Cover


Zitternd saß ein etwa dreizehnjähriges Mädchen in einer Ecke, hatte die Beine eng an den Körper gezogen, den Kopf zwischen den Knien versteckt. Sie wollte nichts sehen, sie wollte die alles verschlingende Dunkelheit nicht sehen.
Seit sie in diesem, ihrem Verließ aufgewacht war, hatte sich nichts verändert, die Dunkelheit war nicht gewichen.
Sie war ihr Verließ abgegangen. Drei mal drei Meter – beängstigend klein. Hatte versucht die schwere Holztür mit dem kleinen vergitterten Fenster zu öffnen, hatte vergeblich geschrien, geklopft, geweint. Nun saß sie in dieser Ecke und hatte aufgegeben. Mutlos schloss sie ihre dunklen, beinahe schwarzen Augen, dunkelbraune Haare schlossen sich wie ein Vorhang vor ihrem blassen, blutverschmierten Gesicht. Ein dünnes Rinnsal Blut zog sich von ihrer rechten Schläfe hinab, ihren Hals hinunter und saugte sich in ihr einstmals weißes, nun aber dreckig graues und rotes T-Shirt. Schmerzhaft bohrten sich ihre langen, dünnen Finger in ihre Unterschenkel. Nur dieser Schmerz bewahrte sie davor, vor Angst den Verstand zu verlieren? Was war geschehen? Was wollten die Entführer von ihr? Doch die Schlimmste aller Fragen war: Wie kam sie hierher?
Sie konnte sich nicht erinnern, wo die Entführer sie fanden, sie konnte sich noch nicht einmal erinnern, was sie an diesem Tag vorhatte. Schlimmer noch, sie konnte sich an gar nichts aus den letzten Tagen, Wochen, Monaten, Jahren erinnern. Sie wusste nichts mehr, hatte keine Erinnerung. Und das war es, was ihr noch mehr Angst machte als ihre Entführung.
Doch bevor das Kind seine Angst über den Verlust der Erinnerung nicht länger bekämpfen konnte, wurde zum ersten Mal, seit ihrem Erwachen, die schwere Kerkertür geöffnet. Gänsehauterregend quietschten die Scharniere.
Ängstlich sah das Kind auf und drückte sich noch tiefer in die Ecke. Doch als sich die Tür vollständig geöffnet hatte, musste das Kind geblendet von einer Taschenlampe die, an die lange Dunkelheit gewohnten Augen, schließen.
„Du bist schon wach. Wie geht es dir, Kindchen?“, fragte eine tiefe Männerstimme. Wäre nicht das Verließ, die ewige Dunkelheit, die Kopfschmerzen gewesen, hätte diese Frage vielleicht besorgt klingen können. Doch hier …
„Was wollen Sie von mir?“, fragte das Kind, anstatt einer Antwort.
„Na, na, ganz schön unhöflich.“
Langsam gewöhnten sich die Augen des Mädchens an die veränderten Lichtverhältnisse. Doch nichts, von dem, was sie erwartet hatte, war zu sehen. Sie hatte einen muskulösen, maskierten Mann erwartet. Aber was sie nun sah, konnte sie kaum glauben. Vor ihr stand ein kleiner, untersetzter Mann mit grauem Haar, braunen Augen und einem dünnen Mund. Das Schlimmste an dieser Erscheinung aber war, dass er nicht maskiert war. Er trug keine Maske und das konnte nichts Gutes verheißen.
„Wirklich sehr unhöflich. Aber dann überspringen wir den Teil mit der gepflegten Konversation und gehen gleich zum Geschäftlichen über. Du bist hier, weil du übermorgen vierzehn wirst.“
Erstaunt legte das Mädchen den Kopf schräg und sah den Mann an. Sie vergaß die Angst, konnte nur noch an eines denken: Der Mann war verrückt.
Und wie um ihren Gedanken zu bestätigen, fing der Mann lauthals an zu lachen.
„Du verstehst es nicht, Kindchen. Du weißt es wirklich nicht.“
„Was … was weiß ich nicht?“, fragte das Mädchen zögernd, unsicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte.
„Du bist …“, begann der etwa 60-jährige Entführer. „Nein, es ist nicht meine Aufgabe, dir das zu sagen. Ich soll dich nur zu ihm bringen.“
„Zu wem?“ Die Neugier verdrängte die Angst.
„Zu Dragon, deinem Herrn und Meister“, antwortete der Mann freigiebig.
„Wer ist das?“
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, sah der Mann seine Gefangene wieder an. „Ich würde mich gerne noch länger mit dir unterhalten, Kira, aber es ist Zeit. Wir müssen aufbrechen.“
Kira? Ist das mein Name?

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch nicht einmal mehr wusste, wie sie hieß. Traurig schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch, redete sich ein, dass nütze gegen die Angst, die ihr diese Totalamnesie machte. Als sie die Augen wieder öffnete, stand der Mann über ihr. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie hatte nicht gehört, wie er sich bewegte.
„Steh auf, Kira.“
Das Mädchen griff nach der ihr gereichten Hand. So schnell, dass sie kaum sagen konnte, wie es geschah, wurde sie in die Höhe gerissen und prallte mit dem Gesicht an die Wand, ihr Arm wurde schmerzhaft auf den Rücken gedreht.
„Ah“, stöhnte das Mädchen leise auf und war noch mehr verwundert über die Kraft und Schnelligkeit, über die der alte Mann verfügte.
Auch ihr linker Arm wurde auf den Rücken gedreht. Ein Seil um ihre Handgelenke geschnürt und dann wurde sie von der Wand weggezehrt.
„Ich wünsch‘ dir noch ein schönes Leben, Kira Walker. Wer weiß schon, was Dragon mit dir vorhat.“
Mit diesen Worten übergab der alte Mann das Kind an zwei andere, jüngere Männer, die das Mädchen durch einen finsteren Gang, eine Treppe hinauf, aus dem Haus zerrten.
Nun saß Kira auf dem Rücksitz eines schwarzen Golfs und blickte in die rabenschwarze Nacht hinaus.
Was wollten die Verbrecher von ihr? Wer war Dragon? Was wollte er von ihr?
Wieder kam ihr dieser eine Satz in Erinnerung, wieder grübelte sie über dessen Bedeutung nach. „Wer weiß, was Dragon mit dir vorhat.“ Was war hier nur los? Was passierte hier?
Entnervt stöhnte das Mädchen auf. Hätte sie gekonnt, hätte sie mit der Faust frustriert auf einen Tisch geschlagen. Doch hier war weit und breit kein Tisch und ihre Faust war gefesselt. So konnte sie nur ihren Kopf gegen die Kopfstütze sinken lassen. Entmutigt schloss sie die Augen. Es half nichts, wenn sie versuchte zu fliehen, sich zu wehren, zu weinen. Es würde nichts nützen, es würde nichts ändern.
„Was sind wir denn so missmutig? Was ist los mit dir?“, fragte einer ihrer bis jetzt stummen Begleiter. Die Ironie in seiner Stimme blieb dem Mädchen nicht verborgen.
Langsam mit einem tiefen, resignierenden Atemzug öffnete das Mädchen die Augen.
„Was soll schon sein?“, fragte das Mädchen. „Ich fühl mich prächtig. Ich sitze hier richtig bequem auf der Rückbank, hab zwei überaus liebenswürdige Begleiter und platze fast vor Vorfreude auf Dragon.“ Auch die Ironie in Kiras Stimme war nicht zu überhören. Das Mädchen wusste nicht wie, doch auf einmal war da keine Angst mehr. Da war nur noch Ärger und dieser machte sie tollkühn. Eine leise Stimme tief in ihr drin, sagte ihr, dass sie vorsichtig sein sollte, dass sie mit dem Feuer spielte. Doch der Ärger überdeckte sie.
Die beiden Männer tauschten verwirrte Blicke, bis der blonde Fahrer Kira wieder mit seinen blauen Augen im Rückspiegel betrachtete.
„Ah, Angst macht uns vorlaut.“
„Wer sagt denn, dass ich Angst habe?“, gab Kira vorlaut zurück und es stimmte, die Angst war tatsächlich verschwunden, jedenfalls für den Moment.
Wieder wurden verwirrte Blicke gewechselt.
„Das solltest du aber besser. Wenn jemand bereit ist 10.000 für deine Ergreifung zu zahlen, muss er mächtig sauer auf dich sein.“
„Vielleicht aber auch einfach nur besorgt.“
„Nicht wirklich“, sagte der Fahrer langsam. „Auf dem Steckbrief stand „Tot oder lebendig“. Es war ihm also egal, ob du lebst.“ Mit einem süffisanten Grinsen blickte er in den Rückspiegel.
„Aber … tot … Halt! Was für ein Steckbrief?“ In Kiras Kopf drehte sich alles.
„Ach, hat man es dir nicht gesagt? Dragon sucht dich per Steckbrief. Deine Ergreifung muss ihm also wichtig sein. Die gesamte Unterwelt kennt dich, deinen Namen, dein Gesicht. Die gesamte Unterwelt sucht dich. Und wir haben dich.“ Mit einem siegreichen Grinsen bedachte der blonde Fahrer Kira.
„Kleines, dieser Zettel hat dein Schicksal besiegelt.“ Es war das erste, was der rotblonde Beifahrer von sich gab. Ein Zettel segelte neben Kira auf die Rückbank. Schon die fette, schwarze Überschrift erinnerte das Mädchen an einen Wild-West-Film und je mehr sie las, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck.
Wanted stand dick und fett über einem schwarz-weiß Bild. Und als sie den Namen unter dem Bild las, wurde ihre letzte Hoffnung zunichte gemacht. Traurig sah sie auf ihr Spiegelbild in der Autoscheibe. Es ähnelte stark dem schwarz-weiß Bild. Sie war auf dem Bild dargestellt – kein Zweifel. Und der Name unter dem Bild lautete Kira Walker. Bis jetzt hatte sich das Mädchen der Hoffnung hingeben können, dass sich all diese Personen irrten, dass sie nicht Kira Walker war. Doch jetzt? Jetzt war es sicher, dass sie Kira Walker war.
Nach dem Namen folgte eine detaillierte Beschreibung ihrer Person. Doch zwei Dinge ließen das Mädchen aufhorchen.
Eltern: unwichtig
Vergehen: noch keines
Eltern? Was war mit ihren Eltern?
Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass diese friedlich daheim – wo auch immer das war – saßen, aber auf einmal war da so ein seltsames Gefühl in ihrer Magengrube. Und plötzlich bekam sie Kopfschmerzen, Kopfschmerzen mit einer Intensität, die sie erschreckte. Ihre Umwelt verschwamm, und als sich ihr Blick wieder klärte, hatte sich die Szene vor ihren Augen verändert. Sie befand sich noch immer in einem Wagen. Doch es war nicht mehr der schwarze Golf. Dieses Auto war … war kaputt … zerstört. Popcorn lag überall herum, die Scheiben waren eingeschlagen, die Türen eingedellt.
Langsam, ängstlich wanderte Kiras Blick zu den Vordersitzen. Sie hatte ein ganz schlechtes, ein wirklich schlechtes Gefühl in der Magengegend. Doch ihr Blick wurde beinahe magnetisch von den Vordersitzen angezogen. Als erstes sah sie den Airbag. Langsam wanderte ihr Blick weiter. In den Sicherheitsgurten hingen zwei Erwachsene; ein Mann und eine Frau; bewusstlos und blutüberströmt. Von der Frau konnte das Mädchen nichts erkennen, außer dem langen, schwarzen Haar, das ihr Gesicht verdeckte. Nun nahm das Kind den Mann, der auf dem Fahrersitz saß, in Augenschein. Er hatte ebenfalls schwarzes Haar, dunkle Haut, aber das Auffälligste an ihm war die Hakennase. Lange betrachtete das Mädchen den Mann mit schief gelegtem Kopf. Irgendetwas in ihr sagte ihr, sie müsse den Mann kennen, doch sie kannte ihn nicht. Dieses Gefühl war schrecklich verwirrend für das Kind. Jemanden zu kennen und doch zu wissen, man kannte ihn nicht.
„Hey, Kindchen, geht’s dir nicht gut?“
„Ja … nein …“ Verwirrt sah sie sich in dem schwarzen Golf um. „Was … was ist mit meinen Eltern?“
„Kollateralschaden.“
Traurig schloss das Mädchen die Augen. Bis jetzt hatte sie sich einreden können, dass die zwei Erwachsenen in dem Unfallwagen nicht ihre Eltern waren oder sie hatte es wenigstens versucht. Doch jetzt hatte sich auch diese Hoffnung verflüchtigt. Ihre Eltern waren verletzt, vielleicht sogar … Nein, daran wollte sie nicht denken.
Traurig wandte sie den Blick wieder der rabenschwarzen Nacht zu.

~


„Wir haben das Ziel erreicht. Bitte bleiben sie noch sitzen, bis sie aus dem Wagen geholt werden“, alberte der Fahrer mit einer Stimme, die man aus einem Navigationsgerät kannte und hasste.
Kira tat einen tiefen, resignierten Atemzug. Sie hatte keine Angst mehr, auch der Ärger war verflogen. Sie fühlte sich nur noch mutlos.
Der Beifahrer half dem Mädchen aus dem Wagen und dann ging es flankiert von ihren Entführern über den Hof auf – Kira konnte ihren Augen kaum trauen – eine Burg zu. Der Wagen stand in der Mitte des von einer hohen Mauer umgebenen Burghofs. Die Burg selbst war von Bäumen und Büschen umgeben. Eine große Treppe führte zum Eingangstor.
Langsam erklommen sie die Stufen. Mit jeder Stufe wurde Kiras Hoffnung geringer, wurde ihre Gewissheit größer: Wenn sie diese Burg betrat, war ihr Schicksal besiegelt.
Oben angekommen, wurden sie von vier Männern in Empfang genommen. Alle vier waren identisch gekleidet – schwarze Anzüge, dunkel lila Hemden.
Kiras Überbringer erhielten einen Umschlag, den der blondhaarige Fahrer sofort öffnete. Mit seinem Finger strich er über das Geldbündel.
„Es macht Spaß mit Ihnen Geschäfte zu machen.“ Der Fahrer wandte sich Kira zu. „Ich wünsch dir viel Glück. Wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehen.“
Dieses Gefühl hatte Kira auch. Wenn sie diese Burg betrat, war ihr Leben vorbei.
Kaum stand Kira allein auf der Treppe, war sie umgeben von den vier Männern.
„Bewegung!“, befahl eine Männerstimme hinter ihr.
Aber Kira konnte dieser Aufforderung nicht sofort nachkommen. Sie war wie gelähmt. Die Angst, die nun zurückgekehrt war, lähmt sie. Für ihre lange Reaktionszeit erntete sie einen kräftigen Stoß in den Rücken, der das Mädchen nach vorne stolpern ließ.
Mutlos betrat sie die Burg. Mit diesem Schritt war ihr Leben, wie sie es bis jetzt gelebt hatte – sich nur nicht daran erinnern konnte – vorbei, für immer vorbei. Diese Gewissheit – ihr Leben war vorbei – stieß Kira noch tiefer in die Mutlosigkeit, gab der Angst noch mehr Angriffsfläche.

