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Glück und Leid eines Spechtes


(Nach einer Erzählung von Martin Singer)


Die Buche war schon morsch und alt
gerade mitten drin im Wald,
als ihr ein Glücksfall widerfuhr,
ein großes Wunder der Natur.
Ganz kleine Spechte – etwa vier –
bezogen ihre Wohnung hier.
Vor ein paar Wochen hatte gar
mit seinem Fleiß ein Spechtenpaar
ein Zimmer wirklich sehr geschickt
in diesen Buchenstamm gepickt.
Bald feierte das Paar ein Fest:
Vier Eier lagen da im Nest.
Daraus entschlüpften – schön und gut –
vier Vögelchen nach kurzer Brut.
Sie schrieen pausenlos im Takt,
denn leider waren sie noch nackt.
Der Hunger ging nicht schnell vorbei,
drum war auch laut wohl das Geschrei.
Die Eltern freuten sich beim Flug,
denn Nahrung gab es ja genug:
Mit Käfern, Würmern, Kleingetier
ernährten sie rasch alle vier.
Ja, selbst die Buche wurde jung.
Es gab ihr wieder neuen Schwung,
als neues Leben regte sich
so fröhlich und so wonniglich.
Das Spechtenpaar erhielt genug
an Futter durch den steten Flug,
das es dann brachte hin zum Nest
durch Zweige und durch das Geäst.
Es sprach sich fast von Baum zu Baum:
Den Vögelchen wuchs bald ein Flaum
von kleinen Federn auf der Haut…
Auch das Gezwitscher wurde laut.
Die Köpfe reckten sie empor,
sie schrieen hungrig wie im Chor.
Das Glück war der Familie nah,
bis etwas Schreckliches geschah:
Ein Wiesel wohnte hier im Wald,
gar flink und wendig von Gestalt.
Ganz ruhig, doch wohl nur zum Schein
lag es versteckt bei einem Stein.
Es war ein Räuber, voll von Gier,
und sicher auch ein böses Tier.
Wenn tot vor ihm ein Vogel lag,
dann war gerettet schon der Tag.
Es tötete aus purer Lust
und jubelte aus voller Brust.
Die kleinen Spechte wussten nicht,
was oft geschah bei hellstem Licht.
Sie waren ganz im Glück vereint
und dachten gar nicht an den Feind.
Nur selten waren sie allein,
so wie das Wiesel war beim Stein.
Es fürchtete das Elternpaar
und kannte gut auch die Gefahr.
Wenn ärgern musste sich der Specht,
dann war ihm jedes Mittel recht.
Die Schnäbelhiebe schmerzten sehr,
da half gewiss kein Mittel mehr.
Nun, einmal flogen beide aus
und kamen viel zu spät nach Haus’.
Das Wiesel sprang in schnellem Lauf
zum kleinen Vogelnest hinauf
und tötete mit Lust auf Blut
die wirklich arme, junge Brut.
Auch tötete es mit Genuss
auch noch die Mutter ganz am Schluss,
die ahnungslos nach Hause kam
zu ihrem Nest im morschen Stamm.
Sie taumelte am Baum hinab
und fand am Boden dort ihr Grab.
Bald kam nun heim auch Vater Specht
und legte sich den Wurm zurecht,
den er sich holte für sein Kind,
weil Kinder immer hungrig sind.
Doch, was war wirklich jetzt gescheh’n?
Das konnte er nie ganz versteh’n.
Er schrie ganz laut vor Weh und Schmerz,
dass ihm fast stehen blieb das Herz.
Am Boden sah er auch genau
den toten Körper seiner Frau.
Es war ihm schier zum Weinen fast,
als er so da saß auf dem Ast.
Doch all das Klagen half nichts mehr,
das Leid war für ihn viel zu schwer.
Aus seinem Schnabel drang ein Schrei,
der ihm fast brach das Herz entzwei.
Er flog aus diesem Walde fort,
weit weg von diesem Unglücksort,
denn schlimm ist die Erinnerung…
Sie nimmt der Kraft den ganzen Schwung.
Das höchste Glück, das tiefste Leid
sind unvergesslich alle Zeit.





