Das Schwert in der rechten Hand trat die Gestalt nun über Angus. Triumphal hob er es hoch, sodass die Schneide in der unheilvollen Dämmerung aufblitzte. Angus schloss die Augen, seinen nahen Tod abwartend.
Die Klinge sauste nieder, verfehlte aber ihr Ziel. Mias hatte den Angriff abgewehrt um seinen Freund zu beschützen. Gerade noch rechtzeitig! Erschrocken öffnete Angus die Augen, seufzte erleichtert seinen treuen Freund über sich zu sehen. Der Unbekannte ließ das Schwert fallen, Mias sprang brüllend auf ihn zu. Er stach mit der Lanze zu... und traf! Immer tiefer bohrte er die Lanze in den Panzer seines Gegners. Dieser sinkt regungslos zu Boden.
Plötzlich surrt ein Pfeil durchs Dickicht, trifft Mias in der Brust. Er bleibt stehen.
Dann beugt er sich zu seinem sterbenden Kameraden nieder. Während dessen Seele seinen Körper verließ hob Mias trauernd seinen treuen Freund in seine starken Arme und verließ das Schlachtfeld.

 
Ein stechender Schmerz überwältige Velia, so, als ob sie selbst auf dem Feld gestorben sei.
Alles verschwand im Nebel. Schließlich erwachte Velia keuchend in Ahotes Zelt.
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte. Etwas benommen strich sie sich über die schmerzenden roten Augen, wischte sich sie Tränen aus dem Gesicht. Dann stand sie auf, ging zum Zelteingang. Resigniert hoch sie den schweren Stoff an, blieb aber auf der Schwelle stehen.
 „Ich danke euch. Euch beiden! Jetzt werde ich meinen Weg unbeirrt fortsetzen und Rache an dem Mann nehmen, der mir meine Familie genommen hat!“ Velia verließ das Zelt.
Mias wandte sich Ahote zu. „Glaubst du es war richtig ihr die Geschehnisse zu zeigen und ihr ihre Zukunft zu verschweigen?“ Ahote schwieg. Letztendlich war Velia es gewesen, die die Vorgänge unterbrach. Sie würde schon bald erfahren wie es um ihre Zukunft bestellt war.

„Willst du nicht doch noch etwas bleiben? In ein paar Tagen ist Neumond. Wir beten und essen alle zusammen. Es wäre schön, wenn du dabei wärst, Velia.“
Mias’ Frau Karah war unbemerkt ins Zimmer getreten. Sie lehnte gegen den Türrahmen.
Velia sah Karah nicht an. Hingebungsvoll widmete sie sich ihrem Hab und Gut, packte Schritt für Schritt alles ein. „Nein. Ich muss so schnell wie nur möglich aufbrechen. Ich kann nicht länger warten!“ Karah atmete aus. „Na gut. Aber in dieser leichten Bekleidung kannst du nicht durch die Wälder ziehen. Du holst dir noch den Tod!“ Karah verließ das Zimmer,
kam mit ein paar Bündeln Stoff wider. Vorsichtig breitete sie die Bündel auf Velias Bett aus.
Es waren eine handgewebte Korsage, von innen mit Metall verstärkt, ein knielanger Rock, der Velia genug Beinfreiheit geben sollte, ein paar wetterfeste Stiefel und ein langer Umhang, der das Mädchen vor Regen und Kälte schützen sollte. Karah hatte es im Wissen, dass Velia bald abreisen würde für sie angefertigt. Sie musste sie sehr ins Herz geschlossen haben.
Gerührt umarmte Velia die ihr eigentlich so fremde und doch so vertraute Frau und begann sich umzuziehen. Ihre bisherigen Kleider verstaute sie in ihrem Gepäck.

Neu bekleidet verließ Velia ihre bisherige Bleibe. Liebevoll verabschiedete sie ihre neuen Schwestern und ihre ihr noch fremde Ersatzmutter. Mias streckte ihr die Hand entgegen, wartete darauf, dass sie sie entgegen nahm. Velia aber umarmte ihn.
“Nie werde ich vergessen was ihr für mich getan habt. Und ich verspreche, dass ich zurückkehren werde!“ Mit dem Rücken zum Dorftor stand sie da, fast demütig ihre neue Familie zu verlassen. Mias Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Hatte er Etwas gehört?
Velia drehte sich zum Tor um. Unterm Torbogen, durchnässt, erschöpft und erleichtert sie gefunden zu haben, auf seine Knie zusammengesunken, saß Ruairi.

