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Alte Bekannte



Hero lief durch die Stadt, ließ sich von der Masse treiben. Es war nun eine Woche her, seit sie das Kinderheim verlassen hatte. Nun lebte sie wieder bei den Dieben.
Sie beteiligte sich nicht bei den Raubzügen der Diebe. Erstens einmal verspürte Hero nicht das Verlangen teilzunehmen und andererseits wurde es ihr verboten. Normalerweise interessierte sie sich nicht für Verbote. Doch an dieses hielt sie sich. Fabian, Ratte und Linda, das einzige Mädchen der Gruppe, versuchten Hero ans Bett zu ketten. Hero hatte vor ihnen nicht verheimlichen können, dass sie verletzt war. Ihre Klamotten verdeckten die Verbände um Bauch und Waden nicht im Geringsten.
Linda, ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, das ihre langen blonden Haare immer zu einem Zopf geflochten trug, kümmerte sich wie eine Mutter um Hero mit demselben Elan, den Juli damals an den Tag gelegt hatte. Dieser Gedanke versetzte Hero einen tiefen Stich. Der Abschied schmerzte, schmerzte mehr als sie erwartete hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Hero nun die Einsamkeit suchte. Sie musste sich über ihr Leben klar werden, musste wissen, was sie wollte.
Sie stand mitten in dieser Menschenmasse und fühlte sich dennoch allein. Sie war allein. Black kids war auseinander gebrochen. Das Mädchen wusste nicht, ob sie nun froh oder traurig sein sollte. Ihr Leben ohne Black kids war ohne Verbrecher. Aber sie entfernte sich mit riesigen Schritten von ihrem Traum und gleichzeitig von ihrem Wunsch, die Unsterblichkeit, loszuwerden.
Aber mit Black kids kamen auch die Verbrecher und mit diesen kam die Gefahr zurück. Aber das war nur Wunschdenken. Black kids würde unvollständig bleiben. Juli und Jaden waren bei ihren Familien. Bei Atikes war sie sich nicht sicher. Irgendetwas hatte an Ilona nicht gestimmt, an ihrem Wiedersehen. Doch da stellte sich für Hero wieder die Frage: Was machte sie aus ihrem Leben?


Aber sie konnte nicht weiter über diese wichtige Frage nachdenken, denn ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Nachrichtensendung in Anspruch genommen. Wieder flimmerte ihr Bild über alle Bildschirme. Doch dieses Mal erschrak sie nicht. Sie hatte es insgeheim sogar erwartet. Sie wusste, dass das Kinderheim ihr Verschwinden nicht unter den Teppich kehren konnte. Das Einzige, was sie irritierte, war der Name, der unter dem Bild stand. Dieses Mädchen hieß Alexa Montez. Aber es war Hero Leones Bild.
Tom und Jan hatten sich viele Gedanken gemacht, bevor sie die Suchmeldung ins Fernsehen gestellt hatten. Hätten sie Heros richtigen Namen genannte, hätten sie Hero gleich für vogelfrei erklären können. Viele kannten Hero Leone als Mörder ihrer Eltern und Brandstifter. Denn nachdem die Polizei herausgefunden hatte, dass das eine Falschmeldung war, wollten sie ihren Fehler nicht eingestehen und so verschwand Heros Geschichte still und leise aus den Nachrichten. Nun hatten Tom und Jan Hero eine neue Identität zugelegt, zumindest fürs Fernsehen. Hero Leone wurde unter dem Namen Alexa Montez gesucht. Sie sah dem Mädchen auf dem Foto zwar nicht mehr sonderlich ähnlich, aber das dachte sie das letzte Mal auch und trotzdem nahm sich Hero vor, vorsichtiger in der Öffentlichkeit zu sein.
Doch sofort wurde ihre Aufmerksamkeit wieder von dem Nachrichtensprecher in Anspruch genommen. Ihre Suchmeldung war verschwunden. Jetzt sah man eine Polizeiwache. Davor stand ein einzelner Polizist. Er sagte: „Bei unserem letzten Einsatz in der Szene verschwand einer unserer Männer spurlos. Wir standen immer in Funkkontakt. Doch dann brach die Verbindung ab. Von ihm fehlt bis jetzt noch jede Spur. Wir sind immer noch auf der Suche nach Hinweisen über das Verbleiben des Kollegen Jan R.. Sein Partner Tom K. konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht befragt werden. Er liegt im Krankenhaus und ist nicht ansprechbar.“
Hero starrte auf den Fernseher, ihre eigene Suchmeldung hatte sie bereits vergessen. Konnte das möglich sein? War es wieder mal nur ihre Schuld, dass Jan verschwunden und Tom verletzt ist?

Es war wie damals bei Dr. Engel. Hero trieb sich auf der Straße rum, Dr. Engel verschwand. Es war das allerselbe. Auch jetzt lief Hero durch die Straßen hatte kein Zuhause, jedenfalls kein bekanntes. Und auch jetzt verschwanden die Personen, die sie zuletzt gesehen hatten. Das konnte doch unmöglich Zufall sein? Oder bildete sie sich das etwa alles nur ein? Leidete sie unter Verfolgungswahn?


Egal, ob es nun Zufall war oder nicht.

Eins war für das Mädchen klar. Sie musste Jan befreien!


Aber wo war er?

Sie konnte ja schlecht zur Polizei gehen und fragen, wo ihr letzter Einsatz gewesen war. Sie wurde schließlich selbst gesucht.
Eigentlich gar keine so schlechte Idee

, dachte Hero und lächelte.
Szene

das konnte alles Mögliche sein. Hero hatte keine Ahnung. Sie schloss die Hand um die Kette und konzentrierte sich auf Black kids.
Das versetzte ihre einen tiefen Stich. Black kids gab es nicht mehr, war auseinander gebrochen. Und dennoch gab ihr dieses Outfit und vor allem ihre Schwerter ein Gefühl der Sicherheit. Aber ihre Schwerter versteckte sie vorerst einmal. Denn diese wären für ihr Vorhaben mehr als hinderlich gewesen.
Hero vertraute auf die Kraft der Kette, als sie das Polizeipräsidium betrat, vertraute darauf, dass niemand ihr Gesicht erkannte. Na ja, genau genommen erkannten alle ihre Gesicht. Doch schon wenn sie sich abwendete, konnte sich keiner mehr an ihre Gesichtszüge erinnern. Das jedenfalls hatte der Fremde einmal behauptet. Deshalb gab es auch keinen eindeutigen Steckbrief von Black kids. Die Verbrecher stritten sich darum, wer Recht hat. Jeder hatte eine andere Beschreibung ihrer Gesichter. Mal hatte Hero blaue, dann doch graue und dann wieder grüne Augen. Nur in einem waren sie sich alle einige. Black kids waren Kinder.
Das Polizeipräsidium hatte Ähnlichkeiten mit einem Wespennest. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Hero fiel nicht sonderlich in dieser Meute aus Polizisten, Reportern, Zeugen und Verbrechern auf. Sie legte es auch nicht darauf an. Sie stand stumm in einer Ecke und lauschte den Gesprächen.
Bald hatte sie den Tathergang rekonstruiert. Die Polizei wollte eine Bande hochnehmen, die mit etlichen Entführungen der letzten Zeit in Zusammenhang gebracht werden konnte. Doch sie wurden bereits erwartet. Ihr V-Mann – Jan – war aufgeflogen. Der Anführer – ein bulliger Typ mittleren Alters mit braunen Haaren – hatte das Zeichen zum Angriff gegeben. Die Polizisten hatten mit keiner nennenswerten Gegenwehr gerechnet. So war es für die Verbrecher ein leichtes mit ihnen fertig zu werden. Von da an war Jan verschwunden. Tom war bei dem Einsatz angeschossen worden.
Bulliger Typ mittleren Alters mit braunen Haaren

, diese Beschreibung kam Hero so bekannt vor. Konnte es sein, dass Brutalo seine Finger im Spiel hatte? Wurde ihr die Suche dadurch erleichtert?

Doch Hero konnte nicht sagen, wo sie damals von Brutalo gefangen gehalten worden war. Nur eins wusste sie, es war ein altes Haus gewesen, umgeben von Wald. Von dieser Sorte konnte es doch nicht so viele geben, oder etwa doch? Wo fand man das heraus?

Sie konnte schlecht die Polizisten fragen, wo es war. Diese würden sich zwar nicht mehr an ihre Gesichtszüge erinnern, wenn sie sich wegdrehte hatte, aber solange sie den Polizisten gegenüberstand, wussten diese haargenau, wen sie vor sich hatten. Es war egal, ob sie das Mädchen nun für jemanden von Black kids, für Hero Leone oder für Alexa Montez hielten. Es kam auf dasselbe raus. Jedenfalls für den Anfang.
Hero musste diese Information woanders herkriegen.
In Gedanken versunken verließ sie das Polizeipräsidium, stieß mit einem Polizisten zusammen, entschuldigte sich gedankenverloren und ging weiter.
Im Polizeipräsidium allerdings brach die Hölle los. Wenn es vorher schon chaotisch zugegangen war, war es nichts gegen das, was nun los war. Der Polizist oder vor allem der Verbrecher, den er abgeführt hatte, hatte in Hero Black kids erkannt. Es war unvorstellbar, Black kids war im Präsidium und sie hatten sie entwischen lassen, schlimmer noch sie hatten Black kids nicht einmal bemerkt.
Hero lief derweilen durch die Straßen auf der Suche nach einer Stadtkarte. Sie versprach sich davon nicht viel, aber es war einen Versuch wert. Endlich hatte sie im Stadtzentrum eine gefunden. Doch wie sie erwartet hatte, war da nur die Stadt und nicht das Umland abgebildet.
Tief in Gedanken versunken stand sie davor, überlegte, wo sie eine genauere Karte finden konnte.
Eine nahe gelegene Turmuhr schlug fünf. Und mit dem fünften Schlag kam der Geistesblitz. Das Rathaus!

Dort musste es einfach genauere Karten geben. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie es noch bevor sie schlossen. Das Mädchen rannte los. Kreuz und quer durch die Passanten, hörte nicht die Flüche, die ihr hinterher geschrieen wurden, sah nicht die bösen Blicke. Sie hatte nur noch ihr Ziel vor Augen. Doch das Rathaus lag in der Altstadt und nicht im Zentrum. Hero brauchte fast eine dreiviertel Stunde um durch das Gewirr der Straßen zu ihrem Ziel zu gelangen.
Außer Atem stand sie vor dem alten Fachwerkhaus. Langsam betrat sie das Gebäude. Vor einer Orientierungskarte blieb sie stehen. Verkehrbüro, Erster Stock, Raum 103. Doch vorerst lief sie auf die Toilette und wartete, wartete bis die ferne Turmuhr sechs schlug. Sie hörte Türen schlagen, Fußgetrappel, Stimmengewirr. Es wurde immer leiser und schließlich war es still. Doch das Kind verließ ihr Versteck nicht, nicht bis die Turmuhr sieben schlug. Dann schlich sie leise durch die Gänge.
Erster Stock, Raum 101, …, Raum 102, …, hier Raum 103.

Prüfend legte sie ein Ohr an die Tür, hoffte das niemand Überstunden machte. Doch in dem Raum war es still. Sie legte die Hand auf die Klinke und wider Erwarten ließ sich die Tür öffnen.
Nun stand das Mädchen in einem Raum mit zwei überfüllten Schreibtischen. Auch die Schränke an den Wänden konnten der Flut an Informationen nicht Herr werden. Sie quellten schlichtweg über. Und doch herrschte in diesem scheinbaren Chaos eine gewisse Ordnung. Das Mädchen benötigte nicht einmal eine Viertelstunde um eine brauchbare Karte zu finden.
Auf dem Boden sitzend studierte sie die Karte. Es gab ein dutzend Häuser, die umgeben von Wald waren. Doch nur drei davon waren keine Hotels oder Freizeitanlagen. Hero notierte sich schnell die Adressen und verließ das Rathaus schnellstens wieder.
Das Mädchen stand nun in einer dunklen Ecke und starrte auf den Zettel. Drei Möglichkeiten blieben ihr. Wo sollte sie zuerst nachsehen? War Brutalo überhaupt noch in seinem alten Versteck? Hatte er es vielleicht gewechselt? Hatte der Brand zuviel zerstört?

Diese Fragen quälten Hero. Doch dann setzte sie sich in Bewegung. Sie klammerte sich an diesen Strohhalm. Wenn Jan in keinem der Häuser war, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen. Doch erst einmal bestand die Möglichkeit, dass sie Jan finden konnte.
Doch ihr Optimismus wurde immer geringer, als sich auch das zweite Haus als Fehlanzeige herausstellte. Es blieb nur noch eine Adresse übrig. Mit einem flauen Gefühl im Magen machte sich Hero auf den Weg.
Fassungslos blieb sie um etwa dreiundzwanzig Uhr fünfzehn vor dem letzten Haus stehen. Sie kannte dieses Haus. Sie hatte es damals zwar nur kurz gesehen. Aber es bestand kein Zweifel. Das war das Versteck von Brutalo.
Auf leisen Sohlen schlich sie ins Haus. Ihr erster Weg führte sie in den Keller. Man sah noch die Spuren des Brandes. Die Decke und die Wände waren geschwärzt. Es brannten wie bei ihrem letzten Besuch Fackeln in ihren Halterungen.
Mit geschlossenen Augen blieb Hero stehen und lauschte. War Jan hier?


Sie wollte schon fast aufgeben, als ein Laut an ihr Ohr drang. War das ein leises Stöhnen?

