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Die Beerdigung




Die Beerdigung



Langsam fiel der Schlaf, oder das was ich seit neuestem als Schlaf bezeichnete, dieser Trance-Zustand, von mir ab. Dennoch hielt ich die Augen geschlossen. Von einem Tag auf den anderen hatte sich mein ganzes Leben geändert. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken, jetzt noch nicht.
Ich wollte einfach noch eine Weile die entspannte Ruhe des Morgens genießen.
Leise hörte ich unten in der Küche meine Mutter das Frühstück zubereiten. Diese Geräusche wirkten so beruhigend, denn sie waren jeden Morgen die gleichen. Das leise Klappern des Geschirrs, das Zischen, das anzeigte, dass das Teewasser fertig war, das Rumoren der Kaffeemaschine und das Öffnen der Schranktüren. Doch dann wurde diese tägliche Harmonie von einem lauten Scheppern unterbrochen.
Stimmen wurden laut. Ich hörte meine Mutter „Mist!“ schreien und fast zeitgleich rief mein Vater fragend: „Was ist passiert, Schatz?“
Weinend, unfähig einen ganzen Satz herauszubringen, erklärte meine Mutter: „Die Teller.“
„Ach, lass doch, Schatz“, meinte mein Vater traurig. „Wir würden doch heute sowie nichts runter bekommen.“
„Aber…“
Nun kam ich nicht mehr umhin daran zu denken, was dieser Tag bereithielt. Die gequälten Stimmen meiner Eltern verwiesen auf das Leid dieses Tages, zeigte aber auch das Leid der vergangenen.
Von einem Tag auf den anderen war die Fröhlichkeit, die immer in diesem Haus gewohnt hatte, verschwunden, war verschluckt worden von diesem schwarzen Tuch, das nichts anderes mehr zuließ als düstere Gedanken und Trauer. Meine Eltern, mein Bruder, ja alle waren erfüllt von tiefer, alles verschlingender Trauer. Das war der Tag an dem sich mein Leben verändert hatte. Ein Todesfall überschattete die Familie und heute war die Beerdigung.
Mit einem resignierenden Seufzer öffnete ich schließlich die Augen und ließ zu, dass die Realität mich empfing. Jetzt konnte ich die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen, heute musste ich mich ihr stellen.
Traurig ging ich in den Kreis meiner Familie. Vater, Mutter und Bruder saßen im Wohnzimmer und starrten trübsinnig vor sich hin. Ich wollte ihnen sagen, dass alles wieder gut werden würde, dass die Sonne wieder scheinen würde. Doch ich fand einfach nicht die richtigen Worte dafür. Ich erinnerte mich noch zu gut an die leeren Worte, die zu mir vor knapp einem Jahr gesagt worden waren, als ich tränenüberströmt am Grab meines Großvaters gestanden hatte.
„Er ist jetzt an einem besseren Ort.“
„Es ist gut so.“
„Er war schon alt.“
„Er war krank.“
Und obwohl all diese Worte einen wahren Kern hatten, hatte ich sie gehasst. Ich hatte nicht verstehen können, warum mein Großvater mich verließ.
Und nun stand ich hier und wollte solche und ähnliche Worte zu meiner Familie sagen, um ihnen zu helfen diesen Tag zu überstehen.
Doch ich konnte nicht. Diese Worte würden nur die Wut anschüren. Damals war ich wütend gewesen, dass mein Großvater mich verlassen hatte, wo ich ihn doch so dringend brauchte und genau diese Wut konnte ich nun unter der Trauer verdeckt in den Augen meiner Familie lesen. Auch sie verstanden nicht, wieso sie verlassen worden waren, so früh.
Leise setzte ich mich zu ihnen.
Schluchzend lag meine Mutter in den Armen meines Vaters, der ihr beruhigend, aber mit tränennassen Augen über das Haar strich. Auch mein Bruder hatte rot verquollene Augen. So saßen wir stumm im Wohnzimmer und warteten, warteten auf das Unvermeidliche.
Ebenso schweigend fuhren wir zum Friedhof und standen an dem Grab. Der steinerne Engel auf dem Grabstein blickte hoffnungsvoll gen Himmel. Nur schwerlich konnte ich den Blick von ihm lösen und ließ schließlich meinen Blick über die versammelte Gesellschaft schweifen. Da waren meine Familie, Verwandte, die nur zu besonderen Anlässen erschienen, aber ich sah auch einige meiner Mitschüler und Menschen, die mir zwar bekannt vorkamen, von denen ich aber nicht mehr wusste, wo ich diese gesehen hatte. Dann kehrte mein Blick zurück zu dem Grabstein und dem so hoffnungsvoll, so einladend in den Himmel blickenden Engel.
In diesem Moment breitete ich meine Flügel aus.