Glück und Leid eines Spechtes



Die Buche war schon alt und morsch, als ihr ein seltsames Glück widerfuhr. Sie wurde zum Geburtshaus von vier Spechtenkindern. Vor etlichen Wochen hatte ein Spechtpaar in ihren dicken Stamm eine Wohnhöhle gezimmert. Darin sind dann später vier längliche, weißglänzende Eier gelegen, und nun waren eben die Jungen da: vier kleine, nackte Spechtkinder mit dicken Köpfen und weit aufgesperrten Schnäbeln. Die beiden Eltern hatten eine schier närrische Freude, die alte Buche durchlief ein freudiges Zittern, und die vier Kleinen schrieen, aber nicht vor Freude, sondern vor Hunger. Unermüdlich von morgens früh bis abends spät durchsausten nun die beiden Alten den Wald und schleppten Futter herbei: Raupen und Holzwürmer, Käfer und Puppen. Bei so guter und reicher Kost gediehen die Jungen prächtig. Zusehends wurden sie größer, dichter Flaum bedeckte ihren Leib, und immer kecker reckten sie die Köpfe empor. In Glück und Freude gingen die Tage dahin, bis - ja, bis etwas Schreckliches geschah.
Unweit der Buche lag ein großer Stein. Darunter wohnte ein Wiesel. Das war ein böses Tier. Es war schlauer als der Fuchs, flink wie ein Blitz und gewalttätig wie der Marder. Wenn ein geschlagener Junghase, eine Maus oder ein Vogel im letzten Todeszucken vor ihm lag, dann freute sich sein Herz. Es tötete nicht aus Hunger, sondern aus purer Lust am Töten. Das Wiesel hatte das Nest der Spechte entdeckt. Freilich, die Alten, die fürchtete es, die hatten so mächtige Schnäbel, aber die Brut - ein hässliches Leuchten kam in seine Augen, wenn es daran dachte - und es dachte oft daran.
Wieder einmal lauerte das Wiesel hinter einem moosigen Stein.
Ahnungslos flogen die Spechte nach Futter aus. Aber sie verließen nie beide gleichzeitig das Nest. Das ärgerte das Wiesel, doch es hatte Geduld. Und der Lohn blieb nicht aus. Einmal waren beide Spechte weg. Das Wiesel schoss empor, ein paar mächtige Sprünge, und es war oben beim Nesteingang. Arme kleine Spechte! Sie hatten kaum Zeit für einen jämmerlichen Schrei, und aus war es. Als Mutter Specht zuerst zurückkam, sah sie den Räuber und griff ihn mutig an. Blitzschnell zog er den Kopf aus dem Nestloch und biss zu. Mit aufgerissener Brust taumelte die Spechtin hinab auf den Boden und blieb rücklings liegen. Ein paarmal noch zuckten ihre Füße, ein paarmal noch schlug sie mit den Flügeln, und dann lag sie still, ganz still. Das Wiesel aber leckte sich die Schnauze und huschte davon.
Vater Specht kam mit einem dicken Holzwurm geflogen. Armer Specht, was willst du noch Futter bringen? Zuerst entdeckte er das blutige Nest, dann die tote Spechtin am Boden. Da stößt er einen Schrei aus, wie wohl noch keiner jemals aus einer Spechtkehle gekommen ist. Er fliegt hinab zum Boden, er fliegt hinauf zum Nest, unfassbar ist ihm das Schreckliche. Dann setzt er sich auf einen Ast der alten Buche und starrt vor sich hin. Hätte er weinen können, er hätte es sicher getan.
Gehst du heute hinaus zur alten Buche, du findest den Specht nicht mehr. Er ist fortgezogen aus dieser Gegend, wo ihn alles an sein höchstes Glück und an sein tiefstes Leid erinnerte.

Martin Singer

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.08.2011

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