Sie wusste es nicht. Doch sie hatte neuen Mut gefasst.
Leise schlich sie weiter. An jeder Tür blieb sie stehen und lauschte. Es gab eine Menge Türen. An der letzten blieb sie stehen und ihr Herz setzte aus.
„Dein Pech, Richter. Wieso musstest du uns auch verraten? Alles wäre so schön gelaufen, wenn du nicht gewesen wärst. Und dafür wirst du nun büßen müssen.“ Brutalos Stimme war eiskalt. Es folgten ein klatschender Laut und ein qualvolles Stöhnen.
Dieses Stöhnen war ausschlaggebend. Vorher hatte Hero noch gezweifelt, gezweifelt, ob sie das Richtige tat, wenn sie Jan befreite. Sollte sie nicht doch lieber die Polizei rufen und ihn befreien lassen?
Doch dieses Stöhnen änderte alles. Hero ging in den Raum und dachte nicht mehr an die Folgen.
Brutalo fuhr herum. Sein zorniges Gesicht änderte sich schnell von Erstaunen zu einem überlegenen Lächeln.
„Ach, wen haben wir denn da? Den Brandstifter. Du bist gar nicht so stumm wie du uns weismachen wolltest, oder irr ich mich, Hero Leone?“
Heros Blicke waren tödlich. Doch Brutalo schien das nicht zu stören.
„Hero?“ Jan hob den Kopf. Er saß neben Brutalo an einen Stuhl gefesselt. Sein Blick war trüb, das Gesicht blutüberströmt. Er musste schrecklich darunter aussehen, doch das Blut verdeckte das Meiste und Hero war froh darüber.
„Ach, ihr kennt euch“, stellte Brutalo mit einem Unheil verkündenden Lachen fest. „Dann wird es mir eine Freude bereiten unserem Zuschauer, Hero Leone, die Folterkunst zu erklären.“
„Untersteh dich!“, zischte Hero.
„Sollte mir das Angst machen?“, fragte Brutalo lachend.
„Besser wär’s“, meinte Hero ohne den Hauch eines Gefühls in ihrer Stimme.
„Was hast du vor, Hero Leone? Willst du wieder das Haus anzünden? Oder spekulierst du darauf, dass ich vor Lachen ohnmächtig werde?“
„Weder noch“, antwortete Hero. „Ich werde dich besiegen.“
Brutalo lachte los. „Der war gut“, lachte er. Aber er wurde sofort wieder ernst. „Ich weiß, was man sich über dich erzählt, Hero. Hero Leone wurde von Zodiak höchstpersönlich ausgebildet. Du sollst richtig gut sein. Aber das glaub ich nicht. Zodiak würde niemals ein Mädchen unterrichten und selbst wenn doch, wärst du viel zu schwach, um gegen mich anzukommen.“
„Kommt auf einen Versuch an.“
Brutalo sah sie noch eine endlos lange Sekunde verwirrt an, zog dann aber einen Dolch aus dem Gürtel: „Der wird für dich genügen.“ Mit einem Schrei stürzte er sich auf sie.
Es war für Hero eine Leichtigkeit, ihm auszuweichen. Sie trat einen Schritt auf die Seite und Brutalo stolperte an ihr vorbei.
„Hast du Zuckungen?“, fragte sie amüsiert.
Diese Bemerkung genügte Brutalo und er wurde zum wilden Stier. Genau das hatte Hero gewollt. Wenn er wütend war würden ihm Fehler unterlaufen. Er war dann zwar auch unberechenbar, aber dieses Risiko musste sie eingehen. Hero zog ein Schwert und verteidigte sich.
Der Kampf dauerte etwa zehn Minuten, dann lag Brutalo entwaffnet und k.o. am Boden.
Das Mädchen hob außer Atem den Dolch auf und schnitt damit die Fesseln des Polizisten durch. Schnell machte das Mädchen noch eine Runde durch das Haus. Doch Brutalo war der einzige Gegner, den sie antraf. Sie kehrte nicht mehr in den Kellerraum zurück, sondern ging langsam in die Stadt.

Hero stand an eine Mauer gelehnt, einen Fuß daran abgestützt, die Augen geschlossen, den Kopf nach oben gerichtet. Regentropfen fielen leise auf ihr Gesicht. Warum fühlt es sich so leer an?

Sie hatte Jan befreit, hatte Brutalo besiegt. Jan übergab ihn wahrscheinlich gerade der Polizei. Und doch fühlte sie nichts, weder Freude noch Trauer darüber, dass Jan nun wusste, was sie tun konnte. Es fühlte sich leer an. Absolut leer.
Aber tief in ihrem Inneren wuchs die Erkenntnis. Sie würde nie ein normales Leben erreichen. Nicht nachdem Jan nun wusste, was los war. Auch wenn sie nun ins Kinderheim zurückkehren würde, wäre ihr Leben nie wieder so wie damals. Ja, sie könnte für ein halbwegs normales Leben kämpfen.

Ihre Hand krallte sich wieder in das Mark. Sie ließ es aber sofort wieder los, als hätte sie sich verbrannt und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Aber für ein halbwegs normales Leben musste sie erst die Unsterblichkeit verlieren. Das wiederum bedeutete aber, dass sie ihren Schwertkampf verbessern musste, um Zodiak zu besiegen. Würde das in einem normalen Leben überhaupt funktionieren?


Hero stand an der Mauer, spürte den Regen auf ihrem Gesicht, atmete die gesäuberte Luft ein. Sie fühlte wie das Blut von ihrer Haut gewaschen wurde, etliche ungefährliche Wunden sichtbar wurden. Ihr Körper begann bereits, zu heilen. Die Schnelligkeit mit der die Heilung vonstatten ging, hatte Dr. Engel damals irritiert. Hero hätte ihn aufklären können, hätte ihm diesen Vorgang erklären können, doch sie blieb still. Sie war zu dem Entschluss gekommen, dass es für ihre Freunde besser war, von der Unsterblichkeit nichts zu wissen. Es würde sie nur erschrecken, sie würden es nicht verstehen.
In der Ferne hörte Hero das leise Grollen des Donners. Sie genoss es im Regen zu stehen. Sie liebte es. Sie liebte es, den Regen auf ihrer Haut zu spüren.
Doch dann kam zu dem leisen Grollen des Donners noch etwas anderes. Leise Schritte näherten sich.
Langsam öffnete Hero die Augen. Wie erstarrt blieben die beiden Männer stehen. Heros Blick schien sie erschaudern zu lassen. Hero betrachtete sie, regte sich nicht. Sie stand auch weiterhin an der Mauer und sah zu ihnen hinüber, sah einfach nur hin, als sich die Männer wieder in Bewegung setzten. Langsam kamen sie näher, hoben beschwichtigend die Hände: „Wir wollen dir nichts tun. Wir wollen dich nach Hause bringen, Alexa.“
Das Mädchen blieb stehen, auch als sie in den beiden Männern Polizisten erkannte. Und noch etwas erkannte sie, etwas Abseits stand noch eine Person mit einem roten Regenschirm in der Dunkelheit.

Das Mädchen saß nun seit zwei Stunden in der Wache. Ein Arzt hatte sich um ihre Wunden gekümmert. Doch der Heilungsprozess war schon soweit fortgeschritten, dass er nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, dass es sich dabei um Messerstiche handelte. Auch hatte er ihre alten Wunden an Wade und Bauch entdeckt. Doch keine Erklärung dafür bekommen, wie oft er auch fragte, das Mädchen blieb stumm. Man hatte ihr trockene Kleidung gegeben. Einen grünen Pullover mit der Aufschrift Polizei, der ihr zweimal zu groß war und eine graue Hose.
Immer wieder hatte man Hero gelöchert. Doch diese beobachtete nur stumm das hektische Treiben um sie herum.
Die Polizisten wurden immer nervöser. Sie konnte ihre Eltern nicht ausfindig machen und das Mädchen schwieg beharrlich.
Nach weiteren drei Stunden – der Morgen graute bereits – meinte der Polizist: „Du siehst müde aus, Alexa.“
Hero hatte in den letzten Stunden kein Wort gesagt, und auch jetzt folgte sie dem Mann wortlos. Er führte sie in einen kleinen Raum mit einer Pritsche. Es war eine Zelle. Der Polizist verließ den Raum und ließ die Tür offen.
Hero legte sich auf die Pritsche. Sie war zu einem Beobachter ihres eigenen Lebens geworden. Sie sah sich auf der Pritsche liegen und doch sah sie durch ihre Augen die Decke.
Hero fühlte sich leer und doch nahte tief in ihrem Inneren die Erkenntnis, wuchs immer mehr und mehr. Und sie war fast bereit sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Nur nicht jetzt, noch nicht. Sie wollte noch ein paar Jahre ein unbeschwertes Leben führen. Danach würde sie sich den Verbrechern widmen. Das war jedenfalls was sie sich wünschte. Doch in ihrem Leben verlief nichts nach Wunsch. Sie würde sich die Verbrecher vom Hals halten, bis sie bereit war ihr Schicksal anzunehmen. Sie würde unsichtbar werden, solange sie brauchte, um sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
Mit diesem Vorsatz schlief Hero erschöpft ein. Der Heilungsprozess hatte ihr viel Kraft geraubt.
Doch der Feind aller guten Vorsätze war die Realität. Und genau das würde Hero bald feststellen müssen. Denn zuerst einmal musste sie aus der Wache raus. Aber soweit kam sie nicht.
Als sie nach Stunden unruhigen Schlafes erwachte, saß Tom neben der Pritsche. Ein Arm lag in einer Schlaufe um seinen Hals
„Hero, wie wär’s wenn du einfach mal versuchst, nicht abzuhauen?“, fragte er mit einem Lächeln im Gesicht. Dieses Lächeln sagte Hero, dass Jan ihm bereits alles erzählt hatte. „Jan erledigt die Formalitäten und dann kommst du erst einmal mit uns.“
Er stand auf und Hero folgte ihm wortlos. Ihr war alles egal. Nichts interessierte sie mehr.
Sie wurde in eine modern eingerichtete Wohnung gebracht. Nun saß sie auf einem schwarzen Ledersofa, ihr gegenüber Tom und Jan, der nun noch schlimmer aussah als vorher. Das Blut hatte einiges verdeckt.
Hero hatte die ganze Zeit noch kein Wort gesagt. Irgendwo in ihr war eine Blockade und hinter dieser wurden ihre Gefühle gefangen gehalten. Denn Hero konnte nicht mit ihnen umgehen. Sie gab ihnen die Schuld an der Katastrophe, die sich ihr Leben nannte. Tom und Jan waren Freunde für sie und diese Freundschaft hatte sie in Gefahr gebracht. Ihre Freunde hatten leiden müssen, nur weil sie ihre Gefühle offen gezeigt hatte. Sie wollte nicht mit den beiden Polizisten sprechen, wollte sie nicht noch mehr in Gefahr bringen, wollte sie aus ihrem Leben verbannen wie alle ihre Freunde.