Die Busfahrt




Die Busfahrt
- Fünf Tage die Woche -



Montag Morgen. 5.50 Uhr. Ich stehe hier in der Kälte und friere mir alles ab. Das einzig Gute ist, dass es nicht mehr schneit, hat Sonntagnachmittag aufgehört. Wenn es immer noch schneien würde, wäre jetzt voll das Chaos auf den Straßen. Aber zum Glück ist es ruhig. Es scheint nicht mal glatt zu sein. Es ist nur extrem kalt. Doch ich muss nicht lange warten. Kaum eine Minute später höre ich dieses unverwechselbare Pfeifen und mein Bus taucht in der Kurve auf. Schnell gehe ich die paar Meter vom Bushäuschen zur Hauptstraße und schaue sicherheitshalber nochmal auf meinen Busausweis. Steckt die richtige Monatskarte drin? Hab ich die Nummer reingeschrieben? Aber alles ist okay. Wäre auch nicht so schlimm gewesen, wenn ich es vergessen hätte. Schmidt – der Busfahrer – scheint mich zu mögen oder aber es ist, weil er an einer Hauptstraße nicht so lange halten darf. Und ein ordentlicher Wutanfall braucht seine Zeit.
Zischend geht die Tür auf. Kaum habe ich die paar Stufen genommen, mein „Guten Morgen“ gesagt und ihm den Busausweis unter die Nase gehalten, schließt er die Tür schon wieder und fährt eine scharfe Linkskurve.
Mich an den Sitzen festhaltend, schwanke ich zu meinem Stammplatz. Zweite Reihe links, vor der hinteren Tür. In diesem Bus hat jeder seinen Stammplatz. Na ja, wenigstens bis Allersberg. Die Allersberger müssen sich die wenigen verbliebenen Plätze teilen und sich dann mit den Stehplätzen zufrieden geben. Aber ich habe kein Problem meinen Platz zu ergattern. Vor Schönbrunn war der Bus erst in zwei Käffern. Es sitzen nur fünf Leute drin.
Ich mache es mir auf meinem Sitz bequem. Die Knie gegen den Vordersitz gestemmt, mit den Füßen einen Gurt meiner Schultasche haltend, liege ich in dem Sitz.
Obwohl nach dem nächsten Kaff nun zehn Personen im Bus sitzen, hört man nur das Radio. Bayern 1. Brr. Grauenhaft. Und das in der Früh, kurz nach sechs.
Im nächsten Dorf endlich steigen mehr Schüler ein und fröhliches Geplapper wird laut, was glücklicherweise den nächsten schrecklichen Song von Bayern 1 übertönt.
Gehorsam zeigen alle den Busausweis vor.
„Halt!“, höre ich Schmidt befehlen und sehe auf.
Martin kommt ertappt zurück.
Schmidt reist ihm den Busausweis aus der Hand und betrachtet ihn eingehend. „Was haben wir heute?“
Entnervt antwortet der Junge: „Dezember.“
„Und was ist das?“ Schmidt deutet auf den Busausweis.
„November. Ich hab’s vergessen, okay.“ Martin wird wütend.
Es war jeden Monat das gleiche Spiel. Jeden Monat vergisst jemand die Karte zu ändern, jeden Monat gibt es einen Wutanfall von Schmidt.
„Da sagt man „Guten Morgen“ und „Entschuldigung, ich habe es vergessen“ und schleicht nicht einfach an mir vorbei.“, raunzt Schmidt. Er schimpft noch weiter über die Jugend von heute und wie schlecht erzogen wir doch alle sind. Doch Martin lässt ihn einfach stehen und sucht sich seine Platz.
Ein kleines Mädchen, 5. Klasse, kommt als nächstes, zeigt ihren Busausweis – anscheinend mit richtiger Monatskarte – und will wortlos an ihm vorbei gehen.
„Man sagt „Guten Morgen“!“, schnauzt Schmidt.
Verschreckt geht das Mädchen schnell nach hinten weiter.
Wegen dem Fahrplan muss der Bus noch 5 Minuten warten, obwohl schon längst alle eingestiegen sind. Alle, bis auf eine. Meine Freundin Regina fehlt – wie immer. Die paar Mal, die sie pünktlich gekommen ist, kann ich an einer Hand abzählen und das eine Mal war auch noch ein Versehen. Sie hatte vergessen nach der Zeitumstellung ihren Wecker umzustellen und war eine Stunde früher wach.
Müde schaue ich aus dem Fenster, höre den Gesprächen der anderen zu und warte. Doch Regina kommt nicht. Aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf. Erst wenn wir da vorne um die Ecke gefahren sind, glaube ich es, dass sie nicht kommt. Und ich werde nicht enttäuscht.
Wir sind kaum ein paar Meter gerollt, da schreit Martin schon von hinten „Da kommt noch wer!“
Schmidt bremst. Es ist keine scharfe Bremsung. Er scheint auch schon auf so was gewartet zu haben. Genau genommen, wäre es auch eher ungewöhnlich gewesen, wenn es anders gewesen wäre.
Alle im Bus grinsen, als Regina zur Tür rennt.
Schmidt wartet bis sie vor der Tür steht, bevor er diese öffnet und die kühle Luft in den viel zu stark beheizten Bus lässt. Aber wir können uns glücklich schätzen. Denn normalerweise verwechselt er Heizung und Klima. Normalerweise müssten wir jetzt wegen der Klima frieren. Im Sommer ist das natürlich umgekehrt und er macht die Heizung statt der Klima an. Ich weiß nicht, ist er wirklich so blöd oder macht er es nur um uns zu ärgern.
„6.15 Uhr Abfahrt heißt 6.15 Uhr Abfahrt“, holt mich Schmidt aus meinen Gedanken.
„‘tschuligung.“, keucht Regina, geht ohne dass er sie aufhält wegen Busausweis oder fehlendem „Guten Morgen“ nach hinten durch und lässt sich auf den Sitz neben mir sinken.
„Hallo“, grinse ich sie an.
Sie grinst zurück.
Keuchend legt sie sich wie ich in den Sitz. Aber selbst wenn sie wieder bei Atem ist, werden wir wahrscheinlich nicht weiter miteinander reden. Normalerweise holt sie irgendwelche Schulsachen raus – Englischvokabeln, die sie noch nicht gelernt hat, Erdkunde, was sie wieder mal vergessen hat – oder sie legt sich hin und schläft weiter. Das war schon immer so. Schon seit sie sich am ersten Schultag in der 5. Klasse neben mich gesetzt hat.
Gerade fahren wir durch ein kleines Waldstück. Jetzt können wir wieder ziemlich beruhigt sein. Jetzt, da Schmidt hier letzte Woche ein Reh zusammengefahren hat. Ich fahre nun seit elf Jahren mit diesem Bus, elf Jahre der gleiche Busfahrer, obwohl man bereits bei meiner Einschulung gesagt hat, dass er bald in Rente geht – was er aber nicht getan hat. Und in diesen elf Jahren ist mir eine erschreckende Regelmäßigkeit aufgefallen. Jedes Jahr im Winter fährt Schmidt ein Tier zusammen. Das haben wir jetzt hinter uns. Der nächste regelmäßige Unfall ist dann erst wieder im Sommer. Das ist dann ein größerer. Entweder ein Zusammenstoß mit einem Auto oder ganz beliebt sind auch Scheunentore. Die scheinen ihn ja magisch anzuziehen. Aber egal, bis zum Sommer ist noch eine Weile hin.
Ich hänge noch ein wenig meinen Gedanken nach, denke an den bevorstehenden Tag, an alles, was ich vergessen habe zu lernen oder vergessen wollte, doch dann halten wir in Allersberg. Auch hier ist jeden Tag das gleiche Spiel. An der Haltestelle hält vor uns schon ein anderer Bus, oft sehen wir ihn auch noch. Alle die nicht in den Bus reingepasst haben, müssen bei uns mit und das will keiner.
Wenn wir an die Haltestelle kommen, drängen sich die Verbliebenen um die Tür. Sie wissen, es sind nur noch wenige Plätze frei und der Rest muss stehen. Und das ist bei Schmidts Fahrweise nicht gerade empfehlenswert. Vollbremsungen an Ampeln sind keine Seltenheit, im Gegenteil, sie sind normal.
Also drängen die verbliebenen Allersberger an die Tür, um die letzten Plätze zu ergattern.
Doch Schmidt macht nicht auf. Eigentlich müssten die Allersberger das schon wissen. Aber es ist jeden Tag das gleiche. Erst wenn sie einen Schritt zurückgehen, öffnet er die Tür.
Die Allersberger scheint Schmidt überhaupt nicht zu mögen. Er schnauzt sie an wegen fehlenden Busausweisen, falschen Monatskarten, fehlenden Nummern (angeblich ist die Monatskarte ungültig, wenn nicht die Nummer vom Busausweis drinsteht) und auch, weil sie beim Einsteigen den Bus mit ihren Taschen zerkratzen.
Schmidt grummelt auch noch vor sich hin, als wir schon längst aus Allersberg raus sind, als bereits die Polsdorfer zusteigen.
„Weiter nach hinten!“, befiehlt er über Mikrofon den stehenden Allersbergern.
Die drücken sich noch enger zusammen, um Platz zu machen für die sieben Polsdorfer, die auch noch rein müssen.
Entnervt stöhne ich auf. Er hat es schon wieder getan. Eigentlich kann man damit rechnen, sobald er das Mikrofon anmacht. Er vergisst es auszumachen. Nicht einmal der Lärm des mittlerweile vollgestopften Busses kann Bayern 1 jetzt noch übertönen.
Aber es dauert nicht lang, dann ruft Martin schon von hinten: „Schmidi – machs Mikro aus!“
Aber er reagiert nicht. Weiter vorne sitzen 5. Klässler, die sagen es Schmidt noch einmal freundlicher und Bayern 1 verstummt.
Ein Dorf noch auf unserer Liste und schon als wir zu dem Dorf fahren, weiß ich, dass er es wieder einmal vergessen wird. Er fährt viel zu schnell. Grashof liegt an der Hauptstraße. Heißt also nur Halten, einsteigen lassen, weiterfahren. Und genau da liegt das Problem. Schmidt muss nicht durch das Dorf fahren.
Wir fahren fünfmal die Woche diese Strecke, dreimal vergisst er mindestens zu halten. Aber auch die Polsdorfer, die ganz vorne stehen merken, dass er wieder einmal viel zu schnell ist. Schon vor der Vollbremsung sagen sie ihm „Grashof“ und das reicht ihm schon. Er erinnert sich, bremst scharf – keine Vollbremsung, sondern nur scharf – und lässt die drei Grashofer einsteigen.
Aber der Bus ist voll, war es schon in Allersberg. Letztendlich schaffen es die Grashofer sich auf 1 ½ Stehplätze zu quetschen.
Dann geht es weiter zur nächsten und letzten Station: Busparkplatz von Gymnasium und Realschule in Hilpoltstein.
Nach dieser fast einstündigen Fahrt werden wir immer noch eine halbe Stunde zu früh zur Schule kommen. Doch irgendwann findet man sich damit ab. Irgendwann hört man auf, sich zu ärgern, dass man von Schönbrunn nach Hilpoltstein mit dem Auto nur eine Viertelstunde braucht.
Aber nicht mehr lange. Dieses Schuljahr noch und ich darf endlich allein Auto fahren. Solange muss ich noch aushalten. Dann sind zwölf Jahre Busfahrt vorbei.

