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Ein Leben nach dem Tod?



Heros Geist stand in einem Gang. Vor ihr ein Licht – die selige Ruhe des Todes; hinter ihr das Leben.
Das Mädchen sah sich auf dem Boden liegend. Sie hatte die Augen geschlossen. Friedlich schlafend schien es. Wäre da nicht diese Blutlache gewesen, in der sie lag. Erstaunt betrachtete Hero sich. Es war unleugbar. Sie war tot. Sie atmete nicht mehr. Hero nahm das ohne Angst zur Kenntnis.
Sie wandte sich wieder der seligen Ruhe des Todes zu. Hero tat einen Schritt auf dieses leuchtende Tor zu. Doch da war noch etwas. Da zweigte ein weiterer Gang ab. Dort loderte ein Feuer, Rauchschwaden schlugen ihr entgegen. Zwischen dem Feuer und Hero war noch etwas. Etwas formloses, grauenhaftes. Dieses Etwas, dieses Ungeheuer zog Hero auf das Feuer zu. Unvorstellbare Qualen schlugen ihr entgegen. Gepeinigt schrie das Mädchen auf. Sie wehrte sich dagegen, wollte weg von diesem Feuer, dieser Hölle. Jede Faser ihres Körpers schien in Flammen zu stehen. Unter Aufwendung all ihrer Kräfte schaffte Hero es, sich dieser Hölle zu entziehen.
Und dann ging alles ganz schnell. Das helle Licht entfernte sich rasend schnell und im Gegenzug kam Heros Leben wieder näher. Heros Geist wurde in ihren Körper zurückgeschleudert.
Die Atmung setzte wieder ein. Tief holte Hero Luft. Sie war wieder im Leben. Das Ungeheuer in ihr brodelte. Wütend tobte es in ihr. Hero war froh, diesem Ungeheuer entronnen zu sein. Aber diese Macht – einmal geweckt, einmal Blut geschmeckt – würde nicht wieder verschwinden.
Unfähig sich zu rühren, lag sie von Schmerzen gepeinigt in ihrem eigenen getrockneten Blut, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, das Geschehene auch nur im Ansatz zu verstehen. Sie war tot und jetzt?


Als der Morgen graute war das Mädchen kaum in der Lage sich unter Schmerzen aufzusetzen. Mit leerem Blick betrachtete sie sich. Die Wunde ihrer rechten Wade war umgeben von verkrustetem Blut.
Unter Schmerzen gelang es dem Mädchen sich aufzustellen. Doch gleich darauf stürzte sie wieder zu Boden. Ihr rechter Fuß trug das Gewicht nicht. Zudem waren auch noch schreckliche Schmerzen in ihrem Bauch dazugekommen. Nur am Hals spürte sie keinerlei Schmerzen. Seltsam

, dachte sie. Langsam strich sie mit den Fingerspitzen über den Hals, über die Stelle, die aufgeschnitten sein sollte. Doch ihre Finger spürten nichts. Seltsam. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Aber das Blut?

Sie brauchte einen Spiegel, um ihren Hals in Augenschein nehmen zu können.
Mühsam kroch das Mädchen Richtung Büsche, auf der Suche nach einem geeigneten Stock, der ihr als Krücke behilflich sein konnte.
Langsam und gebückt humpelte Hero zur Burg zurück. Ihr erster Weg führte sie in ihr Zimmer. Ein Blick auf den Wecker neben ihrem Bett ließ sie erstaunt innehalten. Es waren fünf Tage vergangen. Fünf Tage, in denen sie tot auf dem Weg gelegen hatte und sich keiner um sie gekümmert hatte. Nicht einmal weggeschafft hatte man ihre Leiche. Ihr zweiter Blick galt ihrem Hals. Doch da war nichts, keine Verletzung, nur verkrustetes Blut.
In ihrem warmen Zimmer kam Hero zur Ruhe. Ihre Gedanken klärten sich. Sie wusste, was mit ihr geschehen war. Ohne erklären zu können, wieso, wusste sie was passiert war. Sie war unsterblich.

Dieser Gedanke war so absurd, dass das Mädchen laut auflachte und trotzdem konnte sie sich diesem Gedanken nicht erwehren. Sie wusste mit einer Sicherheit, die sie sich nicht erklären konnte, dass es Unsterbliche gab ohne je einen gesehen zu haben. Wie kann ich das so sicher wissen, ohne zu wissen, wer ich wirklich bin?

, wieder stellte sich das Mädchen diese Frage, die sie sich schon so oft hatte stellen müssen. Unsterblichkeit, das war die einzige Erklärung dafür, dass sie jetzt noch lebte, obwohl man sie getötet hatte. Wenn Hero nun in diese Richtung weiterdachte, würde sie auch eine Erklärung für ihren unversehrten Hals finden. Wenn es Unsterblichkeit gab – sie war der beste Beweis dafür – wieso sollte es dann nicht auch Unverwundbarkeit geben?
Das Mädchen spürte das Ungeheuer in sich. Und damit kam die Erinnerung an die Schmerzen. Unsagbare Schmerzen. Nie wieder wollte sie so etwas durchmachen. Hero war sich noch nicht einmal sicher, ob sie bei ihrem nächsten Tod stark genug war, sich dem Ungeheuer zu widersetzen. Was wenn nicht?

Sie würde im Tod keine Ruhe finden. Schmerzen, unbeschreibliche Schmerzen hielt der Tod für sie bereit, wenn sie nicht die Stärke hatte sich dem Ungeheuer zu widersetzen. Doch widersetze sie sich dem Ungeheuer, wurde sie ins Leben zurückkatapultiert. Sie würde nie sterben, nie Frieden im Tod finden können.

„Wieso haben Sie das getan?“, stellte Hero Zodiak am nächsten Tag zur Rede. Er schien nicht überrascht, dass sie noch lebte. Vielmehr machte er ein Gesicht als hätte er gar nichts anderes erwartet.
„Wollte einfach mal ausprobieren, wie unsterblich du bist“, meinte Zodiak gleichmütig. Etwas in Heros Blick ließ ihn aufhorchen. Da war etwas, was vorher nicht darin gewesen war. Dieses Wissen, von etwas unheimlich Großem, von etwas unheimlich Altem und glühender Hass.
„Nehmen Sie diese Unsterblichkeit zurück. Ich will ganz normal Sterben können.“ Ihre Finger krallten sich in ihren rechten Oberarm nahe der Stelle, an der Zodiaks Zauber damals im Spiegelsaal in sie eingedrungen war, wo nun ein Mark erschienen war. Hero wusste, es war Zeichen ihrer Unsterblichkeit.
„Ich will nicht!“
„Sie können diese Unsterblichkeit gerne für sich haben, aber ich will sie nicht.“
„Tut mir Leid, Hero“, lächelte Zodiak, „aber nichts ist umsonst.“
„Was wollen Sie dafür? Was muss ich tun?“
„Das kannst du nicht. Also wirst du mit dieser Gabe leben müssen, unendlich lange.“
„Was muss ich tun?“ Hero hatte leise gesprochen und ihre Stimme war ohne jegliches Gefühl, vielleicht war es das, was ihre Frage zu einer Drohung werden ließ, die sogar Zodiak nicht mehr ignorieren konnte.
„Ich weiß es nicht.“ Als Zodiak erneut in Heros Augen sah, diesen unbändigen Hass lodern sah, redete er schnell weiter: „Aber es gibt jemanden, der es dir sagen kann. Doch niemand gibt sein Wissen umsonst preis. Ich werde den Namen auch nicht umsonst preisgeben. Und nichts was du hast, könnte mich dazu bringen. Du bist meine ultimative Geheimwaffe. Und dank mir bist du jetzt noch stärker.“
„Dank Ihnen wär ich fast tot.“ Wütend stapfte Hero aus dem Raum. Nur mühsam konnte sie ihren Zorn unter Kontrolle halten. Am liebsten wäre sie Zodiak an die Kehle gesprungen. Doch sie konnte Zodiak nicht besiegen. Noch nicht. Aber sie würde alles daran setzen, dass dieser Augenblick nicht mehr lange auf sich warten ließ. Von nun an trainierte sie härter als vorher.
Auch Zodiak nahm diese Veränderung zur Kenntnis. Da hatte er sich einen Feind fürs Leben gemacht. Aber das interessierte ihn wenig. Dieses Mädchen konnte ihn nicht besiegen. Jetzt nicht und später auch nicht. Sie würde nie so gut werden wie er. Sie war zwar das Kind zweier Krieger. Doch war sie ein Mädchen. Nie würde sie so stark werden, ihn zu besiegen.

Hero wusste, nachdem sie von Zodiak ein weiteres Mal – diesmal im Kampf mit echten Schwertern – getötete worden war, dass die Möglichkeit bestand, das Ungeheuer zu besiegen. Sie war dem Tor mit dem hellen Licht zwar nicht näher gekommen, aber nachdem sie sich dem Ungeheuer erneut zur Wehr gesetzt hatte, wurde sie ins Leben zurückkatapultiert.
Hero, da sie wusste, dass sie sowohl das Ungeheuer als auch den Tod an sich besiegen konnte, hatte keine Angst mehr vor dem Sterben und dem Ungeheuer. Aber dennoch hatte sie einen Wunsch: Ganz normal sterben und vor allem tot bleiben. Ihr war egal, ob sie nun am Alter starb oder an einem Herzinfarkt. Aber auf jeden Fall sollte es ein natürlicher Tod sein. Kein Schwertstich oder ähnliches sollte sie ins Grab befördern. Aber viel wichtiger war, dass sie tot blieb und nicht wieder in die Welt zurückkehrte.
Das Mädchen hatte die Ausbildung bei Sturm erfolgreich absolviert. Nun kämpfte sie täglich mit Zodiak, um ihre Schwertkunst, zu verbessern. Und obwohl sie die Ausbildung abgeschlossen hatte, traf sie sich täglich mit Sturm und trainierte ihre Kondition und den Zweikampf.

Der beste Schwertkämpfer der Welt



„Die Kleine hat einen enormen Willen.“ Die Wache stand lässig am Türrahmen gelehnt.
„Ja, und hast du sie kämpfen gesehen?“, fragte die zweite Wache.
„Nicht nur gesehen. Ich hab sogar zweimal gegen sie gekämpft. Das war aber bevor er sie unter seine Fittiche genommen hat. Sie war damals schon gut, aber was wird er

nur aus ihr machen? Eine Kampfmaschine?“
„Aber was hilft ein starker Wille, wenn die Kraft fehlt?“, fragte der Arzt, der gerade durch die Tür trat.
„Ihr fehlt die Kraft? Sind Sie noch bei Trost?“ Er griff sich erinnernd an seine Kämpfe mit Hero an den Oberarm. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, als würde die Erinnerung allein schon schmerzen. „Ihr Hieb hatte Kraft!“, meinte er bekräftigend.
„Ich meine nicht ihre Hiebe, sondern sie selbst. Seht sie euch an! Sie schleicht wie ein Geist durch die Burg. Er wird sie noch aufarbeiten. Sie ist schließlich noch ein Kind. Sie braucht Ruhe. Nach jedem ihrer Übungskämpfe muss ich der Kleinen die Beine von neuem verbinden, weil die alten Wunden wieder aufgeplatzt sind. Jeder andere Mensch würde mit solchen Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert werden und dort mindestens eine wenn nicht zwei Wochen Bettruhe haben. Aber ihr wird nicht einmal ein Tag Ruhe gegönnt. Jeden Tag kämpft sie stundenlang, fällt am Abend zu Tode erschöpft ins Bett und verliert auch noch ständig Blut. Das hält kein normaler Mensch auf Dauer aus“, meinte der Arzt besorgt zu den beiden Wachen.
„Na ja, jetzt bekommt sie Ruhe. Er ist verreist für ein – zwei Wochen.“
„Kommt schnell!“, rief eine dritte Wache aufgeregt. „Die Kleine! Sie liegt ohnmächtig auf dem Übungsplatz.“
„Was macht sie denn da? Ich dachte er

ist verreist“, fragte der Arzt entsetzt.
„Ist er

ja auch. Aber er

hat der Kleinen aufgetragen an ihrer Ausdauer zu feilen. Und das hat sie wohl auch gemacht bis zur totalen Erschöpfung.“

Langsam kam die Besinnung wieder. Hero blieb bewegungslos liegen bis auch die Erinnerung zurückgekehrt war. Sie fühlte nichts; keinen Schmerz. Vorsichtig öffnete das Mädchen die Augen und schloss sie gleich darauf wieder geblendet. Aber nicht nur geblendet. Denn mit dem Sonnenlicht nahm Hero auch etwas anderes wahr. Etwas das sie bereits vermisst hatte. Den Schmerz. Jede Faser ihres Körpers protestierte, obwohl sie sich noch nicht einmal bewegt hatte. Vorsichtig öffnete sie die Augen von neuem und setzte sich langsam auf. Nach einem prüfenden Blick stellte sie fest, dass ihre Wunden wieder aufgeplatzt waren. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen.
Ich muss weiter machen, ich muss besser werden; viel besser.