Gefangen in der Welt der Erinnerung



Wieder fing Tom an zu fragen, immer tiefer und tiefer zu bohren. Doch Hero antwortete nicht. Sie sah ihn einfach nur traurig an.
„Was hat dich so verletzt, dass du nicht mal mehr weinst, dass du nicht mal mehr lachst, dass du nicht mal mehr Gefühle empfindest? Wir wissen von deiner Nachbarin, dass du früher ein fröhliches Mädchen gewesen bist. So tiefe Wunden kann der Verlust der Eltern gar nicht aufreisen. Was hat dir das Lachen gestohlen?“, fragte Tom.
Aber auch jetzt blieb Hero still. Ihr Blinzeln dauerte fast eine Sekunde. Es war fast so, als ob das Mädchen resignierte, als ob dieser Blick fragen würde: Wann akzeptieren diese Erwachsenen endlich, dass sie nichts erfahren?
„Hero, dir ist schon klar, dass du uns nicht noch einmal entwischt?“, fragte Jan mit einem Lächeln im Gesicht. „Wir werden auf dich aufpassen wie auf den wertvollsten Schatz der Welt, solange bis du uns sagst, was mit dir los ist. “ Obwohl Jan es mit einem Lächeln gesagt hatte, nahm es seiner Drohung nichts an Schärfe.
Und sie hatten ihre Drohung tatsächlich wahr gemacht. Hero hatte vermutet, dass sie irgendwann nachlässig werden würden und sie verschwinden konnte. Aber bald musste das Mädchen einsehen, dass die Kronjuwelen der Queen nicht besser bewacht werden könnten.
Doch Hero machte es den Polizisten leicht. Ihre Nacht im Regen hatte Spuren hinterlassen. Eine gewaltige Grippe brach über Hero herein. Da war die Unsterblichkeit nutzlos. Sie hatte nicht die Macht gegen Viren und Bakterien vorzugehen. Sie war noch nie – mit Ausnahme, damals im Krankenhaus, als sie Billy gerettet hatte – dermaßen von einer Grippe befallen gewesen, dass sogar Dr. Engel, der zu ihrer Behandlung geholt wurde, Angst um sie hatte. Das Fieber stieg auf bis zu 43°C.
Hero lag sechs Tage im Bett, bevor sie überhaupt wieder in der Lage war, sich aufzusetzen.
Apathisch saß das Kind in ihrem Bett. Die Beine angezogen, die Arme eng um diese geschlungen. Die Grippe war besiegt, doch etwas weitaus schlimmeres bedrohte ihre Welt. Die Geschehnisse der Vergangenheit bedrohten sie wie finstere Dämonen. Das Mädchen musste alle Kräfte aufwenden, um nicht von diesen Erinnerungen vernichtet zu werden. Doch Hero war nicht stark genug. Sie war gefangen in der Welt ihrer Erinnerungen, drohte von ihnen verschluckt zu werden. Immer wieder liefen die Bilder von Zodiak, Brutalo, ja von allen Verbrechern, die sie in letzter Zeit kennen und fürchten gelernt hatte, vor ihrem inneren Auge ab. Die Treffen mit ihnen wurden in ihren Erinnerungen in immer düster werdenden Farben ausgemalt. Ihre Erinnerungen vermischten sich mit Phantasien, schrecklicher als die Wirklichkeit. Immer wurden ihre Freunde verletzt. Immer deutlicher wurde Hero gezeigt, wie gefährlich ihre Anwesenheit für ihre Freunde war. Diese Erkenntnis stieß Hero immer tiefer in ihre Apathie.
Schon zwei Wochen saß Hero ohne eine Regung in diesem Zimmer. Nachts aber suchten sie ihre Phantasien in ihren schlimmsten Alpträumen heim. Wenn sie dann schreiend erwachte, stand Jan neben ihr. Aber Hero sagte kein Wort. Mit schreckensgeweiteten Augen starrte sie an die Decke bis sie wieder die Augen schloss und wieder in unruhigen Schlaf verfiel, wieder von ihren Phantasien gequält wurde.
Als Tom nach einer dieser Attacken am nächsten Morgen das Zimmer betrat, blieb er wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Das Bett war leer. Aufgeschreckt lief er zum Bett, nahm aber aus den Augenwinkeln eine Bewegung war. Hinter der Tür in einer Ecke lag Hero zu einem Ball zusammengerollt und zitterte am ganzen Körper.
Tom kniete sich nieder, redete auf sie ein. Doch das Mädchen reagierte nicht darauf. Schließlich breitete Tom eine Decke über Hero aus und verließ den Raum, telefonierte kurz und kam zurück. Der Polizist blieb neben dem zitternden Mädchen sitzen, bis es an der Tür klingelte und Jan und ein weiterer Mann das Zimmer betraten.
„Wieso haben Sie mich nicht schon früher gerufen?“, fragte der alte Polizeipsychologe vorwurfsvoll.
Die Polizisten schwiegen.
Lange untersuchte der Psychologe das Mädchen, stellte Fragen, auf die er keine Antwort bekam und stand schließlich entmutigt auf.
„Ich kann ihr nicht helfen. So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Nach einem letzten mitleidigen Blick verließ er kopfschüttelnd den Raum.
Sanft hob Jan Hero wie ein kleines Kind hoch und trug sie zurück ins Bett.
Wieder wachte Hero in dieser Nacht schreiend auf. Jan stürmte ins Zimmer. Tränen rannen Hero übers Gesicht. Die Jungs waren vor ihren Augen gestorben. Sie hatte nichts dagegen unternehmen können.
In dieser Nacht schlief das Kind nicht mehr ein. Jan blieb die ganze Nacht bei ihr, hielt stumm, mitfühlend ihre Hand.
Der Tod ihrer Freunde hatte Hero gezeigt, dass sie nicht einfach zusehen durfte, dass sie sich wehren musste. Langsam wurde Hero stark genug die Apathie zu besiegen. Ihre Freunde gaben ihr die Kraft. Sie musste sie beschützen.
Nach weiteren zwei Tagen stand das Mädchen erstmals wieder auf und verließ mit unsicheren Schritten das Zimmer. Die Apathie war größtenteils besiegt. Sie fühlte sich stark genug, ihre Freunde zu beschützen.
Erstaunt sah Jan von seiner Zeitung auf. „Hero!“, rief er überglücklich. Doch Hero antwortete nicht, erschöpft ließ sie sich an der Wand zu Boden gleiten. Diese kurze Strecke hatte sie aller Kraft beraubt. Doch Jan sah darin einen Fortschritt. Hero kehrte wieder in die normale Welt zurück. Langsam nur aber sie kehrte zurück.
Hero war nun seit drei Wochen bei den Polizisten und hatte noch kein einziges Wort gesagt. Doch mittlerweile war dem Mädchen alles egal. Sie konnte nicht mehr, musste einsehen, dass die Polizisten die Wahrheit über sie auch ohne ihre Hilfe rausfinden würden, dass sie ihr Schweigen nicht durchhalten würde. Sie hatte nicht mehr die Kraft weiter zu schweigen, hatte nicht mehr die Kraft für neue Lügen. Die Lüge der Unsterblichkeit genügte ihr. Sie musste mit jemanden reden oder ihr Wissen würde sie vernichten. Auch das hatte ihr die Zeit der Apathie gezeigt.
„Hero, wieso hast du das getan?“, fragte Jan wieder einmal wie schon so oft in letzter Zeit. Er erwartete nicht, dass das Mädchen antworten würde und doch versuchte er es immer wieder.
„Was?“ Heros Stimme war rau und es schien als hätte sie in der Zeit des Schweigens das Sprechen verlernt. Erstaunt sah Tom von seinen Unterlagen auf und auch Jan war in höchstem Grade verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Hero antworten würde. Nicht nach den letzten Wochen.
„Wieso hast du mich gerettet?“, fragte er weiter, um seine Verwirrung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
„Warum nicht?“
„Wieso hast du nicht die Polizei gerufen?“
„’tschuldigung, aber die Polizei ist bei solchen Sachen so leise wie ein Elefant. Bis die ihre Männer in Stellung gebracht hätten, hätte Bru… der Mann längst spitz gekriegt, dass da was läuft“, meinte Hero frech, biss sich dann aber auf die Unterlippe und sah verlegen zu Boden.
„OK. Lassen wir das mal“, meinte Jan ebenfalls verlegen. „Aber wie hast du das gemacht?“
„Was?“, fragte Hero und wusste nun wirklich nicht, was der Mann meinte.
„Wie hast du mich gerettet? Woher kannte dich dieser Mann?“
Hero hatte lange überlegt, sich gefragt, ob sie es wagen durfte, den Polizisten ihre Geschichte zu erzählen. Auch jetzt war sie sich nicht sicher, ob ihr Entschluss richtig war, als sie anfing zu erzählen. Die Polizisten hatten schon so viel über ihr Leben herausgefunden. Dinge, die die Amnesie gelöscht hatte. Aber auch über die Zeit vor Zodiak wussten sie schon einiges. Sie fing an zu erzählen. Es tat gut, mit jemanden über ihre Geschichte zu sprechen. Sie erzählte von der Zeit vor Zodiak, von der Zeit als sie von einer Entführung in die nächste geflohen war. Über die Zeit danach verriet sie allerdings kein Wort. Sie erwähnte auch nicht Black kids, die Zeit bei Zodiak, die Aufträge des Mannes in Schwarz, die Unsterblichkeit. So vieles ließ sie ungesagt.
Als Hero geendet hatte, war ihr Hals rau. Sie hatte fast keine Stimme mehr. Kein Wunder, sie hatte nun zwei Stunden ununterbrochen erzählt. Die Polizisten hatten einfach nur zugehört. Auch jetzt blieben sie still.
Jetzt kam das schlechte Gewissen. Brachte sie die Polizisten durch ihre bloße Anwesenheit schon in Gefahr, stieg diese Gefahr durch dieses Wissen ins Unermessliche.

Auch wenn Hero nur einen kleinen Teil ihres Lebens preisgegeben hatte. Es war schon viel zu viel.
„Das … das ist ja ungeheuerlich“, stammelte Tom. „Wieso hast du uns das nicht schon früher gesagt?“
„Ich wollte euch nicht in Gefahr bringen. Und ich weiß auch jetzt noch nicht, ob ich das Richtige getan habe“, meinte Hero mit leiser tonloser Stimme. Traurig hielt sie den Blick gesenkt.
„Wir sind erwachsene Männer und noch dazu Polizisten. Wir werden doch wohl auf uns aufpassen können … und auf dich“, meinte Jan nach kurzem Zögern. „Es ist viel zu gefährlich für dich da draußen. Du hast dir seit dem Tod deiner Eltern so viele Feinde gemacht, wie wir uns in unserer ganzen Polizeikarriere noch nicht gemacht haben. Wir werden einen Weg finden dich vor ihnen zu schützen.“
Hero hätte beinahe aufgelacht. Wenn die Polizisten auch den Rest ihrer Geschichte erfahren hätten, hätten sie gewusst, wie viele Feinde das Mädchen wirklich

hatte.
Zweifelnd sah Hero Jan an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Genau das wollte sie. Sie wollte beschützt werden und doch wusste sie, dass niemand sie vor den Verbrechern schützen konnte.
Doch Hero wurde in ihren Gedankengängen unterbrochen, als das Telefon die Stille, die sich im Wohnzimmer ausgebreitet hatte, störte. Schwerfällig erhob sich Tom.
„Ja?“, fragte er in den Hörer. Sein Gesicht hellte sich auf.
„Ja … Ja … Natürlich kannst du vorbeikommen.“ Tom legte auf.
„Das war Juli. Er kommt übermorgen mit seinen Eltern in die Stadt. Er brennt darauf dich zu sehen“, wandte sich Tom an Hero. Er wollte noch etwas sagen, doch da schrillte die Türglocke.
Jaden stürmte an Tom vorbei und fiel Hero um den Hals. Das Mädchen war sprachlos. Sie hatte nicht damit gerechnet, den Jungen noch einmal wieder zu sehen und vor allem nicht so früh.
„’tschuldigung. Hat leider etwas länger gedauert“, entschuldigte sich der Junge.
Die Polizisten waren froh, wenn sie in Heros Gesicht sahen. Das traurige Gesicht war verschwunden, stattdessen sah man ein dünnes Lächeln.
Wieder schrillte die Türglocke. Hero konnte nur den Kopf schütteln. Was war heute nur los? Hier ging’s ja zu wie in einem Taubenschlag.

Atikes stürmte ins Wohnzimmer und umarmte Hero stürmisch.
Doch Hero genoss den Nachmittag nur teilweise. Sie war glücklich, ihr Herz machte Luftsprünge, ihre Gefühle hatten die Kerkertür gesprengt. Sie wollte immer mit Jaden und Atikes zusammen sein. Aber ihr Verstand sah das anders. Sie durfte diese Gefühle nicht haben. Diese Gefühle brachten ihre Freunde in Gefahr. Diese Gefühle gaben den Verbrechern Macht über sie. Aber das durfte sie nicht zulassen. So sehr sie auch bei Jaden und Atikes bleiben wollte, sie durfte es nicht. Die Gefahr war einfach zu groß; nicht für sie aber für ihre Freunde.
Nachdem Jaden und Atikes sich verabschiedet hatten, ließ Hero sich entkräftet an der Wand im Flur zu Boden gleiten. Ihre Gefühle waren wieder gefangen, die Kerkertür neu errichtet worden.
Was hatte sie getan, um so bestraft zu werden?

Das erste Mal seit Jahren hatte sie wieder Freunde und nun durfte sie mit diesen nicht befreundet sein, weil jeder, der mit ihr Kontakt hatte, in Lebensgefahr schwebt.
Das Mädchen umklammerte ihre Beine und zog sie zu sich. Apathisch wippte sie leicht vor und zurück.
Traurig beobachtete Tom das Mädchen. Ihr Zustand hatte sich nach Jadens und Atikes’ Besuch wieder verschlimmert. Was würde er nicht alles dafür geben, zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging.

Er sah das traurige Gesicht und den Schmerz, der in ihrem Blick lag. Doch dieser Schmerz stammte nicht von körperlichen Verletzungen. Dr. Engel hatte sich davon überzeugt, dass sie keine Verletzungen hatte und die Schnittwunden waren auch schon verheilt. Er konnte sich den Schmerz nur durch ihre Erlebnisse erklären. So einen Fall hatte er in seiner ganzen Laufbahn als Polizist noch nicht erlebt. Klar, hatte er schon viele entführte Kinder getroffen. Doch diese waren einmal entführt worden und nicht unzählige Male und hatten dann nicht auch noch Wochen auf der Flucht hinter sich. Hero war ein einzigartiger Fall. Aber dennoch erklärten diese Entführungen noch nicht diesen Schmerz, diese Ablehnung der Gefühle. Natürlich war es hart für sie. Aber Hero war ein starkes Mädchen.

Tom vermutete ganz richtig, dass dieser Schmerz von der Zeit ihrer Flucht kam, über die sich Hero ausgeschwiegen hatte. Er war sich sicher, dass da noch mehr war, mehr als sie ihnen erzählt hatte. Dafür war sie einfach viel zu lange auf der Flucht gewesen.

Die Flucht vor dem Glück



Alles war ruhig. Tom und Jan schliefen. Hero lag im Bett und konnte nicht schlafen. Sie quälten die Erinnerungen, Erinnerungen an die unzähligen Male, in denen sie ihre Freunde in Gefahr gebracht hatte.
Leise stand sie auf. Sie wusste, dass Jan einen leichten Schlaf hatte.
Leise verließ sie die Wohnung der Polizisten. Sie würde nicht wiederkehren.
Auf der Straße blieb sie stehen und sah sehnsüchtig zurück. Wie gern würde sie bleiben. Sie hatte sich bei den Polizisten wohl gefühlt und doch konnte sie es nicht verantworten, länger zu bleiben.


Geknickt lief Hero durch die Straßen. Konnte sie es verantworten, zu den Dieben zurückzukehren? Brachte sie die Diebe durch ihre Anwesenheit nicht auch in Gefahr?

Diese Frage quälte Hero. Doch dann fasste sie einen Entschluss. Niemand würde die Diebe finden und somit waren sie dann auch außer Gefahr. Wer vermutet schon eine Horde Kinder in einem alten Hotel?