Fassungslos starrte Velia den bewusstlosen jungen Mann an, der nun in ihrem alten Nachtlager lag. Wieso war er ihr hinterher gereist? Hatte er sie vermisst? Oder brauchte er ihre Hilfe? War etwas im Dorf geschehen? So viele Fragen quälten Velia.
Vorsichtig hob sie das nasse Tuch von Ruairis Stirn, tunkte es in einen Eimer voll Wasser, wrung es aus und legte es wieder auf seine Stirn. Behutsam strich sie ihm eine lange Haarsträhne seines blonden Haares aus dem Gesicht. Wie wunderschön er anzusehen war.
Velia lächelte. „Mir scheint du bist verliebt, meine Kleine.“ Mias stand hinter ihr.
Velia lächelte einfach weiter. Sie nickte. „Mag sein, mein Freund. Aber ich habe keine Zeit um mich darum zu kümmern. Zunächst will ich Rodin und den Mörder meines Vaters finden.
Dann bleibt noch genug Zeit!“ Mias stutzte. „Ich versteh’ nicht ganz. Das ist er doch!
Oder hat Rodin jetzt einen anderen Namen angenommen?“ Jetzt wurde Velia stutzig.
Verwirrt starrte sie zwischen dem Bewusstlosen und Mias hin und her.
Ihr war längst aufgefallen, dass Ruairi ihrem alten Freund ähnelte. Doch beim näheren Hinsehen glichen sie sich sogar bis aufs Haar. Langsam öffnete Rodin die Augen.
Erleichtert, Velia zu sehen, umarmte er sie stürmisch. „Endlich habe ich dich gefunden!
Was machst du für Sachen? Wieso verschwindest du einfach so bei Nacht und Nebel?“
Wütend riss Velia sich los, versetzte Rodin eine knallende Ohrfeige.
Nun war Rodin der Verwirrte in der Runde. Verdutzt rieb er sich die schmerzende Wange.
 „Du dreister Lügner! Jahrelang waren wir voneinander getrennt! Endlich finde ich dich und du hast nicht einmal den Anstand mir die Wahrheit zu sagen?! Ich musste von Mias erfahren wer du bist! Aber ich sage dir was du bist, Rodin! Du bist das Allerletzte! Wie konnte ich mich in so Etwas wie dich nur verlieben?“ Wutentbrannt stürmte Velia aus dem Zimmer. Rodin starrte ihr erschrocken nach. Hatte sie soeben zugegeben sich in ihn verliebt zu haben, oder hatte er sich gerade verhört?

Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Noch nie hatte sich Velia so betrogen gefühlt wie an diesem Tag! Mit festen Schritten stapfte sie durchs Dorf, die Stirn kraus gezogen.
Ihr Weg verlief quer durch das Dorf. Zunächst überlief sie den Weg der zu Ahotes Zelt führte, dann gelangte sie an die Ställe, dort, wo die Kriegspferde untergebracht waren.
Vor dem Trainingslager der Krieger hielt sie inne. Vielleicht würden ein paar Stunden körperliche Beschäftigung sie von ihrer Missbilligung Rodin gegenüber ablenken.
Als Velia jedoch die Männer fragte, ob sie sich ihrer wohl annehmen würden, lachten diese sie aus. „Ein Weib wie du, klein und zart, vollbusig, mit langen Wimpern? Verzeih, aber ich möchte dir keine Schmerzen zufügen müssen.“ Der junge Mann lachte.
Frech stemmte Velia eine Hand in die Hüfte, lächelte ihren Gegenüber dreist an.
“Glaub mir, ich bin längst nicht so schwächlich wie ich aussehen mag.“
“Na, dann zeig mal was du kannst.“ Verspielt packte er Velia am Handgelenk. Man merkte ihm an, dass er sie nicht ernst nahm. Angriffslustig umgriff Velia die Hand ihres Angreifers,
grub ihre Finger in seine innere Handfläche. Dann kehrte sie ihm den Rücken zu, drehte ihm dabei den Arm um und schleuderte den jungen Mann mit einer Hebelbewegung über ihre Schulter zu Boden. Verdutzt starrte der zu Boden gegangene Mann sie an.
Ebenso ungläubig blickten alle umher Stehenden drein. Unfassbar! Dass eine Frau zu so etwas in der Lage ist!