Das hässliche Entlein




Das hässliche Entlein


Ich sitze in einer der langweiligsten Geschichtsstunden des Universums. Also echt, ich glaub‘, mein Lehrer will seinen eigenen Rekord im Monogolieren brechen. Schönes Wort, nicht? Hab‘ ich mir grade ausgedacht. Oder gibt‘s das schon? Wenn nicht, sollte man es möglichst bald einführen. Mein Lehrer ist schon Grund genug dafür.
Gelangweilt beobachte ich den Meyer wie er vor der Klasse auf- und abgeht und redet und redet und redet. Blablabla. Kurz hör‘ ich hin. Nein, lohnt sich nicht. Er ist immer noch beim gleichen Thema. Kriegsführung im 1. Weltkrieg. Bäh. Er erklärt gerade irgendeine Heeraufstellung. Das interessiert mich jetzt ja mal überhaupt gar nicht.
Ich schau‘ meine Klasse an, guck‘, ob es ihnen genauso geht. Alle wirken müde, abwesend. Julia schläft sogar – versteckt hinter ihrem Buch – auf dem Tisch.
Und dann – ich kann’s nicht glauben. Schnell schau‘ ich noch mal zum Meyer. Doch der sieht‘s nicht. Ist der blind? Elisabeth sitzt da, den kleinen Schminkspiegel in der Hand und pudert sich das hochfeine Näschen nach.
Mit ´nem Seufzer dreh‘ ich mich wieder nach vorn. Ich hätt‘ nie, nie, nie die Schule wechseln sollen. Aber ich musste ja unbedingt von der Hauptschule auf die Realschule wechseln. Eine Klasse wiederholen, was Dümmeres hätt‘ mir gar nicht einfallen können. Das hab‘ ich jetzt davon. Eine Klasse voller Tussen.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken und bringt den Meyer endlich zum Schweigen.
„Herein“, ruft die Klasse im Chor. Ich muss grinsen, die Freude hört man uns richtig an.
Der Direktor öffnet die Tür.
„Ah, Herr Direktor, was verschafft uns denn die Ehre? Wir sind gerade sehr beschäftigt.“
Bäh, wie schleimig. Hoffentlich rutscht der Meyer nicht auf seiner eigenen Schleimspur aus.
„Na, dann will ich auch nicht lange stören.“ Der Direktor geht ins Klassenzimmer und hinter ihm kommt ein Junge herein.
Alle fangen an zu flüstern und hätt‘ ich jemanden gehabt, hätt‘ ich mit geflüstert. Ehrlich. Der Junge ist süß. Ich meine, wirklich ober-mega-hammer-süß. Er ist blond, hat ein schiefes Grinsen auf den Lippen und … einfach nur wow. Er hat abgewetzte Hosen an und ein Hemd. Nicht bis oben hin zugeknöpft wie die Streber, sondern ein paar Knöpfe offen.
„Das hier ist Jan Seger. Er wird ab jetzt in eure Klasse gehen. Seid nett zu ihm.“ Lächelnd droht der Direktor mit dem Zeigefinger und macht ´nen Abgang.
Jan bleibt schüchtern an der Tafel stehen.
Doch der Meyer macht einfach weiter mit seinem Monolog, schaut gar nicht auf ihn. Also echt, so was kann man doch nicht bringen. Ich erinnere mich noch gut, an meinen ersten Tag in der neuen Klasse. Grauenhaft. Ehrlich. All die Blicke die dich anstarren. Und wenn dann auch noch einer zum Lachen anfängt – Elisabeth wer sonst – glaubst du, obwohl du es nicht weißt, dass über dich gelacht wird. Albtraum!
Und jetzt steht Jan da vorne und weiß nicht, was er tun soll. Ich hab‘ Angst. Doch schnell, bevor ich weiter drüber nachdenken kann, heb‘ ich meine Hand und wink‘ Jan zu mir. Was werden wohl die anderen denken? Aber neben mir ist nun mal der einzige freie Platz. Sollen sie doch denken was sie wollen. Doch das hilft nicht. Ich schau‘ mich trotzdem schüchtern um, was für Blicke mir zugeworfen werden. Doch zum Glück kleben alle an Jan. Der grinst mich kurz an und setzt sich neben mich. Ich lächel‘ schüchtern zurück und schau‘ schnell wieder weg. Doch nicht für lange. Ich kann einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Ich beobachte, wie das Licht sein blondes Haar zum Leuchten bringt, wie Jan gelangweilt den Meyer abcheckt, unser Klassenzimmer, unsere Klasse. Nur mich, mich sieht er nicht mehr an.
Ich will ihn ansprechen. Du schaffst das, Marie. Es ist doch nichts dabei. Doch mir fehlt der Mut. Aber in der Pause mach‘ ich‘s. Verlegen mal‘ ich die Kästchen in meinem Geschichtsheft aus.
Endlich! Es läutet zur Pause und beendet den endlosen Monolog vom Meyer. Ich dreh‘ mich zu Jan, öffne den Mund und pack‘ mit hochrotem Kopf meine Tasche. Marie, jetzt sei mal nicht so eine Memme!, schimpf‘ ich mit mir selbst und dreh‘ mich nochmal zu Jan. Doch zu spät. Schon hat sich die Klasse wie Geier auf Jan gestürzt und bombardiert ihn mit Fragen.
Wütend stürme ich aus dem Klassenzimmer. Na super, Marie! Hast du mal wieder toll hingekriegt. Du bist echt der Bourner. Wieso hast du ihn nicht in Geschichte angelabert? Jetzt brauchst du’s gar nicht mehr probieren. Aber Jan war doch so süß. Aber jetzt ist‘s zu spät. Das machen jetzt die anderen Mädchen, die hübscher sind. Jan kannst du dir abschminken, der schaut dich nicht mehr an. Super Marie, wirklich super!
Ich fühle mich wie das hässliche Entlein in der Geschichte. Nur werd‘ ich mich nie in einen schönen Schwan verwandeln.
Im Pausenhof stell‘ ich mich in eine Ecke und guck‘ mir das Gewusel an. Normalerweise gefällt es mir andere Personen zu beobachten. Das ist manchmal wirklich interessant. Doch heute nicht.
Missmutig schau‘ ich über den Pausenhof. Ich bin immer noch wütend auf mich. Einmal, wenn ich einen Jungen wirklich süß find‘, trau‘ ich mich nicht mit ihm zu reden. Ich bin ein verdammter Angsthase.
Und dann seh‘ ich ihn – Jan. Er steht in einer Horde Modepüppchen aus meiner Klasse. Elisabeth erzählt irgendetwas und fummelt die ganze Zeit an Jan rum, fährt ihm übers Haar, zupft an seinem Hemd herum und tippt ihn immer und immer wieder an. Igitt, schon beim Zuschauen wird mir schlecht.
Aber Jan scheint‘s zu gefallen. Ich hör‘ sein Lachen über den ganzen Pausenhof. Traurig schau‘ ich weg. Es ist zu spät. Ich habe keine Chance mehr.
Langsam schlurfe ich ins Klassenzimmer zurück. Jan ist jetzt in den Fängen der Perfect Ladies. Was soll er dann noch mit mir anfangen? Wer will schon ein hässliches Entlein, wenn er Schwäne haben kann? Na ja, ich geb’s zu, die sind zwar nicht die Schlausten, aber was soll’s. Es scheint ja zu reichen, wenn man schön ist. Es ist so unfair. Klar gibt’s auch noch andere Jungs in meiner Klasse. Aber die sind alle abgehoben. Streber untertreibt noch maßlos. Mit denen nur zu reden ist schon lebensgefährlich. Die Gefahr vor Langeweile zu sterben ist noch größer als in ´ner Geschichtsstunde beim Meyer. Sie haben nur drei Themen. Schule. Modelflugzeuge. Computer. Ihhh!
Jan hat anders ausgesehen, hat nicht so gewirkt, als würde er zu den Strebern gehören. Wenn ich schon mit den Mädels der Klasse nicht reden kann, dann doch wenigstens mit den Jungs. Was ist schon dabei? Ich hatte in meiner alten Schule auch einen Jungen als besten Freund. Da hatte ich allerdings auch noch Freundinnen. Aber egal. Hier hab‘ ich nichts davon. Meine Mutter sagt immer, es ist schwer in einen eingeschworenen Klassenverband hineinzukommen. Pah, sie hat ja keine Ahnung. Es wär‘ wahrscheinlich auch kein Problem gewesen, wenn ich mich nicht so dumm angestellt hätte. Aber ich war so aufgeregt an meinem ersten Tag in der neuen Schule und hab‘ nicht aufgepasst wo ich hinlaufe. Und dann hab‘ ich genau Elisabeth über den Haufen rennen müssen. Leider in dem Moment, in dem sie ihre Trinkflasche – irgendetwas Rotes – aufgemacht hat. Sie war so wütend, obwohl ich mich immer und immer wieder bei ihr entschuldigt hab‘. Irgendwie war das ja ganz verständlich. Auf ihrem T-Shirt hat sich ein unschöner roter Fleck ausgebreitet. Dann ist sie davon stolziert. Leider hab‘ ich sie gleich drauf wieder gesehen, als ich in meine neue Klasse kam. Schon ihr hinterhältiges Lächeln hat mir gesagt, dass das noch ein Nachspiel haben wird. Und das hat es. Jeder, der auch nur mit mir redet, wird von Elisabeth fertiggemacht, so wie sie mich schickaniert. Jetzt ignoriert mich jeder.
So blieb mir nichts anderes übrig, als in der Schule aufzupassen. Ehrlich, was Schlimmeres gibt’s nicht. Zuhören, ohne dass man mal nebenbei mit ´ner Freundin quatschen kann. Meine Noten wurden immer besser. Meine Mutter war ganz aus‘m Häuschen. Ja, es ist super gute Noten zu haben wegen Zukunft, Job und so. Doch für Elisabeth war das ein gefundenes Fressen.
„Sie mal da, der kleine Streber.“ „Schon die anderen Streber kennengelernt?“ „Für Streber verboten!“ Blablabla.
Ich werd‘ aus meinen Gedanken gerissen, als sich Jan neben mich setzt.
Ich schau‘ kurz hin, doch er guckt weg, kramt in seiner Tasche. Soll ich ihn ansprechen? Nee, rentiert sich nicht mehr. Elisabeth hat bestimmt alles Mögliche über mich erzählt. Natürlich nichts Gutes. Diese Hexe. Und das alles nur wegen ´nem Saftfleck.
Vielleicht spricht er mich ja an. Daran glaub‘ ich ganz fest. Doch nichts passiert.
Wir sitzen den ganzen Tag nebeneinander, aber er probiert‘s nicht mal.
Endlich klingelt es. Ich spring‘ auf und will schon aus dem Klassenzimmer rennen – ich will nur noch Heim! – da werd‘ ich von Elisabeth aufgehalten. Mist!
„Hey, Marie!“
Ich schließ‘ die Augen, denk‘ mir „Cool bleiben, alles ok.“ und dreh‘ mich um. Da steht sie, die Königin der Klasse, in ihren Markenklamotten. Blond, blau, blöd triffst wohl ziemlich genau.
„Würdest du mit mir Platz tauschen?“ Auch wenn‘s noch so freundlich gefragt ist, kann‘s doch nicht den Blick verbergen, der zeigt, dass Elisabeth alles bekommt, was sie will. Notfalls würde sie eben zum Lehrer gehen und den überzeugen, dass es lebenswichtig war, dass sie genau auf dem Platz sitzt.
Doch mir ist‘s egal. Ich will keinen Ärger. Ich hab‘ genug.
„Tu was du nicht lassen kannst.“, sag‘ ich schulterzuckend.
„Das werde ich bestimmt.“ Schon ihr Tonfall macht deutlich, dass sie Hintergedanken hat.