Stöhnend erhob sie sich und blieb schwankend auf dem Schwert gestützt stehen.

„Ich werde verreisen“, hatte ihr Zodiak an diesem Morgen offenbart. „Und damit du auf keine dummen Gedanken kommst, habe ich – nennen wir es Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Hier!“ Der Mann hatte Hero die gestrige Zeitung in die Hand gedrückt. „Seite 10“, meinte er.
Hero las den Artikel, las ihn noch einmal, konnte nicht glauben, was sie las und las ein weiteres Mal.

JUNGE STIRBT AN RÄTSELHAFTER KRANKHEIT!
Gestern starb ein etwa 14-jähriger Straßenjunge im Krankenhaus an einer bis dato unbekannten Krankheit.
Sein Körper war unversehrt und dennoch klagte er über Schmerzen und wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Die Spezialisten konnten diesen Krankheitsverlauf keiner bekannten Krankheit zuordnen. Und schließlich erlag der Junge am Abend des gestrigen Tages der Krankheit. Die Spezialisten rätseln wie die Krankheit ausgelöst wurde.

„Weißt du über wenn die Reporter sich den Mund zerreisen?“, fragte Zodiak und lächelte Hero offen ins Gesicht. „Über deinen Freund, über Juli oder wie auch immer er heißen mag.“
„Sie … Sie haben ihn umgebracht. … Aber wieso? … Ich bin doch hier“, stammelte Hero unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
„Das sagte ich bereits. Als Vorsichtsmaßnahme. Ich werde verreisen und damit du nicht auf dumme Gedanken kommst … Schließlich hast du noch zwei Freude, denen dasselbe Schicksal zuteil werden kann. Du wirst hier schön brav auf mich warten und deine Ausdauer verbessern bis ich zurück bin.“
„Sie … Sie elender Verbrecher“, schrie Hero. „Sie Mörder! Sie …“
„Sag nichts, was du später vielleicht bereuen könntest“, unterbrach Zodiak das Mädchen mit scharfer Stimme.

Die Zeit der Rebellion war gekommen!
Sie war – selbst nach dem Mord an ihr – bei Zodiak geblieben, um ihre Freunde zu retten. Doch nun hatte er sich an ihren Freunden vergriffen. Damit hatte Zodiak verspielt. Hero würde nicht länger seine Marionette sein. Sie würde sich wehren!
Zodiak rühmte sich, zu den besten Schwertkämpfern der Welt zu gehören, wenn nicht sogar der Beste zu sein. Nun hatte Hero einen Entschluss gefasst. Sie wollte der beste Schwertkämpfer der Welt werden!

Hero hatte sich ein hohes Ziel gesetzt. Das Mädchen wollte den vielleicht besten Schwertkämpfer der Welt besiegen. Das war mit sehr viel Arbeit und Schmerz verbunden. Die Trainingsstunden Zodiaks würden nicht ausreichen. Sie würde auf eigene Faust üben müssen. Sie würde es schaffen!

Hero wusste es. Sie würde nicht mehr stillhalten.


Hero hatte sich geschworen, sich an ihm für den Tod ihres Freundes zu rächen. Doch dazu musste sie Zodiak besiegen. Sie musste den angeblich besten Schwertkämpfer der Welt besiegen. Dieser Gedanke holte Hero wieder in die Wirklichkeit zurück. Mein Freund ist gestorben. Nie wieder werde ich zulassen, dass so etwas passiert. Aber um es zu verhindern, muss ich besser werden, besser sein als Zodiak. Ich muss der beste Schwertkämpfer der Welt werden.
Der beste Schwertkämpfer der Welt

, diese Worte hallten in ihrem Kopf wieder. Das war ihr Ziel. Der beste Schwertkämpfer der Welt.


Schwankend wandte sie sich dem Baumstumpf zu, an dem sie geübt hatte und hob das Schwert. Doch da hörte sie schnelle Schritte hinter sich.
„Du … du stehst ja wieder“, stammelte eine Person hinter ihr. Langsam, darauf bedacht keine allzu schnellen Bewegungen auszuführen, drehte Hero sich um.
„Was sollte ich denn sonst machen?“, fragte Hero die drei Wachen und den Arzt hinter ihr mit lahmer Stimme.
„Du warst bewusstlos!“, meinte eine der Wachen verwirrt. Für Hero sahen sie alle gleich aus, in ihren Uniformen.
Hero zuckte die Schultern und drehte sich um und machte einen Schritt auf den Baumstumpf zu. Eine Dornenranke fuhr ihr übers Gesicht und hinterließ einige blutige Kratzer auf ihrer Wange. Die Wunden waren nicht tief und würde so schnell heilen wie alle anderen Verletzungen, die sie sich im Laufe ihres neuen Lebens zugefügt hatte, die sie sich seit sie unsterblich war, zugefügt hatte. Die Heilung verlief jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit. Der Schmerz war sowieso ohne Bedeutung – nachdem sie Juli auf grausame Art verloren hatte, gab es nichts mehr, was sie wirklich berührte. Und doch riss sie das dünne Blutrinnsal auf ihrer Wange einen Moment aus ihren düsteren Gedanken, die sie seit dem Zeitungsartikel nicht mehr losgelassen hatten.

Die nächsten Wochen ließ Hero nicht zu, dass die Trauer sie überwältigte. Sie sperrte ihre Gefühle aus. Auch den Schmerz und die Kraftlosigkeit.
Sie kämpfte von früh bis spät und auch in der Nacht ließ sie das Schwert nicht aus den Händen. Nach den Übungskämpfen mit Zodiak, trainierte sie mit Sturm und auf eigene Faust weiter. Aber nicht mit einem Schwert, sondern mit zweien. Das Mädchen entwickelte den Zwei-Schwerter-Stil. Durch das zusätzliche Schwert gab sie ihren Angriffen mehr Power.
Der Gedanke an Rache begleitete Hero durch diese schwere Zeit. Doch auch dieser verschwand wieder. Rache war kein Grund zu kämpfen. Wer sich von Gefühlen leiten ließ, würde nicht gewinnen können. Zum Gewinnen braucht man einen klaren Kopf. Rache hatte da keinen Platz.

Wieder einmal saß Hero bei dem Arzt und ließ sich verbinden.
„Hero, ich weiß nicht, wieso du dir das antust und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Aber du musst damit aufhören! Du stirbst, wenn du es nicht tust.“ Der Arzt sah das Kind flehend an.
„Kommt auf einen Versuch an“, meinte Hero in einem Ton, der klar machte, wie ernst es ihr war. Sie würde nicht sterben. Zum einen würde sie ihr starker, ungebändigter Wille sie am Leben halten. Und zum anderen war sie unsterblich. Und wenn nicht? Wie schon gesagt: Es kam auf einen Versuch an.

Sie würde nicht aufhören, zu trainieren. Und wenn es Jahre dauern wird. Irgendwann wird Hero stark genug sein, um Zodiak zu besiegen.
Hero rutschte von der Liege und ließ den Arzt in seiner Ratlosigkeit zurück.

Das Mädchen hatte nicht unbedingt vor die Zeit des Stärker Werdens bei Zodiak zu verbringen. Hero musste nur warten. Irgendwann würde Zodiak leichtsinnig werden. Das war dann ihre Chance. Und der Tag rückte immer näher. Sie spürte es förmlich. Zodiak wurde immer unvorsichtiger.
Eines Tages war ihre Chance scheinbar gekommen. Der rote Knopf lag auf dem Tisch. Hero musste an sich halten, um ihn nicht einzustecken und zu verschwinden. Es fühlt sich falsch an. Irgendetwas stimmt nicht. Eine Falle?

Diesmal verließ sie sich auf ihr Gefühl, ignorierte es nicht, sondern ging an dem Tisch vorbei und verließ den Saal.
Draußen sah sie, dass ihr Gefühl richtig war. Es war falsch. Vor der Tür wartete Zodiak.
„Was soll das?“, fragte Hero erbost. „Trauen Sie mir nicht?“
„Wie sollte ich?“
Von diesem Tag an, hat sich ihr Verhältnis geändert. Zodiak wurde unvorsichtiger. Immer öfter lag der Knopf scheinbar unbeaufsichtigt herum. Hero ging jedes Mal daran vorbei. Immer seltener begegneten ihr ein paar Meter weiter Bewacher.
Schließlich lag er wirklich unbeaufsichtigt auf einem Tisch. Das Gefühl, dass etwas falsch war, fehlte.
Das Mädchen ergriff die Chance und lief mit dem Knopf in der Tasche aus dem Saal. Sie rannte beinahe zum Tor. Sie wusste, sie erregte damit die Aufmerksamkeit der Soldaten. Doch das war ihr egal. Sie wollte nur noch weg, weg von dieser Hölle.
Die Soldaten verstellten ihr den Weg.
„Wohin willst du?“, fragte einer.
„Weg.“
„Das lassen wir nicht zu.“ Der Soldat beging den größten Fehler seines Lebens. Denn Hero hatte die Zeit des Wartens sinnvoll genutzt. Sie hatte geübt. Sie war immer besser geworden. Und jetzt war es für sie kein Ding der Unmöglichkeit mit dem Soldaten fertig zu werden. Verletzt ging er zu Boden.
„Geht mir aus dem Weg!“, forderte Hero gefühlslos. Als wäre das die Aufforderung gewesen, stürzten sich alle auf einmal auf sie.
Schwer verletzt und geschwächt ging Hero als Sieger aus dem Kampf hervor. Ihre Wunde am Bauch und auch ihrer Wade war wieder aufgeplatzt. Die einzigen Wunden, die bis jetzt nie verheilt waren. Geschwächt machte sie sich auf die Suche nach Atikes und Jaden. Keiner der Soldaten hielt sie mehr auf. Sie lagen am Boden. Verletzt zwar, doch sie lebten.
Nun konnte Hero ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken. Die Trauer überschwemmte sie. Mit Tränen in den Augen lief sie weiter. Als sie bei Jadens Haus ankam, war der Tränenstrom versiegt. Eine alles erfüllende Leere breitete sich wieder in ihr aus. Sie war noch weit davon entfernt, den Tod ihres Freundes zu verstehen oder auch nur zu akzeptieren.
Unschlüssig stand Hero vor Jadens Tür. Sollte sie anklopfen? Wollte sie das? War es nicht besser, leichter, wenn sie ihre Freunde nicht mehr sah?


Schließlich hob sie die Hand. Sie musste Jaden und Atikes, wenn er noch da war, wieder sehen und sei es auch nur, um ihnen die Angst um sie zu nehmen.
Das Mädchen klopfte.
Jadens Vater öffnete.
„Hero … du? …“, brachte er erstaunt heraus.
„Ist Jaden da?“
„Ja … komm rein.“ Er trat zur Seite und ließ Hero ins Haus treten. „Du siehst ja schrecklich aus.“
Atikes, Jaden und – Hero konnte es nicht glauben – Juli saßen am Tisch. Die Kids starrten sich eine Minute einfach nur an. Dann fielen sie sich in die Arme.
„Juli! Du lebst!“, jubelte Hero. Juli lebt

, dachte das Mädchen glücklich. Zodiak hatte gelogen. Juli lebt, lebt immer noch, hat nie etwas anderes getan. Er war nie tot gewesen.