~


„Darf ich dich endlich in meinem bescheidenen Heim begrüßen.“ Ein weißhaariger Mann kam mit zügigen Schritten auf das verängstigte Mädchen zu. Irritiert sah diese dem Mann entgegen. Es war ihr unmöglich das Alter des Mannes zu schätzen. Das weiße Haar ließ darauf schließend, dass der Mann schon älter war. Doch sein Körper strafte diese Vermutung Lügen. Er wirkte frisch, muskulös, stark, geschmeidig, vor allem aber jung.
Das Mädchen blieb still. Ganz leise warnte sie eine Stimme. Obwohl ihr Verstand Kira sagte, dass der freundliche Mann keine Gefahr darstellt, behauptete ihr Gefühl das genaue Gegenteil.
„Du siehst schrecklich aus. Du bist doch sicherlich müde.“ Trotz dieser besorgt klingenden Worte, war ein Lächeln in dem Gesicht des Mannes, das so gar nicht dazu passte.
Seltsam, dachte Kira. Sollte es sein, dass Dragon nett war? War das überhaupt Dragon?
„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“
„Kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin der Bruder deines Vaters.“
Kira entging nicht, dass das nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage war. Doch sie beschloss davon auszugehen, dass der weißhaarige Mann Dragon war. Er schien hier das Sagen zu haben.
Besorgt betrachtete er das Mädchen und wandte sich dann an einen ihrer Bewacher.
„Nimm ihr die Fesseln ab!“ An den anderen gewandt meinte er: „Hol den Doktor! Er soll sich um die Kleine kümmern. Komm mit mir!“, wandte er sich schließlich an Kira.
Schweigend, ihre wunden Handgelenke reibend folgte Kira Dragon aus dem Raum, war zu sehr in ihren Zweifeln gefangen. War das Dragon? Was passierte nun mit ihr?
Doch keine dieser Fragen stellte das Mädchen laut.
Ebenso schweigend saß Kira auf der Liege im Hospital, als der Arzt sie untersuchte oder etwas in der Art machte. Das Mädchen konnte nicht genau sagen, was er da machte. Der Arzt war ein Mann mittleren Alters – vielleicht 45 Jahre – hatte schwarze Haare mit einem leichten Grauansatz und ein warmes Lächeln. Nun stand er vor ihr und hatte ihr die Hände auf den Kopf gelegt, die Augen geschlossen.
„Bis auf die Platzwunde an der Stirn und einigen Schürfwunden scheinst du unverletzt zu sein“, meinte er schließlich, als er die Augen öffnete.
Wie konnte er das wissen? Er hatte sie nicht mal angeschaut?
Doch noch mehr als diese zauberhaften Fähigkeiten irritierte sie der Blick. Dieser Blick war … seltsam.
Kira fand kein anderes Wort dafür. Irgendetwas war in diesem Blick und dann war da noch dieses leise Lächeln auf seinen Lippen. Beides zusammen machte ihr Angst. Doch ließ das Mädchen es geschehen, als sich der Doktor an die Versorgung ihrer Kopfwunde machte. Was hätte sie auch tun sollen? Es hätte nichts mehr gebracht, sich zu wehren. Sie war in deren Gewalt. Das seltsame Gefühl verloren zu sein, hatte sich nicht gelegt, obwohl bis jetzt keiner Hand an sie angelegt hatte.
Auf einmal zog der Arzt eine Spritze aus seinem weißen Kittel. Das Mädchen zuckte ängstlich zurück.
Wieder hatte der Mann sein besorgtes Lächeln aufgesetzt, als er ihr erklärte: „Das ist nur eine Vitaminspritze. Sie wird dir helfen.“
Nach der Spritze verließ der Arzt den Raum und traf draußen auf Dragon.
Kira spitzte die Ohren. Obwohl sie wusste, dass es unhöflich war, andere zu belauschen, wusste sie auch, dass hier etwas nicht stimmte.
„Und?“, fragte Dragon.
„Sie hat eine Amnesie“, gab der Arzt gut gelaunt zurück.
„Sorg dafür, dass sie auch den Rest vergisst!“
„Schon geschehen.“
Angst schnürte Kira die Kehle zu. Was hatte der Arzt getan?
Doch bevor sie irgendetwas unternehmen konnte, spürte sie wie ihre Lider auf einmal immer schwerer wurden und sie konnte sich nicht dagegen wehren.
Als sie schließlich bewusstlos oder auch schlafend auf der Liege lag, wurde die Tür geöffnet.
„Schafft sie weg!“, befahl Dragon kalt.

~


Langsam hob sich der Mantel der Besinnungslosigkeit. Und noch viel langsamer kam das Mädchen zu sich.
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Ihr Kopf dröhnte, obwohl sie sich noch nicht einmal bewegt hatte. Sie ließ ihren Blick schweifen, besah sich das Zimmer, in dem sie lag.
Gleich vor dem Fenster, vor dem die Sonne bereits strahlte, stand ein Schreibtisch. Er war unaufgeräumt, wirkte aber nicht chaotisch. Es schien eine Art geordnetes Chaos zu sein. Die Wand daneben nahm ein großes, voll gestopftes Bücherregal ein. In der Ecke neben der Tür stand ein Schrank und dann kam das Bett, in dem sie lag. Neben dem Bett war noch eine Tür. Alles wirkte wie in einem Jugendzimmer.
Sollte ihr das Zimmer bekannt vorkommen?, fragte sich Kira, während sie sich vorsichtig aufrichtete. Aber egal wie behutsam sie auch war, schienen ihre Kopfschmerzen zu explodieren und ihren Kopf zu sprengen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lehnte sie sich an die kühle Wand.
Als sich der Schmerz ein wenig gelegt hatte, wagte sie es, sich erneut zu bewegen.
Langsam, vorsichtig stand Kira auf. Das Mädchen trug eine lange, schwarze Jogging-Hose und ein ebenfalls schwarzes Top.
Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend stolperte Kira zur Tür neben dem Bücherregal. Irgendetwas stimmte hier nicht! Aber sie konnte nicht sagen, was es war. Es war nur ein Gefühl, es ließ sich nicht in Worte fassen – noch nicht.
Verwirrt öffnete sie die Tür. Von dem Flur in dem sie stand, gingen zu beiden Seiten viele Türen ab. Und auf einmal wusste Kira, was sie störte, was hier nicht stimmte.
Das Mädchen warf einen Blick zurück in das Zimmer, aus dem sie gekommen war und ließ dann ihren Blick durch den Gang schweifen.
Sie erinnerte sich an nichts. Nicht an dieses Zimmer und auch nicht an diesen Flur.
Ängstlich sah sie sich um. Was war passiert? Wieso erinnerte sie sich nicht?
Doch neben der Angst war da noch ein anderes Gefühl. Ein Gefühl, als hätte sie diese Angst schon einmal erlebt, als wäre es nicht das erste Mal …
„Kira!“
Panisch fuhr das Mädchen herum.
Ein weißhaariger Mann unbestimmbaren Alters kam auf sie zu.
Instinktiv wich Kira zurück.
Erstaunt blieb der Mann stehen. „Kira? Was ist …?“ Es schien als warte der Mann auf Antwort. Langsam wich der erstaunte Ausdruck aus seinem Gesicht, machte Platz für das Erschrecken. Doch bevor das Erschrecken kam, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
„Der Sturz? Solltest du etwa…? Erinnerst du dich an mich? Ich bin dein Onkel.“
„Mein Onkel?“, zweifelte Kira. Sollte sie sich an ihren eigenen Onkel nicht erinnern können?
Wieder huschte dieses seltsame Lächeln über sein Gesicht.
„Oh Gott. Ich dachte gar nicht, dass der Sturz so schlimm war. Es ist meine Schuld! Ich hätte dich nicht trainieren lassen dürfen. Ich wusste doch, dass es dir nicht gut geht.“
War sie gestürzt?, fragte sich Kira, während sie den Mann betrachtete, der nun mit ausdruckslosem Gesicht vor ihr stand. Das fühlte sich nicht richtig an. Sie war nicht gestürzt, sie war …
„Ahh“, stöhnte das Mädchen auf und drückte die Handballen gegen die Augen. Der verzweifelte Versuch sich zu erinnern, brachte ihren Kopf fast zum Zerbersten. Aber eins war sicher. Irgendetwas war hier nicht so wie es schien. Das war das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte. Auch wenn sie sonst nichts mehr wusste, sagte ihr ihr Gefühl, dass hier irgendetwas faul war.
Die Zeit, die Kira ihre Handballen gegen die Augen drückte, um ihren Kopf am Zerspringen zu hindern, nutzte Dragon, um zu ihr aufzuschließen und nach ihrem Arm zu greifen.
Erschrocken fuhr Kira zurück.
„Kira, was ist denn nur? Ich will dich nur zurück ins Bett bringen, dann besorg ich dir etwas zu essen und lasse dich allein, damit du dich ausruhen kannst.“
Und genau so geschah es.

Als Kira am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fühlte sie sich quicklebendig. Nichts war von den Kopfschmerzen geblieben. Also schwang sie die Beine aus dem Bett und sah sich in diesem – ihrem – Zimmer um.
Als erstes öffnete sie den Schrank und wurde von schwarzen und dunklen Farben beinahe erschlagen. Aber auch nachdem sie wahllos Kleidungsstücke aus dem doch gut gefüllten Schrank entnommen hatte, konnte sie nicht sagen, ob sie ihr gehörten.
Als nächstes trat sie vor den Schreibtisch und betrachtete das wohl geordnete Chaos. Bücher lagen kreuz und quer darauf herum, sowohl aufgeschlagene als auch geschlossene. Die Textmarker, die dazwischen lagen, passten farblich zu den Markierungen, die in den Büchern vorgenommen worden waren. War sie das gewesen?, fragte sich Kira. Als sie die Buchtitel las, hielt sie erschrocken inne. Hatte sie das wirklich gelesen? „Kampfkunst heute“, „Judo – Für Einsteiger und Fortgeschrittene“, „Kämpfen für Fortgeschrittene“
So sehr sie auch auf dem Schreibtisch suchte, sie fand nichts handschriftliches, noch nicht mal eine Notiz.
Insgesamt betrachtete schien es als hätte jemand auf dem Schreibtisch gearbeitet. Aber konnte man arbeiten ohne irgendwo auch nur die kleinste Notiz zu hinterlassen?
Wahrscheinlich wäre dies keinem aufgefallen, aber Kira war es aufgefallen, weil sie danach gesucht hatte. Das komische Gefühl, das sie gestern schon hatte, war auch heute noch da und wies sie mit Nachdruck darauf hin, dass irgendetwas nicht stimmte.
Bei den Klamotten war Kira bereits aufgefallen, dass ausnahmslos alle neu wirkten, kein einziges wirkte abgenutzt. Dann noch dieser benutzt aussehende Schreibtisch. Alles wirkte arrangiert. Was wurde hier nur gespielt?
Das Bad, das durch eine Tür mit diesem Raum verbunden war, wirkte noch nicht einmal benutzt.
Von ihrem Spiegelbild irritiert, trat sie näher an den Spiegel. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie im Hintergrund nicht mehr das Bad. Auf einmal war ihr Abbild blutverschmiert, kreidebleich und vor dunklem, ja beinahe schwarzem Hintergrund. Doch dann stand das Mädchen wieder in dem Bad. Ihre Knie schienen nachzugeben. Kira hielt sich am Rand des Waschbeckens fest. Was war das? War das eine Erinnerung?
Schnell warf sie noch einmal einen Blick auf ihr Spiegelbild. Doch es blieb wo es war. Sie kehrte nicht mehr zurück in … ja was war es? Ein Auto?
Kopfschüttelnd kehrte Kira in das Zimmer zurück und fuhr erschrocken zusammen. In der Tür stand wieder der weißhaarige Mann mit einem Tablett in der Hand, auf dem ein einziges Glas stand.
„Guten Morgen! Ich hoffe dir geht es wieder besser. Warum fangen wir nicht noch einmal von vorne an. Hallo, ich bin Dragon, dein Onkel und du bis Kira, meine Nichte.“
Dragon! Dieser Name! Er kam ihr so bekannt vor. Nur woher?
„Vorgestern bist du von der Kletterwand gestürzt und hast dich am Kopf verletzt, weshalb du jetzt keine Erinnerung mehr hast. Aber keine Sorge, die kommen wieder.“
Mit diesen Worten stellte Dragon das Tablett auf dem Nachtkästen neben dem Bett ab.
Kletterwand?, überlegte Kira. Kurz sah sie sich erneut blutverschmiert und kreidebleich in einem Auto sitzen und war sich sicher: Ihre Kopfverletzung stammte ganz sicher nicht vom Klettern. Das fühlte sich einfach nicht richtig an. Dragon log. Aber wieso?
Kira glaubte ihm jedoch, dass ihre Erinnerung irgendwann wieder zurückkommen musste – genau genommen fing es schon an – und so lange würde sie einfach mitspielen.
„Ich habe auch eine schöne Nachricht für dich. Du hast heute Geburtstag. Du wirst heute vierzehn.“
Vierzehnter Geburtstag?, dachte Kira. Wieder regte sich etwas in ihr, irgendetwas war wichtig an diesem Tag. Doch so stark Kira auch versuchte sich zu erinnern, es fiel ihr nicht ein. Am liebsten hätte sie enttäuscht aufgestöhnt, doch das hätte sie wohl verraten. Stattdessen fragte sie nur: „Wirklich?“
„Ja. Und in unserer Familie ist es Brauch an diesem Tag ein bestimmtes Ritual durchzuführen, das die Vierzehnjährigen in den Kreis der Erwachsenen aufnimmt. Komm her!“
Zögerlich trat Kira auf Dragon zu. Am liebsten wäre sie aus dem Raum gestürzt, aber auch das hätte sie verraten. Jedes normale Mädchen würde sich über so eine Aufnahme freuen. Wenn sie jetzt ging, würde sie sich verraten, würde verraten, dass die Erinnerung oder wenigstens ein Gefühl zurückkehrte und sie dachte, dass hier etwas nicht stimmte. Aber was sollte bei einer solchen Aufnahme schon passieren?
Dragon gab ihr das Glas und meinte: „Trink!“
Kira nahm das Glas entgegen und betrachtete die Flüssigkeit unschlüssig. Es sah aus wie Blut. Aber das würde es ja wohl kaum sein.
Sie sah Dragons erwartungsfrohen Blick, als sie das Glas langsam an ihre Lippen setzte und es in einem Zug austrank. „Brrr.“, schüttelte es sie. „Schmeckt ja grauenhaft.“ Es hatte einen Geschmack, der sich nicht in Worte fassen ließ. Irgendwie schmeckte er metalisch wie … wie Blut. Doch nicht wirklich. Da war noch ein Beigeschmack, den Kira nicht kannte.
Dragon lachte und berührte sie sanft am rechten Handgelenk. „Da muss man durch, wenn man erwachsen werden will.“
Mit diesen Worten verließ er den Raum. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. „Ich werde geschäftlich verreisen. Morgen wird Caleb hier vorbeikommen und dich zum Training abholen.“
Bildete sie sich das nur ein oder war Dragons Auftreten kälter geworden?