Rodin hatte sich schwerfällig aus dem Bett erhoben. Sein Schädel pochte und seine Sicht war verschwommen. Leicht taumelnd durchschritt er den Raum, auf der Suche nach seiner Brille.
Nach einiger Zeit der Suche, die sich als vergeblich herausstellte, setzte er sich auf den freien Stuhl neben dem Fenster. Unwillkürlich knackte es unter ihm. Rodin kniff die Augen zusammen. „Bitte lass das nicht meine Brille gewesen sein.“ Vorsichtig erhob er sich vom Stuhl. „Verdammt!“ Rodin hatte sich tatsächlich auf seiner Brille niedergelassen.
Nun lag sie in Bruchteilen vor ihm. Mit zwei Fingern, so, als ob er ein widerwärtiges Insekt anfassen müsse, hob er die zerstörte Brille am Bügel auf, betrachtete das gesplitterte Glas eindringlich. Er seufzte. „Ich werde wohl blind durch die Welt gehen müssen.“

Auf seinem Weg durchs Dorf zu jemandem, von dem man sagte, er könne jedes Objekt reparieren, dachte Rodin an Velia. Ob sie wohl jemals wieder mit ihm reden würde?
Momentan wusste er keine Antwort darauf zu geben. Letztendlich hatte er sie ja auch belogen. Tatsächlich bereute er es sogar, Velia so etwas angetan zu haben.
Er musste dringend mit ihr reden. Koste es was es wolle!
Gerade überquerte Rodin den großen Dorfplatz, schritt am Übungslager der Krieger vorbei,
als ein rosafarbenes Gebilde vor ihm hin und her flackerte. Seine Sicht mochte verschwommen sein, aber dennoch konnte Rodin aus dem rosafarbenen Flackern Velias
Haarschopf erahnen. Vor Rodin vermischten sich die Farben. Ein großer, bräunlicher
Farbfleck näherte sich dem Rosanen, blieb dicht an ihm stehen.
Dann wirbelte der rosane Fleck umher, der braune wiederum flog durch die Luft,
landete hart auf dem Boden. Rodin hörte einen Aufschrei, lautes, scharfes Einatmen,
das nichts Gutes erahnen ließ. Was ging dort drüben nur vor sich?
Plötzlich berührte Etwas Rodins Schulter. Erschrocken zuckte er in sich zusammen, wandte sich blitzartig um. Ihm gegenüber stand ein hellhäutiger Mann, alt, weißes Haar, sein Gang war aufrecht und selbstsicher, nicht gekrümmt. „Du solltest nicht hier sein, junger Freund.
Komm! Ich begleite dich zum Glaser.“ Rodin folgte dem Alten, misstrauisch, aber eine andere Wahl hatte er nicht.
Der Alte bog in eine Seitengasse ab, blieb hinter einer versteckten Hauswand stehen.
Als Rodin ihn nach dem Grund fragen wollte, versetzte der alte Mann ihm einen heftigen Schlag. Rodin wurde schwarz vor Augen. Benommen sackte er in sich zusammen.

Rodin war es schummrig vor den Augen als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte.
Er wusste gar nicht was geschehen war, war er doch bloß auf dem Weg gewesen seine Brille reparieren zu lassen, auf die er sich versehentlich gesetzt hatte.
Rasende Kopfschmerzen betäubten seine Sinne fast gänzlich. Behutsam wollte Rodin sich die schmerzende Stelle am Hinterkopf reiben, den Arm zu heben viel ihm aber nicht leicht.
Langsam räkelte er sich, doch seine Bewegungsfreiheit war äußerst eingeschränkt.
Die Sicht wurde klarer, so klar, wie sie ihm nur ohne Brille werden konnte und Rodin erkannte,
dass er gefesselt auf dem Boden saß. Was war denn nur dort auf dem Platz vor sich gegangen?
Ein düsterer Schatten beugte sich über ihn, kniete sich vor sein gesenktes Haupt.
Besser war es nicht aufzusehen, so wenig wie nur möglich zu wissen, um nicht unnötig in Gefahr zu geraten, so tief er nun auch scheinbar schon in Bedrängnis steckte.
Die düstere Person hob Rodins Kinn mit etwas metallischem an. Vermutlich ein dünner Dolch.
„Na, wen haben wir denn hier? Bist du endlich aufgewacht? Ich dachte nicht, dass du so lange brauchen würdest um wieder zu Bewusstsein zu kommen.“ Rodin schwieg.
„Wen hast du denn vorhin beobachtet? Das Mädchen? Oder die jungen Krieger? Bist du vielleicht an einen von ihnen interessiert?“ Die Gestalt grinste hämisch. Hörte Rodin schlecht?
Hatte die Person ihn gerade gefragt ob er Interesse an jungen Männern habe?
Verächtlich spuckte Rodin vor den Füßen seines Gegenüber aus – eine harsche Beleidigung,
das wusste auch Rodin. Flink drehte die Gestalt den Dolch in den Händen herum.
„Du kleiner Bastard! Ich sollte dich….“ Krachend flog die Tür auf. „Silla!“ Rodins Gegenüber hielt
inne. Dann atmete Silla scharf aus, erhob sich aus der gebückten Haltung und ließ den Dolch sinken. „Ja, Meister.“ Nun trat Silla ein paar Schritte zur Seite. Genervt betrachtete der Meister seinen Knecht. „Silla! Ich hab dir doch verboten die Gefangenen zu quälen!“ Silla nickte.
„Sicher, Meister. Verzeihung!“ Silla verbeugte sich. Zum ersten Mal seit Rodin gefesselt dort auf dem harten Boden saß bemerkte er die hohe Stimme, die Silla vorzuweisen hatte.
Eine enorm schrille Stimme für einen jungen Mann. „Warum trägst du schon wieder Männerkleider, Silla? Das solltest du nicht tun.“ Rodin stutzte. Also war Silla eine Frau. Rodin wurde also von einer
Frau niedergeschlagen. Der Meister schritt näher an sein Opfer heran. Dann trat er mit den Stiefeln nach Rodin. „Und du? Für wen hältst du dich meine Dienerin anzusprucken? Sag schon, Lehrmeister!“ Rodins Augenbraue zuckte. Scheinbar wusste er mehr über Rodin als ihm lieb war.