Jadens Vater verband wortlos Heros Wunden, nachdem sich ihre Freunde aus der Umarmung gelöst hatten. Danach ließ er die vier Kids allein.
Hero erzählte den anderen nichts von ihrem Aufenthalt bei Zodiak. Kein Wort kam über ihre Lippen. Und die anderen nahmen es hin. Sie wollten das Mädchen nicht drängen. Denn die Jungs sahen es an Heros Gesicht, an ihren Augen, dass sie Schreckliches durchgemacht haben musste.
Stumm saßen die vier Kinder nun in dem Haus. Doch es war keine bedrückende Stille. Hero genoss es ihre Freunde lebend zu sehen, wieder unter ihnen zu sein. Tastend griff sie sich in ihre Tasche und berührte flüchtig, beinahe ängstlich den todbringenden Knopf.
Plötzlich verblasste ihre Umgebung. Das Mädchen sah eine Mauer vor sich, schlüpfte durch ein kleines Loch und hörte plötzlich die Stimme des Fremden. Doch diesmal war es anders. Er war nicht in ihrem Kopf. Sie war in seinem.
Heros dunkle Augen erzählen traurige Geschichten und dennoch blickt aus ihren Augen eine Gelassenheit, die ich mir nur mit großer Willensstärke erklären kann. Nicht viele Kinder haben so eine Gelassenheit im Blick, nach solchen Erlebnissen wäre Angst wahrscheinlicher. Sieh sich einer dieses Kind an. Wie könnte es sein? Wie ist es jetzt? Woher nimmt sie nur die Kraft? Oft steht sie vor dem Abgrund. Oft verliert sie den Mut und jedes Mal schafft sie es sich vor ihrem seelischen Tod zu entfernen. Oft genug war sie nur einen Schritt davon entfernt sich aufzugeben, ihr Leben wegzuschmeißen und jedes Mal schaffte sie es den Schritt zu tun, weg von dem Abgrund, weg von ihrem Ende.

Dann drang der Fremde in Heros Geist ein und Hero mit ihm. So einen Geist habe ich noch nie gesehen. So viele Fassetten.

Sie standen in einem Wirrwarr aus Treppen und Türen. Nach ein paar Schritten wusste man bereits nicht mehr wo oben und wo unten war. Denn wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man Gänge und Treppen, vor sich sah man Gänge und Treppen und hinter und unter einem dasselbe Bild. Alles in Grautönen gehalten.
Auf der einen Seite stand eine Tür offen. Der Raum dahinter war in zwei Teile geteilt. Auf der einen Seite war ein heller Teil. Im Vordergrund lag Spielzeug, weiter hinten wurde es immer größer, bot immer bessere Versteckmöglichkeiten. Das war der unschuldige Teil des Geistes, die Hero, die es früher einmal gegeben hatte.

Auf der anderen Seite des Raumes waren die Wände aus altem Stein. Dieser Teil des Geistes war kühl und distanziert. Hero wie sie nun war.


Daneben war eine weitere Tür in nachtschwarz. Diese war geschossen und ließ sich auch nicht öffnen. Das, was auch immer dahinter lag, wollte er auch gar nicht sehen. Es war besser so

, erkannte er.
Das ist schon ein außergewöhnlicher Geist. Mehrere Wesenheiten bewohnen diesen Körper. Nicht viele werden mit so einer Belastung fertig.


Plötzlich saß Hero wieder im Kreise ihrer Freunde. Sie war aus dem Kopf des Fremden und ihrem eigenen Kopf zurückgekehrt.

Langsam nur kam Hero zur Ruhe. Ihre wahnwitzige Flucht war vorbei. Doch ihr Körper wollte fliehen, wollte rennen, sich verstecken. Wie sehr hatte sie sich verändert seit ihrer ersten Flucht, wie sehr hatte sie sich bei Zodiak verändert. Sie war kühner und gelassener geworden.
Wie sehr sie auch ihre Freunde vermisst hatte, wie sehr sie auch ihre Nähe vermisst hatte, Hero konnte sich ihnen nicht mehr unbefangen nähern. Nicht nach der Zeit bei Zodiak. Zodiak hatte sie zu einem Monster gemacht. Niemand sollte je davon erfahren, was sie getan hatte, was aus ihr geworden war.
Hero fühlte sich leer. In ihrem Körper war ein großes Loch.
Aber wieso? Wieso immer noch?

Sie hatte diese Leere geduldet bei Zodiak, hatte die Leere gewollt, ja sogar gebraucht, um zu überstehen. Doch nun war es vorbei. Sie war frei, hatte ihren eigenen Willen wiedererlangt.
Bei Zodiak hatte sie die Leere nicht derart gespürt, denn ein Ziel hatte ihr Denken in Anspruch genommen, doch aber gewusst, dass diese Leere da war. Doch nun – sie war Zodiak entkommen, hatte erfahren, dass Juli noch lebte. Wieso fühlte sie sich immer noch so leer?


Juli ließ sich neben Hero an der Hauswand zu Boden sinken. Das Mädchen schien ihn gar nicht zu bemerken. Aufmerksam beobachtete Juli Hero. Ihr Blick war leer, wenn man von dem Schmerz absah. Der Junge vermutete aber, dass dieser Schmerz nicht von ihren Wunden herstammte. Der Schmerz in Heros Augen stammte nur zum kleinsten Teil von ihren Verletzungen.
Was hatte Zodiak Hero angetan? Was hat sie so verletzt?

Juli würde das Mädchen nicht fragen. Er wollte die Wunden nicht wieder aufreisen.
Plötzlich durchlief Hero ein Zittern. Das holte sie aus der dunklen Erinnerung in die Wirklichkeit zurück.
„Ich werde Zodiak finden! Ich werde ihn vernichten!“ Aus Heros Augen war die Leere verschwunden. An ihre Stelle trat wilde Entschlossenheit.
Erstaunt beobachtete Juli diese Veränderung, beobachtete wie sich das Mädchen hocharbeitete und davonging. Aufgrund einer bösen Vorahnung folgte Juli dem Mädchen.
Zielstrebig lief Hero durch die Gegend. Und bald kannte Juli ihr Ziel. Das Anwesen Zodiaks kam in Sicht.
„Hero, was hast du vor?“, fragte der Junge zweifelnd.

Niedergeschlagen stand Hero vor der Burg. Sie wirkte verlassen. So als hätte Zodiak sie nie bewohnt. Ohne Wachen sah die Burg richtig friedlich aus. Zodiak und all seine Leute waren verschwunden.
„Hero, was hast du vor?“, fragte Juli noch einmal.
Das Mädchen wusste es nicht. Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wenn Zodiak noch da gewesen wäre. Doch jetzt war es zu spät. Es war gerade einmal zwei Tage her, dass Hero den Klauen der Burg und ihrer Bewohner entronnen war und jetzt war Zodiak weg. Es war als würde mit dieser Erkenntnis alle Kraft aus Heros Körper gesogen. Kraftlos schleppte sie sich zurück. Wieder ließ sie sich an der Hauswand herab gleiten und versank in ihren Gedanken.

Hero wurde immer einsilbig. In den nächsten Tagen konnte man ihr kein Wort entlocken. Es war als hätte ihr Zodiak alle Lebensfreude entzogen.
Warum jagt Hero Zodiak? Was hat er getan, um sich Hero zum Feind zu machen?

Diese Frage beschäftigte Atikes. Doch er konnte Hero nicht einfach fragen. Seit ihrer Rückkehr von Zodiak hatte das Mädchen nichts über ihren Aufenthalt bei Zodiak erzählt. Ihr Freudenausbruch als sie Juli sah und die Information, dass Hero der Ansicht war, dass er tot war, waren die einzigen Auskünfte über ihren Aufenthalt.
Hero hatte sich verändert in diesen Wochen. Sie war stärker geworden. Nicht nur ihr Körper, sondern und vor allem ihr Wille. Und da war noch etwas. Dieses unbändige Verlangen, Zodiak zu finden und zu besiegen.
Was hatte Zodiak nur getan?

Doch eine Antwort darauf würde er nie bekommen.

Ruhelos lief das Mädchen durchs Haus. Im Bad angekommen, beugte sie sich über das Waschbecken und spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht. Irgendetwas an ihrem Spiegelbild ließ sie innehalten und genauer hinsehen. Ihr Gesicht hatte sich seit ihrer ersten Flucht verändert. Der Babyspeck war verschwunden, auf der Wanderschaft dahingeschmolzen, durch die Anstrengungen der Kämpfe mit Zodiak. Ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlicher ab und ihr Kinn wirkte energischer. In ihren Augen lag ein schimmernder Glanz, der ihr ein verwegenes, fremdartiges Aussehen verlieh. Aber da war noch etwas. Ein grauer Schleier, der diesen Glanz von Zeit zu Zeit überzog, der von ihren schrecklichen Erinnerungen herrührte, von ihrer schrecklichen Tat.
Sie trat einen Schritt zurück, worauf ihr ihr Gesicht wieder etwas vertrauter vorkam – und doch schien es nicht mehr so recht zu ihr zu gehören.
Atikes kannte Hero nun am längsten. Heros Verwandlung war beängstigend. Er hatte die Angst in Heros Augen gesehen. Diese unbändige Angst, die alles zu verschlingen drohte. Jetzt wirkte Hero nicht im Geringsten ängstlich. Ganz im Gegenteil, sie wirkte nun kühl und distanziert. Sie zeigte ihre Gefühle nicht – sofern sie überhaupt welche empfand. Nicht einmal das konnte Atikes mit Sicherheit sagen. Und genau das beunruhigte ihn. Hero musste Schreckliches erlebt haben, um so eine Veränderung durchzumachen. Nun wirkte Hero nicht mehr wie vierzehn. Nein, sie wirkte viel älter, erfahrener. Was hat er ihr nur angetan?


Anfangs versuchten die Jungs noch, Hero aufzumuntern, doch bald mussten sie einsehen, dass alles nichts nützte.

Oma Trudis Muffinrezept



Aber dann änderte sich alles. Mit dem Auftauchen des Postboten und einem Brief an Black kids kam Hero aus ihrem Einsiedlerleben zurück. Ein seltsames Leuchten war in Heros Augen und da war sie wieder, diese wilde Entschlossenheit. Hero hatte ihr Ziel wieder im Blick. Genau genommen konnte es dem Mädchen egal sein, wo sich Zodiak aufhielt. Jedenfalls solange bis sie der beste Schwertkämpfer der Welt war. Dann erst musste sie den Aufenthaltsort Zodiaks ausfindig machen und ihn besiegen. Und dann würde endlich die Unsterblichkeit mitsamt dem Monster verschwinden.
Der Postbote drückte Hero, die allein vor dem Haus saß, lächelnd die Post in die Hand. Das Mädchen wollte den Stapel schon beiseitelegen, als ein Brief ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein schwarzes Kuvert, mit weißer Tinte in schwungvoller Schrift beschriftet. Doch noch seltsamer war die Anschrift. Er war an Black kids adressiert. Nachdenklich drehte Hero den Brief in der Hand und riss ihn schließlich auf. Ein einziger schwarzer Zettel folg heraus.

Ich habe eine Aufgabe für euch, Black kids.
Heute Nacht soll bei Oma Trudi eingebrochen werden und das weltberühmte Oma Trudi Muffinrezept gestohlen werden.

Er war nicht unterzeichnet.
Hero fragte sich, woher der Absender das wusste. Woher wusste er, dass sie Black kids waren?


Der Zweifel nagte an Hero. War das eine Falle?

Sie überlegte lange. Doch dann stand fest, dass sie dorthin gehen würde. Sie hatte den Entschluss gefasst, Zodiak zu besiegen. Aber dafür musste sie stärker werden, viel stärker. Da konnte sie auch ihr Vorhaben mit etwas Nützlichem verbinden. Sie brauchte sowieso Gegner zum Üben. Und die Verbrecher meldeten sich sozusagen freiwillig.
Hero schloss die Augen und grübelte weiter darüber nach, ob sie als Black kids oder allein gehen sollte. Doch dann wurde ihr die Entscheidung abgenommen.
„Was ist das?“ Juli zog ihr den Zettel aus den Händen, las. „Glaubst du, dass ist eine Falle?“, wollte der Junge wissen.
Hero schüttelte den Kopf. Irgendetwas sagte ihr, dass das keine Falle war.
„Wann brechen wir auf?“
Irritiert, fragend sah Hero den Jungen an. Dann entdeckte sie ein fettes Grinsen auf seinem Gesicht und erkannte, dass nichts, was sie sagen konnte, den Jungen davon abbringen würde, mitzukommen. Dennoch musste sie es versuchen.
„Ich muss da allein hin“, meinte sie leise.
„Nein, musst du nicht. Wir sind deine Freunde, wir kommen mit.“ Die Art und Weise wie Juli das gesagt hatte, machte Hero machtlos. Und sie ergab sich in ihr Schicksal. Doch teilweise war sie auch froh, dass sie dort nicht allein hingehen musste. Andererseits aber wollte sie ihre Freunde auch nicht der Gefahr aussetzen.
„Was habt ihr da?“ Jaden riss Juli den Zettel aus der Hand. Lange blieb er still.
Traurig beobachtete ihn Hero. Sie wollte nicht, dass er das las. Sie wollte nicht, dass er mitkam. Sie wollte nicht sein Leben zerstören. Atikes und Juli, das konnte sie akzeptieren. Atikes war selbst ein Verfolgter und Juli ein Dieb. Sie hatten kein behütetes Zuhause. Aber Jaden hatte das. Er hatte Familie. Sie wollte das nicht zerstören. Sie durfte das nicht.