Den Rest des Tages lief Kira durch das Anwesen, sah sich um, verlief sich hoffnungslos und musste schließlich einen der unzähligen, gleich aussehenden Männer ansprechen.
„Folge mir!“ In seiner Stimme schwang ein unterwürfiger Ton mit.
Irritiert betrachtete Kira den vielleicht dreißigjährigen Mann in dem schwarzen Anzug mit dem dunkel lila Hemd. Es wirkte als hätte sich der Mann nur mit Mühe von einer Verbeugung abhalten können.
Wortlos folgte sie dem Mann.
„Da wären wir. Falls du noch etwas brauchst…“
„Äh, nein, danke.“
Zutiefst verwirrt blickte Kira dem Mann hinterher. Was sollte das eben? Wer dachte der Mann, dass sie war?
Tief in Gedanken versunken betrat das Mädchen ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Ihr waren die Blicke der Männer, die sie heute getroffen hatte, keineswegs entgangen. Sie hatte alles in ihnen gesehen – von Ehrfurcht und Hochachtung – wie gerade eben – über Verwirrung bis hin zu Verachtung und Hass. Alles war dabei gewesen. Wussten diese Männer, wer sie wirklich war? Sie war nicht das, was Dragon hier versuchte ihr vorzumachen. Oder war es einfach nur, weil sie ein Mädchen und ein Kind war?
Beides hatte sie während ihrer Erkundungstour nicht gesehen, weder Kinder noch ein weibliches Wesen.
Irgendwann musste Kira bei ihrem erneuten Versuch, sich zu erinnern eingeschlafen sein, denn mitten in der Nacht erwachte sie. Von Erwachen konnte eigentlich keine Rede sein. Sie war verschwitzt. Schweiß rann in Strömen über ihr Gesicht. Es war so heiß. Wieso war es nur so heiß?
Müde setzte Kira sich auf. Doch bevor sie aufstehen konnte, um das Fenster zu öffnen, explodierte etwas in ihrem Inneren. Mit einem Schrei fiel sie zurück in die Kissen und krümmte sich zusammen. Schmerz wütete in ihrem Körper. Das Mädchen krümmte sich mit einem erneuten Schrei zusammen. Der Schmerz schien in jeden noch so entlegenen Winkel ihres Körpers zu gelangen, schien keinen Ursprungsort zu haben. Kira schrie. Sie schrie und krümmte sich zusammen eine unendliche Ewigkeit lang. Doch auf einmal war der Schmerz verschwunden, so schnell wie er gekommen war.
Schwer atmend, verwirrt lag Kira im Bett, hatte Angst sich zu bewegen, Angst, der Schmerz würde zurückkommen. Was war passiert?
Nur langsam traute sie sich, ihre Finger, ihre Hand und schließlich den ganzen Arm zu bewegen. Als dies ohne Schmerzen vonstattenging, setzte sie sich auf. Da waren keine Schmerzen mehr, da war auch keine Schwäche. Sie fühlte sich fit und ausgeruht. Hatte sie alles nur geträumt?, fragte sich Kira irritiert. Nein! Dafür waren die Schmerzen zu real. Nein, sie hatte nicht geträumt, oder etwa doch?
Verwirrt stand Kira auf, ging ins angrenzende Bad und betrachtete sich eingehend. Es schien alles normal. Sie war etwas bleicher als sonst. Sich immer noch eingehend betrachtend öffnete sie den Wasserhahn und ließ kaltes Wasser in ihre Hände laufen. Dann beugte sie sich hinunter, um es sich ins Gesicht zu spritzen. Doch da stockte sie. Halt! Was war das?
Auf ihrem rechten Handgelenk war etwas, was da vorher nicht war, was da nicht sein sollte. Ein silbriges Zeichen. Verwirrt betrachtete sie es. Eine Kugel getragen von zwei aufrechtstehenden Wellen, davon gingen zwei verschnörkelte Linien aus, die sich an der Innenseite ihres Handgelenkes beinahe berührten. Es sah aus wie ein Armband. Nur das es das nicht war. Es war in ihre Haut eintätowiert.
Lange stand Kira einfach nur da und betrachtete dieses Zeichen. Auf einmal wusste sie, was sie an diesem Zeichen so sehr faszinierte. Es war nicht der Umstand, dass es am Abend noch nicht da war. Das war seltsam, doch dies faszinierte sie nicht. Es war die Ausstrahlung des Zeichens. Das Zeichen schien nur so vor Macht zu sprühen. Oder kam es ihr nur so vor?
Schließlich riss sie sich von dem Anblick fort und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie war viel zu aufgewühlt, um weiterzuschlafen. Ein kurzer Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es bereits 5 Uhr war. Doch man spürte bereits, dass es ein heißer Tag werden würde. Sie zog ein schwarzes Top und eine ebenfalls schwarze kurze Hose aus dem Schrank und zog sich an.
Dann trat sie noch einmal vor den Schrank, suchte nach einem Schweißband, einem Schal, einem Tuch, irgendetwas, um dieses Zeichen zu verdecken. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieses Zeichen nicht jeder sehen musste.
Als sie nicht fündig wurde, griff sie zur Schere, schnitt einem dünnen schwarzen Pulli einen Ärmel ab und band diesen um ihr Handgelenk. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel, der in einer Schranktür innen angebracht worden war.
Schließlich ließ sie sich aufs Bett sinken und hing ihren Gedanken nach. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Da war dieses Zeichen. Woher kam es? Wieso gerade jetzt? Dann gab es noch dieses Gefühl, dass etwas hier falsch war. Und dann noch diese Erinnerungen. Waren es überhaupt Erinnerungen? Wieso konnte sie sich nicht erinnern?
Immer, wenn sie es versuchte, schien es, als würde sie gegen eine Mauer rennen, eine Mauer, die nur ein Gefühl nach außen ließ. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
Schließlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als Stimmen vor ihrem Zimmer laut wurden.
„Was denkt sich Dragon dabei? Mir ein Kind, ein Mädchen, ein verdammtes dreizehnjähriges Mädchen zu schicken. Was glaubt er, soll aus ihr werden? Ein Kämpfer ganz sicher nicht. Ich kann keine Wunder vollbringen.“ Die Stimme klang wütend. Doch durch all die Wut hörte Kira heraus, dass es sich um einen jungen Mann handeln musste.
„Aber er will es so“, sagte eine andere männliche Stimme, die ebenfalls jung klang.
„Es könnte vielleicht sogar etwas aus ihr werden, wenn ich Zeit hätte, jede Menge Zeit.“, betonte die erste Stimme. „Aber nein, ich habe zwei Wochen für die Grundausbildung, die bei erwachsenen Männern ein Jahr dauert. Aus dem Kind wird nichts. Es wäre schon ein Wunder, wenn sie die Grundausbildung überlebt.“
„Caleb, sei nicht zu hart zu ihr. Sie kann nichts dafür.“ Die Stimme des zweiten war voll Mitleid.
„Pff.“, machte Caleb nur.
Kira hatte interessiert zugehört und bei Grundausbildung hatte es Klick gemacht. Wieder etwas, dass das Kartenhaus, das Dragon als ihr Leben ausgab, zum Wanken brachte. Laut Dragon hatte sie sich beim Training verletzt. Doch der Mann namens Caleb hatte gesagt, sie beginnt heute die Grundausbildung. Die Gewissheit, dass hier etwas nicht stimmte verstärkte sich immer mehr. Kira musste nur noch herausfinden, was Wahrheit und was Lüge war.
Ohne zu klopfen wurde die Tür aufgerissen und ein junger Mann stürmte in den Raum. Er war etwa fünfundzwanzig, durchtrainiert, hatte blondes Haar und blaue Augen. Diese blauen Augen blitzten erwartungsfroh. Doch als er Kira angezogen im Bett sitzen sah, verschwand die Vorfreude und machte Wut Platz. Kira tippte ganz richtig, dass das Caleb war. Er hatte sich darauf gefreut, sie aus dem Bett zu schmeißen. Doch sie hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, was seine Wut auf Kira nur noch mehr steigerte.
„Mitkommen!“, befahl er und schon war er wieder aus dem Raum verschwunden.
Kira sprang aus dem Bett und folgte ihm. Sie sah seine Wut und wollte sie nicht unbedingt noch vergrößern.
Vor ihrer Tür wartete der zweite Mann. Er schien in Calebs Alter, also etwa fünfundzwanzig, war genauso durchtrainiert – wie eigentlich jeder auf dieser Burg – hatte rotes Haar und leuchtend grüne Augen. Er grinste Kira an.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen.“, grinste Kira zurück, auch wenn ihr Grinsen nicht ganz echt war.
„Wir sehen uns bestimmt noch.“, meinte der Mann und verschwand in entgegengesetzter Richtung.
Kira eilte Caleb hinterher.
Stumm stürmte Caleb aus der Burg und umrundete diese einmal. Dahinter kamen sie auf ein etwa fußballfeldgroßes Gelände, auf dem sich einige Männer Übungskämpfe mit Waffen und Fäusten lieferten. Doch Caleb lief in entgegengesetzte Richtung auf den Wald zu. Nach einer kurzen Wegstrecke durch diesen, kamen sie auf eine ebenfalls etwa fußballfeldgroße von Menschenhand geschaffene Lichtung, was die geraden Seiten bewiesen. In der Mitte lagen einige Reifen, einige Holzklötze lagen und standen herum. Kira entdeckte einen Tümpel, von Bäumen hingen Seile. Einen Sandkasten gab es ebenfalls, der das Mädchen stark an Weitsprung erinnerte.
Urplötzlich blieb Caleb stehen. Kira wäre fast in ihn hineingerannt. Erschrocken machte sie einen Schritt rückwärts.
Schadenfreude huschte über Calebs Gesicht. Doch sofort kehrte die Wut zurück.
„Okay, du hörst mir jetzt ganz genau zu. Ich werde das nur einmal sagen. Ich habe mich nicht darum gerissen, ein dreizehnjähriges Mädchen auszubilden …“
„Ich bin vierzehn.“, unterbrach ihn Kira.
Nun wurde die Wut durch Überraschung verdrängt. Caleb musterte sie genau. Sein Blick blieb schließlich an dem Tuch, an ihrem Handgelenk hängen und da wusste Kira auf einmal, woher dieses Zeichen stammte. Dragon hatte sie dort berührt, nachdem sie dieses eklige Zeug getrunken hatte. Die Aufnahme als Erwachsener! Dieses Zeichen hat irgendetwas damit zu tun.
„Das macht es auch nicht besser.“ Die Wut hatte wieder die Oberhand gewonnen. „Diese Ausbildung ist kein Zuckerschlecken. Du tust alles, was ich sage, wann ich es sage. So, und jetzt lauf!“
Kira blieb wo sie war. „Wohin?“
„Um den Platz! Dalli dalli!“
Kira lief und lief, immer um den Platz herum. Sie wusste nicht wie lange. Caleb hatte es sich auf einem Holzklotz bequem gemacht und betrachtete sie mit einem anfangs süffisanten Grinsen. Er schien nur darauf zu warten, dass Kira stehen blieb, sich beschwerte, zusammenklappte. Doch je mehr Kira lief, desto mehr verschwand das Grinsen und machte Erstaunen Platz.
Kira wusste nicht, wie lange sie schon gelaufen war. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Sie hatte das Gefühl jeden Moment zusammenzubrechen. Doch ein unerklärlicher Stolz hinderte sie daran, stehen zu bleiben.
Als sie das nächste Mal an Caleb vorbeikam, hielt sie dieser mit den Worten „Es reicht.“ auf.
Sofort blieb Kira stehen. Sie glaubte sich zwar zu erinnern, in der Schule einmal gelernt zu haben, dass man nach einen Lauf langsam auslaufen soll und nicht augenblicklich stehen bleiben darf. Aber sie wusste auch, noch einen Schritt weiter und sie wäre zusammengebrochen.
Caleb reichte ihr eine Flasche Wasser. „Trink!“
Irrte sie sich oder war da Bewunderung in seinem Blick? Aber egal was, die Wut war definitiv verschwunden.
Kira nahm die Flasche dankbar entgegen und setzte sie an die Lippen. Sie zwang sich, die Flasche nicht in einem Zug hinunterzustürzen. Aber noch mehr Aufmerksamkeit erforderte es, sich auf den Beinen zu halten. Doch sie war zu stolz sich zu setzen trotz ihrer Wackelpudding-Knien.
Das brachte ihr ein anerkennendes Nicken von Caleb ein. Vielleicht … Nein, es war noch zu früh, eine Vermutung abzugeben … Aber vielleicht überlebt sie die Ausbildung doch.
Der junge Mann ließ ihr etwas Zeit sich zu erholen und fing dann an ihr Judo beizubringen. Kira stellte sich, entgegen seiner und ihrer Erwartung gar nicht so dumm an. Vielleicht war sein Auftrag doch nicht zum Scheitern verurteilt, dachte Caleb.
Als sie an diesem Tag, endlich die erlösenden Worte „Wir sind fertig für heute“ hörte, drehte sich Kira wortlos um und ging.
„Morgen um sieben wieder hier.“, rief Caleb ihr hinterher.
Kira traute ihrer Stimme nicht, traute ihr nicht, ob man ihr die Erschöpfung anhörte. Deswegen hob sie nur stumm die Hand zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Sie drehte sich auch nicht um. Es wäre nur eine Verschwendung der wenigen verbliebenen Kraft, die sie noch hatte, die sie noch brauchte, um in ihr Zimmer zu gelangen.
So sah sie auch nicht das Grinsen, das auf Calebs Lippen lag.
Auf dem Weg in ihr Zimmer begegnete sie dem rothaarigen jungen Mann. Doch sie nahm ihn nicht wahr. Dieser suchte auf schnellstem Weg Caleb auf und stellte ihn zur Rede.
„Du hast sie zu hart rangenommen. Sie ist völlig erledigt.“
„Sie hat sich nicht beschwert. Keine Sorge, Chris.“, lachte Caleb. „Sie hat einen starken Willen. Sie schafft das.“
Chris sah nicht überzeugt aus.
„Ich hab sie hart rangenommen, ja. Wollte, dass sie sich beschwert, sich weigert, damit ich sie zur Sau machen kann. Aber sie ist immer weiter gelaufen. Ich sah, wie sie immer schwächer wurde. Aber sie ist immer weitergelaufen. Als ich sie anhalten ließ, hat sie sich nicht hingesetzt. Sie ist stehen geblieben. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Ihre Knie haben gezittert, aber sie ist stehen geblieben. Sie hat einen starken Willen. Sie schafft das. Sie kann die Ausbildung überstehen.“