Wieder einmal stand sie vor dem Hotel Sonnenschein. Schnell sah sie sich um. Beobachtete sie jemand? Dann lachte sie auf. Es war weit nach Mitternacht. Wer sollte sie da schon beobachten? Sie bückte sich, hob mit sichtlicher Anstrengung den Kanaldeckel auf und schlüpfte durch das Loch.
Doch den Deckel wieder auf das Loch zu bringen, erwies sich als schwierig. Irgendetwas klemmte. Sie zog und zerrte. Plötzlich bewegte er sich und glitt wieder auf seine alte Position. Doch Hero verlor den Halt auf der glitschigen Leiter und stürzte in die Tiefe.
Hart schlug sie auf. Es knirschte verdächtig in ihrem rechten Handgelenk und ein grässlicher Schmerz schoss durch jede Faser ihres Körpers. Sie unterdrückte einen schmerzerfüllten Schrei.
Das rechte Handgelenk fest an ihren Körper gepresst, stand Hero auf und lief durch den Kanal. Jeder Schritt schmerzte. Dennoch quälte sie sich immer weiter. Ihr Handgelenk ließ ihren Körper durch Schmerzeswellen erzittern.
Vor der Tür mit der Aufschrift Notausgang ließ sie sich auf den Boden sinken. Jetzt hieß es warten. Da sie weder Passwort noch Klopfrhythmus kannte, hatte sie keine Chance in das Hauptquartier der Diebe zu gelangen.
Irgendwann musste Hero wohl eingeschlafen sein, trotz des pochenden Schmerzes in ihrer rechten Hand. Denn sie wurde von einem Tritt und einem überraschten Schrei geweckt. Fabian lag über ihr. Genauer gesagt war er über sie gestolpert.
„Hero, was machst du hier? Wo warst du solange?“, fragte Linda erstaunt.
„Ich war bei der Polizei“, antwortete Hero durch zusammengebissene Zähne. Der Schmerz in ihrem Handgelenk war unvorstellbar. Und als Fabian dann von ihr kletterte, berührte er ihre Hand. Hero schloss die Augen, versuchte den Schmerz zu kontrollieren.
„Ist was? Geht’s dir nicht gut?“, fragte Fabian besorgt. Doch Hero schüttelte nur den Kopf.
„Wieso warst du bei der Polizei?“, fragte Ratte.
Aber Hero antwortete auch darauf nicht. Keiner erfuhr, was die letzten Wochen geschehen war und die Diebe bohrten auch nicht weiter. Schließlich war es Heros Ding.
Nun war Hero wieder bei den Dieben. Doch sie gliederte sich nicht mehr so nahtlos in ihre Gemeinschaft ein. Ihre Gefühle waren immer noch in ihrer Zelle gefangen. Sie hatte Angst davor, sie frei zu lassen, Angst vor den Folgen. Wenn die Verbrecher auch nur Wind davon kriegen würden, wären die Diebe in schrecklicher Gefahr. Hero wollte sich bei ihnen verstecken, aber sie nicht in Gefahr bringen. Sie verdrängte den Gedanken, dass sie die Diebe durch ihre bloße Anwesenheit schon in Gefahr brachte, schloss ihn weg.

Hero war nun seit drei Tagen bei den Dieben. Sie taute mehr und mehr auf. Zwar zeigte sie ihre Gefühle immer noch nicht, aber sie redete wieder mit ihnen.
Doch dann passierte es. Hero saß allein in einer Ecke. Die Diebe stritten sich gerade darüber, bei wem es war einzukaufen und was sie zum Essen wollten. Doch da hörte Hero Stimmen. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Sie bildete sich das alles nur ein. Das war nicht real.

Sie hörte Juli und Atikes. Und was noch schlimmer war, die Diebe hörten sie auch.
Hero sprang auf und sah sich nach einem Ausweg um. Sie durfte die Jungs nicht sehen. Sie musste weg. Juli und Atikes waren glücklich bei ihren Familien. Sie durfte dieses Glück nicht zerstören.

Doch es gab keinen Ausweg. Sie spürte die irritierten Blicke der Diebe. Das Mädchen brachte es nicht fertig, ihnen in die Augen zu sehen.
Fabian war ebenfalls aufgesprungen und eilte zu Tür.
Hero sank niedergeschlagen zu Boden. Sie konnte ein Zusammentreffen nicht mehr verhindern. Sie konnte nicht verschwinden. Die Erkenntnis sog alle Kraft aus ihr.
„Hero!“ Atikes fiel ihr um den Hals. „Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht.“
Hero sog scharf die Luft ein. Ihr Handgelenk meldete sich schmerzhaft zu Wort. Doch die Jungs bemerkten es aufgrund ihrer Freude nicht. Atikes spürte zwar den Schmerz, wies ihn aber einem der Diebe zu.
„Hero, wieso konntest du nicht auf mich warten?“, fragte Juli vorwurfsvoll. „Du wusstest, dass ich komme.“
Das Mädchen sah zu Boden, wollte nicht antworten. Die Jungs bestürmten Hero weiter mit Fragen, Vorwürfen.
Schließlich meinte Hero leise: „Ich wollte euch nicht in Gefahr bringen. Bitte geht wieder! Lasst mich allein!“
Juli und Atikes sahen das Mädchen irritiert an. Was sagte sie da?


„Du wolltest uns nicht in Gefahr bringen? Bist du noch bei Trost. Das war doch alles nicht deine Schuld“, fuhr Juli sie an.
„Eben doch. Ihr wärt nie in Gefahr gekommen, wenn ihr mich nicht getroffen hättet. Und das wird auch so bleiben. Jeder in meiner Umgebung gerät in Gefahr.“
„Hero, ich entscheide selbst, wer mich in Gefahr bringen darf und wer nicht. Ich hätte jederzeit gehen können, wenn ich gewollt hätte. Aber ich blieb bei dir. Ich hätte mich dir nicht einmal nähern müssen. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich mich dir damals im Haus der lebenden Toten anschloss. Ich weiß, dass es dir schwer zu schaffen macht, uns der Gefahr auszusetzen. Aber wir können uns wehren. Hero, du kannst nicht immer nur weglaufen und dich verstecken. Das passt gar nicht zu dir. Du warst ein mutiger Krieger und jetzt sitzt du hier wie ein Angsthase. Du kommst jetzt mit uns!“ Atikes dachte an all die Gelegenheiten, in denen Hero Mut bewiesen hatte, mehr Mut als er ihr zugetraut hatte. Und nun saß Hero hier und wollte sich verstecken. Sie wollte sich verstecken, um andere – um uns – zu schützen.

Atikes streckte ihr fordernd die Hand entgegen. Das wollte er nicht zulassen.
Hero schüttelte traurig den Kopf.
Atikes dachte daran, was dieses Kind schon alles hatte aushalten müssen, mehr als so mancher Erwachsener. War es da zuviel verlangt, ihr ein bisschen Freude zurückzugeben, sie aus ihrem Schneckenhaus zu holen? Die ständige Flucht musste aufhören. Hero zerstörte sich noch selbst.


Den Jungs fiel erst jetzt so richtig auf, dass sie bei Hero während ihres Zusammenseins nachdem sie Zodiak verlassen hatte nie ein wirkliches Lächeln gesehen hatten, ganz zu schweigen von ausgelassener Fröhlichkeit. Ihre Augen hatte immer traurig in die Welt geblickt und ihr Mund sich nur ganz selten verzogen zu etwas, was man andeutungsweise ein Lächeln nennen konnte.
Zodiak hatte ihr Leben zerstört. Wenn es vorher schon schwierig für das Mädchen war, glücklich zu sein, war es nach Zodiak unmöglich geworden. Und nun war Hero bereit für die Sicherheit ihrer Freunde ihr Leben aufzugeben, sich ständig versteckt zu halten, ihr Glück hinten anzustellen. Das würden sie nicht zulassen.
„Wir werden nicht zulassen, dass du dein Leben zerstörst. Nicht wegen uns. Wir können ganz gut auf uns allein aufpassen. Wegen uns musst du dich nicht verstecken“, meinte Juli.
Hero lächelte. Aber sah man in ihre Augen, sah man die Trauer, den Schmerz. Aber auch Erfahrung.
Mitleidig sahen die Jungs das Mädchen an. Sie hatte einiges durchgemacht. Sie war fast gestorben, hatte alles verloren, nur um ihr Leben der Verbrecherjagd zu widmen. Ihr größter Wunsch war ein ganz normales Leben. Das war offensichtlich. Doch das würde sich nie erfüllen. Sie wurde gesucht. Steckbriefe von ihrem früheren Ich, von ihrem jetzigen Ich und Black kids waren im Umlauf wie Atikes erst vor einigen Tagen festgestellt hatte.
„Wenn du jetzt nicht mit uns kommst, hole ich die Polizei“, drohte Juli aber so leise, dass die Diebe seine Worte nicht verstanden. Erschrocken sah Hero Juli an. „Es reicht jetzt. Du hast lang genug etwas für uns getan. Jetzt sind wir dran und wir werden dir ein neues Leben geben ohne Verbrecher.“
Langsam stand Hero auf. Juli zweifelte daran, dass es seine letzten Worte waren, die Hero dazu bewegten. Wohl eher war es seine Drohung gewesen, die Diebe zu verraten. Aber das war ihm jetzt egal, solange Hero nur mit ihnen kam. Um sie dann auch bei sich zu behalten, würden sie sich noch etwas einfallen lassen müssen. Juli war sich sicher, dass Hero bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bot, die Flucht ergreifen würde.

„Da bist du ja wieder. Wo warst du? Wieso bist du abgehauen?“, fragte Jan und nahm sie in den Arm. Seine Miene war eine Mischung aus Wut und Erleichterung.
„Ich glaube, wir müssen dich das nächste Mal fesseln, bevor wir schlafen gehen. Weißt du was für ein Schock das ist, wenn man aufwacht und du bist nicht mehr da?“, fragte Tom mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich kann ja, verstehen, dass das mit Jaden und Atikes ein bisschen viel für dich war, dass du die Erinnerung nicht ertragen konntest. Aber das ist noch lange kein Grund einfach fortzulaufen.“
Hero sah betreten zu Boden. Sie fühlte sich miserabel. Sie wusste nicht, was schlimmer war, die Vorwürfe der Polizisten oder das Gefühl, dass sie Recht hatten.
Dann fiel ihr Blick auf die zwei Personen, die im Wohnzimmer der Polizisten saßen. Sie saßen auf der Couch; eine blonde, hübsche Frau und ein braunhaariger Mann mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. Heros erster Gedanke war das Kinderheim. Man musste ihr Erschrecken auf ihrem Gesicht gesehen haben. Denn Juli sagte schnell: „Alexa, Atikes darf ich vorstellen. Meine Eltern.“ Hero sah den Jungen erstaunt an bis sie begriff, dass er mit ihr gesprochen hatte, dass mit Alexa

sie gemeint war.
Das Mädchen atmete auf und lächelte gezwungen. Der Mann und die Frau standen auf und gingen auf Hero und Atikes zu. Sie reichten ihnen die Hand. Zögernd gab Hero ihnen die Hand, machte sich schon auf den Schmerz gefasst. Die Unsterblichkeit tat zwar ihr Möglichstes aber der Bruch weigerte sich, zu heilen. Der Mann hatte einen festen Händedruck. Hero ging in die Knie und konnte ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken.
Sofort waren alle um sie herum besorgt.
„Was ist los? Bist du verletzt?“
„Es ist nichts“, antwortete das Mädchen leise. Doch die Erwachsenen ließen ihren Einwand nicht gelten. Tom legte ihr den Arm um die Schultern und bugsierte sie aus dem Raum. „Wir fahren jetzt ins Krankenhaus“, meinte er besorgt.
„Nein, es ist nichts. Alles ist bestens.“ Hero wand sich aus seiner Umarmung.
Nun reichte es Jan. Er zog Heros Arm zu sich und schob die Jacke zurück. Ihr Handgelenk kam zum Vorschein. Es war rot und angeschwollen.
„Ach, alles bestens. Nur eine klitzekleine Verletzung. Wieso sagst du uns nichts. Du musst doch Schmerzen haben. Das sieht sogar ein Laie wie ich, dass das keine Verstauchung ist“, sagte Jan besorgt und auch wütend.

Zwei Stunden später saß Hero mit einem blütenweißen Gips vor der Haustür mit Juli und Atikes als Bewacher. Die Erwachsenen wollten irgendetwas Wichtiges klären. Jan hatte ihr scherzhaft angedroht, ihr den gesamten Polizeiapparat auf den Hals zu hetzen, wenn sie auch nur daran dachte, zu verschwinden. Hero, Atikes und Juli saßen stumm nebeneinander. Niemand sagte ein Wort. Hero war noch zu sehr mit dem Wandel der Dinge beschäftigt.
Irgendwann öffnete sich über ihnen ein Fenster und die Polizisten riefen die Kids herein. Sie sahen glücklich aus. Hero konnte sich diese Freude nicht erklären. Aber es würde nicht mehr lange dauern bis sie diese Freude verstand, obwohl sie sie nicht selbst spüren würde.
„Unser Sohn Julian-Alexander langweilt sich in unserem Haus“, fing Julis Vater an.
Hero konnte gerade noch verhindern, dass sie den Kopf schüttelte. Erst Juli, dann Jörg und jetzt Julian-Alexander.