„Seid ihr Black kids?“ Doch keiner antwortete auf Jadens Frage. „Ich … ich komme mit“, sagte Jaden schließlich.
„Nein, Jaden.“ Hero hatte so gehofft, dass er das nicht sagen würde. „Es wird gefährlich. Vielleicht werden wir auch kämpfen müssen.“ Das Mädchen konnte nur hoffen, dass Jaden dies abschreckte. Doch dies tat es nicht. Ganz im Gegenteil.
„Wenn ihr kämpfen müsst, kann ich euch erst Recht nicht alleine gehen lassen. Ich werde nicht kämpfen“, versicherte Jaden. Er hatte den Kampf um seinen Vater, die Schmerzen der Verletzung nicht vergessen, „aber ich will im Notfall Hilfe holen können. Das bin ich euch schuldig.“
„Das musst du nicht tun“, meinte nun auch Juli.
„Ich will es aber. Ich will meine Freunde nicht verlieren.“
Das war ein Todschlagargument. Hero musst erst einmal schlucken. Ich will meine Freunde nicht verlieren. Doch nichts, was Hero sagte, konnte den Jungen noch umstimmen.

„Vorsicht jetzt! Hier sind überall Lichtschranken. Wartet!“ Eine Hand erschien aus der Dunkelheit. Der Mann pustete Staub von der Handfläche. Doch anstatt zu Boden zu fallen, verteilte er sich im ganzen Raum und legte sich um die Lichtschranken. Nun waren sie für jedermann sichtbar.
Die drei Männer verbogen sich, um durch die Lichtschranken zu kommen. Ihr Ziel war ein kleiner Sockel in der Mitte des Raumes, auf dem das Rezept aufgebahrt war.
Der erste Mann, der Staubmann, erreichte das Podest, auf dem der Sockel mit dem Rezept stand und richtete sich auf.
„Was?“, fragte er fassungslos und starrte die vier Personen an, die lässig gegen den Sockel gelehnt warteten.
„Habt ihr euch verlaufen?“, fragte Juli in spöttischem Tonfall. „Der Gymnastikkurs ist ein paar Straßen weiter.“
„Was macht ihr hier?“, fragte der zweite blondhaarige Mann, der sich nun auch erfolgreich durch die Lichtschranken gekämpft hatte.
„Euch vor einer riesen Dummheit bewahren“, meinte Hero so ruhig wie möglich.
„Geht nach Hause. Das ist nichts für kleine Kinder“, entgegnete der Staubmann ebenso ruhig. Er ließ es sich nicht anmerken, falls ihn das Auftauchen der Kinder überraschte.
Der Staubmann, trat auf den Sockel zu. Atikes vertrat dem großen, muskulösen etwas bleichen Mann den Weg.
„Geh aus dem Weg, Kleiner! Sonst passiert was!“ Atikes bewegte sich nicht. Der Staubmann hob wieder die Hand an den Mund und pustete. Auf der Hand war nichts, aber dennoch wirbelte Staub auf. Der Junge rieb sich die Augen und begann qualvoll zu husten.
Verwirrt starrte Hero den Mann an. Was war das? Wie konnte das sein?

Doch dann verdrängte sie ihre Verwunderung darüber mit den Gedanken an all die anderen Absonderlichkeiten, die ihr in letzter Zeit begegnet waren.
Der Mann wandte sich an Juli. Der zweite drehte sich zu Hero und kam drohend näher. Jaden wich einen Schritt zurück. Schließlich wollte er nicht kämpfen und grenzenloser Mut gehörte auch nicht zu seinen Verzügen.
Ein Schrei durchbrach die mit Gefahr angereicherte Stille. Der dritte Mann kämpfte um sein Gleichgewicht, schaffte es nicht und stürzte in eine der Lichtschranken. Sofort schrillte die Alarmanlage auf.
„Scheiße! Raus hier!“, rief der Staubmann, gab Jaden einen Stoß, grapschte sich das Rezept und floh. Black kids waren ihnen dicht auf den Fersen.
Einige Straßen weiter stellten die Kids die Verbrecher.
„Da seid ihr ja wieder“, meinte Juli.
„Ihr schon wieder! Wer seid ihr, dass ihr glaubt, euch so etwas herausnehmen zu können?“
„Mal `ne andere Frage: Was habt ihr eigentlich geklaut?“, wich Atikes aus.
„Es geht euch zwar nichts an. … Das Muffinrezept schlechthin“, antwortete der Staubmann.
„Seid ihr da sicher?“, fragte Hero.
Misstrauisch beäugte der rothaarige Mann, der die Alarmanlage ausgelöst hatte, den Zettel. Er sah dabei etwas dümmlich aus.
„Sollte auf einem Rezept nicht so etwas stehen, wie Mehl, Butter, und so was?“, fragte er.
„Hey, Mann, das ist gar nicht das Rezept“, rief der zweite Mann, der dem Auslöser über die Schulter geschaut hatte. „Da steht nur:

Ihr seid noch dümmer als wir dachten.
Black kids

„So, so, Black kids also. Wo habt ihr das Rezept? Gebt es uns, sonst sehen wir uns gezwungen, es uns mit Gewalt zu holen“, drohte der Staubmann. Seine beiden Kumpane gingen bereits in Angriffsstellung.
„Wir hatten eigentlich etwas anderes mit euch geplant. Einen kleinen Sparziergang zur Polizei“, meinte Juli. Falls er Angst hatte, versteckte er es gut.
„Gebt es uns!“ Die drei stürzten sich auf Black kids.
Vor Hero baute sich der Staubmann in voller Größe auf, wohl wissend wie gefährlich er dabei aussah.
„Gib mir das Rezept! Ich schlage niemanden des weiblichen Geschlechts und Kinder erst recht nicht.“
„Das trifft sich gut. Ich will dir auch nicht wehtun“, meinte Hero.
Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem Lächeln. „Aber ich werde es tun, wenn du dich weigerst.“ Langsam zog er das Schwert aus der Scheide. „Das wird leicht.“
„Wenn du dich da nicht täuscht“, meinte Hero.
„Na dann, lass uns beginnen. Oder willst du deine Meinung noch ändern?“
Hero sah ihn einfach nur an und stupste das Schwert zwei Finger weit aus der Scheide. Der Mann schwang sein Schwert und hätte Hero sicherlich schwer verletzt, wäre sie nicht auf die Seite gesprungen. Statt auf Heros Körper schlug das Schwert auf dem Boden auf. Funken sprühten.
Aus ungläubig aufgerissenen Augen betrachtete Jaden die Kämpfenden.
„Wieso kämpfst du nicht? Hast du etwa Angst?“, fragte der Staubmann selbstüberzeugt.
„Ich sagte doch, ich will dir nicht wehtun.“
„Klar doch“, meinte der Mann sarkastisch. „Du willst bloß nicht zugeben, dass du Angst hast. Wahrscheinlich kannst du mit dem Ding überhaupt nicht umgehen.“
Wieder schlug er auf das Mädchen ein. Diesmal zog sie das Schwert und blockte seinen Hieb ab. Der Staubmann taumelte zurück, hatte nicht mit Gegenwehr gerechnet. Der Mann tänzelte um das Mädchen herum, doch Hero stand unbewegt. Aus den Augenwinkeln sah sie wie er hinter ihrem Rücken erneut ausholte. Die Schwerter krachten aufeinander. Hero hatte sich leicht gedreht. Die Wucht des Aufprall der beiden Schwerter lähmte Heros Arm. Doch das Kind ließ sich nichts anmerken.
„Jetzt reicht’s mir aber!“ Wie von Sinnen schlug der Mann auf sie ein. Hero parierte seine Hiebe ohne erkennbare Mühe. Aber ihr rechter Arm meldete sich schmerzhaft zu Wort. Die Kraft des Aufpralls lähmte ihn. Es fiel ihr immer schwerer, das Schwert auch nur zu heben. Schließlich ging Hero selbst in die Offensive und griff an. Allerdings traf sie den Mann selten.
Einen Moment fehlte dem Mann die Aufmerksamkeit und diesen nützte das Mädchen und schlug ihn mit dem Schwertknauf in den Nacken. Bewusstlos sank der Mann zu Boden.
Auch Atikes und Juli standen über ihren bewusstlosen Angreifern, Jaden leicht verwirrt daneben. Die vier schleppten die Männer vor eine Polizeiwache, fesselten sie und legten das gestohlene Rezept und einen Zettel daneben. Dann verschwanden sie schnell wieder.
Am nächsten Tag stand über den Vorfall ein Artikel in der Zeitung.

MYSTERIÖSER FUND ERSTAUNT POLIZEI
Gestern Abend ging die Alarmanlage in Oma Trudis Firma los. Als die Polizei eintraf, waren Diebe und Rezept verschwunden. Doch noch in derselben Nacht tauchte beides wieder auf. Die Beamten der Polizeiwache 7 staunten in den Morgenstunden nicht schlecht, als sie vor der Wache drei bewusstlose und gefesselte Männer fanden. Daneben lag das verschwundene Rezept und ein Brief.
Wir hoffen sie verwahren diese drei diebischen Elstern gut. Sie sind vor etwas mehr als einer Stunde in Oma Trudis Firma eingebrochen und haben das Rezept entwendet. Doch uns gelang es, ihnen ihr Diebesgut abzunehmen und sie unschädlich zu machen.
Wir hoffen ihnen wird ihre gerechte Strafe zuteil.
Black kids.
Bei der folgenden Vernehmung gestanden die drei Männer die Tat. Kleinlaut gaben sie auch zu, dass Black kids sie überwältigt hatte. Aus ihrer Darstellung schließend besteht Black kids aus vier Kindern, drei Jungen und einem Mädchen. Doch die Polizei geht davon aus, dass es sich hierbei um kleingewachsene Erwachsene handelt. Die Absichten von Black kids sind aber noch ungeklärt. Wollten sie nur Gerechtigkeit oder steckt mehr dahinter?

Jaden schnitt den Zeitungsartikel aus und verwahrte ihn mit detaillierten Personenbeschreibungen der drei Diebe und einem Bericht über ihr Vorgehen.
Während dieses kleinen Ausflugs war wieder Leben in Hero gekommen. Doch jetzt war wieder alles wie zuvor. Hero verfiel wieder in ihren alten Trott. Wieder saß sie stundenlang reglos an die Hauswand gelehnt. Wieder sprach sie kaum ein Wort.
Das Mädchen saß schon einige Zeit an der Wand gelehnt und starrte vor sich hin. Doch dann löste sich die Wirklichkeit auf und Hero zwängte sich wieder durch eine Mauer und war wieder ungewollt in den Gedanken eines anderen, in den Gedanken des Fremden. Langsam hegte das Kind die Vermutung, dass sie in die Gedanken des Fremden eindrang, wenn dieser an sie dachte.
Ihre sanften und aufmerksamen Augen hatten zuviel Leid gesehen, zuviel Schreckliches erlebt. Und ich bin nicht ganz unschuldig daran. Schließlich habe ich Hero seit ihrer Geburt beobachtet. Ich hätte dem Mädchen viele Erlebnisse ersparen können, wenn ich Hero ihr Erbe früher eröffnet hätte. Ich hätte Hero langsam auf die Welt vorbereiten, ihre Kräfte erklären können. Doch nun ist es zu spät. Sie hat so viele Katastrophen überstanden; überstehen müssen. Nun war das Kind verschwunden und vor mir steht ein Erwachsener in Gestalt eines Kindes. Hero hatte durch diese grausamen Erlebnisse verlernt Gefühle zu zeigen. Sie fraß alles in sich hinein, schottete sich von den anderen ab, wurde ein Einzelkämpfer. Sie hatte verlernt, sich zu freuen, wie es nur Kinder taten, hatte verlernt unbefangen auf andere zuzugehen. Und den Großteil der Schuld habe ich. Ich hätte es verhindern können. Hero hätte zwar die Erkenntnis gehabt, dass sie anders ist, aber sie hätte nun keine so aberwitzige Reise hinter sich. Hero wäre anders aber nach außen hin normal. Nun ist die Hero, die es vor ein paar Wochen gegeben hatte zerstört. Und es ist meine Schuld. Aber ich kann einen Teil wieder gut machen.