 
Aufgeregt stürmte Velia in Mias' Schlafzimmer. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, keuchend stand sie vor ihm. „Mias! Mias, wo ist Rodin? Er ist nicht in seinem Zimmer!“
Der Hühne packte das Mädchen bei den Schultern. Er lächelte. „Nur die Ruhe. Rodin ist auf dem Weg seine Brille reparieren zu lassen. Er hat sich auf sie gesetzt. Komm! Ich bringe dich hin.“

Mias klopfte an die schwere Holztür des kleinen Hauses. „He, Meister! Seid ihr da?“
Mias öffnete die Tür und trat ein. „Wir suchen unseren Freund. Er wollte seine Brille reparieren lassen, aber er ist noch nicht zurück. Habt ihr ihn gesehen?“ Auch Velia trat herein.
Der Anblick, der sich ihr bot, verschlug ihr glatt die Sprache. Rodin war, nur spärlich bekleidet,
auf eine hölzerne Streckbank gefesselt worden. Um ihn herum standen zwei Gestalten.
Die eine klein, ein Mädchen, mit dunkler Haut, schwarzen Haaren und Wieselaugen.
Die Andere groß und dürr, mit weißen Haaren und einem Bart. Der Alte rauchte Pfeife, während das Mädchen Rodin mit einer Gänsefeder unter den Fußsohlen kitzelte.
Fröhlich drehte der Greis sich zu Mias um. „Ah, hallo, mein Freund! Sieh nur, wir haben einen Fremden gefangen genommen. Wir sind gerade dabei ihn zu verhören.“
Bleich wich Mias jeder Ausdruck aus dem Gesicht, Velia starrte verwirrt umher.
Nur Rodin konnte vor lachen kaum an sich halten. „Bitte! Bitte, Mias! Bindet mich los!“
Kopfschüttelnd band Mias den vor lachen weinenden Rodin endlich los.

Eisige Stille herrschte in dem kleinen heruntergekommenen Haus. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Rodin blickte seine beiden Entführer angesäuert an, verschränkte die Arme.
„Könntet ihr euch vielleicht mal bei ihm entschuldigen?“ Das war keine Bitte. Mias bittete nie.
Er bestand darauf. Silla blickte zu Boden, ihre schwarzen Haare vielen ihr ungebändigt ins Gesicht.
Der Alte saß, die Arme ebenso verschränkt wie Rodin, lediglich an seinem Platz und starrte den jungen Mann stur an. Er dachte gar nicht daran sich zu entschuldigen! Schließlich hatten sie ihm Nichts angetan was ihm geschadet hätte. „Ich warte!“ Mias klang eilig.
Doch Rodin legte keinen Wert auf eine solche halbherzige Entschuldigung.
„Ich pfeif auf eure Entschuldigung! Doch mir scheint ihr beschattet mich schon eine ganze Weile.
Warum?“ Rodin blickte Silla und den alten Mann ernst an. Ihre Gegenwart erfüllte Rodin mit großem Unbehagen. „Wir beobachten dich seitdem du in unser Dorf getreten bist.
Du bist bei Nacht und Nebel aus heiterem Himmel aufgetaucht. Wer hätte ahnen können, dass du bloß ein Junge bist, statt eines Spions? Letztendlich waren wir auf alles vorbereitet, was du hättest sein können.“ Velia schüttelte ungläubig den Kopf. Und so was schimpfte sich Gastfreundschaft.
Plötzlich schlug Velia Rodin auf den Oberarm. „Du Dummkopf! Was hattest du eigentlich draußen zu suchen, wo du noch schwach bist?“ Rodin schluckte. Sollte er ihr die Wahrheit sagen?
Sollte er Velia sagen, dass er sie suchen gegangen war um mit ihr über die Ereignisse zu sprechen?
Mias bemerkte, trotz seiner blinden Augen, wie Rodin mit dem Blick seinen Rat suchte.
Dieser nickte bedächtig. Dann wandte Rodin sich wieder Velia zu. Gerade öffnete er den Mund um etwas zu sagen, da stand Velia auch schon auf. „Weißt du, wenn ich es mir recht überlege möchte ich es gar nicht wissen!“ Wütend über das, was geschehen war, stapfte sie zur Tür.
Blitzartig hielt Rodin sie am Handgelenk zurück den Raum zu verlassen, sein Blick wandte sich dem Boden zu und verdüsterte sich. Nun stand er ebenfalls auf, hielt Velia fest im Griff.
„Nun lass mich doch erst einmal erklären, ehe du dich entschließt mich nie wieder zu sehen.“