„Deshalb haben wir beschlossen, dass er bis das neue Schulhalbjahr beginnt, bei dir bleiben wird.“
„Nein, das will ich nicht.“ Die Erwachsenen sahen Hero erstaunt an. „Ich will nicht, dass Juli ins Kinderheim zurück muss.“
Die Polizisten beachteten Heros Einwand und auch die verwirrten Blicke von Julis Eltern gar nicht, sondern wandten sich an Atikes. „Wer war das Mädchen, das dich vor dem Kinderheim gerettet hat?“ Schon Jans Wortwahl machte deutlich, dass da noch mehr kommen würde, mehr, von dem man jetzt noch nichts ahnte.
„Meine Schwester.“ Atikes saß in dem Wohnzimmer und fühlte sich sichtlich unwohl und das lag wohl zum größten Teil an den Fragen der Polizisten.
„Wie hieß sie noch mal?“, fragte Tom und legte den Zeigefinger ans Kinn, schien zu überlegen.
„Ilona.“ Atikes ahnte bereits, dass dieses Gespräch für ihn kein gutes Ende nehmen würde.
„Wie alt ist sie denn?“
Atikes blieb stumm. Schließlich antwortete er zögernd. „Sechzehn.“
„Atikes, du enttäuscht mich“, sagte Jan. Ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen. „Wenn du dir eine Geschichte ausdenkst, musst du auch alle Aspekt kennen.“
Der Junge sah den Polizisten verwirrt an.
„Das nächste Mal solltest du dir einen anderen Retter in der Not suchen. Besser wäre, wenn du dir jemanden suchst, der nicht gesucht wird. Mir kam das Mädchen gleich so bekannt vor. Wenn du in Ilonas Gesellschaft warst, darf ich wohl vermuten, dass auch du von Zuhause weggelaufen bist.“
Trotzig presste Atikes die Lippen aufeinander. Tom und Jan lächelten.
„Wir werden dich nicht gewaltsam nach Hause bringen. Wir wissen, dass du wieder weglaufen wirst. Deshalb bieten wir dir an eine zeitlang bei uns zu bleiben, bis du freiwillig nach Hause gehst. Du kannst Alexa und Juli Gesellschaft leisten. Auch sie wird bei uns bleiben. Wir sind uns ziemlich sicher, dass sie keine Stunde im Kinderheim bleiben würde.“ Die Polizisten hatten genauer gesagt die Hoffnung, dass, wenn Atikes und Juli blieben, sie auch Hero zum Bleiben bewegen konnten oder die beiden Jungs wenigstens gut genug auf Hero aufpassen, dass sie nicht wieder abhauen konnte. Mittlerweile war es den zwei Männern sogar egal, wie viele Regeln sie schon für die Kinder gebrochen hatten, wie viele sie noch brechen würden. Diese Kinder waren wahrlich etwas Besonderes. Vor allem Hero galt es zu schützen. Sie hatte so viel durchgemacht.
Julis Eltern verabschiedeten sich. Der Abschied fiel kühl aus. Aber wenn man es genau betrachtete, kannten sich Eltern und Sohn erst seit kurzer Zeit. Die letzten Worte, die sie an ihren Sohn richteten, bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, waren: „Vergiss die Nachprüfungen nicht.“
Ausgelassen saßen die fünf dann im Wohnzimmer. Doch schon bald verließ Hero diese lustige Gesellschaft und ging in das Zimmer, das sie bis jetzt bewohnt hatte.
Lange noch lag Hero wach. So bekam sie auch noch mit, wie Jan telefonierte. Es war nicht schwer zu erraten, wer am anderen Ende der Leitung war.
„Ja, Alexa Montez ist bei uns. … Nein, ich weiß nicht wo Hero Leone ist. … Ja, wir sehen uns morgen im Präsidium.“
Die Jungs schliefen diese Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer und auf einer Luftmatratze vor Heros Zimmertür.
Nein, abhauen wollte sie nicht, nicht jetzt. Es war wie ein Traum. Sie war in Sicherheit und hatte Freunde um sich. Das war alles, was sie sich immer gewünscht hatte.

Sie wollte es genießen, es festhalten, wenigstens noch für kurze Zeit. Sie wusste, es würde nicht lang warten, dafür war sie zu sehr vom Pech verfolgt.
Am nächsten Tag packten die Polizisten die Kinder vormittags in ihr Auto und fuhren mit ihnen quer durch die Stadt, zu einem Notar.
„Her … Alexa“, verbesserte sich Jan schnell. In einem stummen Einvernehmen hatten sie beschlossen, dass Hero Leone gestorben und Alexa Montez geboren war, „wir haben herausgefunden, dass deine Eltern ein Testament hinterlassen haben. Wir wollten eigentlich mit dir schon einen Tag, nachdem du ins Kinderheim gekommen bist, hierher fahren. Doch du konntest ja nicht auf uns warten.“
Das Testament bestand aus einem Brief ihrer Eltern, in dem sie Hero ihr Haus, das nun nicht mehr existierte und ihr ganzes Vermögen hinterließen. Traurig stellte Hero fest, dass ihre Eltern es nicht einmal in ihrem Testament für nötig gehalten hatten, sich als Pflegeeltern zu erkennen zu geben.
Den Rest des Tages, ließen die zwei Erwachsenen die Kids in Ruhe. Aber sie hatten Juli und Atikes eingeschärft auf Hero zu achten.
Eine Woche später feierten sie ein Fest, dessen Grund den Kids anfangs verborgen blieb. Doch freudestrahlend erklärten die Polizisten: „Wir sind Vater geworden.“ Drei Paar irritierte Blicke fixierten die Männer. „Wir haben ein vierzehnjähriges Mädchen adoptiert. Und ihr könnt euch sicher denken, wen. Na, … natürlich. Alexa Montez.“
Hero wusste nicht, was sie von der Wendung der Dinge halten sollte. Das war es, was sie sich gewünscht hatte; eine Familie. Doch sie brachte jeden in ihrer Umgebung in Gefahr. Wenn die Verbrecher auch nur Wind davon bekämen – Nein.,

Hero wollte gar nicht daran denken.

Heros Entscheidung



Alexa stürzte sich in die Arbeit, sowohl in die Hausarbeit als auch in die Vorbereitung für die Nachprüfung, die auch sie absolvieren musste, um wieder zur Schule gehen zu können. Sie hatte nie gedacht, dass sie das jemals sagen würde. Aber sie freute sich auf die Schule. Schule bedeutete ein normales Leben. Das Kind arbeitete hart für dieses Leben. Sie wollte sich davon abhalten, nachzudenken. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass dieses neue Leben nicht ewig währen würde, dass die Verbrecher sie irgendwann finden würden, sie ihre Vergangenheit einholen würde.
Aber alles war normal.
Alexa sah keine Nachrichten, las keine Zeitung aus Angst vor ihren Erinnerungen.
Doch es war alles in Ordnung. Ihr Leben lief wieder in geordneten Bahnen. Sie wollte nicht mehr abhauen.
Normalerweise waren Alexa, Atikes und Juli unzertrennlich. Doch heute saß das Mädchen allein im Park. Die Jungs waren bei einem Fußballspiel. Alexa fand diesen Sport hirnrissig. Ein paar Männer stritten sich um einen Ball.
Doch langsam wurde das Mädchen unruhig. Das Spiel sollte schon längst aus sein; selbst mit Verlängerung und Freudentaumel. Aber die Jungs kamen einfach nicht.
Es wurden immer mehr Sirenen laut und sie schienen alle zum Stadion zu fahren.
Hero hatte so ein komisches Gefühl. Sie sprang auf, rannte quer durch die Stadt. Allmählich kam das Stadion in Sicht. Es erstrahlte in einem seltsam flackernden blauen Licht. Panik überfiel sie. Und dann sah sie die Krankenwagen.
Ein Polizist hielt sie zurück.
„Was ist passiert?“, japste Hero.
„Zwei Hooligans haben eine Schlägerei angezettelt und sind verschwunden“, erklärte er gefühllos.
Hero blieb neben dem Polizisten stehen und betrachtete das Szenario.
Überall saßen Verletzte mit Decken über den Schultern und wurden verarztet. Einige Tragen wurden durch das Chaos geschoben.
„Juli!“, schrie das Mädchen plötzlich auf und rannte zu der Trage. Der Polizist konnte gar nicht so schnell reagieren. Er rannte ihr nach. An der Trage schloss er zu dem Mädchen auf.
„Du musst hier weg!“ Er versuchte sie fortzuziehen.
„Nein!“ Das Mädchen riss sich los. „Ich bleibe bei Juli.“
Juli war blutüberströmt und wie Hero hoffte nur bewusstlos. Sie musste die Tränen zurückhalten, als sie Juli so daliegen sah. Ihr altes Leben hatte sie eingeholt und mit ihm kam die Gefahr und der Schmerz. Suchend sah sich Hero im Chaos um.
„Wo ist Atikes?“ Er musste ihn heilen!


„Noch ein Freund von dir?“, fragte der Notarzt.
Der Polizist kehrte zu seinem Posten zurück und Hero begab sich auf die Suche nach Atikes. All diese Verletzten. Was war nur passiert?


Endlich fand sie Atikes. Doch zu ihrem Entsetzen sah der Junge auch nicht besser aus als Juli.
Weißt du, was diese beiden Hooligans jetzt machen?

Hero zuckte zusammen. Sie verprügeln einen jungen Mann; ganz in der Nähe.

, eröffnete ihr der Fremde.
Ohne lange zu überlegen, rannte Hero los. Doch bereits auf dem Weg kamen ihr Zweifel. Wollte sie das? Wollte sie wirklich wieder ein Leben mit Verbrechern führen?


Dann stand sie vor den beiden Hooligans. Ein junger Mann lag wimmernd, blutüberströmt zwischen ihnen.
„Was willst du? Geh uns aus dem Weg, Kleine“, wandte sich der eine Hooligan an Hero. Er hatte kurzgeschorene schwarze Haare, trug ein schwarzes Sweatshirt und eine graue Jogginghose.
„Nein“, antwortete Hero automatisch. Wenn sie sich jetzt mit diesen beiden anlegte, würde ihr Leben wieder so werden wie es vor ein paar Wochen noch war. Wieder würde Kampf ihr Leben beherrschen. Wollte sie das? Wollte sie das wirklich?


Zutiefst verwirrt machte Hero auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Lange noch hallte das höhnische Gelächter der beiden in ihren Ohren nach.
Hero verschanzte sich in ihrem Zimmer. Sie wusste nicht mehr, was richtig, was falsch war.
Die Jungs brauchen jemanden, der ihnen sagt, wo’s lang geht.


Hero schreckte aus ihren Gedanken auf.
Mich?

, fragte das Kind zweifelnd.
Ja.
Ich kann das nicht.

Das Mädchen hob abwehrend die Hände, obwohl sie sich nicht einmal sicher sein konnte, dass der Fremde diese Geste bemerkte.
Warum?
Ich bin kein Anführer.
Die Jungs halten dich für einen.


Hero erwiderte nichts. Sie war viel zu überrascht über das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wurde. Und dennoch sie konnte die Jungs nicht führen. Sie hatte doch selbst Führung so dringend nötig.
Du bringst jetzt zu Ende, was du angefangen hast.
Wieso?
Weil ein Anführer nicht anführen kann, wenn er nicht weiß, wo er hin muss.
Wie wahr

, dachte Hero. Und das ist genau der Grund, wieso ich keiner sein kann.
Was denkst du, wieso die Jungen zusammen halten?

, fragte die Stimme.
Weil sie Freunde sind

, antwortete Hero automatisch.
Falsch. Ohne dich hätten sie nie zueinander gefunden. Ohne dich wären sie nie Freunde geworden. Sie sind zu unterschiedlich und in gewisser Weise sind sie doch zu gleich, um Freunde zu sein. Aber sie haben eins gemeinsam. Sie sind durch dich miteinander verbunden. Erst durch dich konnten sie Freunde werden. Du hältst sie zusammen. Ist das nicht die Aufgabe eines Anführers?


Hero dachte lange nach. Dann schickte sie den Fremden mit einem Auftrag aus.
Das Mädchen lief ruhelos durchs Haus. Alles war wieder so wie damals. Gefahr und Schmerz beherrschten ihr Leben. Doch diesmal war eines anders. Sie wollte die Gefahr. Sie wollte diese zwei Hooligans – am liebsten hinter Gittern.
Ich weiß, wo die beiden sind

, meldete sich die Stimme zurück von seiner Suche.

Im tiefen Schatten eines Hauses stand das Mädchen und wartete. Hero sah mit ausdruckslosem Gesicht auf die Waffe in ihrer Hand. Wieder erwartete sie die Hooligans und erneut fragte sie sich: Wollte sie das? War sie stark genug, um ein Leben mit Verbrechern zu überstehen?


Sie ließ ihr Leben Revue passieren. Noch nicht einmal bei der Unsterblichkeit angelangt, stand ihr Entschluss fest. Diese beiden Verbrecher würden ins Gefängnis wandern und allen anderen Verbrechern, die dumm genug waren, Heros Weg zu kreuzen, würde das Gleiche widerfahren. Sie hatten zuviel kaputt gemacht, um jetzt ungeschoren davonzukommen.
Sie trat aus dem Schatten und versperrte den Hooligans den Weg. Heros Kampfgeist, ihre Entschlossenheit war wieder erwacht.
„Ihr habt meine Freunde verprügelt.“
„Willst du jetzt Rache nehmen?“, fragte der mit den kurzgeschorenen Haaren.
„Nein. Rache war noch nie ein Grund für mich, zu kämpfen.“
„Wie edelmütig“, lachte sein Kollege. Die beiden waren kaum voneinander zu unterscheiden. Nur hatte dieser längere Haare.
„Aber langsam bekomm ich Lust darauf.“
„Das Mädchen hat mehr Angst vor uns als wir vor ihr haben könnten“, lachte der Kurzhaarschnitt.
Hero horchte in sich hinein. Hatte sie Angst?

