Und schon wieder betrat ich dieses Klassenzimmer. Öffnete die gleiche Tür, hörte die gleichen Stimmen, wie jeden Tag. Und schon wieder setzte ich mein falsches Lächeln auf.
Es wirkte so echt. Obwohl es innerlich nur aus Traurigkeit bestand. Manche betrachteten mich als Sonnenschein. Doch ich war genau das Gegenteil. Aber niemand, kein einzigster würde das je herausfinden. Mit freundlichen Begrüßungen stürmten meine Klassenkameraden auf mich zu.
Tauschten die neuesten News mit mir aus. Doch ich nahm es keineswegs wahr. Meine Beliebtheitsmauer plauderte unentwegt mit ihnen. Doch ich selbst konnte mich nicht einmal erinnern, was sie mit mir heftig diskutierten.
Lange ging es so dahin. Bis schließlich alle Schüler mit mir ein Wort gewechselt hatten, kam es mir vor wie eine endlose Ewigkeit. Aber ich hatte keinerlei Zeitgefühl. Also war es mir egal.
Ich war nicht ich. Das war die Hauptsache.
Kurz darauf gongte es. Die etwas schusselige Lehrerin stürmte herein. Ich setzte ein noch glaubwürdigeres Lächeln auf. Es wirkte warmherzig und freundlich, voller Energie.
Und schon wieder betrog ich die anderen dadurch. Eigentlich wollte ich das nicht. Aber trotzdem tat ich es. Vielleicht aus Gewohnheit. Vielleicht aus Hoffnungslosigkeit, keinen anderen Ausweg zu wissen?
Langsam bewegten wir uns auf unsere Plätze.
Der Unterricht begann. Eine langweilige Stunde folgte der nächsten. Die Lehrer kamen und gingen.
Aber mein Lächeln blieb das Gleiche.
Der letzte Gong. Endlich. Alle Schüler sprangen von ihren Stühlen, schnappten sich ihre Rucksäcke und vollführten Freudentänze. Mein äußeres Ich strahlte vor Glück.
Aber innerlich seufzte ich nur. Wieso fielen meine Mitschüler immer auf meine Barrikade herein?
Langsam verließ ich das Klassenzimmer, glitt die schweren Steintreppen hinunter und verließ auch das gesamte Schulleben. Ließ es einfach nur hinter mir. Denn jetzt konnte ich wieder ich sein.
Ohne dass es jemand bemerkte.
Mein Schulweg schlängelte sich zwischen Bäumen und Feldern hindurch. Ein ziemlich langweiliges und einfältiges Land. Der Rückweg schien aber noch schlimmer, denn die Zeit verging; und ich kam nur sehr langsam vorwärts. Schließlich kam ich wieder an einer Gruppe von Bäumen vorbei.
Trotzdessen, dass sie so wenige waren, sah es fast so aus als wollten sie sich gegenseitig erreichen.
Es schien so als wollten sie mit ihrem Blätterdach den kurzen Wegabschnitt einhüllen.
Langsam blieb ich in deren Mitte stehen. Ich betrachtete die verzweigten Äste, die sich unaufhaltsam in alle Richtungen drängten.
Und plötzlich kam alles über mich. Die zurückgehaltende Traurigkeit brach über mich herein.
Wasser drang aus meinen Augen. Es lief mir die Augen Wangen herunter, bis auf meine Kleidung.
Langsam ging ich in die Knie. Immer mehr Tropfen rannen an mir herunter. Meine Knie berührten schon den Boden. Lange zeit verging. Doch meine Tränen versiegten nicht. Alles aufgestaute Unglück brach aus mir heraus.
Ich bemerkte keineswegs wie ein Schatten sich von einem der Ahornbäume löste. Er kam näher und näher.
Die Person blieb dann aber stehen, überlegte es sich anders. Drehte sich um und schlich sich davon.
Er verschwand zwischen den paar Bäumen. Sein dunkler Schatten folgte ihm.
Gonnngggg!! Endlich war die Schule aus. Schon wieder hatte ich mein Sonnenscheinlächeln aufgesetzt. Wieder scharrten sich alle um mich herum. Und wieder war alles unecht.
Genauso wie ich es sofort bereute , nicht normal mit meinen Klassenkameraden umgehen zu können.