Schon wieder Schule. Warum gehen die Nachmittage nur immer so schnell rum? Doch ich kann’s nicht ändern. Ich darf ja auch nicht daheim bleiben. Ohne eine kräftige Grippe oder was vergleichbar Schlimmes schickt meine Mutter mich immer in die Schule. Schwänzen ist nicht. Aber ich würd‘ so gern.
Ich geh‘ zu meinem neuen Platz in der letzten Reihe und setz‘ mich.
„Was machst du denn hier?“, fragt Antonia herablassend.
„Ich sitze“, will ich genervt antworten. Was für ´ne blöde Frage. Doch ich schaff’s gerade noch die Klappe zu halten. Stattdessen sag‘ ich: „Ich hab‘ mit Elisabeth Platz getauscht.“
Und weg ist Antonia. Mit den anderen beratschlagen, was man mit der Streberin macht. Am Schluss sitzt sie dann doch neben mir, ignoriert mich aber vollkommen. Aber das bin ich ja gewöhnt. Was soll’s? Manchmal ist ignorieren besser, als die Lästereien, die sonst kommen.
Elisabeth stolziert in die Klasse, zieht alle Augen auf sich und lässt sich dann mit einem siegreichen Grinsen auf den Stuhl neben Jan sinken. Sofort beginnt sie mit Jan zu reden oder eher auf ihn einzureden, denn antworten seh‘ ich ihn gar nicht.
Ich fang‘ wieder an Bilder in mein Matheheft zu malen, aus lauter Langeweile. Der Hügel versucht Mathe für jeden verständlich zu machen. Doch damit ist er in der Klasse falsch. Ich hab’s schon vor Stunden geschnallt, aber die Perfect Ladies sind ja nicht die Schlausten. Deswegen erklärt der Hügel zum x-ten Mal, wie das mit dem Dreisatz funktioniert. Also wirklich, so schwer ist das doch nicht. Aber das ist schon zu hoch für die Ladies. Sie probieren noch nicht mal zuzuhören oder wenigstens leise zu schwätzen.
„Ich erwarte die nötige Arbeitsatmosphäre und Konzentration!“
Erwarten kann er viel, ob er‘s bekommt ist eine andere Frage und natürlich kriegt er‘s nicht.
„Elisabeth!“, droht der Hügel schon kurz drauf.
„Sorry.“, antwortet Elisabeth. Sie versucht so auszusehen, als ob es ihr leid tut, dass sie die ganze Zeit geschwätzt hat.
„Da hat der Maurer ein Loch gelassen.“ Er deutet zur Tür. Ich muss grinsen. Ob Elisabeth das versteht? Geht sie wirklich raus?
Nein, macht sie natürlich nicht.
„Ja, das ist aber zu.“, sagt sie stattdessen.
„Typisch Frauen, immer das letzte Wort.“
„Ja, das haben ja jetzt Sie.“
Kopfschüttelnd erklärt der Hügel weiter.
Ich bin grade mit meinem Bild fertig geworden – Sonne, Insel, Palmen, Meer – da flippt der Hügel aus.
„Elisabeth, jetzt reicht’s! Wenn du es schon nicht verstehst, halt wenigstens den Mund und hör zu!“
„Ja, Herr Hügel.“, antwortet Elisabeth. Es klang aber eher nach „Leck mich am Arsch!“
Der Hügel gab sich damit zufrieden. Elisabeth war auch tatsächlich ruhig. Aber nicht lang, höchstens ´ne Minute und dann redet sie schon wieder auf Jan ein.
„Jetzt ist das Maß voll, Elisabeth. Wenn du nicht zuhören willst, gib wenigstens den anderen eine Chance es zu verstehen. Aber auch du musst es verstehen, deswegen wirst du es daheim nacharbeiten.“ Der Hügel greift zum Mathebuch und fängt‘s blättern an. „Okay bis morgen wirst du … die Aufgaben auf Seite 23 machen und zwar alle. Ach ja und die Hausaufgabe wirst du natürlich auch machen.“ Und da der Hügel Elisabeth kennt, fügt er hinzu: „Wenn du es morgen nicht abgibst, werde ich einen Brief an deine Eltern schreiben.“
Nicht grinsen, Marie!, befehl‘ ich mir und beiß‘ mir verzweifelt auf die Lippe. Aber es ist schwer. Elisabeth ist blass geworden. Schon allein die Drohung mit ihren Eltern zeigt Wirkung. Elisabeths Eltern sind – soweit ich erfahren hab‘ – stinkreich, aber sie halten ganz viel auf das Äußere. Alles soll perfekt sein. Auch ihre Tochter. Vielleicht konnte Elisabeth nicht anders als so eine Zicke zu werden. Aber ein Brief vom Lehrer ist nicht perfekt. Das würde Ärger geben.
Und tatsächlich ist Elisabeth den Rest der Mathestunde über ruhig. In der nächsten Stunde – Englisch – beginnt sie zwar wieder zu schwätzen. Ganz nach‘m Motto: „Neuer Lehrer, neues Glück“. Aber sie übertreibt‘s nicht mehr so.
Gut gelaunt geh‘ ich nach Hause. Endlich Schluss! Ich hab‘ den Tag überstanden ohne irgendwelche Lästereien und dann ist auch noch Elisabeth bestraft worden. Super Tag, find‘ ich. Elisabeth ist da bestimmt andrer Meinung.
Auch die nächsten Tage – es sind fast zwei Wochen – sind ziemlich okay. Alle kümmern sich um Jan und lassen mich in Ruhe. Fast keine Lästereien.