Kira war mittlerweile in ihrem Zimmer angekommen und ließ sich aufs Bett fallen. Ihr Kopf hatte das Kissen noch nicht berührt, da war sie schon eingeschlafen. Sie war so geschwächt, dass auch die Mauer um ihre verlorenen Erinnerungen durchlässig geworden war. Sie träumte von einem finsteren Kellerraum, einem alten Mann, der etwas von einer Entführung erzählte, zwei Männern in einem Auto, einem Steckbrief und einem Arzt mit Zauberkräften.
Doch als am nächsten Morgen der Wecker schrillte – Hatte sie ihn eingestellt? – war der Traum vergessen. Nur das Gefühl, die Wahrheit zu kennen, blieb.
Kira spürte jede einzelne Faser ihres Körpers, als sie aufstand. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so viele in ihrem Körper gab, dass es so viele Stellen gab, die Schmerzen konnten. Wenn sie so schlecht aussah, wie sie sich fühlte …
Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihre Vermutung. Sie sah so schlecht aus wie sie sich fühlte. Daran konnte auch eine kalte Dusche nichts ändern. Sie war kreidebleich, hatte dunkle Ringe unter ihren eingefallenen Augen. Sie war hundemüde, wollte lieber wieder ins Bett und doch machte sie sich auf, um pünktlich auf der Lichtung zu sein.
Als Caleb Kira erblickte, erkannte er, dass Krafttraining eine denkbar schlechte Idee für heute war. Aber er hatte bereits den Zirkel mit den verschiedenen Stationen aufgebaut. Er würde probieren, wie lange Kira das Krafttraining aushielt und dann abbrechen.
„Guten Morgen“, grüßte er und lächelte ihr aufmunternd entgegen. Er hatte es gestern wirklich übertrieben.
„Guten Morgen“, antwortete das Mädchen kraftlos.
Da kam das schlechte Gewissen. Das da vor ihm war ein Mädchen und er war mit ihr umgesprungen wie mit einem Mann. Nein, erkannte er. Schlimmer, nicht einmal einem Mann würde er so viel zumuten. Aber er stand unter Zeitdruck. Zwei Wochen waren nicht viel.
Wortlos ergab sich Kira in ihr Schicksal und begann das Zirkeltraining. Doch es kam wie es kommen musste. Nach fast einer Stunde Zirkeltraining – was weit mehr war als Caleb ihr in dieser Verfassung zugetraut hatte – passierte es. Kira stand an der Station, an der sie Medizinbälle, diese schweren kürbisgroßen Bälle, an die Wand werfen und sie wieder auffangen sollte. Doch die Kraft ließ unaufhaltsam nach. Beim nächsten Auffangen reichte sie nicht mehr aus. Der Medizinball prallte gegen ihre Hand, knickte diese um und landete in ihrem Gesicht. Kira ging bewusstlos zu Boden.
Das Mädchen konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein, denn als sie wieder zu sich kam, kniete Caleb neben ihr. In seinem Blick lagen Angst und Vorwürfe.
Kira lächelte gezwungen. „Mir geht es gut.“ Sie spürte sehr wohl die Schmerzen in ihrer linken Hand und das Blut, das ihr aus der Nase strömte. Sie wusste auch nicht, aber irgendwie wollte sie von Caleb nicht für schwach gehalten werden.
Ihre Worte brachten Caleb zum Lachen. „Netter Versuch. Aber dein Aussehen sagt was anderes. Kannst du aufstehen?“
Kira sparte sich eine Antwort und kämpfte sich langsam, mühsam auf die Beine. Dabei achtete sie sorgsam darauf, ihre linke Hand nicht zu bewegen. Dies blieb Caleb keineswegs verborgen. Damit war es nicht nur ihre Nase, die vielleicht gebrochen war, sondern auch ihre Hand, erkannte er. Eine Gehirnerschütterung war auch nicht auszuschließen.
Er machte sich schwere Vorwürfe als er Kira ins Hospital führte.
Kaum saß Kira auf einem Bett, das durch einen Vorhang von den Nachbarbetten getrennt war, als der Arzt auch schon herbeigeeilt kam. Sie kannte ihn!, war sie sich sicher. Und noch bevor der Arzt sie erreicht hatte, wusste sie was als nächstes passieren würde. Der Mann würde ihr die Hände auf den Kopf legen, die Augen schließen und warten, wenn er fertig war, wusste er, was ihr fehlte. Und genauso war es. Woher hatte sie das gewusst? Und auf einmal fiel ihr alles wieder ein. Der Traum! Das war kein Traum! Das ist alles wirklich passiert. Sie war entführt worden. Dragon hatte gelogen, was ihre Wunde anging, was ihre Amnesie anging. Das war kein Kletterunfall.
„Ich gehe mal davon aus, dass der Arm schnell wieder einsatzfähig sein soll.“, meinte der Arzt.
Kira war so in Gedanken versunken, dass sie die Frage gar nicht bemerkte, die sich hinter diesen Worten verbarg.
„Ja.“, antwortete Caleb für sie.
„Dann heißt das wohl ein Gips muss her. Keine Sorge. Er ist nicht gebrochen, aber er muss ruhig gestellt werden.“
Nachdem ein blütenweiser Gips Kiras linke Arm zierte, meinte der Arzt: „Du siehst schrecklich aus. Ich gebe dir noch eine Vitaminspritze. Das wird dir helfen.“
Und da hatte Kira die Antwort auf die Frage, die sie so lange gequält hatte. Jetzt wusste sie, woher die zweite Amnesie stammte. Die Vitaminspritze des Arztes war dafür verantwortlich.
„Nein, ich brauche keine Vitaminspritze von ihnen.“
Kaum waren die Worte über Kiras Lippen, wusste sie, dass sie sich verraten hatte. Und der Blick mit dem der Arzt sie nun betrachtete, bestätigte ihre Vermutung. Sie hatte sich verraten. Doch es half nichts sich deswegen jetzt Vorwürfe zu machen. Es war zu spät
Kira stand auf, schwankte kurz und verließ das Hospital. Caleb und den Arzt ließ sie zurück. Caleb hatte die Irritation über Kiras Verhalten schnell überwunden, rannte ihr hinterher. Für heute würde sie nicht mehr trainieren. Kira sollte sich ausruhen., entschied er.
Der Arzt blieb zurück. „Wie hast du das nur geschafft, kleines Mädchen?“

Endlich in ihrem Zimmer angekommen, sank Kira erschöpft ins Bett. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass das Training vielleicht weitergehen könnte. Sie war einfach zu Tode erschöpft.
Kurz vor dem Einschlafen bekam sie noch mit, wie die Tür aufging und Caleb in ihrem Blickfeld erschien. Doch da war sie schon eingeschlafen.
Caleb blieb an ihrem Bett stehen und betrachtete das schlafende Mädchen. Da wurde ihm das Ausmaß seiner Verantwortung erst richtig bewusst. Vor ihm lag ein Mädchen. Ein total erschöpftes vierzehnjähriges Mädchen. Er trug die Verantwortung dafür, dass dieses Mädchen die Ausbildung überlebte. Er konnte aus ihr doch keinen … Aber so lautete sein Auftrag. Er musste …
Lange sah Caleb auf das schlafende Mädchen. Im Schlaf würde sie immer ein unschuldiges Mädchen bleiben. Aber er musste dafür sorgen, dass das bei Tag nicht so war.


Der Wecker schrillte. Kira fuhr aus dem Schlaf hoch. Ihr erster Gedanke war so niederschmetternd, dass sie sich am liebsten unter die Bettdecke verkrochen hätte. Sie hatte sich verraten! Was würde Dragon mit ihr machen, wenn er zurückkehrte?
Sie erinnerte sich jetzt wieder an den Steckbrief und wünschte sie könnte es nicht. Es machte ihr Angst. Tod oder lebendig. Würde er sie umbringen? Kira wusste es nicht. Sie konnte diesen alterslosen Mann nicht einschätzen.
Wieder fing der Wecker mit seinem nervtötenden Piepsen an. Kira brachte ihn zum Verstummen und stand auf. Aber eine Frage beschäftigte sie. Wieso? Wieso aufstehen? Wieso weitertrainieren?
Als sie schließlich vor ihrem Schrank stand, hatte sie eine Antwort gefunden. Sie musste sich wehren können. Sie musste ihre Eltern, ihre Vergangenheit finden und dafür musste sie fliehen. Irgendetwas hatte Dragon mit ihr vor. Er würde sie nicht einfach gehen lassen.
Sie schloss die Augen, holte einmal tief Luft und hoffte so, die aufkeimende Angst unterdrücken zu können. Dann machte sie sich auf dem Weg zum Wald.
Caleb stand zwar in der Mitte des Platzes, schien aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht mit ihr gerechnet zu haben. Aber er hatte sein Erstaunen schnell überwunden.
„Guten Morgen!“
Kira lächelte nur zur Antwort. Der Morgen war nicht gut. Er hatte eine Angst in ihr geweckt – Angst um ihr Leben –, die es nun zu bekämpfen galt.
„Wegen dem Gips fällt ein großer Teil unseres Trainings erst einmal weg. Aber dann fangen wir einfach jetzt schon mit den Waffen an.“
Irgendetwas flog auf Kira zu. Geschickt fing sie es auf. Doch augenblicklich ließ sie es wieder fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Erschrocken machte sie einen Schritt zurück. Es war ein Schwert.
Caleb war noch ganz verzückt von ihrer Reaktionsgeschwindigkeit, dass er ihr seltsames Verhalten nur am Rande wahrnahm.
„Keine Sorge, die Klinge ist ganz stumpf. Sie macht allerhöchstens blaue Flecken.“
Schweren Herzens hob Kira das Schwert wieder auf. Am liebsten hätte sie ihren Entschluss von heute Morgen verdrängt. Aber sie musste kämpfen können, um von hier zu fliehen. Dragon würde sie nicht einfach gehen lassen. Nicht nach dem Steckbrief. Er hatte 10.000 für sie bezahlt. Sie gehörte in gewisser Weise ihm. Er konnte alles mit ihr machen. Er konnte sie umbringen. … Nein, sie würde sich nicht widerstandslos abschlachten lassen.
Kira umfasste das Schwert fester. Ihr Kampfgeist war erwacht.
Plötzlich sprang Caleb ebenfalls mit Schwert bewaffnet auf das Mädchen zu und war hocherfreut als Kira ihr Schwert hochriss und den Hieb abblockte.
„Gut!“, rief Caleb und setzte zum nächsten Schlag an. Doch Kira war zu langsam. Sie schrie auf, als der Mann sie in den Rippen traf und taumelte rückwärts. Kurz nur sah sie das Mitleid in Calebs Augen, doch dies reichte ihr um selbst einen Angriff zu starten. Kira ließ das Schwert auf seinen Kopf zuschnellen, änderte im letzten Moment die Richtung und versuchte, Caleb in die Seite zu treffen.
Der Aufprall der beiden Schwerter schallte über die Lichtung.
„Improvisation – gut!“, rief Caleb. Sein Arm schoss blitzschnell nach vorne und seitlich an Kiras Kopf explodierte ein greller Schmerz.

Ein Schwall kaltes Wasser riss sie aus der Ohnmacht. Schwankend setzte sich Kira auf. In ihrem Kopf klingelte es und an ihrem Gesicht fühlte sie getrocknetes Blut.
Caleb kniete neben ihr, mit einem Eimer Wasser in der Hand.
Vorsichtig befühlte Kira die Platzwunde an ihrer rechten Schläfe. Sie tat weh, schien aber nicht allzu schlimm zu sein. Langsam versuchte sie Ordnung in das Chaos in ihren Kopf zu bringen – Was war passiert? – als ihr Blick an Calebs Gesicht hängen blieb. Man sah ihm deutlich an, dass er von starken Selbstvorwürfen geplagt wurde. Wäre das vor ihr nicht Caleb gewesen, der nur allzu deutlich von Vorwürfen geplagt wurde, hätte Kira ihn wahrscheinlich angepflaumt, dass das nicht nötig war. So aber stand sie wortlos mit weichen Knien auf und griff nach ihrem Schwert.
Caleb aber blieb weiterhin mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden sitzen.
„Es tut mir leid. Das war viel zu hart.“ Der junge Mann sah betroffen zu Boden.
„Nein, war es nicht. Ich bin nicht aus Zucker. Ich übersteh‘ das schon. Der einzige, der noch am Boden sitzt bist du. Soll ich das als ein Aufgeben interpretieren?“, zog Kira den jungen Mann auf. Wieso tat sie das?
Und da erkannte Kira auf einmal: Caleb war der einzige auf dieser Burg, der sie nicht anlog – jedenfalls hatte sie bis jetzt noch keine Lüge entlarvt –; der einzige, der ihr nicht mit Hass oder Ehrfurcht begegnete; der einzige, der sie normal behandelte; der einzige auf dieser Burg, den sie als Freund haben mochte. Freund?, dachte Kira. Wollte sie diesen jungen Mann wirklich so nah an sich heranlassen?
Kira vertagte die Antwort auf diese Frage auf später, als sie sah, dass Caleb immer noch mit verdutztem Gesichtsausdruck am Boden saß.
„Jetzt komm schon! Wie soll ich dir das mit dem Wasser heimzahlen, wenn du da so untätig am Boden rumsitzt? Denn das war echt hart.“
Caleb sah sie erst weiterhin verdutzt an, als er plötzlich in Lachen ausbrach.
Kira zog eine Schnute. Er nahm sie nicht ernst.
„Du bist schon ein seltsames kleines Mädchen“, brachte Caleb in einer kurzen Lachpause heraus.
„Das kleine Mädchen möchte jetzt gern weiter üben, aber dafür braucht sie den alten Mann, der da am Boden liegt.“
Augenblicklich hörte Caleb zum Lachen auf. Aber das Lachen in seinen Augen verschwand nicht.
„Sag das noch mal!“
„Was soll ich noch einmal sagen? Alter Mann?“, stellte sich Kira doof. Auch in ihren Augen glitzerte ein Lachen.
„Genau das.“
„Wenn du meinst.“ Kira zuckte mit den Schultern. „Alter Mann. Alter Mann. Alter Mann.“
„Na warte! Das wirst du mir büßen.“ Lächelnd stand sie neben dem Tümpel und wartete bis Caleb zu ihr aufschloss. Und weiter ging die Verfolgungsjagd um den Tümpel herum.
Nur im allerletzten Moment konnte Kira sich durch einen beherzten Sprung vor einem erneuten Bad bewahren. Doch Caleb hatte nicht so viel Glück. Er trat auf den gleichen glitschigen Stein und landete im Tümpel. Prustend tauchte er wieder auf. Für so tief hätte sie den Tümpel gar nicht eingeschätzt.
Lachend sank Kira auf den Boden, während Caleb aus dem Tümpel trat und sich das blonde Haar aus dem Gesicht strich.
„Okay, da wir nun beide nass sind, können wir ja weiter machen“, meinte Kira, als sie sich von ihrem Lachanfall erholt hatte.
„Geht’s dir auch gut, nachdem ich dich k.o. …“
„Mir geht’s gut“, unterbrach Kira ihn. Lüge, dachte sie resignierend. Sie hatte höllische Kopfschmerzen.
Diesmal ließen sie es langsamer angehen. Caleb erklärte ihr in allen Einzelheiten wie man eine bestimmte Bewegung ausführte, bis sie sich schließlich wieder in einem hitzigen Gefecht verbissen, aus dem Kira als Verlierer hervorging.
Beim Mittagessen fasste sich Kira ein Herz. Sie brauchte Antworten und dafür musste sie Fragen stellen. Sie erinnerte sich noch gut an die Worte ihrer Entführer, ihre Eltern seien Kollateralschaden, sah nur allzu deutlich den zerstörten Wagen mit den verletzten Erwachsenen vor sich.
„Caleb, was ist mit meinen Eltern geschehen?“
Der Mann sah sie erstaunt an. „Was? Ich weiß nicht, was mit ihnen sein soll.“
„Wer ist Dragon? Wer ist Dragon wirklich?“, fragte Kira weiter, hoffte wenigstens hier eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen.
„Also“, duckste Caleb ein wenig herum. „Er ist der Bruder deines Vaters. Er ist ein sehr einflussreicher Mann.“
Kira verdrehte die Augen und widmete sich schweigend ihrem Sandwich. Sie würde keine zufriedenstellende Antwort bekommen., erkannte sie. Nicht von ihm.
Nach dem Essen half Caleb ihr hoch. Kira spürte nun ziemlich deutlich, dass sie nicht so stark war, wie sie sich am Morgen noch gefühlt hatte. Sie spürte den Muskelkater nahen.
„Jetzt machen wir etwas Entspannteres.“ Caleb drückte ihr eine neue Waffe in die Hand. Ungläubig weiteten sich ihre Augen.
„Nein.“, sagte sie entschieden. Am liebsten hätte das Mädchen die Pistole weit von sich geschleudert.
„Wieso nicht?“, fragte Caleb verdutzt. Das Schwert hatte ihr ja auch nichts ausgemacht.
Kira fand es einfach nur hinterhältig und verachtenswert jemanden zu erschießen. Wenn schon kämpfen, dann sollte es wenigstens ein fairer Kampf sein. Sie wollte ihren Gegner nicht in den Rücken schießen. Aber Caleb hörte ihren Einwand nicht. Er bildete das Mädchen an der Pistole aus. So lautete sein Auftrag.
Kurz bevor es draußen dunkel wurde, tauschten sie die Pistole noch einmal gegen das Schwert. Sie entfachten einen Wirbelsturm aus aneinanderprallenden Schwertern und Kira wich mit schmerzendem Arm zurück. Dieses Mal war der Kampf kürzer als beim ersten Mal, dauerte jedoch lange genug, damit sich Kira eine neue Sammlung blauer Flecken einhandeln konnte.
Als sie fertig waren, ließ sich Kira stöhnend in ihr Bett sinken. Ihr ganzer Körper schmerzte. Caleb war nicht gerade sanft mit seinem Schwert umgegangen. Hätte sie nur nicht gesagt, dass sie nicht aus Zucker war.
Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie schwach sie doch war.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich noch schlimmer. Ihr Körper war mit blauen Flecken übersät und die Muskeln taten ihr so weh, dass sie sich kaum rühren konnte.
Caleb schaute vom Frühstück auf, als Kira eintrat und grinste, konnte sein Erschrecken aber nicht ganz verbergen. „Wie fühlst du dich?“
Kira brummte etwas Unverständliches und schlang das Frühstück hinunter.
Den ganzen Tag verbrachte sie mit Caleb auf dem Übungsplatz, trainierte mit Schwert und Pistole und fiel am Abend zu Tode erschöpft ins Bett.
Irgendwann in den folgenden Tagen wurde dieser nervtötende, juckende Gips abgenommen und die Ausbildung auf das erweitert, was bisher vernachlässigt werden musste.