 
„Und deshalb bin ich dir überhaupt erst nach gereist.“ Rodin hatte Schwierigkeiten Velias Blick stand zu halten. Diese allerdings zog die Schultern hoch. „Entschuldige, aber ich weiß einfach nicht was ich dir eigentlich noch glauben soll!“ Rodin drückte Velias Handgelenk fester, er hatte es während seiner gesamten Erklärung nicht losgelassen.
Velias Haut brannte förmlich unter seinem festen Griff. Immer mehr schmerzte es, bis es letztendlich  schier unerträglich war. Ruckartig zog sie ihren Arm zurück und begann sich das schmerzende Handgelenk zu reiben. Eindringlich betrachtete sie die Stelle, an der Rodin sie ergriffen hatte. Velia konnte ihren eigenen Augen nicht glauben. Dort, an der Stelle wo Rodins Finger zuvor noch ihr Handgelenk umschlungen, zeichneten sich Brandspuren auf der Haut.
Entsetzt starrte sie ihren alten Freund an. „Rodin! Was hast du mir angetan? Warum ist meine Haut verbrannt?“ Rodin schwieg. Er wusste keine Antwort auf diese Frage, er selbst hatte schließlich kein Brennen auf der Haut gespürt. Erschrocken über das, was er getan haben soll, streckte Rodin den Arm nach Velia aus. Diese jedoch wich jede Geste von sich, eingeschüchtert und verängstigt war sie. „Nein! Fass mich nicht an! Nicht noch einmal!“ Von ihrer Angst übermannt rannte sie hinaus auf die Straße, blickte sich suchend, als ob sie auf ein Zeichen warte, umher.
Sie entschied sich für den Weg aus dem Dorf hinaus. So rannte und rannte Velia, bis sie schließlich das Dorftor erreichte. Immer wieder blickte sie sich nach Hinten um, erwartend, dass Rodin ihr folgte. Ihre Aufmerksamkeit galt einen kurzen Augenblick nicht ihrem Weg, und schon raste ein Pferdekarren auf sie zu. Velia blickte das Pferd aus ihren stählernen blauen Augen an.
Erschrocken über diese ungewöhnliche Aura, die von Velias Blick ausging, begann das Pferd zu steigen. Es wieherte und trat nach allen Seiten aus. Der Kutscher versuchte es zu beruhigen, doch vergebens. Velia hatte keine Chance mehr auszuweichen, hörte nur noch Rodins Stimme, die nach ihr rief, während das Pferd sie übermütig zu überrennen drohte.

Velia fiel zu Boden, hob schützend ihre Arme vors Gesicht. Rodin wich erschrocken zurück.
Sein Herz raste, das Blut pulsierte in ihm. Rodin konnte nicht zulassen, dass der Frau,
die ihm einst geraubt wurde und nun wieder da war, etwas zustieß.
Ein letztes Mal streckte er den Arm nach ihr aus, schrie ihren Namen. Man konnte das Feuer in seinen Augen geradezu aufleuchten sehen. Mias, der alte Mann und auch Silla schlossen die Augen vor Entsetzen. Sie konnten sich das grausame Schauspiel nicht ansehen.
Dort plötzlich wo Velia auf dem Boden gelandet war, hart und kalt wie er war, blieb nur eine Staubwolke zurück. Velia war verschwunden. Als sie die Augen öffnete blickte sie in Rodins lächelndes, erschöpftes, aber auch beruhigtes Gesicht. Sie war unverletzt. Ein Glück.
Aber... wie war das nur möglich? Was war soeben geschehen? Erleichtert sank der ermüdete Rodin, Velia auf seinem Arm haltend, zu Boden, setzte sie behutsam ab.
Dann schaute er in die Runde. Alle umher Stehenden, es waren bei dem Radau einige Dorfbewohner hinzu geeilt, starrten den jungen Mann ungläubig an.
Einige Männer tuschelten, einige Frauen kicherten. Doch es war ihm egal. Rodin war heilfroh, dass seiner Freundin nichts geschehen war. „Kommt. Gehen wir Heim. Ihr beide hattet einen langen Tag.“
Mias half Rodin und Velia auf die Beine. Der Heimweg war beschwerlich. Mias musste den angeschlagenen Rodin stützen damit dieser halbwegs aufrecht lief.