Damit verschwand Hero aus seinen Gedanken. Doch gleich darauf spürte sie, wie er in ihre Gedanken eindrang.
Hallo Kämpfer

, begrüste er sie, nicht wissend, dass sie in seinen Gedanken war.
Hallo Fremder

, grüßte Hero, was ihn leise zum Lachen brachte und Hero zu einem Schnauben. Verraten Sie mir endlich ihren Namen?
Jeder braucht kleine Geheimnisse. Aber ich will dir ein Geschenk machen. Du hast schon so viel durchstehen müssen, so viel leiden, dass ich dir ein normales Leben geben möchte.

Als der Fremde die aufkeimende Hoffnung in Hero spürte, meinte er schnell: Ich kann die Verbrecher nicht von dir fern halten. Aber ich kann dir nebenher ein normales Leben ermöglichen. Diese Kette …

Der Fremde beschwor in Heros Gedanken ein Bild einer Perle an einem filigranen silbernen Kettchen herauf. … macht es möglich. Durch sie kannst du dich verwandeln. Von Hero Leone in ein Mädchen, dass die Verbrecher nicht kennen. Du wirst dich Äußerlich nicht wirklich verändern. Sie erkennen dich wieder, wenn du in der gleichen Gestalt bist wie bei eurer letzten Begegnung. Aber ansonsten bist du für sie einfach nur ein Mädchen.


Heros Augen leuchteten. Ein normales Leben!
Aber es gibt da ein klitzekleines Problem

, dämmte der Fremde ihre Vorfreude. Du musst deine Freunde verlassen. Nicht für immer

, beschwichtigte er, als er Heros Panik spürte. Nur für ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen. Es ist nur zu ihrem Schutz. Die Kette übernimmt anfangs ihren Träger. Bei jedem reagiert sie anders. Es kommt immer auf die Persönlichkeit des Trägers an. Manche haben schon tagelang geschlafen. Adere aber brachten alle in ihrer Nähe um.


Erschrocken sog Hero die Luft ein.
Es heißt nicht, dass das mit dir geschehen muss. Aber solange bis die Kette dich akzeptiert hat oder du sie besiegt hast, bist du nicht du selbst. Geh nach Gangstertown, versteck dich!


Hero stand auf, drehte sich noch einmal zu dem Haus um, in dem Atikes, Juli und Jaden – ihre Freunde – saßen. Sie konnte ihnen nicht sagen, was sie vorhatte, würde sie sie doch nicht allein gehen lassen. Aber es wäre viel zu gefährlich. Ihre Hand schloss sich fest um die Kette, die sie auf einmal in ihrer Hand hielt. Dann drehte sie sich um und verschwand.
In Gangstertown angekommen, legte sie die Kette um. Sie spürte wie sich eine Kälte über ihren gesamten Körper ausbreitete und plötzlich hatte sie nur noch einen Gedanken. Kämpfen!

Doch ein bisschen konnte Hero ihr Verhalten noch steuern. Sie ging nicht auf jeden los, nur auf diejenigen mit einer Waffe.
Die Jungs machten sich zwischenzeitlich auf die Suche nach dem Mädchen. Sie wollten nicht hinnehmen, dass Hero sie verlassen hatte. Denn genau danach sah es für sie aus.

Das Mädchen streifte nun nachtein, nachtaus durch die Stadt auf der Suche nach dem Bösen, hatte nur einen Gedanken: Kämpfen! Und wenn jemand Pech hatte ihr zu begegnen, wurde er kampfunfähig gemacht und vor einer Polizeistation abgelegt.
Auch heute Nacht durchstreifte sie die Gassen, als ihr plötzlich drei Männer den Weg versperrten.
„Sieh an, sieh an. So sieht man sich wieder“, sagte einer, der eine Eisenstange in der Hand hielt. Kampflustig ließ er sie in seine geöffnete Linke fallen.
Hero kannte die drei nicht. Es war auch schwer von erkennen zu sprechen, denn die drei trugen schwarze Masken über den Köpfen.
„Nun endlich, werden wir das Kopfgeld kriegen, um das du uns schon einmal geprellt hast. Nur sind es mittlerweile 30.000 ¤. Du musst begehrter geworden sein“, sagte der andere, der ein Schwert in der Hand hielt. Der dritte nickte bekräftigend und hielt ebenfalls ein Schwert in Händen.
Hero wusste immer noch nicht, wovon die drei sprachen und doch griff sie an. Kämpfen! Kämpfen! Kämpfen! Dieser Gedanke beherrschte ihr Denken.
Ihre Gegner wichen erst einmal erschrocken zurück. Sie hatten nicht damit gerechnet, von dem Mädchen angegriffen zu werden. Damals war sie noch klein und verängstigt und saß heulend in ihrem Keller, bevor sie abgehauen war. Das sie jetzt kämpfte, irritierte die Männer zwar, aber sie griffen nun ihrerseits an.
Ein ungleicher Kampf entbrannte. Drei gegen eine war nicht fair. Doch das hinderte Hero nicht daran, immer weiter zu kämpfen.
„Was ist hier los?“ Der Kampf hörte abrupt auf und alle vier fuhren herum. Da stand ein schwarzhaariger Junge, der etwa in Heros Alter war und starrte die Kämpfenden verwirrt an. Er hatte in Befehlston gesprochen, doch auf seinem Gesicht war nun nur noch erstaunte Freude auszumachen.
„Hero“, stammelte er. „Da … da bist du ja.“ Er rannte auf das Mädchen zu. Auch er trug ein Schwert an seiner Seite. Hero legte den Kopf schief und überlegte. Der Junge kam ihr bekannt vor, alles an ihm war ihr seltsam vertraut. Es war ihr vertraut, wie er lief, wie er rannte, wie er sprach, einfach alles. Und doch trug er ein Schwert und war somit ihr Feind. Sie hob ihr Schwert.
„Keinen Schritt weiter!“, befahl sie. Ihre Schwertspitze zeigte auf das Herz des Jungen. Dieser blieb abrupt stehen nun endgültig vollkommen verwirrt.
„Hero, was machst du da?“
Dieser Name

, er bewegte etwas in ihr. Sie kannte ihn. Aber sie wusste nicht woher.

In ihrem Kopf arbeitete es. Da kamen einzelne Fetzen, einzelne Bilder ohne Zusammenhang. Sie quälten Hero. Denn sie kannte alle, wusste aber dennoch nichts mit ihnen anzufangen. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, wollte diese Fragmente rausschütteln. Die Kette hatte Hero noch zu sehr in ihrer Gewalt, als das sie erinnern zulassen würde.
Der Junge näherte sich einen Schritt. Hero hob das Schwert höher, das sie sinken gelassen hatte, als die Flut der Bilder sie überrollte.
„Keinen Schritt näher!“, befahl sie noch einmal. Es fiel ihr immer schwerer, sich auf die Situation zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und dann kamen wieder diese quälenden Bilder.
Wieder tat der Junge einen Schritt und Hero griff an. Der Junge hatte gerade noch Zeit genug, sein Schwert zu ziehen und ihren Hieb abzublocken.
„Hero?“, rief er verzweifelt. „Was tust du da? Kennst du mich denn nicht? Atikes. Du musst mich doch kennen. Was ist nur los mit dir?“
Hero schlug immer weiter auf ihn ein. Er parierte nur ihre Hiebe und griff nicht seinerseits an. Der Junge hatte verstanden, dass sich Hero an nichts mehr erinnerte. Es musste so sein.

Er weigerte sich, daran zu denken, dass es vielleicht anders war. Atikes versuchte sie mit Worte zurückzuholen. Und nach ihren verwirrten Blicken zu urteilen, gelang es ihm auch. Langsam nur, aber er machte Fortschritte. Er musste nur auf Heros Schwert aufpassen. Sie war gut. Viel besser als er, viel besser als er erwartet hatte, viel besser als sie sein durfte. Sie hatte es doch nie gelernt.
„Hero, erinnerst du dich nicht mehr an Black kids? An Juli und Jaden? Erinnerst du dich nicht mehr …“ Atikes stockte. Musste er so weit gehen?

„Erinnerst du dich nicht mehr an Zodiak? Was er dir angetan hat?“ Irgendetwas in Hero zerbrach. Er sah es in ihren Augen. Die schrecklichen Taten Zodiaks hatten sie wieder zurückgeholt, jedenfalls teilweise. Immer mehr Erinnerungen kehrten zurück. Langsam nur erlangte sie wieder Kontrolle über ihr Denken, über ihren Körper.
„Kämpfst du jetzt mit dem da oder kämpfst du mit uns?“, fragte der Mann mit der Eisenstange.
„Spielt denn das `ne Rolle?“, antwortete Hero. Endlich hatte sie die Kette besiegt.
„Ja!“
„Dann willst du was aufs Maul?“
„Ja!“
„Kannst du haben!“ Hero schlug zu.
„Danke, Atikes“, keuchte Hero. Erleichtert lachte der Junge auf. Auch wenn er zum allerletzten Mittel hatte greifen müssen, Hero war wieder da.
Nun kämpften Hero und Atikes Seite an Seite gegen die drei Gegner. Bald waren sie erledigt und wurden vor einer Polizeiwache abgelegt mit einem Verweis auf Black kids. Wenn wir schon unsere Gesundheit, unser Leben riskieren, meinte Atikes, wollen wir doch wenigstens die Lorbeeren einstecken. Außerdem ist es höchst interessant, die Zeitungsmeldungen zu lesen, die Vermutungen zu erfahren, zu sehen wie sie dennoch im Dunkeln tappen.

Dann machte sich Atikes auf die Suche nach Juli und Jaden.
Atikes fragte nicht, wieso Hero gegangen war. Sie sollte es von sich aus sagen, wenn sie dazu bereit war.
Die beiden waren überglücklich Hero wieder zu sehen. Sie fielen Hero um den Hals. Atikes stand glücklich lächelnd daneben. Auch Hero lächelte aber ihre Augen blieben davon unberührt. Atikes wusste, dass es teils seine Schuld war. Er hatte Zodiak erwähnt. Es war zwar seine letzte Möglichkeit gewesen, Heros Erinnerung zurückzuholen. Doch es war wie ein Schlag ins Gesicht. Hero wäre es lieber, wenn diese Erinnerungen weiterhin im Dunkeln geblieben wären. Doch nun waren sie wieder da und sie musste damit fertig werden.
Black kids machte sich auf den Weg zurück zu den Dieben, wo Juli, Jaden und Atikes Unterschlupf gefunden hatten.

Eine Geiselnahme und Black kids mittendrin



Aber sie sollten nie dort ankommen.
Auf halbem Weg wurden sie von fünf Leuten angegriffen. Die Kids wehrten sich tapfer, konnten den fünfen aber nicht viel entgegensetzten. Denn diese hatten den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Bis die Kids sich von dem Schrecken erholt hatten, waren sie schon überwältigt. Sie wurden gefesselt und in den Kofferraum eines Wagens geschmissen. Erst mithilfe der Beleuchtung des Autos fiel Juli auf, dass die fünf Stumpfmasken trugen. Er machte Hero, Atikes und Jaden darauf aufmerksam.
Während der Autofahrt lagen sie Rücken an Rücken und versuchten, die Fesseln zu lösen. Doch die Knoten waren zu fest. Black kids konnte nur warten, warten bis etwas passiert. Aber für ihn war es nicht das erste Mal. Für Jaden schon. Hero schimpfte stumm vor sich hin. Meine Schuld! Meine Schuld! Meine Schuld!