Sie wusste es nicht. Aber das würde sie nicht daran hindern, diesen zwei Typen eine Lektion zu verpassen. Die beiden hatten Atikes und Juli krankenhausreif geprügelt. Hero schwor sich, die beiden bei der Polizei abzuliefern. Sie hatte keine Ahnung wie, aber irgendwie würde es schon klappen.
Die Intensität ihrer Gefühle erschreckte sie. Auf einmal verblasste ihre Umgebung. Sie sah eine Mauer, ein Loch, schlüpfte hindurch und traute ihren Augen kaum. Sie war nicht mehr in der Gasse, stand nicht mehr den beiden Hooligans gegenüber, stand hingegen in einer riesigen Schar aus Fußball-Fans in den jeweiligen Vereinsfarben – blau-gelb und rot-weiß. Ihr Gegenüber in blau-gelb hatte ein wutverzerrtes Gesicht.
„Sag das noch mal!“, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor.
„Das sind alles Loser. Die bringen nichts auf die Reihe. Genauso wenig wie du!“, kamen die Worte ganz langsam und wie es schien aus Heros Mund. Doch nicht mit ihrer Stimme. Es war die Stimme eines der Hooligans.
Urplötzlich landete eine Faust in dem Gesicht ihres Gegenübers. Hero konnte es kaum glauben. Es war ihre Faust.
Auf einmal war eine wilde Schlägerei im Gange. Und urplötzlich standen Juli und Atikes vor ihr. Dann landete eine Faust in Julis Gesicht, ein Tritt in Atikes‘ Kniekehlen. Die Jungs wehrten sich. Doch letztendlich unterlagen sie den vier Fäusten und vier Beinen. Blutüberströmt lagen sie zu ihren Füßen. Hero hörte ein kehliges Lachen aus ihrem Mund.
Dann wechselte die Szene. Sie stand in einer Gasse. Neben ihr stand der Hooligan mit den längeren Haaren. Er war auch im Stadion die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen. Vor ihr stand der junge Mann, den Hero bereits kennen gelernt hatte. Nur war er jetzt noch nicht blutüberströmt. Doch das ließ nicht lange auf sich warten. Immer und immer wieder wurde auf den jungen Mann eingeprügelt.
Und urplötzlich stand Hero wieder in der Gasse, in der sie den beiden Hooligans aufgelauert hatte. Es war als wäre nichts geschehen. Sie war verwirrt. Was war eben geschehen? Waren das die Erinnerungen des Kurzhaarschnitts?


Hero erschauderte, erschauderte vor der Brutalität mit der die beiden Hooligans auf Juli, Atikes und den jungen Mann eingeprügelt hatten.
Das Mädchen wusste nicht, wie sie in die Erinnerung des Mannes gekommen war. Doch dachte sie an die Erinnerungen, wusste sie, dass sie dies nie wieder tun würde. Nie wieder wollte sie in den Kopf eines anderen Menschen eindringen. Hero erschauderte.
„Was ist jetzt?“, holte sie der Kurzhaarschnitt aus ihren düsteren Gedanken.
Das Mädchen hatte zwar ihre Schwerter dabei. Aber sie zauderte noch. Einerseits wollte sie die beiden nicht verletzen, andererseits hatte sie keine andere Möglichkeit mit beiden fertig zu werden. Im waffenlosen Kampf war sie noch nicht so gut, um mit beiden gleichzeitig fertig zu werden.
Langsam zog sie ein Schwert.
Hero verletzte die beiden nicht, jedenfalls nicht ernsthaft. Nur so viel, dass sie unfähig waren sich zu widersetzen. Aber für ihre Nachsicht musste Hero bezahlen. Ein Messer fand sein Ziel in ihrer rechten Seite, ein anderes in ihrer rechten Wade.
Doch sie siegte. Zu Päckchen verschnürt legte sie die beiden Männer vor der nächsten Polizeiwache ab und dazu einen Zettel, der ihre Untaten auflistete.
Zu hause angekommen, verarztete sie schnell ihren Wunden und machte sich dann sofort auf den Weg ins Krankenhaus.

„Wieso hast du das gemacht, Alexa oder doch besser Hero?“, fragte Juli vorwurfsvoll. „Wieso hast du diese beiden bei der Polizei abgeliefert? Wieso hast du dich mit ihnen angelegt? Du wolltest ein Leben ohne Verbrecher. Du hattest ein Leben ohne Verbrecher und jetzt hast du dir alles wieder kaputt gemacht. Und wieso das alles? Ich versteh dich nicht, Hero.“
Juli und Atikes sahen sie vorwurfsvoll an. Beide hatten die Nachrichten gesehen. Beide hatten gehört, dass die Hooligans gefesselt vor der Polizeistation lagen und ein Schild mit der Erklärung und der Unterschrift von Hero Leone um den Hals trugen.
„Wieso hast du das gemacht?“, fragten nun auch Atikes.
Hero zuckte mit den Schultern, wandte sich um und verließ das Krankenhaus. Ihre Beweggründe waren selbst ihr nicht vollkommen klar. Wie sollte sie es dann den Jungs verständlich machen?



„Alexa, wir müssen dir diese Frage stellen“, fing Jan am nächsten Morgen an und Hero wusste, worauf er hinauswollte. Aber sie wusste auch, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagen durfte.
„Hast du etwas mit der Sache zu tun?“
„Mit welcher Sache?“, fragte das Mädchen.
„Hast du nichts davon gehört? Es stand in allen Zeitungen“, fragte Tom erstaunt.
„Ihr wisst, dass ich keine Zeitung lese.“ Und das stimmte. Hero las keine Zeitung, sah keine Nachrichten, aus Angst vor ihren Erinnerungen.
„Wo warst du, als Juli und Atikes im Stadion waren?“, wollte Jan wissen.
„Im Park.“
„Aber du warst vor uns im Krankenhaus. Woher konntest du wissen, dass die Jungs dort waren?“ Tom sah sie herausfordernd an.
Doch auch hierfür hatte Hero eine plausible Antwort, auch wenn sie diese erst seit ein paar Minuten hatte.
„Irgendwann wurde es mir zu langweilig zu warten. Deshalb bin ich … nach Hause gegangen“, beendete sie ihren Satz nach einigem Zögern. Es fiel ihr schwer das zu sagen: nach Hause

. Es war so ungewohnt.
„Und dann?“, fragte Tom nach, als Hero nicht weitersprach, als er sah, dass ihr Blick sich leerte.
Hero sah ihn etwas desorientiert an, so als wäre sie erstaunt, dass er da war. Doch dann wusste sie, was der Polizist von ihr wollte.
„Ich habe den Anrufbeantworter abgehört.“ Was sie in Wahrheit erst an diesem Morgen getan hatte. „Das Krankenhaus hatte angerufen.“
„Nun ja“, meinte Tom. „Die beiden Kerle, die im Stadion eine Schlägerei angezettelt haben und – wie sich später herausstellte – einen weiteren Mann verprügelt hatten, wurden schön verschnürt vor einer Polizeistation gefunden. Bei ihnen fand man einen Zettel, der ihre Taten auflistete und mit Hero Leone unterschrieben war.“
Die Polizisten schauten Hero erwartungsvoll an. Doch das Mädchen zeigte mit keiner Reaktion, was sie dachte, was sie fühlte.
„Warst du das?“, fragte Tom als Hero auch nach einiger Zeit keine Reaktion zeigte.
„Ich war im Park“, antwortete Hero nur. Sie wollte und konnte die Polizisten nicht anlügen.
Heros Antwort wurde von den Polizisten so verstanden, wie sie es wollten. Sie interpretierten in diesen einen Satz Verwirrung hinein und somit war für die beiden klar, dass das Mädchen nichts mit der Sache zu tun hatte.
„Wir wussten, dass du das nicht warst“, meinte Jan glücklich. „Es kann kein Kind gewesen sein. Es muss ein Erwachsener gewesen sein. Er hatte einfach deinen Namen angenommen, weil du vor ein paar Wochen so berühmt warst.“
Hero hörte, dass die Polizisten, dass glauben wollten, obwohl so vieles gegen das Mädchen sprach: der Name, ihr fehlendes Alibi, ihre Vergangenheit.

Alexa humpelte langsam durchs Haus. Jede Bewegung genau bedacht. Den Polizisten durften ihre Wunden nicht auffallen. Alexas Gesicht war eine Maske; wie versteinert. Selten sah man ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie versuchte, sich so normal wie möglich zu geben, trotz ihren Schmerzen im Fuß und an der Seite. Sie verbannte den Schmerz, vergrub ihn unter massenweise anderer Gedanken. Sie versuchte es zu ignorieren, so gut es ging. Den Polizisten fiel zwar auf, dass Alexa leicht anders war. Aber sie schoben es auf den Druck, der wegen der Nachprüfung tonnenweise auf ihre Schultern lag. Alexa spielte ihre Rolle gut. Sogar den Jungs würde es nicht auffallen, wenn sie es nicht schon längst wüssten. Alexas Maske bröckelte aber erheblich, wenn sie vermeintlich allein im Raum war. So zum Beispiel jetzt. Sie betrat ihr Zimmer. Alexas Maske fiel ab.
Aber der Fremde bemerkte es trotzdem. Er las es in ihren Gedanken. Der Schmerz brachte den Berg der Gedanken, der über ihm angehäuft war, zum Einstürzen. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes. Mit einem leisen Seufzer ließ sie sich aufs Bett sinken.
Endlich geschafft

, dachte sie erleichtert. Langsam kann ich nicht mehr. Wenn diese Schmerzen nicht bald aufhören, muss ich Farbe bekennen.
Lass dich nicht so hängen. Das schaffst du.


Das Mädchen zuckte zusammen. Dieser Fremde! Kann der mich nicht ein einziges Mal vorwarnen?
Ich merk’s mir. Hör her, du packst das! Diese Verletzung ist doch ein Klacks gegen so manch andere von dir.
Ja, aber früher musste ich nicht so tun, als sei alles in Ordnung.



Die Sommerferien ging nun schon dem Ende entgegen. Juli, Alexa und Atikes hatten ihre Nachprüfungen geschafft. Atikes wohnte mittlerweile nicht mehr bei den Polizisten und war dennoch den ganzen Tag bei ihnen. Der Junge war zu seiner Familie zurückgekehrt. Noch immer wurde Alexa auf Schritt und Tritt bewacht. Einer der Jungen war immer in ihrer Nähe. Sie hatten noch immer zu große Angst, dass Alexa wieder verschwinden würde, jetzt da sie wieder Hero Leone war.
Doch am letzten Ferientag löste sich diese Sorge etwas. Alexa, Juli und Atikes wurden von Tom und Jan zum Internat Burg Schreckenstein – dem Gymnasium der Stadt – gebracht.
Die drei Kids wurden von einer freundlichen jungen Blondine begrüßt. „Hallo, ich bin Frau Sixt. Ihr könnt euch hier“ Sie deutete auf eine Tafel, an der viele kleine bunten Zettel hingen. „eure Namen raussuchen. Dann wisst ihr in welche Klasse ihr kommt. Dort“ – Sie deutete auf einen Torbogen – „wird euch der Schülersprecher in Empfang nehmen.“
Sofort machten sie sich auf die Suche. Ganz aus Gewohnheit suchte Alexa ein Schild mit dem Namen Hero Leone. Juli tippte Alexa auf die Schulter und zeigte auf ein Schild mit der Aufschrift „Alexa Montez.“. Alle drei Namen waren gelb geschrieben.
Erst jetzt fiel den dreien auf, dass die Polizisten bereits gegangen waren. Etwas enttäuscht machte sich Juli und Atikes auf dem Weg zum Torbogen; Alexa folgte etwas langsamer. Sie wusste nicht, was sie empfand, was sie empfinden sollte.
Dahinter empfing sie ein Schüler: „Eure Karten. Aha, Alexa Montez, Atikes Wolf und Julian-Alexander Schmidt.“
Er ließ sie ein und wies sie an, sich einen Platz zu suchen.
„Hero? Juli? Atikes?“, fragte jemand hinter ihnen erstaunt.
Die drei fuhren herum.
„Jaden!“, rief Atikes ebenso erstaunt.
„Wie kommt ihr hierher? Ich dachte, ihr wärt wieder im Kinderheim.“
„Ich dachte, du gehst in eine andere Schule“, meinte Juli.
„Schon. Früher einmal. Aber mein Vater meint, es ist viel zu gefährlich in unserem Haus.“
„Wieso das denn? Es war doch vorher auch nicht gefährlich“, fragte Atikes nach.
„Ja, aber jetzt weiß mein Vater, wie gemeingefährlich unsere Nachbarn sind. Auf jeden Fall findet er es nun zu gefährlich mich in der Nähe Zodiaks zu wissen. Ich sei in der Stadt sicherer. Außerdem hat er hier den Job des Stellvertretenden Direktors bekommen. Aber was macht ihr hier? Hat euch das Kinderheim hierher geschickt? Sagt schon.“
„Du weißt es noch gar nicht? Meine Eltern haben mich gefunden, Atikes ist zurück zu seinen Eltern und Hero wurde von den Polizisten adoptiert. Ach übrigens, mittlerweile heißt sie Alexa Montez.“
Die vier wählten eine Sitzgruppe etwas abseits und brachten einander auf den neusten Stand der Dinge.
„Also jetzt seid mal alle ruhig.“ Ein Mädchen trat vor. Sie hatte kurz geschnittenes rotes Haar und volle Lippen. „Die Älteren machen jetzt mal die Biege. Erst einmal möchten wir“ Sie winkte den Jungen, der sie eingelassen hatte zu sich „uns vorstellen. Das hier ist Simon und ich heiße Anja. Wir sind die Schülersprecher. Wir werden euch jetzt eure Zimmer zeigen. Dann könnt ihr auspacken.“
„Aber zu aller erst bekommt ihr eure Folterpläne“, meinte Simon und gab jedem einen Stundenplan.
Danach wurden sie eine Treppe hoch geführt.
„Jungen, folgt mir!“, meinte Simon. Der hochgewachsene braunhaarige Junge mit seinem sportlichen Körper wandte sich nach rechts.
„Mädchen hier entlang!“ Anja nahm den linken Gang. Auf die fragenden Blicke der Mädchen erklärte Anja: „Die Mädchen- und Jungenschlafräume sind voneinander getrennt; aber eigentlich ist es nicht verboten sich am Tag gegenseitig zu besuchen“, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu. An jeder Tür standen drei bis vier Namen, größer waren die Namen FEENWALD, HEXENSTUBE und ähnliches geschrieben. Darunter standen dann noch die Namen der zwei bis drei Bewohner.
Alexa fand ihr Zimmer am Ende des Ganges. Dieses sollte sie mit einer gewissen Franca teilen. Es hatte den schönen Namen MÄRCHENWALD.
Das Mädchen öffnete die Tür und wäre beinahe über ihren eigenen Koffer gestolpert, den irgendjemand in der Zwischenzeit herauf getragen hatte.
Die Zimmereinrichtung bestand aus zwei Betten, zwei Schränken, zwei Regalen und einem Tisch mit zwei Stühlen. Alexa stellte ihren Koffer vor das Bett, das dem Fenster am nächsten lag.
Dann trat sie ans Fenster und sah hinunter auf einen weitläufigen Park. Dort unten herrschte ein Gewusel wie beim Schlussverkauf. Jeder suchte seine Freunde. Schüler standen in Gruppen und Grüppchen beieinander. Alle waren fröhlich. Doch würde sie diese Fröhlichkeit nicht durch ihre Anwesenheit zerstören, würde sie diese Fröhlichkeit nicht durch Angst und Schmerzen ersetzen?