„Hier, Junge. Iss. Das wird dir gut tun.“ Mias Frau hatte gekocht und zwang Rodin nun zum essen.
Velia brachte keinen Bissen hinunter. Noch immer konnte sie sich nicht erklären was soeben vorm Dorftor geschehen war. Mias war derweil ausgezogen den Dorfältesten zu holen.
Vielleicht wusste er ja was es damit auf sich hatte. Nach einigen Stunden des Erklärens betraten Mias und Ahote das Haus. Gleich begab sich Ahote auf den noch immer geschwächten Rodin zu,
packte sein Gesicht zwischen seine knochigen Finger.
„Mias hat mir bereits erklärt was dort am Tor vor sich ging. Ich ahnte schon als du fast bewusstlos im Dorf ankamst, dass du etwas Besonderes bist, mein Sohn.“
„Könnt Ihr mir erklären, was dort geschehen ist?“ Rodin war sichtlich müde.
„Aber natürlich, mein Junge. Komm setz dich. Du wirst viele Fragen haben wenn ich es dir erst einmal erklärt habe.“ Man reichte Rodin einen starken Wurzeltee.
Die Anderen ließen den alten Mann und seinen Zuhörer allein.

Lange Zeit saßen die beiden Männer in dem Haus und redeten. Nichts sonst geschah.
Mias und die Anderen standen regungslos vor der Hütte umher.
Schließlich schwang langsam die Türe auf. Heraus kamen Ahote, vor Freude strahlend, lächelnd,
und Rodin, schweißnass und bleich als habe er einen Geist gesehen.
Velia stürzte auf ihn zu, umarmte den blassen jungen Mann. „Ist alles in Ordnung? Was hat Ahote dir berichtet? Nun rede schon!“ Rodin blieb stumm. Kein Wort wagte über seine Lippen nach Außen zu dringen. „Das, was ich ihm preisgab, muss er nun verkraften, meine Liebe, und letztendlich seinen eigenen Weg suchen müssen. Er wird einige Tage verreisen.“
Lächelnd wandte der alte Mann sich zu dem erschöpften Jüngling um und nickte.
Schien als hatte Rodin keine andere Wahl. „Aber wohin wird er gehen? Ich werde ihn begleiten!“
„Nein!“ Die Antwort des Dorfältesten kam plötzlich. „Diesen Weg muss er allein gehen.
Er wird in den Wald gehen und seine Herkunft erforschen und lernen, so, wie es ihm zusteht.
Sei froh, mein Kind, wenn er lebend aus dem Wald heraus findet.“ Verzagt starrte Velia auf den Boden.

Noch am Abend musste Rodin das Dorf verlassen haben. Nichts packte er ein, außer seiner neuen Brille, etwas Wasser und einen Dolch, den Velia ihm heimlich zusteckte damit er sich zu verteidigen vermochte.
Und so trat Rodin eine ihm unbekannte, einsame Reise ins Dickicht an.


 

 




 

 

 




 

 

A saol na eachtraiochta - "Eine Welt voller Abenteuer"



5.