Dann kommt der Tag, der alles wieder verändern sollte. Ich steh‘ in der Pause und beobachte gerade drei 5. Klässlerinnen beim Seilhüpfen. Es scheint ihnen Spaß zu machen.
„Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden … Wie viel Kinder wirst du kriegen? Eins, zwei, drei …“, hör‘ ich sie singen. Aber sie schaffen nie länger als ein paar Umdrehungen, weil die Schwinger einfach viel zu schnell sind. Doch das ist denen egal. Außerdem ist es ja besser später mal nicht so viele Kinder zu haben.
„Hi“, hör‘ ich hinter mir eine bekannte Stimme. Erschrocken dreh‘ ich mich um.
„Hi“, sagt Jan noch mal grinsend. „Du gehst doch auch in meine Klasse?“
Blöde Frage nach zwei Wochen in der gleichen Klasse, trotzdem sag‘ ich: „Ja.“ Mein Herz klopft so laut. Ob er‘s hört? Jan spricht mit mir! Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder doch lieber Angst haben soll.
„Du heißt Marie, oder?“, fragt er.
Ich nicke nur. Ich glaub‘, ich sollte lieber Angst haben. Er ist mit Elisabeth befreundet. Er kennt alle Lügengeschichten. Ja, ich sollte Angst haben. Können Jungs lästern? Ich weiß es nicht, aber sie können sicher was andres. Meine Gedanken überschlagen sich.
„Ich … also … ähm … es ist schwer sich mit jemanden zu unterhalten, wenn der andre nichts sagt.“, stottert Jan.
Will er wirklich mit mir reden?
„Was willst du?“, frag‘ ich schroff. Okay, das ist vielleicht unfair. Aber es tut weh, wenn man hofft, dass alles anders wird und dann doch alles beim Gleichen bleibt. Ich weiß das.
„Ich will mich mit dir unterhalten.“
„Okay, dann rede!“
Und tatsächlich fängt Jan an zu reden, über sich, seine Familie, wo er herkommt.
Er lässt sich nicht vertreiben, auch wenn ich noch so zickig bin, muss ich schließlich einsehen und beginne leicht zu hoffen. Nur ein ganz klein wenig. Vielleicht will er ja wirklich nur Reden. Vielleicht hat er keine Hintergedanken.
Jan hat aufgehört zu reden. Hilflos sieht er mich an. Wenn ich jetzt nichts sag‘, geht er wieder und ich hab‘ nicht rausgefunden, ob er‘s vielleicht einfach nur gut gemeint hat.
„Wie gefällt‘s dir an der Schule?“, frag‘ ich ihn endlich.
Jan grinst. „Eigentlich ganz gut und ich glaub‘ es wird immer besser.“
Ich versteh‘ nicht, was er damit meint, aber ich krieg‘ keine Zeit drüber nachzudenken. Denn jetzt fängt er an mich mit Fragen zu löchern, die ich mehr oder weniger freiwillig beantworte.
Dann klingelt es plötzlich. Geschockt stell‘ ich fest, dass wir die ganze Pause miteinander geredet haben. Und er hat mich nicht ein einziges Mal aufgezogen oder über mich gelästert (ich weiß immer noch nicht, ob Jungs das überhaupt können).
Ich geh‘ mit einem ganz seltsamen Gefühl ins Klassenzimmer zurück. Ich bin glücklich, glaub‘ ich jedenfalls.
Der Unterricht zieht an mit vorbei. Also echt, ich hab‘ kein einziges Wort mitgekriegt. Immer und immer wieder schau‘ ich zu Jan. Aber Elisabeth redet auf ihn ein.
In der nächsten Pause steh‘ ich wieder in meine Ecke und guck‘ auf die anderen Schüler. Aber irgendwie seh‘ ich sie gar nicht. Und wenn ich ehrlich bin, wart‘ ich auf Jan. Auch wenn ich nicht hoffen wollt‘, dass sich irgendetwas ändert, tu‘ ich es jetzt doch. Es war einfach zu schön mal wieder mit jemanden zu quatschen. Aber Jan kommt nicht.
Traurig sitz‘ ich die letzten zwei Stunden ab. Du darfst nicht glauben, dass es besser wird, schimpf‘ ich mit mir. Du weißt doch, dass sich nichts ändert. Das hast du jetzt davon, Marie!
Am nächsten Tag rede ich mir ein – oder versuch‘s wenigstens, mit ganz wenig Erfolg – dass es okay ist, dass Jan nur einmal mit mir geredet hat. Aber es klappt nicht wirklich.
Und dann grinst er mich auch noch an, als ich ins Klassenzimmer komm‘. Was soll denn das schon wieder?
Die ganzen Zeit denk‘ ich jetzt darüber nach, versau‘ mal so nebenbei mein Kunstbild – sah es vorher noch ganz okay aus, sieht’s jetzt aus, wie von ´nem Grundschüler. Aber was soll’s? Wichtig ist jetzt nur: Was hat Jan vor? Aber ich komm‘ nicht dahinter.
In der Pause steh‘ ich wieder allein. Und auch wenn ich es nicht wollt‘, hoff‘ ich schon wieder, dass Jan kommt.
Die Pause ist schon fast rum, da keucht Jan plötzlich hinter mir: „Sorry.“
Ich lächle ihn an. Ich bin überglücklich. Hoffentlich sieht man‘s nicht so.
„Sorry. Aber Elisabeth hat einfach nicht die Klappe gehalten.“
In den letzten paar Minuten vor Ende der Pause schafft es Jan, mich zum Lachen zu bringen. Wahnsinn! Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal in der Schule gelacht habe. So wirklich.
„Marie Schmidt, bitte zum Sekretariat!“, plärrt die Sekretärin in den Lautsprecher.
Ich verdreh‘ die Augen. Warum gerade jetzt? Wehe, wenn‘s nicht wichtig ist.
„Ich muss gehen.“
Im Sekretariat stellt sich heraus, dass der, der mich ausrufen ließ, nicht mehr da war. Schon wieder!
Elisabeth! Wütend stapfe ich ins Klassenzimmer zurück. Warum fall‘ ich eigentlich immer wieder drauf rein? Ich weiß doch, dass das nur Scherze von Elisabeth sind. Hat sie ja schließlich schon oft genug gemacht. Wahrscheinlich kugelt sie sich vor Lachen über meine Blödheit.
Als ich ins Klassenzimmer komm‘, bleib‘ ich erstmal geschockt stehen. Was soll denn das? Schnell geh‘ ich zu meinem Platz. Am liebsten wär‘ ich gerannt, doch das wär‘ ja dann doch zu auffällig.
„Was tust du hier?“, frag‘ ich – ja wie? Einerseits bin ich glücklich, Jan hier sitzen zu sehen, aber andererseits und das ist sehr, sehr viel stärker, hab‘ ich Angst. Was wird Elisabeth machen, wenn sie das sieht?
„Ich sitze.“, antwortet Jan verständnislos und grinst. Ein richtig süßes Grinsen.
„Das seh‘ ich. Aber du sitzt falsch.“ Beinahe panisch guck‘ ich mich nach Elisabeth um. Was wird sie machen, wenn sie Jan hier sieht?
„Willst du nicht, dass ich neben dir sitz‘?“ Das süße Lächeln verschwindet. Nun sieht Jan ziemlich verletzt aus.
„Nein. … Doch … Aber Elisabeth …“ Verwirrt setz‘ ich mich hin. Ich kann nicht sagen, was ich will. Ich weiß es nicht. Ich hab‘ Angst davor, was Elisabeth macht, wenn sie Jan neben mir sieht, aber ich will ihn auch nicht wieder weglassen.
„Ach, du meinst die Eiskönigin.“
„Eiskönigin?“ Ich seh‘ wahrscheinlich nicht gerade wie die Schlauste aus, wie ich Jan so anstarr‘.
Er grinst. Also seh‘ ich tatsächlich so doof aus, wie ich mich fühl‘. „Ja, sie ist so kalt und berechnend.“ Jan schaudert gespielt, was mich zum Lächeln bringt.
„Naja, als Eiskönigin würde ich sie nicht gerade beschreiben.“, mein‘ ich zögerlich.
Wenn man vom Teufel spricht. Schon kommt Elisabeth ins Zimmer. Und was sieht sie als erstes? Dumme Frage! Uns.
Elisabeths Augen scheinen Blitze abzufeuern. In dem Moment bin ich wirklich froh, dass Blicke nicht töten können, denn dann wär‘ ich wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen.
„Du hast Recht!“, meint‘ Jan neben mir. „Eiskönigin passt nicht so ganz. Sie kommt direkt aus der Hölle.“ Jan sagt das mit so ernster Stimme, dass ich gar nicht anders kann als zu Lachen. Was aber ehrlich gesagt das blödste war, was ich tun konnte. Es macht Elisabeth nur noch wütender. Super hingekriegt, Marie! Wirklich einmalig wie du das immer schaffst!
Elisabeth stürmt auf uns zu. Selbst da sieht sie noch ladylike aus.
„Was fällt dir ein? Ich habe ihn zuerst gesehen.“, zickt sie mich an.
„Ich …“, stottere ich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dass es mir leid tut, vielleicht? Oder dass es nicht so ist wie‘s aussieht? Aber wonach sieht‘s denn aus? Jan sitzt neben mir und bringt mich zum Lachen. Okay, das sieht wirklich nicht gut aus. Niemand, wirklich niemand darf mit Elisabeths Freunden reden, der nicht zu ihrer Clique gehört. Und da bin ich bestimmt nicht dabei. Für ihr Alter war Elisabeth schon ziemlich weit fortgeschritten. Sie hatte schon so viele Freunde, dass ich den Überblick verloren hab‘ und dabei ist sie erst dreizehn! Aber sie hat auch ganz seltsame Ansichten. Ich glaub‘, sie hat zu viele Soaps gesehen. Sie quatscht die ganze Zeit davon, den perfekten Freund zu finden. Anscheinend war bei ihren ganzen Ex-Freunden noch nicht der Richtige dabei.
Stopp, Marie! Es ist jetzt gerade nicht die beste Zeit, um über Elisabeth’s Ex-Freunde nachzudenken. Denn sie steht vor mir und ich glaub‘, wenn sie Feuer speien könnte, hätt‘ sie mich schon längst gebrutzelt.
„Ich …“, fang‘ ich noch einmal an, weiß aber immer noch nicht, was ich sagen soll.
„Er gehört mir!“, unterbricht sie mich.
„Jetzt halt‘ aber mal die Luft an!“ Jan springt auf. Zorn blitzt in seinen Augen. „Was denkst du dir eigentlich wer du bist? Ich kann und ich werde selbst entscheiden, mit wem ich mich unterhalte, wo ich sitze und vor allem, mit wem ich zusammen sein will. Und ich habe entschieden, dass das garantiert nicht du bist!“
Jan setzt sich wieder hin und verschränkt trotzig die Arme. Er sieht so cool aus! Und es scheint ihm auch vollkommen egal zu sein, dass alle den Streit mitbekommen haben und ihn jetzt mit offenen Mündern anstarren – ich auch! Selbst Elisabeth glotzt ihn verdutzt an. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihr zu widersprechen. Sie war die Königin der Klasse. Jeder tut, was sie will. Und wenn sie sich einen Jungen aussuchte, ist das eine Ehre für den. Noch nie hat sie einer abblitzen lassen.
„Das wird dir noch leidtun“, faucht Elisabeth. Wen meint sie jetzt – mich oder Jan? Keine Ahnung. Aber egal wen, für den wird es jetzt erst richtig schlimm. Es wär‘ wohl besser nicht mehr mit Jan zu sprechen. Dann bleibt wenigstens einer verschont. Die Chancen stehen sowieso super, dass sie es auf mich abgesehen hat, mich hat sie ja noch nie leiden können.
Elisabeth wirbelt herum und stolziert davon.
Ich bleib‘ verwirrt zurück und starre Jan an.
„Wieso hast du das getan?“
„Ich kann sie nicht ausstehen. Sie nervt total. Hat immer irgendetwas von dem perfekten Paar gefaselt und wie toll sie doch ist und blablabla. Eine Tussi halt. Und so was kann ich ja mal gar nicht ab.“ Jan war immer noch wütend.
Okay, da hab‘ ich meine Antwort. Jan hat nur mit mir geredet, um Elisabeth loszuwerden. Er hat jemanden gebraucht, um Elisabeth so richtig auf die Palme zu bringen und da war ich der richtige Loser. Mich hasst sie. Traurig dreh‘ ich mich weg. Ich kann kaum noch die Tränen zurückhalten. Am liebsten wär‘ ich aus dem Raum gestürmt, aber grade da kommt der Rabe ins Zimmer und beginnt mit Deutsch. Ich hab‘ gehofft, dass es besser wird, und jetzt … ist alles nur noch schlimmer. Jetzt tut’s wieder weh.
„Hey, Marie, was ist los?“
Jan dreht mich wieder zu sich um.
„Lass mich! Du kannst jetzt wieder zu den anderen gehen. Elisabeth bist du ja jetzt los.“
„Was meinst du?“ Jan scheint nicht zu verstehen.
„Du kannst jetzt aufhören, so zu tun, als ob du mich magst. Elisabeth ist weg.“
„Aber … Marie … ich mag dich … wirklich.“
„Echt? … Nein.“ Oh Mann, es war echt schwer auf ´nen so süßen Jungen böse zu sein. Aber wieso sollte Jan Elisabeth abblitzen lassen für MICH. Okay, Elisabeth ist bekanntermaßen nicht die Schlauste, sie ist hinterhältig und gemein, aber sie ist eben auch schön. Und ich? Ich bin eben ein hässliches kleines Entlein.
„Ja, wirklich. Du bist anders.“
„Na super, ich bin ein Freak. Jetzt fühl‘ ich mich wirklich besser.“
Jan lacht. „Nein, so war das gar nicht gemeint. Die Mädels in dieser Klasse sind alle so perfekt oder tun so. Aber du scheinst anders zu sein. Du bist irgendwie … na ja … normal. Ich wollt‘ dich schon am ersten Tag ansprechen, aber dann kam Elisabeth. Und du hast mich ignoriert. Und … na ja … es hat ein wenig gedauert bis ich mich getraut hab‘.“
Ich starre ihn verdutzt an.
„Ja, ehrlich. Ich hab mich nicht getraut dich anzusprechen. Aber ich musste einfach wissen wie du bist.“
Ich guck‘ weiter ziemlich ungläubig. Ich kann es einfach nicht verstehen. Sollte es wirklich wahr sein, was Jan sagt?
„Ich weiß, was Elisabeth über dich erzählt. Aber na ja, Elisabeth ist ja nicht gerade die Ehrlichste. Und ich find‘ dich wirklich nett.“
Ich muss lächeln. Okay, es steht fest. Ich mag Jan. Und ich kann ihm auch gar nicht böse sein. Ich weiß ja nicht einmal wieso, wenn er die Wahrheit sagt.
„Marie, würdest du bitte weiterlesen.“, unterbricht uns der Rabe.
„Ähm … ja .. äh … wo sind wir?“, stotter‘ ich.
Elisabeth kichert und ich fang‘ mit hochrotem Kopf zum Lesen an.
Kaum bin ich fertig, beugt sich Jan wieder zu mir rüber.
„Hey, kannst du mir vielleicht helfen. Ich glaube, ich check das nicht ganz.“
„Was? Lesen?“, frag‘ ich verwirrt.
Jan lacht. Er sieht richtig süß aus, wenn er lacht.
„Nein. Mathe. Ich komm‘ noch nicht ganz mit und … willst du mir helfen? Ein wenig Nachhilfe?“
Verdattert starr‘ ich ihn an. Ich glaub‘ ja mal nicht, dass das stimmt. Egal wann der Hügel Jan aufruft, der hat immer ´ne Antwort parat, meistens auch ´ne Richtige. Aber was soll’s? Ich hab‘ sowieso nichts besseres vor und wenn er glaubt, dass er’s braucht …
„Okay.“
„Super! Hast du morgen Nachmittag Zeit?“
Ich muss nicht lange überlegen. Was sollte ich morgen schon anderes vorhaben als heute? Heimgehen, in meinem Zimmer sitzen, nichts tun.
„Ja.“
„Cool. Morgen um drei bei mir.“
Es klingelt und der Rabe verdünnisiert sich, aber nicht ohne vorher noch drei Kapitel dieses stinklangweiligen Buches „Biedermann und die Brandstifter“ aufzugeben. Allgemeines Stöhnen.
Jan und ich reden den ganzen Tag miteinander. Natürlich auch im Unterricht, vor allem da. Es ist einfach stinklangweilig, was die Pauker heute so wieder alles von sich geben.
Der Tag heute war einfach super. Ich fühl‘ mich klasse. Bis ich auf den Stundenplan seh‘. Sport! Mich schüttelt’s schon, wenn ich nur dran denk‘. Natürlich haben wir nicht zusammen mit den Jungs. Was für mich bedeutet, zwei Stunden lang nur Tussis. Das Grauen fängt schon beim Umziehen an. Die haben alle die perfekte Figur und dann noch in ihren hautengen Outfits … ganz ehrlich, sie schauen Klasse aus und dann komm‘ ich. Ich bin nicht dünn, aber ich bin auch nicht zu dick … ich würd‘ sagen ich bin normal. Aber wenn ich die anschau‘, fühl‘ ich mich richtig fett. Und ihre Sprüche machen‘s nicht besser.
„Oh, seh‘ ich da etwa Fettschwarten?“ „Vorsicht, das Walross kommt!“
Ich fühl‘ mich richtig hässlich. Doch damit ist es noch nicht vorbei. Es fängt erst an. Die meisten der Perfekt Ladies sind ziemlich gut in Sport. Und ich? Ich habe keine Ausdauer oder Ballgefühl. Das einzige, wo ich richtig gut bin ist Bodenturnen und an ein paar Geräten bin ich auch noch ganz okay – Barren und Schwebebalken. Dann hört‘s aber auch schon auf. Und was machen wir jetzt in Sport? Volleyball! Ich bin die totale Niete da drin und die anderen wissen das. Ich bin die Letzte, die ins Team gewählt wird, die Erste, die ausgewechselt wird und vor allem bin ich die Einzige, die immer abgeschossen wird (was man ja bei Volleyball eigentlich gar nicht macht). Aber endlich hab‘ ich auch das überstanden. Jetzt darf ich heim. Und ehrlich, ich freu‘ mich auch morgen. Das erste Mal seit langer, langer Zeit freu‘ ich mich auf die Schule. Na ja, ich freu‘ mich weniger auf die Schule, als auf das danach. Aber auch der Unterricht ist okay, wenn Jan da ist. Wir lästern ein bisschen über die Lehrer und die Perfect Ladies (Jan lästert wirklich, zwar anders als Mädchen, aber Lästern ist Lästern)