Auch wenn ihr Steckbrief nichts damit zu tun haben sollte, war es ihre Schuld. Die Jungs waren in Gefahr, weil sie nach ihr gesucht hatten.
Sie fuhren quer durch die Stadt. Der Verkehrslärm wurde immer lauter. Der Berufsverkehr begann. Jeder versuchte, zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen und verursachte so nebenbei einen riesigen Stau. Aber das waren die Leute schon gewohnt. Es war das normale, allmorgendliche Chaos.
Schließlich hielten sie an. Autotüren schlugen zu. Eine Weile war nichts mehr zu hören.
„Was passiert jetzt?“, wollte Jaden wissen. Doch er bekam keine Antwort.
Gespannt warteten die Kids auf das, was auch immer geschehen würde. Dann durchbrach ein Schuss die Stille.
„Was war das? Ein Schuss?“ Jaden sah sich gehetzt in dem engen Kofferraum um. Und auch die anderen sahen sich erschrocken an. Doch nichts geschah. Es fiel kein weiterer Schuss.
Auf einmal öffnete sich der Kofferraumdeckel.
Als sich Heros Augen an die plötzliche Helligkeit gewohnt hatten, erkannte sie zwei Strumpfmasken. Die Kids wurden aus dem Kofferraum gezerrt und die zwei schleiften Black kids wortlos hinter sich her.
Juli und Atikes sogen scharf die Luft ein. Sie kannten dieses Gebäude. Das war Burg Haudrauf. Das Internat, in dem sie einige Zeit verbracht hatte, bis Hero wieder gesund war. Oder besser gesagt bis sie geflohen waren.
Die Strumpfmasken schubsten die Kids in den Speisesaal von Haudrauf. Dort saßen alle Schüler und Lehrer zusammen. Sie hatten wohl gefrühstückt, jetzt aber blickten sie sich verstört um. Nun bemerkte Hero auch, dass es noch andere Strumpfmasken im Raum gab. Es müssen acht oder neun sein, mit denen die sie hereinbrachten. Diese Strumpfmasken zerrten sie vor dem Stuhl, auf dem sonst der Direktor saß – wie Juli und Atikes wussten. Aber jetzt saßen dort – sowie auf den anderen Lehrerstühlen – Strumpfmasken. Die Oberstrumpfmaske, die auf dem Direktor-Stuhl saß, sagte: „Ach, unsere Gefangenen. Wenn ich mir diese hochmütigen und zugleich frechen Gesichter genauer anschaue, können es eigentlich nur Schlottersteiner sein.“
Hero, Atikes, Jaden und Juli pressten trotzig die Lippen aufeinander. Das Mädchen verstand nicht, was Schlottersteiner waren. Doch Jaden wusste es. Burg Schlotterstein war das zweite Internat der Stadt und lag mit Burg Haudrauf in einem ewigen Clinch.
Hochmütige und freche Gesichter – hah, der wird sich noch wundern, wie hochmütig und frech sie sein konnten.

, dachte Hero erbittert. Niemand kommt ungeschoren damit durch, mich zu entführen und erst recht meine Freunde. Niemand gefährdet meine Freunde!


Immer gerätst du in Schwierigkeiten, Hero Leone

, tadelte der Fremde. Aber sei vorsichtig! Und tu um Himmelswillen nicht Unüberlegtes.


Hero zuckte zusammen. Sie!

, dachte sie drohend. Können Sie mich nicht einmal vorwarnen, bevor Sie mich so erschrecken?
Was kann ich dafür, dass du so schreckhaft bist?

, fragte der Fremde herausfordernd.
„Holt vier Stühle!“, trug die Oberstrumpfmaske ihnen auf. Den vieren wurden Stühle gebracht und zeitgleich wurden die Lehrer in den Keller gebracht und dort eingesperrt. Nun waren die Schüler allein mit den Strumpfmasken.
Heros Scherze mit dem Fremden konnten nicht über die Gefährlichkeit der Situation hinwegtäuschen. Die vier blickten den Verbrechern kämpferisch entgegen. Oder wenigstens drei der vier. Jadens Blick konnte man sowohl als kämpferisch, aber auch als verängstigt auslegen. Diese beiden Gefühle waren in ständigen Wechsel.
„Jetzt werden die Schlottersteiner schlottern wie es sich gehört. Seht nur genau zu! Und du nimm nur alles schön auf. Wir wollen der Polizei doch ein bisschen Arbeit geben.“
Hero, Atikes, Jaden und Juli sich auf die Stühle setzen.
„Nehmt’s nicht persönlich. Aber ihr wart zur falschen Zeit am falschen Ort. Jetzt seid ihr unsere Opfer“, lachte die Oberstrumpfmaske, als sie sich vor ihnen aufbaute.
Hero beschlich so ein seltsames Gefühl, das sofort bestätigt wurde. Es drohte Gefahr. Die Strumpfmaske holte aus und schlug Atikes ohne Vorwarnung ins Gesicht. Dieser war viel zu überrascht, als das mehr als ein Schmerzenslaut über seine Lippen kam.
„Hey, was soll das?“, schrie Hero wütend, entsetzt. Doch die einzige Antwort, die sie bekam, war ein Hieb in den Bauch, der sie keuchend zusammensinken ließ. Sie hörte Jaden aufschreien, jemanden keuchen.
„Aufhören!“, schrie das Mädchen verzweifelt. Doch die vier Strumpfmasken, die jetzt vor ihnen Aufstellung genommen hatten, hörten nicht auf, sie fingen gerade erst an. Lange wurden sie nun vor den Augen der anderen gefoltert. Die vier Kids wurden aufs brutalste verprügelt, getreten, die Arme verdreht, sodass sie fast brachen. Den Verbrechern fielen noch viele weitere schmerzhaft Dinge ein.
Schon um die Mittagszeit herum konnten sich Hero, Atikes und Juli kaum mehr auf den Stühlen halten. Jaden lag ohnmächtig und blutüberströmt am Boden. Als nächstes fiel Juli zu Boden. Gleich darauf folgte Atikes. Aber Hero hielt noch eine Zeit lang durch immer mit dem Gedanken: Solange sie mich schlagen, lassen sie meine Freunde in Ruhe. Doch dann wurde auch ihr die Gnade gewährt wurde, das Bewusstsein zu verlieren. Nun endlich ließen die Geiselnehmer von ihnen ab. Der Film über ihre Folterung wurde an die Polizei geschickt mit dem Vermerk:

Jetzt sucht mal schön!



Für die Verbrecher war das alles ein großes Spiel. Das ihnen vor allem großen Spaß bereitete.
Die Nacht und den nächsten Tag verbrachten Hero, Atikes, Jaden und Juli teils bewusstlos, teils im Dämmerzustand. Als die vier endlich wieder erwachten, hatte die Polizei immer noch nicht bemerkt, dass sich vor ihrer Nase – denn direkt neben der Schule war eine Polizeiwache – ein Geiseldrama abspielt.
Von Lucas, den Juli und Atikes während ihrer Zeit auf Haudrauf kennen gelernt hatte, erfuhren die vier, von dem weiteren Vorgehen der Verbrecher. Jetzt wurde der Plan der Verbrecher offensichtlich. Sie hatten vier Kinder benutzt, um die Polizei in die Irre zu führen, mit ihr zu spielen. Hätten sie Haudraufer genommen, hätte die Polizei gleich auf der Matte gestanden. Besorgte Eltern hätten ihnen den Tipp gegeben. Doch diese vier gehörten nicht auf Haudrauf. Also würde es länger dauern bis die Polizei kam und die Verbrecher hatten ihren Spaß. Ihre Lösegeldforderung würde erfüllt werden, weil die Polizei keinen Anhaltspunkt hatte, wo die Kids zu suchen seien und somit gezwungenermaßen zahlen mussten.
Würden die Strumpfmasken sie danach freilassen?

Hero war sich da nicht so sicher.
Gemeinsam entwarfen die Kids einen riskanten Plan. Sie wollten die Geiselnehmer überrumpeln. Acht Erwachsenen gegen mehr als 600 Schüler. Was konnte da schon passieren?
Eine ganze Menge

, aber Hero wollte nicht weiter darüber nachdenken. Es war ihre einzige Chance.
Lucas fragte die Entführer, ob sie „Stille Post“ spielen durften, um sich die Zeit zu vertreiben. Er war Jahrgangsstufensprecher, das ist so etwas wie ein Klassensprecher nur für die ganze Klassenstufe. In Lucas’ Fall also für die gesamte 8. Klasse – und daher hoch angesehen. Deshalb spielten auch die Größeren mit. Außerdem war es die einzige Möglichkeit die Langeweile, die trotz der Angst kam, zu durchbrechen.
Die ersten zwei Durchläufe waren ganz normal. Dann ließ die Aufmerksamkeit der Geiselnehmer nach und sie beschäftigten sich wieder mit anderen Dingen. Darauf hatte Hero nur gewartet. Nun gab sie ihre Botschaft Wort für Wort durch, damit auch jeder sie verstand. Das Mädchen hatte bohrende Kopfschmerzen und auch ihr geschundener Körper verströmte Schmerzen, mit denen es dem Kind nicht leicht fiel, sich zu konzentrieren. Doch innerhalb der nächsten Stunden gaben sie diese kurze Botschaft weiter und das ohne den so genannten „Stille Post“-Effekt: „Lucas zählt laut bis drei, dann springen wir auf und überrumpeln sie. Kann nichts passieren. Acht Gangster gegen 600 Schüler.“
Dann kam die Rückfrage: „Was ist mit ihren Waffen?“
„In so einem Durcheinander werden sie kaum treffen, außerdem werden sie viel zu überrascht sein“, lautete die Antwort. Das überzeugte. Jedenfalls teilweise.
Es fiel Hero nicht auf. Doch sie verhielt sich wieder einmal untypisch. Sie war kein normales Mädchen mehr. Sie suchte beinahe die Gefahr. Sie war in der Lage sich zu wehren und sie würde sich noch eine zeitlang wehren müssen. Vielleicht sogar für immer. Denn ihr Leben würde vielleicht nie wieder komplett normal werden. Auch nicht mit der Kette.

Es war kurz vor 17 Uhr des dritten Tages ihrer Geiselnahme als Lucas plötzlich „drei“ rief. Die anderen zwei Zahlen hatte sie bereits per „Stille Post“ durchgegeben. Alle sprangen gleichzeitig auf und tatsächlich waren die Geiselnehmer viel zu überrascht, um sich zu wehren.
Lucas rannte zur Polizeiwache, denn es war nicht sicher, ob der Plan wirklich glückte.
Die Überraschung der Gangster hielt nur kurz an. Hero, Juli, Atikes und auch Jaden stellten sich jeder einer Strumpfmaske in den Weg. Auch wenn sie verletzt waren, konnten sie nicht zulassen, dass die Strumpfmasken siegten, die Schüler unterlagen. Schließlich hatten die vier Erfahrung mit Verbrechern und auch mit dem Kämpfen. Die Schüler wahrscheinlich nicht. Hero wählte natürlich die Oberstrumpfmaske, die ihrer Meinung nach der gefährlichste Gegner war. Sie wollte die Jungs und auch all die anderen Kinder schützen.
Die Schüler flohen aus dem Schulhaus. Nur einige Jungs stellten sich den Strumpfmasken entgegen.
Irgendwann mitten im Gefecht traf die Polizei ein und überwältigte die noch nicht überwältigten Geiselnehmer. Davon bekam Hero aber bereits nicht mehr mit. Sie lag bewusstlos am Boden. Ihre alten Wunden waren wieder aufgeplatzt. Das T-Shirt um ihren Bauch und die Hose um ihre rechte Wade färbte sich auf ein Neues blutrot. Aber sie hatte auch andere Wunden davongetragen, zusätzlich zu den Wunden der Folter.
Auch Jaden, Juli und Atikes hatten weitere Verletzungen davongetragen. Juli hatte eine Schusswunde am linken Oberschenkel, Jaden eine stark blutende Kopfverletzung. Atikes hatte mehrere kleinere Wunden, die er sofort zu heilen begann. Klam und heimlich stahlen sich Black kids in dem allgemeinen Durcheinander aus der Aula. In einer stillen Seitenstraße machten sie Halt.
Sie lehnten das Mädchen an eine Hauswand.

Ein Krankenhausaufenthalt mit Folgen



Als Hero die Augen wieder öffnete, meinte Jaden gerade: „Sie muss ins Krankenhaus, sonst verblutet sie uns.“
Juli und Atikes legten sich jeder einen Arm von Hero um die Schulter und schleppten sie ins Krankenhaus. Immer wieder verlor Hero kurz das Bewusstsein.
„Dr. Engel“, murmelte Hero in einem ihrer wachen Momente.
„Ja, wir bringen dich zu ihm“, sagte Juli schnell. „Still jetzt! Du musst dich schonen.“
„Wie geht es ihm?“, fragte das Mädchen kaum hörbar. Hatte Dr. Engel die Flucht aus Zodiaks Burg damals geschafft?

Hero wusste es nicht und jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie fühlte sich schuldig, sich nie nach dem Arzt erkundigt zu haben, ihn sogar vergessen zu haben. Falls sie überhaupt eine Antwort bekam, erreichte sie Hero nicht mehr. Das Mädchen hatte erneut das Bewusstsein verloren.
Im Krankenhaus kam sie wieder zu sich. Gerade betrat Dr. Engel den Raum.
„Hero!“, rief er erstaunt aus. „Was für ein Glück. Du lebst. Wie geht es dir? Warum hast du das getan? Wie bist du entkommen?“ Die Flut aus Fragen prasselte auf Hero ein. Aber das Mädchen kam gar nicht dazu, zu antworten, denn Dr. Engel hatte Hero mittlerweile erreicht und umarmte sie stürmisch.
„Nicht so stark!“, murmelte Hero schwach. „Sie zerquetschen mich!“
Das stimmte nicht und Atikes sah es Hero deutlich an. Die Umarmung selbst fügte dem Mädchen Schmerzen zu. Die Wunde am Bauch musste Hero unglaubliche Schmerzen bereiten.
„Oh, Entschuldigung. Aber jetzt erzähl mal! Wie ist es dir ergangen, nachdem du mich gerettet hast? Wo warst du so lange?“
Die Jungs blickten den Arzt erstaunt an. Hero? … Ihn gerettet?