Jeden Tag das Selbe und nie änderte sich etwas. Nochmal nahm ich meinen Nachhauseweg auf mich.
Und wieder weinte ich mir mein Unglück heraus.
Leise knirschten der Boden unter meinen Füßen. Ich blieb stehen. Doch noch immer hörte ich das Knirschen. Woher kam es? Verfolgte mich jemand? Es kam nicht von mir. Aber es kam auf mich zu. Direkt hinter mir. Dann war es still.
Ich hörte den fremden Atem und fühlte ihn in meinem Nacken. Langsam drehte ich mich um. Den Blick behielt ich am Boden. Ich blickte auf. Blau-weiße Turnschuhe, enge Jeans und ein weißes T-Shirt mit der Zahl 53 vorne drauf. Florian.
„Was…was willst du?“, fragte ich zögernd. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ich konnte nicht stark sein, ich konnte mich nicht wieder in die beliebte Person verwandeln, die ich immer in der Schule zeigte. Es war hoffnungslos, bestimmt würde die Information über mein anderes Ich schon morgen die Runde machen. Verlegen blickte ich zu meinen Schuhspitzen.
„Was ist los?“, fragte er mich mit einer sehr ernsten Stimme. Seine Blicke schienen wie messerscharfe Lanzen mich zu zerstochern. Nicht auszuhalten.
„Ich… ähm…“, mir fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. Hektisch sah ich mich um.
„Äh… nichts...Bis morgen dann.“, es fiel mir zwar schwer das zu sagen, aber irgendwie schaffte ich doch etwas herauszupressen. Ich drehte mich um, schnappte mir meinen Rucksack und rannte.
Lief einfach den Weg entlang. Ich spürte den stechenden Blick von meinem Klassenkameraden im Rücken. Die Bäume flogen vorbei, genauso wie Wiesen und Felder.
Eigentlich hatte ich nicht mehr die Kraft weiter zu rennen.
Aber ich konnte nicht stehen bleiben, wohl eher weil ich nicht stehen bleiben wollte. Vielleicht war er ja noch hinter mir. Ich wusste es nicht. Ich wollte gar nicht daran denken, wie mein Leben jetzt weiter gehen würde. Denn jetzt wusste er es. Und bestimmt schon morgen alle anderen.
Mein Geheimnis war aufgeflogen. Meine gesamte Aussenmauer zerfiel in Einzelteile.
Und schon wieder rannen mir mehrere Tränen die Wangen hinunter. Wieso jetzt?
Warum heute? Ich konnte mich so oft fragen wie ich wollte, ich bekam keine Antwort.
Ich blieb stehen und starrte auf die Türklinke. Sie glitzerte in der Sonne, die durch ein Fenster herein schien. Ich streckte meine Hand aus, hielt aber dann inne. Ein paar Zentimeter war sie noch von dem Türgriff entfernt. Was würde mich erwarten? Entschlossen drückte ich auf die Klinke.
Die Tür schwang auf. Erwartungsvoll und unbehaglich zu gleich trat ich ein. Ich sah mich um.
Nichts, aber auch rein gar nichts hatte sich seit gestern geändert. Alle standen an ihren Tischen herum, unterhielten sich und winkten mir fröhlich zu. Rein instinktiv setzte ich meine Sonnenscheinmaske wieder auf. Meine Sonnenscheinmauer. Sie war hoch und kaum überwindbar.
Eine rießige Barrikade. Und genau sie, versperrte mir den Weg in die reale Welt. Drumherumgehen konnte man nicht. Dagegen konnte ich nichts tun.
Mein Blick schweifte im Klassenzimmer herum und blieb schließlich an Florian hängen.
Ernst blickte er mich an. Sein Gesicht verriet keine einzigste Reaktion. Stumm und wortlos stand er da. Schaute mich einfach nur an. Fast wirkte es unheimlich. Schnell wendete ich mich ab und gesellte mich zu den anderen. Trotzdem wusste ich, dass ich heute wohl noch zu einem Gespräch herausgefordert werden würde. Vielleicht konnte ich es ja doch so weit wie möglich hinauszögern. Hoffentlich…
Nervös schaute ich immer wieder hinter mich. Meine blonden Haare wehten mir im Wind hinterher.
Wieso hatte sich Florian kein weiteres mal mehr blicken lassen? Vielleicht kam er doch nicht mehr.