Drei Uhr. Nervös drück‘ ich auf die Klingel. Ich bin voll zittrig. Aber wieso? Ist doch nichts dabei, zu ´nem Jungen heim zu kommen. Ich geb‘ ihm schließlich nur Nachhilfe. Okay, ich glaub‘ immer noch nicht, dass er’s braucht, aber egal.
Jan reißt die Tür auf. „Hi, komm rein!“
Neugierig schau‘ ich mich um, während ich Jan hinterherlaufe. Im Flur hängen einige Fotos. Familienfotos, Jan und seine Eltern, das Hochzeitsfoto seiner Eltern, Jan alleine und dann hängt da noch so‘n Foto. Ein Babyfoto. Jan ist ein Einzelkind, also muss er das sein. Voll schnucklig wie er da auf seinem bunten Kauring rumbeißt.
Kurz kann ich noch ins Wohnzimmer reinschauen – alles ziemlich modern eingerichtet – und dann sind wir schon bei Jan im Zimmer. Es sieht ganz normal aus, halt so wie ich es mir vorgestellt hab‘. Ungemachtes Bett, überfluteter Schreibtisch, chaotischer Kleiderschrank – also echt, der sieht schlimmer aus als meiner und das will was heißen – Sofa und Fernseher.
Jan lässt sich aufs Sofa fallen. Auf dem kleinen Tischchen davor liegt das Mathebuch und ein Block.
Ich setz‘ mich neben ihn. Das Sofa ist ziemlich klein, wir berühren uns fast. Ich weiß nicht, warum mir das auffällt, aber irgendwie find‘ ich es … ja, wie find‘ ich es? Es ist komisch. Irgendwie möcht‘ ich ihn berühren, aber wenn wir uns dann doch berühren, find‘ ich es … peinlich und rutsch weg.
Keiner von uns sagt was. Aber ich weiß auch gar nicht, was.
„Okay“, sag‘ ich dann doch irgendwann. „Was machen wir jetzt?“
„Mathe“, antwortet Jan und grinst. Wieder dieses schiefe Grinsen, das ich so süß find‘. Beinahe hätt‘ ich geseufzt. Oh Gott, wär‘ das peinlich gewesen.
Jan legt sich das Buch auf die Knie und rutscht näher zu mir, damit ich auch reinschauen kann. Jetzt berühren wir uns wirklich und ich kann nicht mehr wegrutschen. Ganz ehrlich, ich will es auch gar nicht. Ein ganz komisches Kribbeln geht durch meinen Körper. Super Gefühl, aber auch irgendwie seltsam.
„Kannst du mir nochmal erklären, wie das geht?“

Ein Geschäft verkauft ein Fahrrad für 567 ¤. Im Sommerschlussverkauf senkt der Ladenbesitzer den Preis um 28 %. Was kostet das Fahrrad jetzt?

Ich guck‘ Jan an und ich glaub‘, mir sieht man‘s ziemlich genau an, was ich denk‘. Das kann doch nicht sein ernst sein! Genau so ´ne Aufgabe hat er heute erst an die Tafel schreiben müssen. Doch ich erklär‘s ihm trotzdem.
„Du musst erst mal die 100% suchen. Das sind die 567 ¤.“ Aber ich merk‘ schon, dass er nicht aufpasst. „Jan, es bringt nichts, wenn ich es dir erklär‘ und du nicht zuhörst.“
„Ich hör‘ zu“, grinst er. „Ich hör‘ dir immer zu. Aber ganz ehrlich … Marie, ich hab‘ dich angelogen. Ich kann den Dreisatz. Ich …“
„Das wusst‘ ich schon.“
„Ich wollt‘ mich einfach nur mit dir treffen.“
Jetzt schau‘ ich wahrscheinlich gerade ziemlich blöd aus der Wäsche. Doch schnell hab‘ ich mich wieder gefangen. „Das hättest du ja einfach sagen können.“
„Ich wusst‘ nicht, ob du kommst, wenn ich dich nur so frag‘.“
„Ich wär‘ gern gekommen.“
Und dann fangen wir beide plötzlich zum Lachen an. Ich weiß gar nicht wieso. Aber wir lachen und lachen und lachen, bis uns die Luft wegbleibt. Keuchend lehnen wir aneinander und es ist auf einmal gar nicht mehr seltsam. Ich will nicht mehr von Jan wegrutschen.
Der Nachmittag wird noch richtig schön und als ich dann gehen muss, fragt Jan: „Willst du mit mir am Freitag ins Kino gehen?“
„Ja.“ Am liebsten hätt‘ ich es laut geschrien, so glücklich bin ich jetzt. Und dann umarm‘ ich ihn ganz plötzlich. Ich wollt‘ es nicht. Es ist einfach passiert. Schnell geh‘ ich ´nen Schritt rückwärts. Jan grinst dieses süße schiefe Grinsen und ich sag‘ „Ciao“ und geh‘. Wahrscheinlich bin ich rot wie ´ne Tomate. Es fühlt sich jedenfalls so an. Aber ich bin noch gar nicht so weit weg, da find‘ ich es nicht mehr peinlich, sondern einfach nur schön. Wären nicht so viele Leute unterwegs gewesen, hätt‘ ich angefangen zu tanzen. So grins‘ ich nur vor mich hin, ein richtig fettes Grinsen. Ich bin glücklich, überglücklich. Und ich weiß gar nicht so genau wieso. Sollte ich in Jan …? Nein! Oder doch? Ich weiß es nicht und das ist mir jetzt auch egal, jetzt bin ich einfach nur glücklich.
„Marie, wo warst du?“, ruft meine Mutter aus der Küche, als ich die Wohnungstür zuwerfe.
„Bei Jan.“
„Dem neuen Schüler.“
„Ja.“
Eigentlich wollt‘ ich sofort in mein Zimmer gehen, doch dann kommt meine kleine Schwester Lea – sie ist erst drei – angelaufen. „Marie, spielen!“
Ich heb‘ sie hoch und … jetzt tanz‘ ich doch noch. Ich tanz‘ mir ihr durch den Gang. Ich bin so glücklich und Lea macht es auch Spaß.
„Was ist denn mit dir los?“, fragt meine Mutter. Sie trocknet sich an einem Geschirrtuch die Hände ab.
„Nichts. Was soll schon sein?“, lach‘ ich.
„So fröhlich warst du schon seit Wochen nicht mehr.“ Meine Mutter überlegt. Ich seh‘ es, weil dann legt sie immer den Kopf schief. Und plötzlich fängt sie an zu grinsen. „Ach so! Jetzt versteh ich.“
„Was?“, frag‘ ich. Denn ich versteh‘ nicht.
„Jan.“
„Was ist mit ihm?“ Ich steh‘ ziemlich auf’m Schlauch. Ich versteh‘ immer noch nicht.
„Er macht dich glücklich … Du bist verliebt.“
Eigentlich hätt‘ ich jetzt „Bin ich nicht“ sagen müssen, aber ich sag’s nicht. Ich glaub‘, ich bin wirklich verliebt. Aber auf jeden Fall bin ich glücklich.
„Du musst mir alles erzählen“, fordert meine Mutter grinsend. Sie ist wie ´ne Freundin für mich. Ihr kann ich alles sagen.