Er war noch keine zwei Meter aus dem Dorf geschritten als Rodin stehen blieb. Wehmütig starrte er zurück,
betrachtete den Dorfeingang. Zwar war es nicht seine Heimat, die er hier zurückließ, dennoch drückte ihm der
Abschied schwer auf die Brust. Mias war über die kurze Zeit, in der sie sich nun kannten, zu einem guten Freund
geworden. Und Velia... was würde er dafür geben sie mit sich zu nehmen. Es fiel ihm sichtlich schwer die Beiden
zu verlassen. Tief atmete er ein, schüttelte den Kopf. Er durfte jetzt nicht schwach werden!
Dann wandte er sich dem düsteren Wald zu der vor ihm lag. Es war eine finstere Nacht und der Wald erschien ihm so schwarz und bedrohlich wie der schwarze Tod, der im ganzen Land seine Schreckensherrschaft verbreitete.
Mit zittrigen Schritten folgte er einem kleinen Pfad hinein ins Gestrüpp. Unter seinen Füßen knackte und krachte es.
Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Rodin konnte nicht sehen, was sich unter seinen Schritten verbarg.
Vielleicht waren es bloß Äste und vertrocknete Zweige. Vielleicht waren es aber auch die Schädel und Gebeine von den armen verlorenen Seelen, die diesen Wald betraten und damit ihr frühes Grab besiegelten.
Kalt lief ihm der Schweiß den Rücken herunter. Er schüttelte sich. An so etwas durfte er gar nicht erst denken!
Hinter ihm raschelte es. Blitzartig drehte Rodin sich um. Was bei Methusalems Bart war das nur gewesen?
Aber nichts war zu sehen. Keine Gestalt, kein Tier regte sich. Hastig suchten Rodins Augen im Gestrüpp nach Etwas oder
Jemandem, der diese Geräusche verursacht haben konnte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, Rodin konnte keinerlei Lebewesen weit und breit erkennen. Langsam wandte er sich wieder seinem Weg zu, richtete den Blick auf den Boden.
Dennoch blieb er aufmerksam und horchte in die Wildnis hinein. Sein Hörsinn war schon immer außergewöhnlich gut gewesen.
So erkannte er auch gleich, dass sich ihm langsamen Schrittes Etwas näherte. Das Aufsetzen jeden Schrittes war behutsam, bewusst, geradezu berechnend. Das Laub knisterte unter jeder Bewegung. Dann verstummten sie. Einfach so, als ob, was auch immer ihn umkreiste, sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Die Rodin nun umgebende Stille, Glitzern einiger Tropfen auf dem Laub und eine leichte Brise waren das Einzige was er noch ausfindig machen konnte. Rodin gefiel diese plötzliche Ruhe nicht. Die Anspannung umspielte seine sonst so weichen Gesichtszüge. Langsam duckte er sich auf den Boden, das umherliegende Laub durchsuchend, bis er schließlich Etwas zu fassen bekam. Es war ein langer Stock, der an einem Ende spitz abgebrochen war. Mit festem Griff umklammerte Rodin den toten Korpus des Stocks und wartete. Er war kein Kämpfer. Nein, er war nie ein Krieger gewesen, wie man es von allen Jungen in seinem Dorf erwartet hatte. Doch er hatte den Jungen immer wieder bei ihren Übungen zugesehen.
In seinen Gedanken kannte er all ihre Bewegungsabläufe. Kampflos würde er sich also nicht ergeben.
Noch immer wartete er geduckt am Boden, doch Nichts passierte. Schließlich stand er auf und atmete durch. Es war wohl verschwunden. Gerade setze er den ersten Schritt nach vorn, als das Laub wild begann zu rascheln. Dann, ein grauer Fleck, ein Sprung, und über Rodin erhob sich ein riesiger Schatten, gefolgt von einem grauen Wolf der auf ihn zu sprang. In dem Moment als der Wolf Rodin umwarf und über ihm stehend die Zähne fletschte, hatte Rodin es noch knapp geschafft den Stock über sich zu heben, sodass sich das Ungetüm nun mit seinen Zähnen darin verbiss. Mit beiden Händen hielt Rodin, auf dem Boden liegend, den Stock zwischen den Zähnen des Wolfes von sich fern. Das Biest knurrte und sabberte hungrig und blutlüstern. Neben Rodins Kopf tropfe der Speichel des Ungeheuers auf den Waldboden. Das mit spitzen Zähnen besetzte Gebiss kam immer näher und näher. Langsam schwanden Rodin die ohnehin nicht vielen Kräfte. Irgendwas musste er tun.


Inmitten der Nacht erwachte Velia aus ihrem tiefen Schlaf. Vorsichtig setzte sie sich auf, gähnte und streckte sich.
Dann sah sie sich im Halbdunkel des Zimmers um in dem sie schlief. Irgendetwas kam ihr seltsam vor. Sie wandte sich dem Bett zu ihrer Linken zu, dort, wo sich am Abend Rodin zur Ruhe gelegt hatte. Doch er war fort. Das Bett war leer. Velia schluckte.
Er musste im Schutz der Dunkelheit, während alle anderen schliefen, das Dorf bereits verlassen haben. Zitternd griff sie sich an die Brust. Ihr Herz klopfte laut und ungestüm. Dann atmete sie tief ein und aus. „Beruhige dich. Er hat den Dolch mit sich genommen.
Ihm wird schon Nichts zustoßen!“ Dies sagte Velia sich so unbeholfen und unsicher wie ein Kleinkind, das gerade Laufen lernte.
Hatte er den Dolch wirklich mitgenommen? Oder hatte er ihn wieder aus seiner Tasche entfernt und ihn bei Velia zurückgelassen?
Rodin war nie eine Art Krieger gewesen, sie war sich nicht einmal sicher, ob er mit einem Dolch umzugehen wusste.
Hastig stand sie auf und begann, das Zimmer nach der Waffe zu durchsuchen. Doch sie fand den Dolch nicht. Rodin musste ihn tatsächlich mitgenommen haben. Erleichterung machte sich in dem Mädchen breit.