Ich atmete auf. Wahrscheinlich hatte er mich vergessen. Zum Glück!!
Erleichtert ging ich weiter.
Aber… zu früh gefreut. Schnelle Schritte. Ich blieb stehen. Gespannt hielt ich den Atem an. Den Rücken zu der näherkommenden Person gewendet, wartete ich ab, was passieren würde.
„Janette“, die Stimme ertönte hinter mir, und ich kannte sie. Den Klang, den ich mir nicht erhofft hatte. Er war besorgt.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich spürte den sanften Druck. Schielend blickte ich zu den sonnengebräunten Fingern, die meine Schulter umfassten.
Mit einem Schlag wischte ich die Hand herunter. Währenddessen drehte ich mich um und blickte in tiefgrüne Augen. Ich schluckte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Du wirst es mir nicht sagen, stimmt`s?“, fragte er. Ich nickte.
Er nahm meine Hand und führte mich weg von diesem Ort.
Auf einem Schild prangte das Wort Park. Die grüne Farbe war schon ein wenig verblichen.
Irgendwie und ohne es zu bemerken, saß ich plötzlich auf einer der zahlreichen Bänke. Auch hier blätterte die Farbe schon ab. Darunter sah man ein dunkles braun.
Mit meinen Fingernägeln kratzte ich daran herum, während ich meinen Blick auf den Boden richtete.
Neben mir saß Florian. „Ich werde so lange warten, bis du mir sagst warum du so bist. Ich habe Zeit.“
Er lehnte sich zurück und überkreuzte die Arme hinter dem Kopf.
Die Zeit verging. Ich fummelte an meiner Jeans herum. Doch niemand änderte seine Position.
Ich blickte auf meine Uhr. Schon eine halbe Stunde war vergangen.
„Willst du jetzt etwas sagen?“, fraglich blickte er mich an. Aber ich schüttelte nur den Kopf.
Immer noch blickte ich auf meine Schuhspitzen.
Die Sonne sank immer tiefer und färbte alles rötlich. Bald konnte man sie nur noch als abgeschnittene Kugel erkennen. Ihre roten Strahlen erreichten meine Nasenspitze.
„Okay, was willst du wissen?“, eine ungeheure Kraft übermannte mich. Ich wusste nicht wo sie herkam, vielleicht aus der Hoffnung, dass das alles bald ein Ende nimmt. Ich setzte mich auf und blickte ihm direkt in die Augen. Ein Gefühl von Selbstbewusstsein breitete sich in mir aus.
Und es war echt. Realer konnte es nicht sein.
„Erklär mir, wieso du den anderen etwas vorspielst.“, meinte er ernst. Es schien fast so, als wollte er mit seinen Augen mir meine Gedanken aussaugen.
„Mit acht Jahren starben meine Eltern. Die ganze Zeit war ich nur am selbstbetrauern. Meine Klassenkameraden unterstützten mich so gut wie möglich. Aber ich übersah ihre Hilfe.“, ich ließ meinen Blick in der Gegend herum schweifen. „Irgendwann haben sie sich mit einem Kopfschütteln von mir zurückgezogen und verdrehten bei allen Möglichkeiten die Augen.“
Ich machte eine Pause, nahm die rauschenden Blätter wahr und betrachtete die inzwischen fast versunkene Sonne. „Irgendwann wurde es schlimmer. Zu schlimm“, fuhr ich fort. „Meistens wurde ich verachtet. Aber fast immer sahen sie mich als Opfer jeglicher Gemeinheiten.“
Florian öffnete seinen Mund um etwas zu sagen. Doch ich brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen.
„Nachdem ich die Grundschule für immer und ewig verlassen hatte, beschloss ich, dass es an der Zeit war etwas zu ändern. Möglichst alles. Was mir schließlich gelang.“
Ich blickte ihn an. „Bis du mich gesehen hast.“
Und dann, in diesem Moment, genau jetzt, geschah etwas das ich niemals, niemals für möglich gehalten hätte.
Er nahm mich in den Arm. Meine Verblüfftheit war deutlich anzumerken. Ich fühlte den Druck von seinen Armen auf meinem Rücken. Sanft erwiderte ich sie.
„Ab heute soll alles anders werden. Ich werde dir helfen.“, versprach er.
Und er hielt sein Versprechen.
Lektorat: Sarah K., Esther K.
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2012
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