~


Es war der zehnte Tag ihrer Ausbildung. Oder war es bereits der elfte? Die Tage verschwammen zu einer einzigen grauen Masse. Tagtäglich musste Kira durch Schlamm robben, durch Reifen springen, einen Hindernisparcours nach dem anderen durchlaufen, immer wieder Kampfsport und Schießübungen machen.
Wieder einmal stand Kira in dem aus Pappe errichteten Dorf. Sie wusste, jederzeit könnten überall Scheiben auftauchen, auf die es zu schießen galt. Doch heute war es anders. Es erschienen nicht mehr die schwarzen Kreise, auf die sie bisher geschossen hatte. Heute erschienen Menschen. Plötzlich stand sie einem jungen Mann gegenüber. Er war nicht echt, er war aus Pappe und dennoch zögerte Kira. Zielen und abdrücken, zögern bedeutet den Tod, hatte man ihr eingebläut. Diese Worte kamen ihr nun in den Sinn. Es war nur eine Übung. Der Mann war nicht echt. Sie drückte ab.

An diesem Abend kehrte Dragon zurück und verlangte einen Bericht. Nach dem Arzt rief er Caleb zu sich.
„Sie macht erstaunliche Fortschritte. Sie hat die Ausbildung fast abgeschlossen. Doch es gibt da ein Problem.“ Caleb verstummte.
Als Dragon ihn aufforderte weiterzusprechen, setzte der junge Mann seinen Bericht fort: „Kira hatte am Schießstand eine Trefferquote von etwa 90%. Doch als wir die Zielscheiben durch Bilder von Menschen ersetzten, sank ihre Trefferquote auf unter 50%. Ich glaube nicht, dass das Mädchen das Zeug hat zu töten.“
Dragon sagte lange kein Wort, dann meinte er: „Schick sie zu mir! Ich habe einen Auftrag für sie.“
Caleb bereute seine Worte bereits. Er hatte Kira in eine Welt gestoßen, in die sie nicht hineingehörte. Er hätte sie nicht davor beschützen können. Das wusste er. Aber wenigstens eine zeitlang noch hätte er ihr ein Leben als Kind ermöglichen wollen. Doch jetzt war es zu spät.
„Wie hast du das geschafft?“
„Was geschafft?“, fragte Kira zurück, betrachtete Dragon voll Misstrauen. „Sie müssen sich schon klarer ausdrücken. Ich habe in letzter Zeit einiges geschafft.“
Dragon betrachtete sie mit einem amüsierten Grinsen. Frech, dachte er.
„Wie konntest du dich erinnern?“
„Ihr seid über eure Lügen gestolpert.“ Das war nicht die ganze Wahrheit, darüber war sich Kira im Klaren. Doch sollte Dragon sich nur fragen, was er falsch gemacht hatte.
Doch sie beschäftigte eine viel wichtigere Frage: „Was ist mit meinen Eltern?“
„Die Personen, die du Eltern nanntest, sind tot.“, sagte Dragon gefühlslos.
Kira dachte nicht über diese seltsame Art der Antwort nach, vielmehr verstörte sie ihr Inhalt. Tot. Tot wegen ihr.
Sie fühlte einen tiefen Stich. Kummer. Auch wenn sie sich nicht an ihre Eltern erinnern konnte, verspürte sie Trauer und noch viel mehr Wut, die die Trauer überdeckte. Dragon und sein verdammter Steckbrief waren Schuld an dem Tod ihrer Eltern.
„Ich habe einen Auftrag für dich“, wechselte Dragon übergangslos das Thema.
Kira brauchte eine Weile, um sich durch die Trauer, die Wut zurück in die Wirklichkeit zu kämpfen.
„Nein.“ Kira verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du weißt doch noch gar nicht, was es ist“, meinte Dragon verdutzt.
„Aber die Antwort lautet: Nein.“ Und in einem irrte sich Dragon. Kira wusste zwar nicht genau, was Dragon von ihr wollte. Doch sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon. Niemand, wirklich niemand lehrt jemanden zu kämpfen … zu töten, wenn er keine Hintergedanken dabei hat. Sie würde nicht für Dragon töten, sie würde auch kein anderes Verbrechen für ihn begehen. Nicht für ihn, denn er trug die Schuld am Tod ihrer Eltern.
Kira ballte die Hände zu Fäusten. Es fiel ihr immer schwerer, die Trauer, die Wut unter Kontrolle zu halten.
„Du sollst nur einen kleinen Einbruch begehen.“
„Nein.“, wiederholte Kira noch einmal.
„Na gut, dann musst du mit den Folgen deiner Entscheidung leben.“ Dragon gab den zwei Männern hinter Kira ein kaum sichtbares Zeichen und diese ergriffen das Mädchen an den Armen.
Nachdem der erste Schreck überwunden war, wehrte sich Kira nach Leibeskräfte, was ihr ein anerkennendes Nicken von Dragon einbrachte. Caleb hatte ganze Arbeit geleistet.
Die beiden Männer, die Kira aus dem Raum zerrten, mussten deutlich mehr Gewalt anwenden, als es für ein Mädchen ihrer Statur notwendig schien, was ihr von diesen erstaunte Blicke bescherte. Doch die zwei waren stärker. Kira wurde in einen Kerker geworfen.

~


Wieder saß Kira in einer Ecke ihres finsteren Verließ´, hatte die Beine eng an den Körper gezogen, den Kopf auf die Arme gebettet. Es war wie zu Anfang ihrer Erinnerung. Doch nun saß sie hier voll Trauer und Wut. Trauer, der sie freien Lauf ließ. Sie weinte, um die zwei Personen, sie weinte, um ihre Eltern, an die sie keine Erinnerung hatte, außer dem Bild aus dem zerstörten Wagen.
Irgendwann versiegten die Tränen und die Wut gewann die Oberhand. Kira sprang auf, lief in ihrem Verließ auf und ab wie ein gefangenes Tier. Dragon war Schuld. Dragon trug die Schuld am Tod ihrer Eltern.
Immer wieder durchzuckte dieser Satz ihr Denken.
Plötzlich fuhr Kira herum und schlug mit der geballten Faust gegen die Kerkerwand.
Immer und immer wieder schlug sie mit Dragons Bild vor Augen gegen die Wand. Ihre Knöchel platzen auf. Blut tropfte von ihren Händen zu Boden. Doch sie spürte den Schmerz nicht. Sie verspürte nur diese unbändige Wut auf Dragon. Er war Schuld.
Auf einmal flog die Kerkertür auf und zwei Männer stürmten herein. Kira wirbelte herum. Die Männer hatten nichts mit ihrer Wut gegen Dragon zu tun. Doch sie arbeiteten für Dragon. Bevor der eine überhaupt wusste, was geschah, landete ihre Faust schon auf seiner Nase. Blut floss. Wahrscheinlich gebrochen, dachte Kira gefühlslos. In ihrem Körper war nichts anderes als Wut. Den zweiten Mann, der nun auf sie zustürmte, trat sie in den Bauch.
Doch als die beiden ihre anfängliche Überraschung überwunden hatten, rangen sie das Mädchen gemeinsam zu Boden.
Aber auch als Kira bereits auf dem Boden lag, wollte sie nicht aufgeben, sich zu wehren.
Sie sah das Mitgefühl in den Augen des Mannes, den sie in den Bauch getreten hatte, hörte noch sein „Tut mir Leid“ bevor er mit einem Schlag an ihre Schläfe, das schwarze Tuch der Bewusstlosigkeit über Kiras Geist zog.