Das Ungetüm wollte und wollte einfach nicht von Rodin ablassen. Noch immer bäumte sich der Balg der Bestie über ihm auf, noch immer lag Rodin, den Stock schützend in den Händen haltend, am Boden. Lange würde er diese abwehrende Haltung nicht mehr aufrechterhalten können. Der Speichel des Wolfes tropfte Rodin auf die Brille, sein heißer Atem ließ die Gläser beschlagen.
Plötzlich holte das wilde Tier weit mit der Klauen besetzten Panke aus. Aus dem Augenwinkel konnte Rodin die Pranke sich erheben sehen. Gleich würde er in Fetzen gerissen. Rodin schloss die Augen. Er wollte das Elend, das Leid und den Schmerz, den er gleich erfahren würde, nicht kommen sehen. Doch dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes. Ein lautes Klopfen pulsierte in Rodins Kopf.
Es hämmerte unaufhörlich von Innen gegen seine Schädeldecke. Schließlich riss Rodin die Augen auf, die sich mit dem letzten Pulsieren verfärbten wie ein ins güldene Sonnenlicht getauchte Amethyst. Sie glitzerten und blickten in die weite Ferne, die weiten Tiefen der Seele des Wolfes, während sie gleichermaßen dessen triefendem Maul entgegen starrten. In seinem Geiste konnte Rodin sehen was geschehen würde. Der Wolf würde mit seiner mächtigen Pranke den Hieb ausführen, die Krallen bereit Rodins Fleisch zu zerreißen.
Und Rodin würde einfach nur daliegen, die Augen vor Angst verschlossen, ein letztes Gebet sprechend. Blut würde aus den tiefen Fleischwunden treten und sein Gesicht hinab strömen. Dann würde ihm die Kehle aufgerissen werden und der Wolf würde ihn verschlingen. Und letztendlich würde Nichts mehr an dieses Ereignis erinnern außer eine langsam verblassende Blutlache auf dem kalten, harten Waldboden. Ein greller Lichtschein. Rodin liegt noch immer am Boden, aber er lebt. Es ist als läge nicht er selbst dort am Boden, sondern als wäre er der unbeteiligte Beobachter eines Schauspiels. Da! Die Bestie holt zum Schlag aus! Doch dieses Mal wehrt sich Rodin gegen seinen Angreifer. Mit letzter gesammelter Kraft stemmt er den Stock gegen das Ungetüm und wirft es mit einem kräftigen Ruck zur Seite. Fiepend stürzt der Wolf zu Boden, rollt einmal, zweimal über das Gestrüpp. Dann rappelt er sich auf, schüttelt sich und fletscht erneut die Zähne während Rodin versucht auf die Beine zu gelangen. Endlich! Auch Rodin schafft es auf die wackeligen Beine.
Sich keuchend auf den Stock stützend richtet er sich auf, starrt den Wolf mit festem Blick an, und dann… Das Bild wird schwarz.
Der lila Schimmer in seinen Augen verblasste. Rodin kehrte in den Moment zurück. Der Moment, der über sein Leben oder seinen Tod entscheiden würde. Er wusste nun was er zu tun hatte. Mit letzter Kraft schleuderte er den Wolf beiseite, richtete sich auf, holte tief Luft.
Knurrend blitzte der Wolf Rodin aus der gegenüberliegenden Ecke an. Sein Nackenfell sträubte sich. Rodin starrte in die tiefen, dunklen Augen des Wolfes. Eine Weile blickten die Beiden sich tief in die Augen. Es war als würde er den Wolf hypnotisieren wollen.
Die Sekunden verstrichen, zogen sich in die Länge wie ein Flusslauf der im Meer mündete. Rodins Augen funkelten das Tier drohend, zugleich beschwörend an. Und es schien zu wirken! Das Fell legte sich, die Muskeln entspannten sich, das scharfe Gebiss wurde von einer weichen, mit Fell bedeckten Schnauze überdeckt. Das blutrünstige Ungetüm, das vor einigen Sekunden noch versucht hatte, Rodin die Kehle zu zerbeißen, legte sich ruhig auf alle Viere nieder. Immer noch starrte der Wolf Rodin aus seinen großen braunen Augen an.
Doch nun wirkten sie ganz und gar nicht mehr bedrohlich. Es wirkte fast so, als würde das Tier Etwas erwarten.



 

 

 

 




 

 

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Tag der Veröffentlichung: 24.06.2017

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