Das Mädchen warf dem Mann einen Blick zu, der deutlich machte, was für ein Kampf in ihr tobte. So gern wollte sie dem Arzt davon berichten. Aber der gesunde Menschenverstand sprach dagegen. Sie hatte in letzter Zeit zuviel gesehen, das meiste davon konnte sie sich selbst nicht erklären. Es war zu gefährlich. Zuviel Wissen war Lebensgefährlich.
Heros Blick war dem Arzt nicht entgangen. „Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Niemand wird je erfahren, was geschehen ist. Ich habe gesehen wie du gekämpft hast und aus dem was dieser Mann mir von dir erzählt hat und was ich selber gesehen habe, habe ich meine Schlüsse gezogen. Du bist nicht … normal. Du bist anders als ein Kind in deinem Alter sein sollte. Ich rede jetzt nicht nur von deinem Schwertkampf, sondern auch von deinen Verletzungen, die in Rekordzeit heilen. Normalerweise müsstest du immer noch mit den Verletzungen von deinem letzten Unfall im Bett liegen. Dieser Mann meinte, du seiest gefährlich und so dumm, dass er dich für seine Zwecke nutzen kann. Ich denke, du bist etwas Besonderes! Ich will dir anbieten, dass ich dich behandle und niemanden von deinen außergewöhnlichen Fähigkeiten – und wie ich vermute, werden daraus außergewöhnliche Verletzungen folgen – erzählen werde. So wie diese Wunde.“ Der Arzt hatte Hero zwischenzeitlich den Verband um ihre Wade abgenommen. „Wie wolltest du diese Verletzung erklären. Jeder andere Arzt würde sofort die Polizei anrufen. Ich werde dies nicht tun, denn ich weiß, woher diese Wunden stammen. Die hast du dir zugezogen, als du mich retten wolltest. Und du hast trotz dieser schweren Verletzungen weitergekämpft, nur um mich zu retten. Ich finde, ich bin es dir schuldig. Ich stehe tief in deiner Schuld. Du hast wahrscheinlich mein Leben gerettet. Ich werde deine Anonymität wahren.“ Er betrachtete die Wunde eingehend. „Du bist entkräftet und deine Wunden sind tief. Du brauchst Ruhe. Wie hast du es nur so lange ohne ärztliche Hilfe ausgehalten?“, fragte Dr. Engel, als er Heros Bauch betrachtete. Das Mädchen hatte noch kein Wort gesagt.

Einen Tag lag Hero nun schon im Krankenhaus. Sie teilte sich ein Zimmer mit Juli, Atikes und Jaden. Der Arzt hatte auch die drei verarztet.
Als Hero an diesem Tag allein in dem Zimmer war, schloss sich ihre Hand die Perle an ihrem Hals. Wie funktioniert diese Kette?

Versuchsweise dachte sie ganz fest an Black kids, an ihre Schwerter und plötzlich stand sie ganz in Schwarz mit ihren Schwertern in dem Zimmer. Erstaunt betrachtete sie sich im Spiegel. Schwarze lange Hose, schwarzes Trägertop und schwarze Jacke. Hero konzentrierte sich ganz auf ihr normales Leben und stand wieder in ihren zerfetzten Klamotten im Zimmer.
Sie probierte es noch ein paar Mal aus, bis sie sich sicher war, dass es funktionierte.
Hero dachte über ihr Leben nach. Sie hatte alles verloren. Nichts war ihr geblieben. Noch nicht einmal eine Erinnerung.
Nicht ganz.

, mischte sich der Fremde ein. Du hast neue Freunde gefunden.
Ja, das ist ein riesen Glück

, meinte Hero sarkastisch. Ich hab sie in Gefahr gezogen. Es reicht ja noch nicht, dass ich ein Leben voller Gefahren führen muss. Jetzt sind meine Freunde auch in Gefahr.
Glaubst du, sie wären da nicht auch ohne dich. Erinnerst du dich noch, was Fabian bei eurer ersten Begegnung gesagt hat? Juli bekam immer Ärger. Früher oder später – wohl eher früher – hätte er sich mit dem Falschen angelegt. Und Atikes. Er war bereits vor der Bekanntschaft mit dir auf der Flucht.
Und Jaden?

, fragte Hero traurig.
Der Fremde blieb stumm.
Wie soll mein Leben weitergehen? Seit dem Tod meiner Eltern ist es völlig aus dem Fugen geraten. Ich hab es satt ein Leben auf der Flucht zu führen. Aber was wäre die Alternative? Ich habe keine Verwandten, zu denen ich gehen könnte, keine an die ich mich erinnern könnte. Da bleibt nur noch das Kinderheim. Aber da zieh ich mein jetziges Leben irgendwie vor.


Das Mädchen hatte noch eine Alternative für ihr Leben. Aber daran wollte sie gar nicht erst denken und da wurde sie auch von den Jungs unterbrochen.
„Kommst du mit essen?“, wollten sie wissen.
Krankenhausessen. Brrr.

Hero schüttelte es und so gingen die Jungs allein.
Traurig sah das Mädchen ihnen hinterher.
Du kannst sie schützen.
Aber wie?

, wollte Hero wissen.
Du hast die Kette. Du kannst sie verdoppeln. Sie sind zwar dann nicht so mächtig wie deine. Aber zum Verwandeln reicht’s. Außerdem gibt es dabei nicht diese Nebenwirkungen, diesen Kampf mit der Kette am Anfang.


Hero umschloss die Kette fest und wünschte sich von ganzen Herzen, drei Ketten für ihre Freunde. Sie wusste nicht, ob dies der richtige Weg war. Doch ein Versuch war es wert. Und plötzlich hielt sie drei identische Ketten in Händen.
Glücklich hielt sie die Ketten fest und schloss die Augen.
Als die Jungs vom Essen zurückkommen, gab sie ihnen die Kette und erzählte es ihnen kurz.

Am nächsten Tag saß sie allein in ihrem Zimmer und hatte den Fernseher eingeschaltet, um sich ein wenig auf andere Gedanken zu bringen. Da sah sie es. Ihr Herz blieb fast stehen.
Gerade sagte der Nachrichtensprecher: „Und jetzt der wiederholte Aufruf der Polizei. Kennen Sie diese drei Kinder? Haben Sie einen oder gar mehrere von ihnen gesehen? Informationen über das Verbleiben der Kinder nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.“
Die Bilder von Hero, Atikes und Juli flackerten über den Bildschirm. Es waren allesamt ältere Bilder. Keines sah ihnen noch besonders ähnlich.
Sie wurden doch gesucht und vor allem immer noch. Tom und Jan hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie zu finden.


Niedergeschlagen ging das Mädchen nach draußen. Mit ihrer zerrissenen Hose und dem T-Shirt, das man nicht mehr als solches erkennen konnte, stand sie barfuss im Regen. Dem Mädchen fiel es gar nicht auf. Sie war in einer Zwickmühle. Wenn sie die Polizisten anrief, würde sie ihnen eine riesige Überraschung bereiten, aber sie würde auch unweigerlich für die Taten, die ihr zugeschrieben wurden, büßen müssen.
Aber wenn man es genau betrachtet, hat ein Gefängnis nur Gutes vor allem in dieser Zeit.

, drang der Fremde in ihre Gedanken ein.
Hero zuckte zusammen. Dieser verdammte Fremde! Kann der mich nicht einmal warnen, bevor er mich zu Tode erschreckt? Hören Sie, irgendwann bekomm ich noch einen Herzinfarkt wegen Ihnen.


Lachen war die Antwort. Du hast ein Dach über dem Kopf und warmes Essen und du wärst in Sicherheit. Dort kommen die Verbrecher nicht an dich ran

, sprach die Stimme übergangslos weiter. Genauer gesagt. Dort wollen sie nicht an dich ran. Kein Verbrecher geht freiwillig ins Gefängnis, nur um Kopfgeld zu kassieren.


Hero antwortete nicht. Sie musste dem Fremden zustimmen. In ihrer jetzigen Situation hatte ein Gefängnis fast nur Vorzüge, da hatte der Fremde Recht. Aber irgendetwas – etwas das sich nicht in Worte fassen ließ – hielt Hero ab, diese Vorzüge zu beachten. Vielleicht war es das eingesperrt sein. Vielleicht die ungerechte Bestrafung. Hero wusste es nicht. Aber Sie haben etwas vergessen

, meinte Hero nachdenklich. Ich bin erst vierzehn. Sie werden mich doch nicht ins Gefängnis stecken, oder etwa doch?
Deine Taten wiegen schwer.

, gab der Fremde zu bedenken.
Das waren nicht meine Taten!

, brüllte Hero.
„Hero! Was machst du hier? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Das Mädchen schrak aus ihren Gedanken hoch. Dr. Engel stand hinter ihr und versuchte sein erschrockenes Gesicht unter einer wütenden Miene zu verstecken, was ihm allerdings nicht sonderlich gelang.
„Wieso stehst du hier im Regen? Du gehst sofort wieder rein.“
Hero schenkte dem Arzt ein entschuldigendes Lächeln und ging zurück in die Eingangshalle. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Obwohl sie mit jedem Schritt unsicherer wurde. War es die richtige Entscheidung?


Dem Kind kam es ewig vor bis am anderen Ende der Leitung jemand abhob.
„Jan Richter.“
„Hallo, kennst du mich noch?“, fragte Hero.
Am anderen Ende wurde es still.
„Bist du noch dran?“, fragte Hero. Doch es blieb still.
„Hero, bist du’s?“, fragte Jan nach einer Ewigkeit.
„Nein, der heilige Geist. … Wer sonst?“
„Sind Juli und Atikes auch bei dir? Wo seid ihr?“
Hero bejahte und nannte die Adresse.
„Im Krankenhaus?“, fragte Jan verwirrt nach. „Aber was ist passiert? Geht es euch gut?“
„Uns geht es blendend“, log Hero. Ihre Wunden schmerzten immer noch, aber dass musste keiner erfahren. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sich die anderen vor Mitleid vor ihr verstellten.
„Wir kommen gleich“, rief Jan und knallte den Hörer auf die Gabel.
Hero starrte verdutzt den Hörer an. „Aufgelegt“, meinte sie achselzuckend.

Keine zehn Minuten später blieb ein silbernes Auto mit Blaulicht und quietschenden Reifen vor dem Krankenhaus stehen.
Die Polizisten stürmten in die Eingangshalle. Hero erwartete sie.
Tom und Jan waren überglücklich und nahmen sie stürmisch in die Arme. Hero sog scharf die Luft ein. Ihr Bauch meldete sich schmerzhaft zu Wort. Doch die Polizisten bekamen Heros Schmerzen nicht mit. Sie waren außer sich vor Freude und Hero hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und unterdrückte die Schmerzen.
Als das Mädchen sich gequält lächelnd aus Jans Umarmung befreit hatte, sagte Tom: „Wieso hast du das nur getan? Wieso bist du geflohen, wenn du unschuldig warst? Wieso hast du es uns nicht gleich erklärt? Und deine Entführung auf dem Friedhof hast du uns auch verschwiegen. Du hattest ein wasserdichtes Alibi. Weißt du das?“
„Wo sind Atikes und Juli?“, unterbrach Jan seinen Kollegen.
Hero war zu verwirrt, um zu antworten. Die Polizisten wussten, dass sie unschuldig war.

Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Mit viel Mühe kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Hero legte den Finger auf die Lippen und führte die Polizisten zur Kantine.
Juli, Jaden und Atikes saßen mit dem Rücken zu ihnen. Tom tippte Juli an. Dieser drehte sich um, erstarrte mitten in der Bewegung und starrte die Polizisten mit offenem Mund an. Atikes fiel die Reaktion seines Freundes auf und wirbelte herum. Dann fielen sie sich in die Arme. Jaden betrachtete die Szene verwirrt. Es wurde noch ein amüsanter Abend.


Endstation Kinderheim?



Am nächsten Tag fuhren die Polizisten Jaden zu seinem Vater und auch Juli, Atikes und Hero wurden aus dem Krankenhaus entlassen. Tom und Jan holten sie ab.
Hero wusste, wohin sie fuhren und war gar nicht glücklich darüber. Doch dieses Schicksal hatte sie selbst gewählt, um Tom und Jan von der Ungewissheit zu befreien. Nur für Juli und Atikes war es schade. Sie waren nicht gefragt worden.
Sie hielten vor einem Haus, über dessen Tür mit bunten Farben Kinderheim Jerusalem

geschrieben stand. Zwei Frauen standen auf dem Hof. Irgendwie kamen sie Hero bekannt vor.
Das sollten sie auch!