Alexa wandte sich ab. Daran durfte sie jetzt nicht denken. Um sich abzulenken begann das Mädchen auszupacken.

Am nächsten Tag, nachdem auch die letzten Schüler eingetroffen waren und der erste Schultag geschafft war, wurde den Neuen nach dem Mittagessen erläutert, wie das Internatsleben abläuft. Mittagsruhe und Arbeitsstunden, in denen man Hausaufgaben und ähnliches erledigte, gab es nicht. Die Schüler hatten also am Nachmittag – abgesehen von Nachmittagsunterricht – freie Hand.
Die erste Schulwoche verlief ohne irgendwelche Störungen seitens der Gangster aber auch die Lehrer verhielten sich noch brav. Bald aber würden sie ihre Maske fallen lassen und ihr wahres Gesicht zeigen.
Alexa freundete sich mit ihrer Zimmerkameradin Franca an. Jedenfalls ließ sie soviel Nähe zu, wie sie dachte, dass es ungefährlich für das Mädchen war. Franca war ein aufgewecktes, kleines Mädchen. Ihre Augen leuchteten unternehmungslustig. Es fiel dem blondhaarigen Mädchen schwer sich lange auf eine Sache zu konzentrieren. Am liebsten machte sie alles zusammen.

An diesem Nachmittag war Alexa auf dem Weg all die verschiedenen Hefte zu kaufen, die die Lehrer verlangten.
Gerade verließ sie nach stundenlangem Anstehen das Geschäft mit einer Tasche, in der ihre Einkäufe waren.
„Hilfe! Haltet den Dieb! So hilft doch jemand!“
Hero hörte die alte Dame schreien, erfasste die Situation blitzschnell und trat einen Schritt vor. Sie sah den Mann auf sich zu rennen, sah, dass sie nun genau – wie gewollt – in dessen Bahn stand.
Drei Schritte noch. Der Mann, der die Handtasche der alten Frau fest umklammert hielt, riss erschrocken die Augen auf, als er verstand, was passieren würde.
Zwei Schritte noch. Der Zusammenprall war nicht mehr zu verhindern. Der braunhaarige Taschendieb war zu schnell.
Einen Schritt noch.
Die beiden Körper prallten aufeinander. Sie drehten sich in der Luft.
Hart krachte der Mann mit dem Rücken auf den Asphalt. Stöhnend entwich ihm die Luft. Hero saß auf ihn, drückte mit ihrem Unterarm auf die Kehle des Mannes.
Keuchend lag dieser am Boden.
„Wieso hast du das getan? Wer bist du?“, fragte der Taschendieb, als er seine erste Überraschung überwunden hatte.
Hero überlegte, sah einen Polizisten auf sich zu rennen und meinte schließlich: „Hero Leone.“
Hero sah ein Erkennen in dem Gesicht des Diebes. Doch er kam nicht mehr dazu irgendetwas zu sagen. Denn da wurde er bereits grob von dem herbeigeeilten Polizisten in die Höhe gezerrt und abgeführt.
Zweifelnd blickte der junge Mann über die Schulter zurück zu dem Kind. War das wirklich Hero Leone?

Er hatte Gerüchte gehört, dass ein hohes Tier der Unterwelt eben dieses Mädchen suchte.
Hero hob die Handtasche auf und sammelte die Äpfel ein, die über den Gehsteig kullerten. Dann sah sie sich suchend um und entdeckte die alte Dame schließlich auf einer Bank, auf der sie erschöpft zusammengesunken war. Fürsorglich kümmerte sich eine junge Blondine um die alte Frau.
Mit einem leichten Lächeln im Gesicht hielt Hero der Besitzerin ihre Handtasche entgegen.
„Oh, ich danke dir, Kindchen. Hab herzlichen Dank. Wie heißt du denn?“
Hero überlegte kurz. Sie hatte dem Taschendieb einen Namen gesagt und wenn dieser ihren Namen an die Polizei weitergab, durfte sie der alten Frau keinen anderen Namen geben. Nicht wenn sie keine Widersprüche und somit Aufmerksamkeit wollte. Deshalb sagte sie: „Hero Leone.“
Die alte Dame bedankte sich noch mehrmals bei Hero, bis das Mädchen mit einem Apfel in der einen und ihren Einkäufen in der anderen Hand, die Frau in der Obhut der Blondine zurückließ.
Seltsam

, dachte Hero. Sie hatte der Frau geholfen und einen Verbrecher hinter Gittern gebracht. Was, wenn sie weiter jagte?

Hero schüttelte den Kopf. Doch dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los.

Hero stand vor einem Problem, dass sich so einfach nicht lösen ließ. Vor ihr lag der bewusstlose Verbrecher, der das Pech gehabt hatte, ihr bei ihrem nächtlichen Streifzug als Hero Leone über den Weg zu laufen. Sein Verbrechen war Körperverletzung. Hero war dazugekommen, als er einen anderen Mann, der bereits bewusstlos war, massiv verprügelt hatte. Nun lagen beide Männer bewusstlos am Boden. Doch dem Verbrecher vor ihr waren mehrere Tausend Euro aus der Jackentasche gefallen. Was sollte sie tun?

Diese Frage quälte Hero. Sie könnte das Geld dem Mann lassen, doch dann würde es die Polizei nehmen und wer weiß was, damit tun. Sie könnte es auch selbst nehmen. Doch das erschien ihr nicht richtig. Nach langem Überlegen nahm sie schließlich das Geld, legte den Verbrecher vor einer Polizeiwache ab und rief den Notarzt für den anderen Mann und lief durch die Stadt. Sie wusste wohin sie wollte. In der Dämmerung schließlich stand sie vor dem Haus, das sie gesucht hatte. Das Waisenhaus.
Traurig beobachtete sie diesen trostlosen Ort. Auch sie hatte einmal eine Zeit in einem Waisenhaus verbracht – ein paar Tage, vielleicht Wochen, länger nicht. Dann holte sie sich gewaltsam aus den Erinnerungen und legte das Geld schön verschnürt auf den Treppenabsatz.

Für die Kinder!
Hero Leone




Am nächsten Tag stand natürlich ein Artikel über diese seltsame Spende in der Zeitung und natürlich las Atikes ich.
„Wieso hast du das getan?“, stellte er sie zur Rede.
„Was?“, stellte Hero sich dumm.
„Wieso bist du nachts als Hero Leone unterwegs…“
Hero wollte antworten, doch Atikes war noch nicht fertig. „…und nimmst uns nicht mit.“
Das Mädchen sah Atikes verdutzt an. Sie hatte alles erwartet, nur nicht das. „Was?“, fragte sie verdattert nach.
„Wenn es dein Wunsch ist, Verbrecher zu jagen, kann ich das verstehen. Du hast die Kraft dazu. Seltsam, aber du bist wirklich stark genug, sie zur Strecke zu bringen. Aber das musst du nicht allein machen. Black kids gibt es immer noch. Wir haben damit angefangen und wir können jederzeit damit weitermachen.“
„Nein! Das ist zu gefährlich.“, widersprach Hero.
Gekränkt zog Atikes einen Schmollmund. „Wir sind nicht so schwach wie du meinst.“
„So meinte ich das doch gar nicht.“, verteidigte sich Hero.
„Doch Hero, das hast du so gemeint. Aber wenn du weiter als Hero Leone Verbrecher jagst, wird Black kids ohne dich auf die Jagd gehen.“
Erschrocken sah das Mädchen den Jungen an. Er meinte es ernst!

, erkannte sie. Das Mädchen überlegte lange, doch sie wusste schon als sie anfing wie ihre Entscheidung ausfallen würde. Sie durfte die Jungs nicht alleine jagen lassen! Sie hatte die Jungs erst dazu gebracht, Verbrecher zu jagen. Sie durfte sie jetzt nicht alleine lassen!


„Ok, Ok“, gab sich Hero geschlagen. „Black kids geht wieder auf Jagd.“
Atikes grinste, genau damit hatte er gerechnet. Hero war in gewisser Weise ziemlich durchschaubar.
Noch in dieser Nacht streifte Black kids durch die Nacht und überraschte einen Einbrecher bei seinem Bruch und am nächsten überraschte sie Jaden mit einer Bitte.
„Ich möchte“, Jaden holte noch einmal tief Luft, „das kämpfen lernen.“
Hero, Juli und Atikes sahen den Sohn des Stellvertretenden Direktors erstaunt an. „Ich will nicht mehr nur das fünfte Rad am Wagen sein, das man auch noch beschützen muss. Ich will helfen.“
Erst einmal blieb es summ. Dann bot Juli großzügig an, Jaden zu unterrichten.

Eine neue Feindschaft



Ich habe einen Auftrag für euch, Black kids
Am Donnerstag wird der Dieb Matthes seinen nächsten Coup wagen.
Haltet ihn auf!
Doch Vorsicht! Die Polizei beschattet ihn.

Verwirrt betrachtete das Mädchen den Zettel. Wieso sollten sie ihn stoppen, wenn die Polizei ihn doch überwachte?


Erst einmal wollte sich das Mädchen den Dieb anschauen. Sie hatten schließlich auch noch Zeit. Es war ja erst Dienstagmorgen.
Alexa saß gleichmütig ihre Stunden in der Schule ab. Heute hatte sie nur vier Stunden, da Sport ausfiel. Die Jungs allerdings hatten Sport.
So machte sich Hero allein auf zu der angegebenen Adresse, zu Matthes‘ Haus.
Lässig lehnte sie an Nachbars Gartenzaun und beobachtete. Oftmals warf sie einen Blick auf die Uhr. Es schien, als wartete sie auf jemanden.
Die Anwohner kamen und gingen. Autos fuhren. Nur ein Auto bewegte sich nicht, trotz Fahrer. Der Mann in dem alten blauen Golf schien sich schrecklich zu langweilen. Hero hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Die Polizei. Ein Lächeln huschte über ihr bisweilen bewegungsloses Gesicht. Nicht sonderlich gekonnt. Wenn sogar sie die Polizei nach einer halben Stunde ausmachen konnte, musste Matthes schon längst wissen, dass er beschattet wurde.


Keine zwei Minuten später hatte das Mädchen alles gesehen, was sie sehen wollte. Ein etwa 1,80 m großer Mann trat in den kaum zwei Meter breiten Vorgarten. Der Mann war blass und hatte graue Haare, was seine Blässe nur noch verstärkte. Auch seine Kleidung trug nicht unbedingt dazu bei, die Blässe zu verdeckten. Er trug eine schwarze enge Lederhose, ein schwarzes T-Shirt und einen knielangen, ebenfalls schwarzen Ledermantel. Er sah aus wie der Tod persönlich.
Hero betrachtete ihn noch kurz, bevor sie in ihrer Tasche kramte und das Handy zückte. Missmutig wählte sie.
„Was fällt dir ein mich warten zu lassen? Ich habe eine halbe Stunde auf dich gewartet. Wo warst du?“ Übellaunig überquerte das Mädchen die Straße, trat in eine kleine Gasse, die an Matthes‘ Haus vorbeiführte.
Kaum war sie außer Sicht streckte sie das Handy weg und lächelte. Das perfekte Theater für den gelangweilten Polizisten.

Für ihn sah es so aus, als wäre das Mädchen versetzt worden und nicht als hätte sie das Haus beobachtet.
Plötzlich blieb sie erschrocken stehen, traute ihren Augen kaum. Da kletterte doch tatsächlich der Mann, der eben noch im Vorgarten gestanden hatte, über die Mauer, in den Hinterhof. Hero sah zu, wie er sich schwerfällig die Mauer hinaufzog und dann in den Hinterhof gleite ließ. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Jetzt verstand sie.

Als sie an diesem Nachmittag mit den drei Jungs in ihrem Zimmer saß, zeigte sie ihnen den Auftrag des Unbekannten Mannes in Schwarz und wartete auf ihre Reaktionen, die natürlich nicht ausblieben.
„Und was sollen wir da? Wenn ihn die Polizei beschattet, müssen wir nichts tun“, war Jaden überzeugt.
„Aber er weiß es“, widersprach Hero.
„Umso besser. Da wird er erst recht nichts machen.“ Jaden wollte sich nicht davon abbringen lassen, dass es hier für Black kids nicht zu tun gab.
Atikes saß stumm daneben und betrachtete Hero. Da war noch mehr.