Ich bin immer noch glücklich, als ich am nächsten Tag in die Schule geh‘ und nicht einmal Elisabeths blöder Streich mit dem Ausrufen und ihr Kommentar „Wie dumm kann einer allein denn sein? Ach ich weiß, so dumm wie Marie.“ kann mir dieses Glück verderben.
Ich grins‘ Jan an, als ich mich neben ihn setz‘ und er grinst zurück. Auch er scheint heute irgendwie fröhlicher zu sein. In den ersten zwei Stunden haben wir Vertretung, was bedeutet, ein Lehrer sitzt an der Tafel, langweilt sich und wir machen was wir wollen.
Es klingelt zur Pause. Wir gehen auf den Pausenhof. Jan nimmt meine Hand. Erschrocken halt‘ ich die Luft an und schau‘ ihn ziemlich verdutzt an.
Verlegen schaut er zurück. „Oder darf ich nicht?“
„Doch“, grins‘ ich und er grinst ebenso glücklich zurück. Wir stehen die ganze Pause Händchenhaltend – mal beide, mal nur eine – in einer Ecke und reden.
Heut‘ hab ich festgestellt, dass Schule viel schneller vorbei geht, wenn man glücklich ist und auch der Freitag, war vorbei, kaum dass er angefangen hat – lag vielleicht auch daran, dass wir nur vier Stunden hatten. Die letzten fielen aus.
„Ich hol dich dann ab.“ Jan umarmt mich kurz und geht schnell in die andere Richtung davon.
Ich bleib‘ ziemlich verdattert stehen und schau‘ ihm hinterher. Liebt er mich vielleicht auch? Dann gehe auch ich heim. Ich bin glücklich! Allerdings nur bis ich ziemlich entnervt vor meinem Schrank steh‘ und nicht weiß, was ich anziehen soll. Also echt, wieso hab ich einen Schrank voller Klamotten, wenn am Schluss doch nichts Passendes da ist. Nach und nach zieh‘ ich alle möglichen Sachen raus, doch nichts passt. Zu alt, zu brav, da seh ich fett aus, zu kurz … So geht‘s lange. Irgendwann hab‘ ich dann doch etwas gefunden, was mir gefällt. Meine neue Jeans, ein weißes Top und meine blaue Bluse. Okay, passt.
Jan kommt pünktlich. Er hat die Karten bereits reservieren lassen, will mir aber nicht sagen, was wir anschauen. Das ist gemein! Aber er wird schon was Gutes ausgesucht haben. Und tatsächlich „High School Musical“ den hätt‘ ich auch ausgesucht.
Wir sitzen Händchenhalten im Kino und teilen uns das Popcorn. Der Film ist super und irgendwie passt der ganz gut zu uns, find‘ ich. Dadrin geht es um Gabriella – eine, na ja Streberin, eine hübsche zwar aber doch ´ne Streberin – in die sich der Basketball-Star der Schule Troy verliebt hat oder umgekehrt oder beide gleichzeitig – ich weiß nicht so genau. Natürlich geht es auch um ganz viel Musik und kurz hat es so ausgesehen, als würden die zwei doch nicht zusammenkommen, sind es aber am Schluss doch. Schöner Film wirklich.
Jan bringt mich nach Hause. Wir reden noch viel, aber plötzlich fällt uns nichts mehr ein. Wir stehen vor unserem Haus und keiner sagt was.
„Na ja … also … ähm“, stotter‘ ich. „Ich sollte rein gehen.“
„Ja“, meint Jan. Doch er lässt meine Hand nicht los und plötzlich kommt er mir immer näher, ganz langsam.
Ich bleib‘ stehen. Bin ich erschrocken, verwirrt? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht klar denken. Und dann küsst er mich. Die Zeit scheint still zu stehen. Wir stehen da, vor meinem Haus und küssen uns. Jan schmeckt nach Popcorn und seine Lippen sind so weich und … wow. Doch viel zu schnell war es wieder vorbei.
Verlegen steht Jan vor mir und traut sich nicht mich anzuschauen. Und ich kann immer noch nicht denken.
„Äh … tschüss … ich sollte …“ Schnell küss‘ ich ihn nochmal und geh‘ rein. Ich schwebe auf Wolke sieben, habe Schmetterlinge im Bauch, … was sagt man noch? … egal, ich bin einfach glücklich. Ich könnte platzen vor Glück.
Ich lass‘ mich auf mein Bett fallen und denk‘ immer wieder an den Kuss. Ich bin verliebt! Und das Beste: Jan liebt mich auch! Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn, was für ein geiles Gefühl.

Am nächsten Morgen gibt Jan mir einen schnell Kuss, als ich mich neben ihm setz‘. Doch anscheinend nicht schnell genug. Ein Keuchen geht durch die Klasse und dann fangen alle an zu tuscheln. „Jan und Marie?“ „Habt ihr das gesehen?“ „Das gibt’s doch nicht.“
Ich ignorier‘ sie, konzentrier‘ mich nur auf Jan. Dem scheint das Getuschel Spaß zu machen. Er grinst immer wieder. Ich weiß nicht so genau warum. Doch dann kommt Elisabeth und ich bekomm‘ Angst. Was wird sie jetzt tun? Sie hat uns in Ruhe gelassen, bis auf die albernen Ausruf-Streiche und ihre Sticheleien hat sie nichts gemacht, seit Jan sie zur Schnecke gemacht hat. Aber jetzt? Wieder feuern ihre Augen Blitze ab. Wieder bin ich froh, dass Blicke immer noch nicht töten können. Aber mehr macht sie nicht. Sie setzt sich auf ihren Platz und beachtet uns nicht mehr und das Getuschel scheint sie kalt zu lassen.
Doch dann lenkt mich Jan ab, als er anfängt zu lachen.
„Oh Mann, habt ihr noch nie einen Kuss gesehen?“, lacht er. „Daran solltet ihr euch gewöhnen.“ Und dann küsst er mich wieder. Diesmal aber nicht so kurz, sondern länger, sehr viel länger.
Doch damit hört das Getuschel nicht auf, damit fängt es erst richtig an. Aber solange Jan da ist, lässt mich das kalt. Das einzige, was mir Sorgen macht, ist Elisabeth. Sie ist so ruhig. Viel zu ruhig.
Aber das ändert sich auch in den nächsten Tagen nicht. Sie scheint uns einfach zu ignorieren. Na mir soll’s recht sein. Das Getuschel der anderen hört aber glücklicherweise auf.
Jetzt fühl‘ ich mich nicht mehr wie das hässliche kleine Entlein. Mit Jan an meiner Seite fühl‘ ich mich gut und manchmal sogar schön.
Doch mein Glück hält leider nicht ewig. Genau genommen nur drei Wochen. Aber diese drei Wochen waren die schönsten, die ich je hatte. Aber dann verändert sich wieder alles. Es wurde alles viel schlimmer und dabei fing alles so normal an.
Sport. Immer noch Volleyball. Doch heute ist es anders. Schon so lange haben die anderen nicht mehr über mich gelästert oder hab‘ ich es vielleicht einfach nur nicht mitbekommen? Egal. Heute tun sie es auf jeden Fall. Schon das allein war komisch, aber dass Elisabeth auch noch fehlt war schon extrem seltsam. Normalerweise wird nur getuschelt, wenn Elisabeth so was anstachelt. Aber sie ist heute ja nicht da. Wieso flüstern die anderen? Und vor allem, wieso gucken sie mich dabei an? Ich kann einfach nicht verstehen, was sie sagen. Aber immer wieder hör‘ ich „Elisabeth“ „Jan“ und auch „Marie“. Irgendwas stimmt nicht. Ich werd‘ ganz hibbelig. Aber warum? Was kann es nur sein? Ich weiß es nicht. Es macht mich fast verrückt. Und das Schlimmste: Auf einmal kann ich‘s nicht mehr. Früher konnt‘ ich einfach weghören. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Ohne dass irgendetwas hängen bleibt. Aber jetzt? Jetzt funktioniert‘s nicht mehr.
Endlich ist diese vermaledeite Sportstunde rum. In Rekordzeit bin ich umgezogen und geh‘ raus. Und dann seh‘ ich ihn. Jan. Ist eigentlich nicht seltsam. Er hat immer auf mich gewartet, weil die Jungs immer früher fertig waren. Aber heute ist es anders. Heute ist er nicht allein. Elisabeth ist bei ihm und … und … er küsst sie! Alles in mir schreit, doch was ich rausbringe ist nur ein gekrächztes „Was?“
Jan stößt Elisabeth weg und ich seh‘ die Angst in seinen Augen, die Schuldgefühle. Aber das hilft nicht, das macht alles nur schlimmer. Ich dreh‘ mich um und renn‘, renn‘ einfach immer weiter, ich weiß nicht wohin. Ich weiß nur, weg, weit weg von Jan. Ich hör‘, dass er mir etwas hinterherschreit, aber ich versteh‘ es nicht und will es auch nicht. Heulend renn‘ ich nach Hause und werf‘ mich auf mein Bett. Wie konnt‘ ich nur so blöd sein? Wieso hab‘ ich geglaubt, dass Jan mich liebt? Er … Er … Es tut so weh. Ich bin so blöd. Wütend schlag‘ ich auf mein Bett und heul‘ weiter. Es tut einfach nur weh. Ich hab‘ ihn geliebt und er …

„Marie!“, hör‘ ich meine Mutter rufen, als sie die Tür ins Schloss wirft. „Marie, wir sind wieder da!“
Ich wisch‘ mir die Tränen aus dem Gesicht. Aber ich sag‘ nichts. Ich will allein sein. Ich will niemanden sehen. Einfach nur allein sein.
Aber da geht schon die Tür auf und Lea kommt rein. „Marie, Marie, schau mal!“
„Hau ab! Verschwinde Lea!“, fauch‘ ich.
Sie geht wirklich und ich fühl‘ mich noch schlechter als so schon. Ich bin ja nicht auf Lea sauer, sondern auf Jan und vor allem auf mich. Wie konnt‘ ich nur denken …?
„Mama, Marie böse!“ hör‘ ich Lea petzen.
Mir bleibt gerade noch Zeit mir die neuen Tränen wegzuwischen, da steht auch schon meine Mutter in meinem Zimmer.
„Marie!“ Sie klingt wütend. Doch sie schimpft nicht los. Ich habe ihr den Rücken zugedreht, den Kopf im Kissen vergraben. Ich seh‘ nicht, was sie macht, aber wahrscheinlich legt sie den Kopf schief, wie sie es immer macht, wenn sie überlegt. Und plötzlich sitzt sie neben mir, streicht mir übers Haar.
„Oh, Marie, Schätzchen! Was ist passiert?“
Ich will nicht mit ihr reden. Ich will allein sein. Ist das so schwer zu verstehen?
„Ist es wegen Jan?“
Der Name reicht, um mich wieder zum Heulen zu bringen.
„Oh, Marie, was ist passiert? Was hat er getan?“
Ich will nicht und doch erzähl‘ ich schluchzend und Nase hochziehend was ich gesehen hab‘.
„Marie, nimm’s nicht so ernst. Du bist erst vierzehn. Du wirst schon noch den Passenden finden. Jan hat es nicht verdient, dass du um ihn weinst.“ Blablabla. Das weiß ich selbst. Aber das will ich jetzt gar nicht hören, weil jetzt tut’s weh. Ich habe ihn geliebt!
Irgendwann verschwindet meine Mutter doch und lässt mich endlich allein.