, meinte der Fremde. Wieder zuckte das Mädchen zusammen. Das sind immerhin die zwei ersten Unschuldigen die wegen dir leiden mussten.


Siedendheiß fiel es dem Kind wieder ein. Die Frauen vom Friedhof, die entführt wurden. Aber das stimmt nicht ganz.

, berichtigte Hero die Stimme. Die Ersten, die leiden musste, waren meine Eltern.


„Da bist du ja wieder“, meinte eine der beiden Frauen mit bösen Blick. Juli schrumpfte unter diesem Blick zusammen.
Verwirrt beobachtete Hero diese Reaktion. Die zwei kannten Juli?


„Und diesmal haust du nicht wieder ab. Haben wir uns verstanden, Jörg?“
Jörg? Hieß Juli in Wirklichkeit Jörg?

Hero verstand die Welt nicht mehr.
„Ja, Frau Klingelmeier“, gab Juli kleinlaut zur Antwort. Das war nicht mehr der Junge, den Hero kannte. Der Juli, den sie kannte, war selbstbewusst. Aber dieser hier, war unterwürfig, hatte beinahe Angst vor den beiden Frauen.
„Und du bleibst diesmal auch hier!“, wandte sich die andere Frau an Hero. Das Mädchen hatte eine Menge frecher Antworten auf Lager, doch als sie den Blick sah, blieben sie ihr im Halse stecken.
„Atikes!“, schrie plötzlich eine Stimme.
Der Junge fuhr herum, sah ein schwarzhaariges Mädchen auf sich zurennen und lief ihr entgegen. Glücklich fielen sie sich in die Arme.
„Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“ Sie fuhr Atikes durchs Haar und sah ihn beschwörend an.
Dieser Blick blieb den Erwachsenen verborgen. Doch Juli und Hero horchten auf. Irgendetwas stimmte bei diesem Wiedersehen nicht.
Atikes schien zu verstehen und wandte sich freudestrahlend zu Hero und Juli um, die dem Wiedersehen stumm gelauscht hatten. „Darf ich vorstellen, meine Schwester Ilona. Ich geh wieder nach Hause. Aber wir sehen uns wieder!“, versprach Atikes, wandte sich lachend und winkend um und folgte seiner Schwester. Wortlos sahen alle Anwesenden den beiden nach.
„Jörg, da bist du ja wieder!“, lachte ein Mann, der aus dem Haus kam. Die Kids fuhren herum. „Deine Eltern haben sich gemeldet.“
Die zwei Kids starrten sich verdutzt an.
„Was?“, fragte Juli nach.
„Deine Eltern haben sich bei uns gemeldet. Sie wollen dich zurückholen.“
Juli machte ein belämmertes Gesicht, das noch belämmerte wurde, als Hero ihm um den Hals fiel.
„Ich freu mich so für dich. Viel Glück!“, flüsterte Hero nahe an seinem Ohr.
Juli spürte Heros Tränen an seiner Wange. Er wusste, wie das Mädchen auch, was das hieß. Ihnen stand der Abschied bevor und er wurde noch schlimmer, weil auch Atikes sie verlassen hatte. Er drückte Hero fester. Sie protestierte nicht, auch wenn sie Schmerzen hatte. Juli wusste, was dieser Abschied für das Mädchen bedeutete. Er hatte sie noch nie weinen gesehen, egal wie hart es auch gewesen war. Hero hatte noch nie geweint. Doch genau das tat sie jetzt. Nun kamen auch Juli die Tränen. Weinend lagen sie sich in den Armen.
„Hero, ich werde dich nie vergessen. Irgendwann werden wir uns wiedersehen“, versprach Juli.
Aber Hero wusste, dass dieser Abschied endgültig war. Juli würde bei seiner Familie aufwachsen, Atikes wohnte wieder bei seiner Familie, Jaden war wieder bei seinem Vater und Hero würde im Kinderheim versauern. Aber sie hatte das selbst so gewählt.
„Hero, kommst du bitte! So wie du jetzt aussiehst, wirst du auf jeden Fall keine neuen Pflegeeltern finden. Nicht einmal deine letzten Adoptiveltern hätten dich mit diesem Aussehen genommen.“
Hero stand wie erstarrt. Was hatte die Frau gesagt? Ihre letzten Adoptiveltern? Ihre Eltern waren Adoptiveltern? Wieso hat es ihr niemand gesagt?
Vielleicht, weil du nie gefragt hast

, meinte der Fremde.
Die Tatsache, dass ihre Eltern – von denen nur noch versprengte Bilder in ihrem Kopf übrig waren – nur Pflegeeltern waren, brachte Hero total aus der Fassung. Obwohl man es ihr äußerlich fast nicht ansah, bemerkte Juli ihre Trauer.
Auch wenn Hero sich nicht an ihre Eltern erinnern konnte, spürte sie eine tiefe Trauer in sich. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ein sehr inniges Verhältnis zu ihren Eltern gehabt haben musste.
Mittlerweile vertraute Hero mehr auf ihren Instinkt als auf den Verstand. Seit ihrer ersten Flucht hatte sich das Mädchen oft verändert. Es waren immer grundlegende Veränderungen. Erst musste sie lernen niemanden zu vertrauen, dann wie gefährlich ihre Gefühle waren, aber auch ihr Verstand, wie oft er trügen konnte. Zodiak hatte ihre Gefühle endgültig weggesperrt. Nun musste Hero erst wieder langsam lernen, ihre Gefühle zu zeigen ohne Angst vor ihnen zu haben. Angst war aber zurzeit das einzige Gefühl, das Hero regelmäßig verspürte. Sie musste diese Angst bekämpfen, erst dann würde sie wieder in normales Leben führen können. Wobei Hero stark bezweifelte, dass ihr Leben je wieder normal werden würde. Selbst wenn sich diese Amnesie in Luft auflösen würde, ihre Erinnerung zurückkehren würde, die Verbrecher und ihre neusten Erfahrungen blieben ihr. Sie hinderten sie ein normales Leben zu führen. Hero hatte so vieles erlebt, was ihr kein Mensch glauben würde und von dem sie am liebsten die Hälfte vergessen würde. Aber das ging nicht.
Eine der Frauen, ergriff sie am Arm und zog sie mit sich. Hero folgte widerstandslos.
„Hero, vergiss nicht. Du bist nie allein! Wir vier halten zusammen“, rief Juli ihr hinterher. Dann wurde er von Tom und Jan zum Auto bugsiert und sie fuhren ihn zu seinen Eltern.
Hero war zwischenzeitlich in einen großen Schlafsaal geführt worden.
„Warte hier! Wir holen dir etwas anderes zum Anziehen.“ Kaum hatte Frau Klingelmeier das gesagt, verschwanden die beiden Frauen aus dem Raum und gaben Hero Gelegenheit zum Nachdenken. Ihre Eltern? Pflegeeltern?

Plötzlich kam ihr in den Sinn, was Zodiak so oft gesagt hatte und dem Hero immer mit den Worten: „Meine Eltern sind tot!“ widersprochen hatte. „Dein Vater wäre stolz auf dich.“, hatte er immer wieder gesagt. Zodiak wusste wer ihre Eltern waren!

, war sich Hero nun sicher. Doch sie verdrängte diesen Gedanken schnell wieder. Sie konnte Zodiak nicht fragen und sie war sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte.
Hero ließ sich auf ein Bett sinken. Desinteressiert blickte sie sich um. Das also sollte ihr neues Zuhause werden. Na ja, sie hatte sich die Sache auch selbst eingebrockt. Wenigstens hatte die Geschichte für Juli und Atikes ein glückliches Ende gefunden.


In dem Raum standen zehn Betten mit kleinen Nachtkästchen. Mehr nicht. Während sich Hero noch umblickte, kamen die Frauen zurück. Sie trugen ein rosa Etwas mit sich herum. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es ein Kleid darstellen sollte.
Widerstrebend zog sie es an. Hero mochte Rosa nicht, besser gesagt: sie hasste Rosa. Als sie sich betrachtete, fasste sie einen Entschluss, der noch in dieser Nacht in die Tat umgesetzt wurde.

Auf leisen Sohlen schlich sie aus dem Kinderheim. Doch vorher hatte sie sich noch ihre alten Klamotten zurückgeholt. Diese waren zwar nur noch Lumpen – blutverschmiert und zerrissen – aber immer noch besser als diese rosa Gefahr, die sie nun trug. Hero hatte keine genaue Vorstellung wie ihr Leben nun verlaufen sollte. Aber diese wenigen Stunden Kinderheim hatten ihr gezeigt, dass sie dieses Leben nicht führen konnte und wollte.
Diese Nacht verbrachte Hero auf einer Parkbank. Als sie fröstelnd – wohl eher unterkühlt – am nächsten Morgen aufwachte, machte sie sich auf den Weg zum Hotel Sonnenschein, dem Unterschlupft der Diebe. Sie wusste nicht, wohin sie sonst hätte gehen können.
Während Hero dort wieder auftaute, wollten Tom und Jan das Mädchen vom Kinderheim abholen. Sie hatten in Erfahrung gebracht, dass ein Testament der verstorbenen Pflegeeltern existierte. Doch sie erlebten ihr blaues Wunder. Hero war schon wieder verschwunden. Sie verfluchten sich für ihren Leichtsinn, Hero unbewacht allein zu lassen, nachdem sie alles verloren hatte. Ihre Freunde, die Vorstellung ihre Eltern wären ihre richtigen Eltern, einfach alles. Sofort setzten sie Heros Bild ins Fernsehen. Sie ignorierten die Regel, dass sich der Polizeiapparat erst vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden in Bewegung setzte. Sie hofften nur, dass sie Hero nicht wieder in einem Krankenhaus fanden. Aber dennoch sahen sie das Mädchen lieber in einem Krankenhaus als in einem Leichenschauhaus. Irgendetwas hatte Hero an sich. Irgendetwas Geheimnisvolles. Sie konnten es nicht genau in Worte fassen. Doch das war es was ihnen Sorgen bereitete. Sie wussten nicht, woher Hero diese Wunden hatte, sie hatten es nicht erfahren. Aber es musste ein schreckliches Erlebnis gewesen sein.
Noch in dieser Stunde riefen sie Dr. Engel an. Er solle die Augen nach Hero offen halten.
Am nächsten Tag klingelte bei den Polizisten das Telefon. Zuerst ignorierten Tom und Jan es. Sie saßen beim Mittagessen und keiner verspürte Lust darauf, abzuheben. Beide hatten die Vermutung, dass wenn sie es taten ein Schwall von Verwünschungen ihres Chefs auf sie niederprasseln würde. Doch schließlich erbarmte sich Jan.
„Was ist mit Hero?“
Jan verstand anfangs nicht. Doch dann erkannte er Julis Stimme wieder.
„Sie ist aus dem Kinderheim verschwunden“, antwortete er.
„Das wundert mich nicht“, meinte Juli und klang nun auch weniger besorgt. „Es ist dort schrecklich. Mich wundert nur, dass dieses Kinderheim überhaupt noch Kinder hat.“ Juli stockte kurz. „Oder glaubt ihr, Hero ist etwas passiert?“, fragte er zögernd.
„Wie kommst du darauf?“
Bei ihrem Talent in Schwierigkeiten zu geraten, wäre das nicht verwunderlich

, dachte Juli.
„Ach nur so“, antwortet er aber ausweichend.
„Wir wissen es nicht. Wir wissen gar nichts. Kannst du uns vielleicht einen Tipp geben, wo Hero sein könnte?“
Juli überlegte kurz. „Vielleicht bei Jaden.“
„Fehlanzeige. Dort haben wir gleich als erstes angerufen.“
„Oder bei Atikes.“
„Wir wissen nicht, wo er ist.“
Juli wusste noch einen Ort, aber den konnte er den Polizisten unmöglich sagen. Das Kinderheim würde sich freuen. Mindestens elf neue Schützlinge. Aber Juli blieb still. Das konnte er seinen Freunden nicht antun. Aber wenn Hero dort war, war sie wenigstens in Sicherheit. Juli selbst konnte nicht bei den Dieben vorbeischauen und nach ihr sehen. Denn er wohnte nun ein ganzes Stück entfernt von der Stadt.

ENDE Teil 5



Impressum

Texte: Diese Geschichte gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

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