Er konnte es in ihren Augen sehen.
„Die Polizei bewacht den Falschen“, ließ Hero die Bombe platzen.
„Wie ist das möglich? Die werden doch wohl wissen, wen sie zu beschatten haben“, schielt sich nun Juli mit ein.
„Das wissen sie. Aber -“ Hero machte eine kurze Pause. Die Spannung stieg. „Sie beschatten den Zwillingsbruder.“
„Oh“, machte Jaden und verstand. „Dann ist hier wohl wirklich Black kids gefragt.“
„Aber die Polizei?“, fragte Juli.
„Die bewachen den Bruder und wenn sie uns doch in die Quere kommen sollten … wär doch nett, zu sehen, ob sie uns erwischen können.“ Hero lächelte leicht.
„Nett?“, fragte Jaden außer sich. „Nett? Das wäre eine Katastrophe. Wenn sie uns erwischen, sind wir geliefert, ende, aus, finito.“ Jaden machte eine schnelle Bewegung mit dem Zeigefinger über den Hals.
„Hast du schon jemals erlebt, dass die Polizei etwas beim ersten Mal schafft?“, fragte Hero. „Außerdem können die uns gar nichts. Sie glauben ja noch nicht einmal, dass Black kids Kinder sind.“
„Und was, wenn sie es glauben lernen?“, fragte Jaden. Aber er erkannte bereits, dass er Hero nicht mehr umstimmen konnte. Es war für sie wie ein Spiel. So kannte er das Mädchen gar nicht. Doch jetzt schien sie versessen auf das Spiel mit der Polizei. Sie wollte ein Kräftemessen.
„Mal den Teufel mal nicht an die Wand“, sagte Juli und grinste. Auch ihm schien die Aussicht darauf, die Polizei an der Nase herumzuführen, zu erfreuen.
Verzweifelt sah Jaden Atikes an. Doch auch dieser grinste.
„Jaden, es wird nichts passieren“, sagte Atikes, sah die Verzweiflung in seinem Gesicht. „Die Polizei hat noch nie etwas auf die Reihe gekriegt. Wieso sollten sie jetzt damit anfangen?“
Drei gegen einen. Jaden gab sich geschlagen. Und wenn er in ihre Gesichter sah, die Überzeugung darin las, kam er nicht mehr umhin selbst zu glauben, dass nichts passieren konnte.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte er.
„Warten“, war Heros Antwort.

Am Donnerstagabend kurz nach zehn verfolgten Jaden und Atikes einen Matthes und Juli und Hero warteten vor dem Haus auf den zweiten.
Kaum zehn Minuten nachdem Matthes 1 mit der Polizei, Jaden und Atikes im Schlepptau verschwunden war, trat der zweite aus dem Haus und lief zielstrebig durch die Straßen.
Unauffällig folgten Juli und Hero dem Mann. Aber es war ein Kinderspiel. Matthes schien nicht mit Verfolgern zu rechnen, blickte sich kein einziges Mal um.
Als er schließlich vor dem Deutschen Museum zum Stehen kam, wusste Hero, dass sie den richtigen Matthes verfolgt hatten. Zwischendurch hatte sie so ihre Zweifel gehabt, beispielsweise als sie den Park betreten hatten.
„Ruf Atikes und Jaden an!“, wies Hero Juli an.
„Und du?“, fragte der Junge, während er sein Handy zückte.
„Ich besuche das Museum.“

Leise schlich Hero durch die Ausstellung über Alexander den Großen. Durch ein zerbrochenes Dachfenster war Hero in das Museum gelangt, die Alarmanlage war außer Betrieb. Nun war sie auf der Suche nach Matthes. Doch der Dieb war nirgendwo zu sehen.
Vorsichtig schlich Hero weiter durch die Räume der Ausstellung.
Gerade ging sie an den Ausstellungsstücken des Ersten Weltkrieges – Helme, Uniformen, Waffen, Dokumente – vorbei, da hörte sie im nächsten Raum Glas splittern.
Schnell huschte sie zur Tür und linste um die Ecke. Matthes stand über einen Glaskasten gebeugt und holte ein mit Glasscherben übersätes Buch heraus.
Hero überlegte. Sollte sie ihn jetzt überwältigen?

Doch sie sah, die Enge in dem Raum, sah die Exponate. Sie würden zu viel der wertvollen Ausstellungsstücke zerstören, wenn sie ihn jetzt stellte.
Plötzlich fiel Hero ein, was sie seit langer Zeit vergessen hatte. Ihr letzter Museumsbesuch war auch etwa um diese Uhrzeit gewesen und damals hatte sie eine ägyptische Kette entwendet. Diese Kette war immer noch in ihrem Besitz. Sie lag gut versteckt auf dem Dachboden der Diebe. Dort lag sie schon viel zu lange. Hero fasste den Entschluss, diese Kette dem Museum zurückzugeben, so schnell wie möglich.
Doch dann kehrten Heros Gedanken in die Gegenwart zurück. Sie sah Matthes auf sich zukommen. Schnell huschte sie in den tiefen Schatten hinter einer Vitrine.
Matthes ging an ihr vorbei ohne sie zu bemerken und verließ das Museum auf dem Weg auf dem er gekommen war.
Leise folgte Hero dem Mann. Auf dem Dach angekommen, sah sie, dass das nun ihre Chance war, Matthes zu stellen. Es war ein Flachdach, also perfekt für einen Kampf. Schnell aber immer noch so leise, dass Matthes es nicht hörte, huschte sie an dem Mann vorbei und stellte sich vor ihn.
„Entschuldigen Sie, mein Herr“, sagte Hero höflich und ging langsam auf den erstarrten Matthes zu. Sein Gesicht war zum Lachen. Auf ihm spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle wider. Panik, Verwunderung, Misstrauen.
„Könnten Sie mir sagen, wann die nächste Führung beginnt?“, fragte Hero und verbiss sich angestrengt ein Lachen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Gesicht sie nicht verriet.
„Das Museum hat geschlossen“, grummelte Matthes, der wohl zu dem Schluss gekommen war, dass von dem Mädchen keine Gefahr ausging.
„Aber Sie selbst haben gerade einen Gang durchs Museum unternommen“, versuchte es Hero weiter. Sie sah die Angst in Matthes‘ Augen.
„Ich bin der Nachtwächter. Ich darf das.“
„Dürfte ich dann wenigstens das Buch sehen, dass sie mitgenommen haben?“, fragte Hero betont unschuldig.
Nun war es mit Matthes‘ Selbstbeherrschung vorbei.
„Was willst du?“, fauchte der Mann.
„Ich möchte“, sagte Hero langsam, „dass sie mich auf die nächste Polizeiwache begleiten und dort ihren Diebstahl melden.“
„Hahahaha“, lachte Matthes aus vollem Hals.
„Was ist daran so komisch?“, fragte Hero und machte sich ernsthaft Sorgen, um Matthes Verstand.
„Du willst, dass ich zu den Bullen gehe? Was ist, wenn ich das nicht will?“
„Dann werde ich dafür sorgen, dass sie das wollen“, sagte Hero ungerührt.
Wieder lachte Matthes. „Du bist ein Kind.“
„Ist mir klar.“
„Du bist ein Mädchen.“
„Ist mir auch klar.“
„Du bist allein.“
„Da irren sie sich. Meine Freunde warten unten auf mich.“
„Wie viele? Ich hoffe doch mal, dass da mindestens dreißig warten, sonst könnte es ein Problem geben.“
„Es sind nur drei. Aber ein Problem wird es trotzdem nicht geben. Denn ich allein reiche aus, um Sie dazu zu bewegen, zur Polizei zu gehen.“
Wieder kam ein so irres Lachen aus Matthes Mund, dass Hero sich nun ernsthaft Sorgen machte, Matthes könnte nun wirklich den Verstand verloren haben.
„Wer bist du, kleine Dame, dass du glaubst, mich besiegen zu können? Aus welchem Irrenhaus bist du abgehauen?“
Nun war Hero ehrlich gekränkt. Doch sie zeigte es dem Mann nicht, weiterhin blieb sie höflich. „Ich weiß nicht, ob sie schon von uns gehört haben. Wir sind Black kids.“
Nun erstarrte Matthes‘ selbstüberzeugtes Lächeln. „Du willst zu Black kids gehören?“, fragte er und Hero hörte, wie sich langsam die Angst in seiner Stimme ausbreitete. Ganz leise zwar noch, doch schon bald würde sie die Überheblichkeit aus seiner Stimme verbannt haben. Er kannte die Gerüchte, dass eine neue Bande in Gangstertown sein sollte. Die allerdings nicht zu den übrigen passte. Diese Bande würde angeblich Verbrecher der Polizei übergeben, wie Kopfgeldjäger. Und am unglaublichsten war, dass sie aus Kindern bestehen sollte. Matthes hatte in diesem Gerücht nie auch nur ein Fünkchen Wahrheit abgewinnen können und nun stand er einem Kind gegenüber, das behauptete, zu ebendieser Bande zu gehören. Verwirrt schüttelte er den Kopf.
Hero lächelte immer noch ein klein wenig, was es Matthes immer schwerer machte, dieses Gerücht nur als Geschichte abzutun. Konnte … Sollte es möglich sein … War dieses Kind …

Der Mann war verwirrt.
„Werden Sie mich nun freiwillig begleiten?“, fragte Hero.
„Soll das ein Witz sein? Da könnte doch jeder daherkommen. Außerdem hast du

gegen mich keine Chance. Auf mich ist ein Kopfgeld ausgesetzt“, erklärte er stolz. „Fünftausend Euro. Nicht schlecht, was?“
Hero zweifelte an seinen Worten, da die Polizei ihn beschattet hatte. Doch hatte die Polizei nicht immer wieder mal so seltsame Anwandlungen? Und er erzählt so stolz davon. Er konnte unmöglich so gut lügen.


„Und wieso sollte mich das aufhalten?“
„Schau mal her, Kleines. Auf meinen Kopf sind fünftausend ausgesetzt und auf dich null. Siehst du nicht den Unterschied. Ich bin gefährlicher“, antwortete er sanft.
„Wer sagt, dass auf mich kein Kopfgeld ausgesetzt ist?“, fragte Hero in Gedanken. Doch Matthes‘ irritiertes Gesicht riss sie aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
„Auf dich ist ein Kopfgeld ausgesetzt? Wie viel? Ein Euro?“, versuchte Matthes es ins Lächerliche zu ziehen.
„Fast“, antwortete Hero. Sie sah wie Matthes aufatmete. Der Mann hatte Angst bekommen.

Hero lächelte. „Nur dreißigtausend mal mehr.“
Sie sah lächelnd in Matthes dummes Gesicht. Er schien zu überlegen. Dann entglitten ihm seine Züge. „Dreißigtausend Euro“, murmelte er fassungslos. „Dreißigtausend Euro?“, fragte er lauter und hoffte, dass er sich bei dieser einfachen Rechenaufgabe verrechnet hatte.
„Ja“, antwortete Hero nur. Sie ließ dem Mann Zeit, seine Überraschung zu überwinden. „Kommen Sie jetzt mit?“ Sie fragte es nur aus reiner Höflichkeit, rechnete nicht damit, dass sich seine Meinung geändert haben könnte. Doch sie wollte nicht angreifen ohne ihm die Möglichkeit gegeben zu haben, einen Kampf zu verhindern.
„Ja.“
Nun war es an Hero in perplex anzuschauen. „Tatsächlich?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete Matthes leise. Hero hörte die Angst in seiner Stimme. „Es hätte keinen Zweck gegen dich anzutreten. Du bist fünfundzwanzig tausend Euro gefährlicher als ich. Nun glaube ich die Gerüchte. Es ist alles wahr“, endete er leise.
Langsam, mit hängenden Schultern ging er an Hero vorbei und verließ das Dach. Hero folgte ihm vorsichtig. Sie konnte nicht glauben, dass Matthes so ein Schwächling sein sollte, der sich bereits durch eine Geschichte überzeugen ließ, dass sie stärker war. Doch ganz so sah es aus.
Am Ende der Feuerleiter wurden sie von Juli, Atikes und Jaden erwartet.
„Was soll das?“, fragte Jaden entsetzt.
„Er … er geht freiwillig mit“, antwortete Hero. Sie hatte sich immer noch nicht unter Kontrolle. Man hörte ihr ihre Überraschung an.
Die Kids waren auf äußerste gespannt, doch Matthes machte keinen Fluchtversuch, sondern lief geradewegs zur nächsten Polizeistation. Er ließ sich ein Schild mit folgendem Text um den Kopf hängen und betrat die Wache.

Hier überbringen wir euch ein kleines Geschenk.
Das ist Matthes. Er ist heute ins Deutsche Museum eingebrochen.
(Beute: Rechte Jackentasche)
Zufälligerweise habt ihr ihn beschattet. Nur achtet besser darauf, dass ihr das nächste Mal den richtigen beschattet und nicht den Zwillingsbruder.
Viel Glück beim nächsten Mal wünscht
Black kids

Lachend entfernte sich Black kids. Zu gern hätten sie das Gesicht des Polizisten gesehen, der sich nun zu verantworten hatte. Doch sie wussten nicht, dieses Gesicht, Krügers Gesicht, würden sie noch oft genug zu sehen bekommen. Er begab sich auf seinen persönlichen Rachefeldzug gegen Black kids. Nichts konnte ihn mehr davon abhalten, Black kids zu jagen. Black kids hatte ihn lächerlich gemacht. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
In der nächsten Zeit mischten sowohl Black kids als auch Hero Leone die Unterwelt auf und waren Krüger ohne es zu wissen immer einen Schritt voraus.

ENDE Teil 6





Impressum

Texte: Die Geschichte gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

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