~


Als das Mädchen wieder erwachte, lag sie auf einer Liege. Nein, erkannte sie, das war nicht ganz richtig. Sie war mit Gurten an die Liege gefesselt. Doch die Liege war nicht waagrecht, wie jede normale Liege. Nein, sie stand beinahe aufrecht.
Kaum das Kira festgestellt hatte, dass sie sich immer noch im Verließ befand, wurde die Tür geöffnet und der Arzt trat ein.
Wenn Blicke töten könnten, wäre der Arzt wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen. Doch leider konnten sie es nicht und so kam der Mann auf sie zu mit einem mitfühlenden Blick in den Augen. Aber auch dieser Blick konnte ihre Wut nicht mindern.
Der Arzt streckte die Hände nach Kiras Kopf aus, um sie ihr aufzulegen, wie er es immer tat.
Kira drehte den Kopf zur Seite. Mehr Bewegungsfreiheit blieb ihr nicht. Der Rest ihres Körpers war an die Liege gefesselt.
Doch der Arzt verstand und ließ ihr ihren Willen. Er sah auch so, wo ihre Verletzungen waren. Ihre Hände bluteten immer noch, die konnte er verbinden und gegen die Wunden an ihrer Seele konnte er auch so nichts unternehmen.
Kira hatte den Arzt während seiner Arbeit keines Blickes gewürdigt und endlich war er gegangen, aber nicht ohne sie noch einmal mit diesem Blick voll Mitgefühl zu betrachten.
Sie blieb allein in ihrem finsteren Verließ zurück und kämpfte mit den Fesseln.
Bald schon hatte sich der blütenweise Verband um ihre Hände rot gefärbt vom Blut ihrer Handgelenke. Sie wusste, ihr Kampf würde nichts bringen. Sie wusste, sie scheuerte sich nur die Handgelenke auf. Doch diese übermächtige Wut ließ dieses Wissen nicht zu.
Irgendwann musste sie wohl eingeschlafen sein, denn als die Tür erneut geöffnet wurde, fuhr sie aus einem unruhigen Schlaf hoch.
„Gesellschaft für dich“, lachte einer Männerstimme, gab der Person vor sich einen kräftigen Stoß und schmiss die Tür ins Schloss, tauchte das Verließ wieder in dieses ewige Halbdunkel.
Die hereingestoßene Person stürzte, fiel zu Boden und blieb liegen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kira, denn diese Person schien nun wirklich rein gar nichts mit ihrer Wut auf Dragon zu tun zu haben.
„Ja … Nein … Ich weiß nicht“, stammelte der junge, vielleicht zwanzigjährige Mann am Boden und setzte sich auf. Der Mann hatte schwarzes, kurzes Haar – oder jedenfalls glaubte Kira, dass sie schwarz waren. Dieses verdammte Halbdunkel –, blaue Augen und trug einen Anzug. Kira erschrak. Dragons Mann. Doch dann sah sie, dass der Mann kein lila Hemd trug, sondern ein hellblaues mit einer farblich passenden Krawatte. Außerdem sah der Anzug schon reichlich mitgenommen aus. Er war dreckig und hatte einen Riss in der Hose.
Suchend flitzten die Augen des Mannes durch den Raum. Als er Kira endlich entdeckte, keuchte er erschrocken auf.
„Was haben sie mit dir gemacht?“ Er sprang auf und rannte zu Kira.
„Sie wollten nicht, dass ich mich selbst verletzte“, antwortete Kira, doch sie sah, dass der Mann an etwas anderes dachte. Folter! Dieses Wort stand nur allzu deutlich in seinen blauen Augen geschrieben. Sofort begann er, Kira von den Gurten zu befreien.
Als Kira das erste Mal seit Stunden wieder Boden unter den Füßen hatte, sackte sie zusammen. Doch der Mann fing sie auf, führte sie zu einer Wand – weg von der Liege – und ließ sie dort zu Boden gleiten.
Kira lächelte dankbar.
„Wie heißt du?“, wollte er wissen.
„Kira. Und Sie?“
„Du“, widersprach er.
„Wie heißt du?“, wiederholte Kira ihre Frage.
„Max.“
„Wie kommst du hierher?“, fragte Kira schnell, bevor Max die gleiche Frage stellen konnte. Denn sie war sich nicht so ganz darüber im Klaren, ob sie ihm ihre Geschichte erzählen durfte, ob sie ihn damit nicht in Gefahr brachte.
„Ich … ich war in der Bank, wollte Geld abheben für ein Geschenk … für meine Freundin zur Feier des Tages.“
„Was wird denn gefeiert?“, fragte Kira, wollte den Man von seiner Angst ablenken.
„Ich … ich habe heute meine Ausbildung beendet.“ Es kam ihm seltsam vor, dass dieses Mädchen hier in einem Kerker so ohne Angst mit ihm redete.
„Glückwunsch.“, lächelte Kira.
„Danke. Aber ich war zur falschen Zeit dort. Verbrecher überfielen die Bank. Sie haben gesagt, sie lassen mich frei. Aber jetzt … bin ich hier.“
„Keine Sorge, die lassen dich schon noch frei.“ Kira wusste nicht, wie falsch sie mit diesen aufmunternden Worten doch lag.
„Wie bist du hierhergekommen?“, fragte Max.
„Ich …“, fing Kira zögernd an. Doch in diesem Moment wurde die Tür geöffnet und bewahrte Kira so vor einer Antwort.
Drei Männer betraten den Raum. Einer zog Max auf die Beine.
„Du trittst eine Reise an.“
Die zwei anderen blieben abwartend vor Kira stehen.
„Legst du dich freiwillig auf die Liege oder müssen wir dich wieder k.o. schlagen?“, fragte einer höhnisch lächelnd.
Kira betrachtete die zwei mit wütenden Blicken, stand aber doch auf. Sie hatte bereits schreckliche Kopfschmerzen von ihrem letzten k.o.. Sie brauchte nicht noch schlimmere.
Kaum hing sie wieder an der Liege, öffnete sich die Tür erneut und Dragon trat ein. Sofort schoss Kira wütende Blicke wie Pfeile auf ihn ab.
„Ich will mal nicht so sein. Ist schließlich dein erster Auftrag. Ich gebe dir noch eine letzte Chance, ihn anzunehmen.“, gab sich Dragon großzügig.
Doch Kira antwortete mit ihrem unversöhnlichen „Nein.“
„Na gut. Dann musst du mit den Folgen leben. Alles was jetzt passiert, ist allein deine Schuld.“
Kira stellte sich auf Schmerzen, Folter ein. Doch was dann passierte, überraschte sie umso mehr. Ein Fernseher wurde in ihr Verließ geschoben.
„Vergiss nicht, Kira, alles was jetzt passiert ist ganz allein deine Schuld.“
Das Schneegestöber auf dem Bildschirm wurde weniger und langsam erkannte Kira ein Bild. Max! Sie sah eine Nahaufnahme von Max. Sein Blick war verwirrt und doch so voll Hoffnung. Er schien vor der Burgmauer zu stehen.
„Er glaubt, er ist frei“, erklärte Dragon. „Und das wäre er auch, hättest du deinen Auftrag, einen klitzekleinen Einbruch ausgeführt. Aber jetzt …“
Langsam glaubte Kira eine Ahnung von Dragons Plan zu haben und was sie dachte, gefiel ihr gar nicht und dann sprach Dragon aus, was sie dachte.
„Jetzt wird er nie zu seiner Freundin zurückkommen.“
„Nein, das können Sie nicht machen. Er hat damit nichts zu tun“, schrie Kira verzweifelt.
„Er hatte nichts damit zu tun. Bis du dich geweigert hast. Jetzt bedeutet ein Wort von mir seinen Tod.“
„Nein!“, schrie Kira, riss an ihren Fesseln, bäumte sich auf.
Dragon stand da, labte sich an ihrem Schmerz.
Plötzlich wechselte das Bild, sprang von Max mit seinem verwirrt hoffnungsvollen Blick auf die Burgmauer, zeigte einen Scharfschützen.
„Nein!“, schrie Kira erneut, verzweifelter. Sie spürte die Schmerzen nicht, die die Gurte ihr verursachten. „Nein, bitte nicht. Er hat damit nichts zu tun. Ich mache alles, was sie wollen. Nur lassen sie ihn in Ruhe.“, weinte Kira.
„Du wirst alles tun, was ich dir sage. Nur keine Sorge. Aber Strafe muss sein.“
Dragon holte mit einem belustigten Grinsen auf dem Gesicht ein Handy aus der Tasche und leitete mit nur einem einzigen Wort Max‘ Ende ein. „Okay.“
„Nein! Nein! Bitte nicht!“, wimmerte Kira.
Es kam Bewegung in den Scharfschützen. Er zielte, schoss und … traf.
Max fiel auf die Knie, krümmte sich ein letztes Mal und war tot.
„Max! Nein!“, schrie Kira verzweifelt, voller Schmerz. Tränen rannen ihr in Strömen übers Gesicht. Das Mädchen kämpfte gegen die Fesseln.
Kiras Körper wollte das Mädchen schützen und legte den Mantel der Besinnungslosigkeit über ihren Geist. Ohnmächtig sackte das Kind zusammen.
Der Schmerz aber tobte in ihrem Inneren weiter.
Lachend verließ Dragon das Verließ.

~


Endlich erwachte das Mädchen wieder. Dragon saß bereits eine ganze Weile ungeduldig neben ihrem Bett, in das man sie nach ihrer Ohnmacht gebracht hatte.
Ein Blick in ihre Augen zeigte ihm, dass er sie jetzt so weit hatte. Jetzt war sie da, wo er sie haben wollte. Jetzt würde sie alles tun.
„Du wirst in ein Privathaus einbrechen und dieses Buch holen.“ Dragon hielt eine Fotografie von einem alten, in Leder gebunden Buch hoch. „Die Wache vor der Tür wird dich zu Caleb bringen. Er wird dir die Alarmanlage erklären.“
Kira stand wortlos auf, öffnete die Tür und folgte dem Mann.
Auch Dragon erhob sich und lächelte siegesgewiss. Jetzt hatte er eine Waffe geschaffen, von der sein Bruder nie zu träumen gewagt hätte.

Caleb erwartete Kira in einem Raum, der aussah wie ein typisches Klassenzimmer – Tafel, Pult, Bankreihen.
Er lächelte Kira freundlich entgegen und begann mit seinen Ausführungen über die Alarmanlage. Er versuchte, nicht auf ihr Äußeres zu achten. Das Mädchen war aschfahl im Gesicht und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Jeder Lebenswille schien aus Kira gewichen zu sein.
Kurz bevor Caleb fertig war, wurde die Tür geöffnet und Chris trat ein.
„Oh, Entschuldigung. Ich komme später nochmal.“ Mit diesen Worten drehte Chris sich um und wollte wieder gehen. Doch Caleb hielt ihn zurück.
„Nein, bleib hier! Wir sind gleich fertig.“
Erstaunt blieb Chris stehen. Er sah die Verwirrung in Calebs Blick. Doch noch mehr überraschte ihn die Angst, die er darin las.
Doch als Kira sich am Ende der Stunde umdrehte und ging, verstand er die Angst.
„Hast du ihren Blick gesehen?“, fragte Chris ängstlich.
„Ja“, antwortete Caleb traurig. „Es scheint, als hätte sie einen Schock.“ Was hat Dragon ihr nur angetan, in dem einen Tag, den ich sie nicht gesehen habe?, fragte Caleb sich voll Angst.
Vorsichtig fragten sich die zwei bei den anderen Wachen durch, bis sie erfahren hatten, was Dragon Kira angetan hatte.
Da begann Caleb, Dragon zu hassen. Wer konnte einem Kind so etwas antun?

~


Kira legte Dragon das gestohlene Buch wortlos auf den Tisch und verließ den Raum. Das Mädchen war noch immer aschfahl im Gesicht und man sah ihr den Schock noch deutlich an. Doch Dragon dachte erfreut: Seine Schöpfung. Seine Waffe.

~


Mit Erschrecken sah Caleb Kiras Entwicklung. Was hatte Dragon nur getan?
Kira erschien täglich pünktlich zum Training. Doch es war nicht mehr das Kind, welches er vor ein paar Tagen noch unterrichtet hatte. Die Farbe war noch immer nicht in Kiras Gesicht zurückgekehrt und ihr Blick zeigte noch immer den Schock. Das Mädchen gab, wenn es angesprochen wurde, höfliche aber meist einsilbige Antworten. Von sich aus sprach sie kein Wort. Sie hatte sich vollständig in sich zurückgezogen.
Doch Caleb wollte nicht glauben, was er sah. Er wollte nicht glauben, dass das Kind, welches er ins Herz geschlossen hatte, gestorben war. Bei ihrem nächsten Schwertkampf wich er immer weiter zurück bis er mit voller Absicht in den Tümpel fiel.
Als er prustend wieder auftauchte, hatte er gehofft, das Mädchen wenigstens lächeln zu sehen. Doch Kira stand einfach nur mit unbeteiligtem Blick da, wartete.
Mit einem resignierenden Seufzer trat Caleb aus dem Tümpel und der Kampf ging weiter.
Kira brauchte Hilfe. Einen Psychiater. Doch so etwas gab es auf der Burg nicht. Hier lebte nur, wer mit dem Töten zurechtkam. Aber Kira war ein Kind.
Erstaunt registrierte Caleb, dass sich Kiras Kampfstil stark verändert hatte. Kira kämpfte rücksichtsloser. Doch noch augenscheinlicher war der Wandel als er Kira nach Tagen eine Pistole gab. Caleb hatte versucht, die Pistole so lange hinauszuzögern wie möglich. Er hatte Angst vor Kiras Reaktion.
Doch als er ihre Reaktion sah, wünschte er sich fast, Kira wäre weinend zusammengebrochen. Denn ihre Reaktion bestand aus gar keiner Reaktion. Wortlos nahm Kira die Pistole entgegen, ging in das Pappe-Dorf und schoss auf die Menschenbilder.
Traurig schloss Caleb die Augen. Er musste einsehen, dass etwas in Kira unwiderruflich gestorben war.
Und als er die Auswertung des Schießens vorliegen hatte, bekam er Angst. 92,5% Trefferquote. Was hatte Dragon nur getan? In Kira schien nichts mehr zu sein. Sie schien leer zu sein. Sie hatte ihren Lebenswillen, ihren eigenen Willen verloren.
Zusätzlich zum Kämpfen musste Caleb Kira nun auch noch mit theoretischem Wissen ausstatten. Er lehrte Kira alles über Alarmanlagen, Tresore, Waffen. Denn immer häufiger wurde das Kind von Dragon für Einbrüche ausgeschickt.

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„Ich habe einen Auftrag für dich.“
Wortlos hörte sich Kira die Beschreibung ihres Auftrags an und machte sich auf den Weg.

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Einsam und verlassen stand Kira am Straßenrand, wartete darauf, dass sie abgeholt wurde. Sie umschlang sich mit den Armen. Ihre Fingernägel vergruben sich schmerzhaft in ihren Oberarmen. Diese Schmerzen halfen ihr nicht zu denken. Kira sah den Passanten nach. Niemand wusste, was sie getan hatte, was sie tun musste, was sie tun wird.
Angewidert betrachtete das Mädchen ihre Hände. Sie hatte …
Doch da hielt ein schwarzer Jeep vor ihr und Kira stieg ein.
Lange konnte sie sich mit dem Betrachten der Häuser von ihren Gedanken ablenken. Doch dann ließen sie die Stadt hinter sich. Und auf einmal waren da nur noch Felder. Nichts, was sie von ihren Gedanken ablenken konnte. Doch sie durfte nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt.
Ihre Finger krallten sich in ihre Oberschenkel.
Doch dann bemerkte sie es. Mit wunderbarer Regelmäßigkeit – alle 50 Meter – kamen Straßenpflocken und Kira fing an zu zählen.

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„Auftrag ausgeführt“, meinte Kira gefühlslos, drehte sich um und verließ schnellstmöglich Dragons Arbeitszimmer.
Wohin? Nicht in ihr Zimmer. Dort würde man sie sofort finden. Sie wollte nicht, dass sie jemand so sah. Wohin?
Ihre Beine bewegten sich von allein und plötzlich fand sie sich auf dem Übungsplatz wieder. Außer Caleb und ihr war hier nie jemand gewesen.
In den letzten Tagen, Wochen hatte sie nichts gespürt, hatte nur Befehle ausgeführt. Der Schock über Max‘ Schicksal hatte alle Gefühle, alles Denken aus ihrem Körper verbannt. Doch jetzt, jetzt hatte sie etwas getan, was viel schlimmer war.
Weinend brach das Kind zusammen, rollte sich zu einer Kugel, wollte die Außenwelt ausschließen.
Was hatte sie nur getan?
Wieder sah sie die ungläubig aufgerissenen Augen des Mannes, dem sie gerade die Zukunft genommen hatte. Sie hatte ihn umgebracht!
Kaum hatte sie das gedacht, konnte sie ihre Gedanken nicht mehr im Zaum halten.
Wieder stand sie vor dem Haus. Man hatte ihr gesagt, da drin sei ihr Opfer. Man hatte ihn nicht einmal beim Namen genannt. Für diese Männer stellte das Opfer nur eine Sache dar, die beseitigt werden musste. Eine Sache brauchte keinen Namen.
Kira hatte das Haus betreten, ohne einen einzigen Gedanken, war einem geschockten, grauhaarigen Mann, der eine Pistole auf sie gerichtet hatte, gegenübergestanden. Er hatte einen Killer erwartet, aber als er dieses vierzehnjährige Mädchen mit der Waffe in der Hand erblickte, zögerte er.
Kira hatte die Waffe auf ihn gerichtet. In ihr war alles leer, wie auch schon die letzten Wochen seit Max‘ Tod.
Der Mann hatte auf sie gezielt, aber nicht abgedrückt. Er hatte nicht glauben können, dass dieses Kind seinen Tod einleiten sollte.
Endlose Sekunden standen sich die beiden gegenüber, keiner schoss.
Langsam bewegte der Mann die Waffe, ob er schießen oder die Waffe senken wollte, wusste Kira nicht. Doch sie schoss. Die Kugel flog in Zeitlupe durch den Raum. Sie traf den Mann in die Brust. Er taumelte, seine Augen ungläubig aufgerissen. Diese Augen würde Kira nie wieder vergessen können. Dann stürzte er zu Boden und blieb reglos liegen. Blut lief aus der Wunde in seiner Brust, breitete sich rasend schnell über den Fußboden aus.
Kira starrte auf den Mann. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Das Mädchen hatte sich leer gefühlt. Doch jetzt, jetzt war alles wieder da, all die Gefühle und Erinnerungen, die sie seit Max‘ Tod verdrängt hatte.
Und nun lag sie hier auf dem Trainingsplatz und weinte.
Sie hörte ihn kommen und war doch unfähig darauf zu reagieren.
„Kira?!“ Erschrocken lief Caleb auf das am Boden liegende Mädchen zu. Was war geschehen?
„Kira?“ Verwundert ließ er sich neben dem Mädchen zu Boden sinken. Kira weinte! Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Kira weinte tatsächlich! Sie zeigte Gefühle. Erleichtert atmete Caleb auf und zog Kira in seine starken Arme. In dieser Umarmung weinte Kira, den beruhigenden Herzschlag Calebs im Ohr.
Weine nur, dachte der junge Mann. Weine so viel du willst. Morgen wirst du wieder mit einem Lächeln vor die anderen treten, nicht wahr? Also lass deinen Gefühlen freien Lauf … zumindest jetzt …

Irgendwann, als keine Tränen mehr kamen, löste sich Kira sanft aus der Umarmung.
„Entschuldige“, schluchzte Kira, „dass ich dein T-Shirt nass gemacht habe.“
„Sei nicht albern“, lachte Caleb. „So sieht es jetzt wenigstens aus, als hätte ich trainiert.“
Doch Kira lachte nicht, lächelte nicht einmal, sah nur aus rotverquollenen Augen zu Boden.
„Kira“, wurde Caleb wieder ernst. „Was ist geschehen?“
Das Mädchen wollte es nicht, doch die Worte kamen einfach aus ihrem Mund. Sie erzählte von Max‘ Tod, von der Zeit danach und von dem Mord, den sie heute begangen hatte.
Caleb blieb stumm, unterbrach das Mädchen kein einziges Mal, sah, dass es ihr gut tat über diese schrecklichen vergangenen Wochen zu reden.
In ihm selbst aber wuchs der Hass. Wie konnte er dem Kind so etwas antun? Es war schon zu viel, ein Kind auf Raubzüge auszuschicken, aber Mord? Das war zu viel. Sie war vierzehn! Sie war kein Killer.
Langsam aber sicher wuchs in ihm eine Idee heran, die ihm sein Leben kosten könnte.
„Kira, geh in dein Zimmer, zieh dir was warmes, dunkles an und warte dort auf mich.“, befahl Caleb.
Wortlos stand Kira auf und ging.
Traurig sah Caleb ihr hinterher. Was hatten sie bei dem Kind alles kaputt gemacht? Sie gehorchte dem Befehl ohne Fragen zu stellen. Auch wenn der Befehl noch so seltsam war.