Ich will heute nicht in die Schule gehen. Ich will ihn nicht sehen und auch nicht Elisabeth. Aber die Drohungen meiner Mutter – von wegen Hausarrest, kein Taschengeld und kein Fernseher – haben mich dann doch dazu gebracht. Und das Schlimmste ist, wir haben heute Nachmittagsunterricht – noch zwei Stunden länger Schule! Haben wir nur alle zwei Wochen, aber genau heute muss es sein.
Unentschlossen bleib‘ ich vor der Schule stehen. Am liebsten wär‘ ich wieder heim gegangen. Aber meine Mutter hat heute frei. Sie würd‘ es merken.
Ich hol‘ nochmal tief Luft und geh‘ durch die Tür. Aber da ist schon Elisabeth. Shit!
„Lass die Finger von Jan!“
Schon der Name allein reicht, dass ich fast wieder zum Heulen anfange. Aber ich beiß‘ die Zähne zusammen und versuch’s zu unterdrücken.
„Oh“, meint Elisabeth gespielt erschrocken, aber mit einem ganz fiesen Grinsen im Gesicht. „Du hast doch wohl nicht wirklich geglaubt, dass er dich mag. Wie dumm kann man sein? Das war für ihn nur ein Spiel. Wer kann dich schon mögen?“ Lachend ließ sie mich allein.
Schnell geh‘ ich weiter, such‘ ein Klo. Schnell, bevor ich losheule. Ich schaff’s gerade noch die Tür zuzumachen, dann flenn‘ ich auch schon wieder.
Missmutig schau‘ ich in den Spiegel. Na super! Jetzt sieht man‘s mir an, dass ich geheult hab‘.
Langsam geh‘ ich ins Klassenzimmer. Die ganze Zeit denk‘ ich mir: Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht!
Und da ist er schon. Jan. Er steht vor der Tür und wartet. Ich spür‘, dass ich schon wieder heulen will und auch wie ich wütend werde.
„Wegen gestern … das war nicht so wie es aussah.“
„Ach war es nicht?“, fauch‘ ich wütend. „Wie war es denn dann? Bist du gestolpert und auf ihren Lippen gelandet, so ganz zufällig? Du kannst dir deine Ausreden sparen. Hab‘ deinen Spaß mit Elisabeth und lass mich in Ruhe!“
„Aber … Marie …“
Ich geh an ihm vorbei, lass‘ ihn einfach stehen. Ich ignorier‘ ihn auch, als er sich neben mich setzt. Er versucht es immer wieder. Doch ich hör‘ ihm nicht zu. Ich bin wütend. Wütend zu sein ist besser als traurig. Das tut nicht so weh.
Und doch hau‘ ich ganz schnell ab, als es zur Pause läutet. Aber ich geh‘ nicht raus. Ich geh‘ nur aufs Klo und da bleib‘ ich auch. Draußen würde er mich nur finden. Ich hör‘ auch nicht auf die Sekretärin, die mir befiehlt ins Sekretariat zu kommen. Es ist mir egal. Selbst wenn es was Wichtiges ist, es ist mir ganz einfach egal.
Doch leider ist die Pause viel zu schnell rum. Ich muss zurück ins Klassenzimmer, zurück zu ihm.
So geht es den ganzen Tag. Aber endlich ist er vorbei. Endlich Wochenende.
Doch auch da hab‘ ich keine Ruh‘ vor Jan. Er ruft an, schreibt E-Mails, er kommt sogar vorbei! Aber ich drück‘ ihn weg, lösch‘ die E-Mails oder schmeiß‘ die Tür zu. Ich will ihn nicht sehen. Ist das so schwer zu verstehen? Weiß er nicht, wie es mir geht? Aber irgendwie scheint es ihm wirklich leid zu tun. Nein, Marie! So was darfst du nicht denken. Er hat es nicht verdient, dass du ihm verzeihst. Er will nur mit dir spielen.
Schon wieder Montag, aber schlimmer als das Wochenende kann es auch nicht sein. Ich hab‘ fast nicht geschlafen, lag den ganzen Tag im Bett und hab‘ fern gesehen, hab‘ meine Schwester angeschnauzt, sie zum Heulen gebracht, mich mit meiner Mutter deswegen gestritten. Also insgesamt ein Scheiß-Wochenende. Da ist Schule schon leichter. Jan ignorieren und auf ihn sauer sein. Er hat es wenigstens verdient. In der Pause verschwind‘ ich wieder aufs Klo. Ich werde wieder ausgerufen, geh‘ aber nicht. Jan gibt einfach nicht auf.
Doch dann hör‘ ich es. Ich will gerade ins Klassenzimmer zurückgehen, da hör‘ ich die beiden.
„Na, Zoff im Paradies“, fragt Elisabeth höhnisch.
„Na, Eiszeit in der Hölle, oder warum bist du hier?“, fragt Jan. Er klingt irgendwie wütend und auch ziemlich traurig. „Verdammt, Elisabeth, warum hast du das gemacht? Warum hast du mich geküsst?“
„Hat’s dir nicht gefallen?“, fragt Elisabeth gespielt verwirrt.
„Du weißt genau, dass ich mit Marie zusammen bin … war.“ Jetzt klang er noch trauriger.
„Du hast was Besseres verdient!“, sagt Elisabeth wütend. „Wir zwei … wir passen super zusammen. Wir sind das perfekte Paar. Siehst du das nicht?“
„Ich hab’s dir schon mal gesagt und ich sag’s dir nochmal, bis du‘s endlich verstanden hast. Ich werde nicht dein Freund sein. Ich lieb‘ dich nicht. Ich mag dich nicht mal. Du bist fies, hochnässig und einfach nur gemein. Du kannst es noch so oft probieren. Ich werde immer Marie lieben, nicht dich.“
Jetzt kann ich einfach nicht mehr anders. Ich fang‘ wieder zum Heulen an. Diesmal allerdings bin ich glücklich. Ich stürm‘ ins Klassenzimmer und fall‘ Jan um den Hals. Oh Gott, wie sehr hab‘ ich ihn vermisst, seine Nähe, seinen Geruch, einfach alles.
„Marie?“ Jan ist verwirrt. Aber er umarmt mich auch, ziemlich fest sogar, doch das ist mir egal. Ich will, dass er mich nicht mehr loslässt.
„Ich hab‘ alles gehört. Oh, Jan, es tut mir leid. Wieso war ich nur so dumm? Wieso hab‘ ich geglaubt, dass du und Elisabeth …“
„Nein, mir tut es leid. Ich …“
Mit einem tiefen, innigen Kuss bring‘ ich Jan zum Schweigen.

Schüleus


Noch kurz eine Erklärung zur Entstehungssituation:
Dieses Gedicht entstand im Zuge einer Unterrichtseinheit zu Goethes "Prometheus". In einer Gruppenarbeit sollten wir das Gedicht "Prometheus" umschreiben.
In diesem Schuljahr hatten wir einige Probleme mit unseren Lehrern, weil wir in der Mittagspause nicht mehr im Klassenzimmer essen durfen, sondern in die neu gebaute Mensa gehen sollten. In der Mensa aber durfte man nur Mensa-Essen essen. Alle anderen (diejenigen, die vom Hausmeister Wurst-Semmeln kauften) sollten in einen angeblich existierenden Aufenthaltsraum gehen. Doch dieser Raum existierte höchstens ein paar Tage, dann war er wieder weg und wieder da, ... so ging es ewig.




Schüleus



Schäm dich, Thoma!
Du spielst mit uns, wie das Meer mit einem einsamen Schiff.
Du schicktest uns von der Mensa in den nichtexistierenden Aufenthaltsraum
und von dem Nichtexistierenden zum Klassenzimmer,
wo wir unsere Hausi-Klausi-Wursti-Weckli verspeisen wollten,
um deren Gürkchen du uns beneidest.

Wir kennen nichts Ärmeres
in der Schule als euch Lehrer.
Ihr labt euch an unseren schlechten Leistungen und unverdienten Verweisen.
Bedenkt doch
ohne uns wärt ihr Hartz-IV-Empfänger.

Ihr hattet unsere Ehrfurcht in der unschuldigen 5. Klasse.
Doch wir wissen nun, die wir schon mehrere Jahre in dieser Diktatur verbracht haben:
Nur durch uns selbst überleben wir wie Tom Hanks in Cast Away.
Du ließt uns allein mit unseren mathematischen Problemen und Rechtschreibfehlern.
(Latein schmiedete uns zu harten Geschöpfen.)

Und nun stehen wir hier
auf dem Boden der Realität
und erkennen, dass du unseren Dank verdienst:

Danke für Nichts

Ich




Ich



Manchmal kenn' ich mich.
Ich glaub' auch manchmal
so zu sein
wie ich wirklich bin,
mich vielleicht deshalb
anders zu benehmen,
weil es genau so
von mir erwartet wird.
Manchmal erwartet man
zu viel.
Da komm' ich nicht umhin,
anders zu sein.
Doch manchmal bin ich ich
Manchmal kenn'ich mich.
Manchmal glaub' ich das.
Manchmal kennt ihr mich.
Manchmal bin ich anders.
Manchmal bin ich ich.

Impressum

Texte: Die Geschichte gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2011

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