~


Nach zwei Stunden – es war bereits dunkel draußen – stand Caleb in Kiras Zimmer.
Wortlos ging der Mann auf Kiras Schrank zu, öffnete ihn, zog ein paar Kleidungsstücke heraus und stopfte sie in den mitgebrachten Rucksack.
Dann griff er nach Kiras Hand, befahl „Leise!“ und zog sie durch die Burg.
Und plötzlich standen sie draußen, außerhalb der Burgmauer.
Verwirrt sah Kira zu Caleb, doch sie sagte nichts, fragte auch nicht. Denn obwohl sie nun wieder denken konnte, Gefühle haben konnte, hatte sie doch gelernt, dass Weigerungen fatale Folgen hatten. Deshalb wartete sie einfach wortlos bis Caleb ihr erklärte, was sie zu tun hatte und sie würde es tun. Sie wollte nicht noch ein Menschenleben gefährden.
„Kira, geh in die Stadt!“ Caleb wies dorthin, wo der nächtliche Himmel durch die Lichter der Stadt erhellt war. „Such deine Familie und leb ein normales Leben. Versuch die letzten Wochen zu vergessen.“
Das Mädchen senkte traurig den Blick. Sie konnte nicht zurück. Ihre Eltern waren tot und an Verwandte, Freunde konnte sie sich nicht erinnern. Aber das würde sie Caleb nicht sagen, denn sie würde nicht gehen. Sie wollte kein weiteres Leben gefährden. Und Caleb würde sterben.
„Aber, du wirst sterben, wenn Dragon, das herausfindet.“
„Nein“, grinste Caleb, hoffte es sah überzeugender aus, als er sich fühlte. „Morgen früh werde ich zu Dragon gehen und ihm erzählen, dass ich dich zum Training abholen wollte, du aber nicht da warst. Du hast also bis morgen früh Zeit dich so gut zu verstecken, dass er dich nicht finden kann. Suche deine Familie, lebe ein normales Leben.“
Mit diesen Worten drückte er Kira den Rucksack, ein Schwert und ein Messer in die Hand.
Auf Kiras erstaunten Blick hin, erklärte Caleb ihr: „Du musst dich verteidigen können bis du in Sicherheit bist.“
Dann gab er ihr einen Schubs. Nach ein paar Schritten wandte sich Kira mit Tränen in den Augen noch einmal um. „Danke.“

~


Als der Morgen graute, hatte sie die Vororte der Stadt erreicht. Kleine Einfamilienhäuschen mit Gärten reihten sich aneinander bis die Häuser schließlich größer wurden und auch die Mauern. Sie war in die Villengegend gekommen.
Immer weiter drang Kira ins Stadtinnere vor, bog wahllos an den Kreuzungen ab und gelangte schließlich in eine heruntergekommene Gegend.
Müde ließ sie sich in einer Gasse an einer Hauswand hinuntergleiten. Sie war erschöpft. Sie war die ganze Nacht gelaufen, war nun seit etwa vierundzwanzig Stunden wach. Schnell war sie eingeschlafen.

~


Schreiend und schweißgebadet schreckte Kira nach nur wenigen Stunden Schlaf hoch. Zitternd setzte sie sich auf, blickte sich panisch um.
Sie brauchte einige Sekunden, um sich aus den Fängen ihrer Träume zu befreien. Sie wusste nicht mehr so genau, was sie geträumt hatte. Und die Erinnerung daran verschwand jede Sekunde mehr. Sie hatte die entsetzt aufgerissenen Augen des Mannes gesehen, den sie umgebracht hatte. Sie wusste noch nicht einmal mehr, wie der Mann ausgesehen hatte. Sie erinnerte sich nur an seine erschreckt aufgerissenen Augen, als er erkannte, was passierte. Aber diese Augen waren nicht das einzige, was sie gesehen hatte. Auch Max war in ihrem Traum und Blut, jede Menge Blut.
Aber die Erinnerung an diesen Traum verblaste immer weiter. Nur die Angst blieb. Diese verschwand nicht. Im Gegenteil, diese Angst war so intensiv, dass Kira nicht mehr ruhig sitzen bleiben konnte.
Schließlich sprang sie auf und lief ziellos durch die Straßen der Stadt. Die Straßen waren voller Menschen. Es schienen immer mehr zu werden je weiter sie in die Stadt vordrang. Sie achtete nicht auf diese, lief einfach immer weiter. Sie wollte, durfte nicht stehen bleiben, nicht zur Ruhe kommen, denn dann kam die Angst. Solange sie in Bewegung war, irgendetwas tat und sei es nur Laufen, konnte sie die Angst verdrängen.
Plötzlich stieß sie mit einem etwa gleichaltrigen Jungen zusammen – braune Haare, beinahe schwarze Augen, wütender Blick, schwarze Kleidung. Kira beachtete ihn nicht wirklich, murmelte nur kurz „Sorry!“ und lief weiter.
Der Junge sah ihr verärgert hinterher, öffnete den Mund und schloss ihn kopfschüttelnd wieder ohne Kira etwas hinterherzurufen.
Das Mädchen lief, lief den ganzen Tag, spürte nicht ihre schmerzenden Füße, ihren knurrenden Magen. Irgendwann – es dämmerte bereits – kam sie wieder in die Vororte.
Vor einem hell erleuchteten Fenster blieb sie stehen und sah sehnsüchtig hinein. Auf dem Tisch war das Abendessen angerichtet – Klöse, Braten und Soße. Doch das war es nicht, was Kiras Blick anzog – ihr wurde zwar bewusst, wie hungrig sie war – aber das war es nicht. Es war die Familie, die ihren Blick auf sich zog. An dem Tisch saß eine etwa vierzigjährige blonde Frau, ein etwa gleichaltriger Mann im dunklen Anzug und ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. Und sie redeten und lachten. Eine intakte Familie. Etwas, was Kira nie mehr haben würde. Schlimmer noch, etwas an das sie sich nicht einmal erinnern konnte. Jetzt, vor diesem Fenster kam sie nicht mehr umhin, sich die Frage zu stellen, die sie so lange verdrängt hatte. Was soll aus ihr werden? Ihre Eltern waren tot. Aber sie konnte auch nicht auf der Straße leben. Irgendwann würde es kalt werden, irgendwann würde der Winter kommen. Was dann?
Lange stand sie vor dem Fenster, sah der Familie zu und dachte nach. Immer wieder kam die gleiche Frage. Hatte sie Verwandte? Schließlich stöhnte sie entnervt auf. Woher sollte sie das wissen? Sie erinnerte sich an nichts! Doch diese Frage ließ sie einfach nicht los. Verwandte wären ihre Rettung. Sie könnte ein normales Leben haben. Aber wie sollte sie diese finden, wenn sie tatsächlich welche hatte.
In Gedanken versunken kramte Kira in ihrem Rucksack, suchte eine Weste. Es wurde langsam kühler. Dabei entdeckte sie unter der Kleidung, von der sie wusste, dass sie darin war, Proviant, holte einen Apfel heraus und bis hinein.
Bald darauf wurde das Licht in dem Haus gelöscht, das sie beobachtet hatte. Sie hatte nichts mehr, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten konnte und die Angst kehrte zurück. Langsam lief sie weiter und war mit den Gedanken immer noch bei der Frage, wie sie ihren möglichen Verwandten finden konnte. Es war schon weit nach Mitternacht, als ihr die Antwort kam. Wieso war sie nicht gleich darauf gekommen? Die Polizei! Sie kannte ihren Namen, wusste wieder, wer sie war. Für die Polizei war es ein Leichtes herauszufinden, woher sie kam. Für die Polizei war es kein Problem ihre Vergangenheit zu finden.
Kira war ganz aufgeregt. Sie konnte zurück in ihr normales Leben. Doch dann kamen ihr Zweifel. Was, wenn sie gar keine Verwandten hatte? Was dann? Was würde die Polizei dann mit ihr machen? Kinderheim?
Sie überlegte lange. Wollte sie dieses Risiko eingehen?
Doch selbst ein Kinderheim bot Aussicht auf ein normales Leben jedenfalls ein Besseres als sie jetzt in Aussicht hatte. Aber kaum war dieser Zweifel beiseite gefegt, kam schon der nächste. Wie sollte sie der Polizei erklären, wo sie die letzten Wochen, Monate war? Sie konnte doch nicht einfach reingehen, sagen: „Entführungsopfer meldet sich zurück!“ und erwarten, dass die Polizei ohne Fragen zu stellen, nach ihrer Vergangenheit suchte. Das würde nicht geschehen und das wusste sie. Aber sie konnte ihnen auch nicht sagen, was passiert war. Klar, musste sie ihnen erzählen, dass sie ihre Erinnerung verloren hatte. Aber sie durfte ihnen nichts von der Ausbildung, dem Mord, vor allem nicht von dem Mord erzählen. Aber was dann?
Müde gähnte Kira. Sie hätte sich gern hingelegt und etwas geschlafen. Aber sie konnte nicht. Sie hatte viel zu viel Angst, Angst vor den Träumen. So lief sie weiter, grübelte darüber nach, was sie der Polizei erzählen durfte. Eigentlich nichts, erkannte sie niedergeschlagen. Nichts von dem, was in den letzten Wochen passiert war, war für die Ohren der Polizei geeignet.
Kira überlegte hin und her und schließlich hatte sie eine Geschichte, die nicht allzu viel Lüge enthielt. Sie ließ einfach nur sehr, sehr viel weg.
Zufrieden machte sie sich auf ins Stadtzentrum. Sie wusste nicht, wieso, aber sie glaubte einfach, dass sie dort eine Polizeistation leichter finden würde, als hier draußen in den Vororten.
Das Mädchen lief gerade durch einen Stadtteil, der ganzen nach einem Industriegebiet aussah. Riesige Hallen reihten sich aneinander, an manchen standen Firmennamen, an anderen nicht. Einige wirkten alt und verkommen, andere dagegen schienen gerade erst gebaut worden zu sein.
Plötzlich wirbelte Kira herum. Sie hatte schon seit längerer Zeit so ein seltsames Gefühl. Es fühlte sich an als würden Tausende kleine Ameisen ihren Rücken hinunterlaufen. Anfangs hatte sie es nicht ernst genommen, hatte es auf ihre Angst geschoben. Dann hatte sie es ernst genommen, aber nicht gewusst, was es bedeuten konnte. Dennoch hatte sie vorsichtige Blicke um sich geworfen. Gerade als sie dachte, ihre Angst spiele ihr einen Streich, glaubte sie aus den Augenwinkeln etwas zu erkennen. Sie wirbelte herum. Doch so sehr sie auch suchte, sie sah nichts, sie sah nicht die Gestalt, die in einer finsteren Gasse wartete.
Langsam drehte Kira sich um, warf noch mal einen Blick zurück und ging schnell weiter Richtung Innenstadt, oder jedenfalls in die Richtung, in der sie die Innenstadt vermutete.
Geräuschlos trat die Gestalt aus dem Schatten und sah ihr hinterher. Dann wandte sie sich um und ging in entgegengesetzte Richtung davon. Das Licht einer Straßenlaterne erhellte kurz sein Gesicht. Hätte Kira sich umgesehen, hätte sie den Jungen erkannt, in den sie heute schon einmal hineingerannt war.

~


Wie vom Donner gerührt blieb Kira vor dem Schaufenster eines Elektroladens stehen. Die Geschäfte öffneten gerade, langsam füllte sich die Einkaufsstraße vor ihr. Aber das interessierte Kira nicht. Ihr Blick hing wie gebannt an dem Fernseher. Das war sie! Sie war im Fernsehen! Ihr Bild flimmerte nun über Tausende von Bildschirmen. Schnell warf sie einen Blick hinter sich. Sah sie jemand an? Erkannte sie jemand?, war ihr erster Gedanke. Seltsamerweise machte das ihr Angst. Erst ihr zweiter war: Sie wurde doch gesucht!
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann betrat sie schnell den Laden. Sie musste verstehen, was der Nachrichtesprecher sagte. Das Bild veränderte sich, wechselte von dem Nachrichtensprecher zu einem Reporter. Dieser stand vor einem ausgebrannten Haus. Nur noch ein kleines Stück des Erdgeschosses stand, der Rest war eingefallen.
„Vor ein paar Wochen berichteten wir bereits von dem Tod von Herrn und Frau W. Nun stehe ich hier vor ihrem gestern in den frühen Morgenstunden ausgebrannten Haus. Zufall? Nein. Die Polizei geht neuen Hinweisen nach. Alles deutet darauf hin, dass der Autounfall, bei dem Herr und Frau W. gestorben sind, kein Unfall war. Wochenlang hatte die Polizei nach der Tochter Kira W. gesucht. Doch nicht gefunden.“
Wieder flimmerte Kiras Bild über die Mattscheibe. Eingehend betrachtete das Mädchen ihr Spiegelbild im Schaufenster. Naja, die Chance, dass sie erkannt wurde, war nicht sonderlich groß. Sie hatte sich verändert.
Auf dem Foto im Fernsehen war sie noch recht pummelig. Das war sie auch noch, bis vor ein paar Wochen. Jetzt war der Babyspeck weg, dahingeschmolzen beim Training.
Das Bild wechselte zurück zu dem Reporter.
„Jetzt gibt es Erkenntnisse, dass Kira für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war. Nachbarn berichteten, dass das Kind kurz vor dem Unfall einen heftigen Streit mit ihren Eltern hatte. Außerdem gab die Polizei nun bekannt, dass ein Zeuge das Mädchen vom Unfallort flüchten sah. Passanten wollen das Kind nun gestern an ihrem Elternhaus gesehen haben, kurz bevor das Haus in Flammen aufging. Die Polizei fahndet jetzt nach dem Kind wegen Brandstiftung und Mord.“
Erneut erschien Kiras Bild.
„Kira ist vierzehn Jahre alt, hat lange braune Haare, dunkle Augen und ist etwa 1,60 m groß. Informationen über den Aufenthaltsort des Mädchens nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Doch es wird gewarnt, sich dem Mädchen zu nähern. Sie ist gefährlich.“
Das Bild verschwand und eine Wetterkarte tauchte auf. Jetzt erst wurde Kira das ganze Ausmaß des Geschehens bewusst. Wie in Trance lief sie am Ladenbesitzer vorbei, der eben kam und verließ den Laden. Der Mann sah verwirrt dem Mädchen hinterher, dann auf die Wetterkarte und ging schließlich kopfschüttelnd in das Lager.
Sie war ein gesuchter Mörder. Sie konnte nicht mehr zur Polizei. Diese würden sie verhaften.
Plötzlich erkannte sie mit erschreckender Klarheit, dass sie nun auf sich allein gestellt war. Es gab keinen auf der Welt, an den sie sich wenden konnte. Zum einen erinnerte sie sich nicht an Freunde oder Verwandte und auch die Polizei konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sie war ganz allein.
Es war als hätte dieses Bericht, alle Energie aus ihr gesogen. Kraftlos sank sie gegen die Hauswand, ließ sich zu Boden gleiten. Ihr Blick leerte sich. Völlig aphathisch saß sie da.
Wer hatte das getan? Wer hatte ihr Leben zerstört? Ihre Eltern hätten sie durchaus umbringen können. So schmerzhaft dieser Gedanke auch war. Sie erinnerte sich ja an nichts. Aber ihre ersten Entführer hatten ihre Eltern als Kollateralschaden bezeichnet. Das klang eher danach, als wären ihre Eltern bei ihrer Entführung getötet worden. Aber mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen. Doch der Rest der Nachrichten war definitiv gelogen. Es konnte keinen Zeugen geben, der sie vom Wagen weglaufen sah. Denn sie war entführt worden. Auch den Brand konnte sie nicht gelegt haben und dennoch gab es einen Zeugen, der sie gesehen haben will. Wieder eine Lüge! Aber wieso? Als das Haus brannte, war sie … ja wo? Sie überlegte. Gestern, frühe Morgenstunden. Da war sie schon in der Stadt. Das musste … kurz nachdem Dragon erfahren hatte, dass sie geflohen war, passiert sein! Dragon!, dachte Kira erbost. Er war es! Er wollte verhindern, dass sie in ihr altes Leben zurückkehrte. Er hatte es geschafft. Sie konnte nicht mehr zur Polizei gehen. Sie konnte sich nirgends Hilfe suchen. Sie war allein. Jetzt blieben ihr nur noch zwei … nein drei Möglichkeiten. Sie konnte zur Polizei gehen. Doch sie würden ihr nicht glauben. Also würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis landen. Keine guten Aussichten. Möglichkeit zwei war aber auch nicht besser. Zu Dragon zurückkehren. Sie wollte nicht einmal daran denken, was dann passieren würde. Bleibt also nur noch Möglichkeit drei. Aber auch die fand Kira nicht wirklich erstrebenswert. Ein Leben auf der Flucht.
Sie stand auf und schlug wütend mit der Faust gegen die Mauer. Das Kind spürte die Schmerzen in ihrer Hand nicht, die Wut überdeckt alles. Dragon hatte ihr Leben zerstört. Schon wieder! Sie würde ihr Leben lang auf der Flucht sein. Möglichkeit eins und zwei kamen für sie nicht in Betracht. Sie würde nicht zu Dragon zurückgehen. Sie würde kein Killer werden. Polizei? Nur über die Polizei kam sie in ein normales Leben. Aber das könnte sie erst in fünfzehn Jahren machen.
Kira glaubte sich zu erinnern, dass Mord nach fünfzehn Jahren verjährt. Aber sicher war sie sich nicht. Das müsste sie erst noch einmal nachprüfen. Doch dafür hatte sie ja jetzt fünfzehn Jahre Zeit. Fünfzehn Jahre auf der Flucht. Keine rosigen Aussichten und dann war da immer noch Dragon.
All diese Gedanken quälten sie, als sie durch die Straßen lief.

~


Zwei Tage lief sie nun schon durch die Stadt. Ihr Proviant ging langsam zur Neige und die Müdigkeit drohte sie zu übermannen.
Ein einziges Mal hatte sie sich für ihr dürftiges Essen hingesetzt und war prompt eingedöst. Sofort war sie gefangen von den Bildern – von diesen schrecklichen Augen, von Max und jeder Menge Blut. Augenblicklich schreckte Kira wieder hoch und lief weiter, verfolgt von ihren Vorwürfen und einer Angst, die wieder an Intensität gewonnen hatte.
Daraufhin hatte sie sich kein einziges Mal mehr gestattet zur Ruhe zu kommen, war immer weitergelaufen.
Nun lief sie schon seit zwei Tagen und war zu Tode erschöpft. Ihre schmerzende Füße schienen Zentner zu wiegen. Sie brachte sie kaum mehr vom Boden weg. Und auch die Müdigkeit forderte ihren Preis. Kira nahm um sich herum nichts mehr war, sie schleppte sich einfach immer weiter. Schritt für Schritt durch die finsteren Gassen. So bemerkte sie auch nicht die Gestalt, die ihr schon seit einiger Zeit folgte.
Kira stolperte, rappelte sich mühsam wieder hoch und torkelte weiter. Sie bemerkte nicht, dass sie sich direkt in einen Hinterhalt schleppte.
Plötzlich sprangen zu ihrer Rechten vier Männer aus einem Innenhof. Kira zeigte keine Reaktion, sie war zu müde, um zu erschrecken, zu müde, um wahrzunehmen, was passierte.
Schnell waren die vier neben ihr, zwei griffen nach ihren Armen und hielten sie mit eisernem Griff fest.
Da erwachte Kira. Adrenalin strömte durch ihren Körper, gab ihr Kraft, die sie in ihrer Verfassung nicht mehr haben durfte. Sie erstaunte einen ihrer Angreifer, den auf ihrer rechten Seite, damit, dass sie ihm mit aller Macht auf den Fuß trat und ihm dann ihren Arm entriss. Mit dem anderen wurde sie nicht so leicht fertig. Er war auf ihren Angriff vorbereitet. Sie täuschte einen Schlag auf sein Gesicht an, änderte im letzten Moment die Richtung und schlug auf den Arm, der sie festhielt. Der Angreifer hatte sich in Erwartung eines Schlags ins Gesicht weggedreht und war zu langsam, um auf ihr verändertes Ziel zu reagieren. Mit einem Schmerzensschrei löste er seinen Griff und Kira war frei. Doch die Freude währte nur kurz. Noch bevor sie zur Flucht ansetzen konnte, wurden ihr von hinten zwei starke um ihre Brust geschlungen, hielten sie fest, drückten die Luft aus ihren Lungen. Doch Kira gab nicht auf. Sie wusste, wenn ihr die Flucht nicht gelang, kam sie zurück zu Dragon. Schwungvoll ließ sie ihren Kopf nach hinten krachen, dicht gefolgt von einem männlichen Stöhnen. Augenblicklich lockerte der Angreifer seine Umklammerung, taumelte ein paar Schritte nach hinten. Kira kam in ihrer Verzweiflung gar nicht in den Sinn, dass ein Schwert an ihrer Seite baumelte. Sie wusste nur eins, sie musste hier weg. Erneut setzte sie zur Flucht an, erneut wurde sie daran gehindert. Hart traf sie etwas im Nacken, ließ sie unsanft zu Boden stürzen. Kira kämpfte gegen die drohende Ohnmacht.
„Vorsicht, wir wollen sie doch nicht verletzen.“, hörte das Mädchen einen Mann in ihrer Nähe sagen.
Doch dann hatte sie verloren. Sie driftete in die Besinnungslosigkeit ab. Alles wurde schwarz.
Die Gestalt, die Kira verfolgt hatte, trat aus dem Schatten, in dem sie gewartet und alles beobachtet hatte. Es war wieder der braunhaarige Junge, in den sie zu Beginn ihrer Flucht hineingerannt war.
„Wer ist das?“
Die vier Angreifer fuhren kampfbereit herum, erkannten den Jungen und entspannten sich etwas. Der Mann, der eben schon gesprochen hatte, antwortete: „Das ist Kira Walker.“ Er kramte in seiner Tasche, suchte einen Steckbrief heraus, übergab ihm den Jungen. Dann drehte er sich wortlos um und ging in die Nacht davon. Einer, der Männer warf sich Kira über die Schulter und sie folgten dem Mann.
Verwirrt blieb der Junge zurück, starrte auf den Zettel in seiner Hand. Einen Steckbrief für diese Ausreiserin?
Erschrocken sah er auf, blickte den Männern hinterher. Was er gerade gelesen hatte, ließ ihn zweifeln. Tod oder Lebendig! Sollte er … Nein, das ging ihn nichts an.
Wortlos drehte er sich um und verschwand in der Nacht.

~



Blut … Augen … Kugeln … Blut … Max …
Panisch fuhr Kira aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz hämmerte, als wolle es aus ihrer Brust springen.
Angst, Angst, Angst. Das erste, was Kira in den ersten paar Augenblicken wahrnahm, war Angst, die keine anderen Gedanken zuließ.
Erst dann sah sie sich irritiert um. Müsste sie nicht eigentlich auf der Straße sein? Wo war sie jetzt?
Da fiel ihr alles wieder ein. Es war als würde ein Band zurückgespült. Schmerz … Kampf … Männer … Straße …
Erschrocken fuhr sie hoch. Sie spürte ein dumpfes Pochen in ihren Nacken und wunderte sich kurz, dass sie nicht mehr spürte. Doch bald würde sie feststellen müssen, dass das Pochen immer mehr an Intensität gewinnen und in unerträglichen Kopfschmerzen Gipfeln würde.
Jetzt sah sie sich genauer um. Sie saß in einem Bett mit weicher Matratze und rosa Bettwäsche. Kira schüttelte es. Rosa war ja mal gar nicht ihre Farbe. Doch das Bett war bequem. Sie ließ ihren Blick weiter schweifen. Aber sehr viel mehr zu sehen gab es nicht. Um das Bett herum war an allen drei Seiten noch etwa drei Meter Platz und dann kam bereits eine graue Betonwand ohne Fenster. Eine Neon-Röhre hing von der Decke und spendete flackernd Licht.
Panik loderte in ihr auf. Doch dann entdeckte sie in dem Grau der Wand eine ebenfalls graue Tür.
Noch einmal warf sie einen Blick durch den Raum. Doch mehr gab es nicht zu sehen.
Mein Rucksack? Meine Waffen?, fiel es ihr siedenheiß wieder ein. Doch nichts davon, war in diesem Raum. Sie griff sich an den rechten Knöchel, um sich zu überzeugen, dass auch der Dolch weg war, den sie dort festgebunden hatte. Doch auch dieser war verschwunden.
Niedergeschlagen ließ sie sich an die Wand sinken und schloss die Augen. Was sollte sie nun tun? Jetzt, da sie ganz wehrlos war? Sie wollte nicht zu Dragon zurück. Aber wie sollte sie es verhindern? Sie war allein, hatte keine Waffen. Sie war nur ein kleines, vierzehnjähriges Mädchen. Vielleicht, überlegte sie, war der Überraschungsmoment auf ihre Seite. Aber was nutzte ein Überraschungsmoment gegen eine Übermacht an Feinden? Und was nutzte es, sich darüber Gedanken zu machen, wenn sie in diesem Raum festsaß?
Sie öffnete die Augen und krabbelte aus dem Bett. Ihre Füße schmerzten wegen dem Muskelkater. Aber schlimmer war ihr Kopf. Es fühle sich an, als wäre eine Schar wütender Zwerge mit Hämmern in ihrem Kopf freigelassen worden, die jetzt alles kurz und klein schlugen.
Auch wenn sie nicht glaubte, dass das was sie jetzt vorhatte, gelingen würde, war sie es sich doch wenigstens schuldig es zu probieren.
Zittrig, jeden Schritt bedacht setzend, keine ruckartigen Bewegungen lief sie die paar Schritte zur Tür und drückte die Klinke herunter.
Erschrocken sog sie die Luft ein, als die Tür lautlos aufschwang.
Was ist das für eine Entführung?, fragte sie sich verwirrt. Wieso war die Tür nicht abgeschlossen?
Vorsichtig spähte sie durch den Spalt und erschrak erneut. Lässig an die Wand gelehnt, einen Fuß an derselben abgestützt, stand da ein etwa dreißigjähriger Mann. Jetzt stieß er sich von der Wand ab, sagte nur: „Folge mir!“ und ging.
In ihrer Verwirrung konnte Kira nichts anderes als dem Befehl Folge zu leisten. Diese Entführung war so komplett anders, als ihre letzte. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es konnten wahrscheinlich die wenigsten von sich behaupten zweimal gekidnappt worden zu sein. Im Höchstfall war es eine und dabei blieb es. Doch Kira war innerhalb kürzester Zeit mehrmals entführt worden. Sollte man Dragon als Entführung dazurechnen?
Doch dann wandte Kira ihre Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zu. Unverhohlen sah sie sich in dem Raum um. Das kleine Zimmer stand inmitten einer riesigen Halle. Am einen Ende der Halle entdeckte sie ein Tor, groß genug für einen LKW. Doch zwei grimmig dreinblickende Männer in schwarzen Lederjacken standen davor. Also gab Kira ihren Fluchtplan gleich wieder auf. An diesen Typen würde sie nicht vorbeikommen, nicht ohne ihre Waffen. Und sie wusste schließlich auch nicht, was hinter diesem Tor kam. Was wenn dort nicht die Freiheit war, sondern nur eine weitere Halle? Die Fenster waren zu hoch. Sie konnte nichts sehen. Das wenige, was sie erblickte, gab ihr keine Auskunft. Sie sah nur einen schwarzen Streifen. Das konnte jetzt bedeuten eine weitere dunkle Halle oder es war eben dunkel draußen.
Entmutigt sah Kira wieder nach vorne. Sie entdeckte eine kleine Nische – vielleicht zwei mal drei Meter groß und gleich daneben ein weiteres Tor. Es stand einen Spalt breit offen. Ihr Führer ging zielstrebig darauf zu und schob es mit einem kräftigen Schwung ganz auf. Dahinter empfing Kira ein Stimmengewirr. So leer wie die erste Halle war, so voll war die zweite. Aber mit nichts von dem was man vermutet hätte. Kira hatte Maschinen und Arbeiter erwartet. Doch was sie sah, schockierte sie mehr als es sollte. Was Kira sah, war eine … Wohnung. Das Mädchen konnte es nicht anders beschreiben. Gleich rechts neben der Tür war eine Küchenzeile. Eine junge, blonde Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren stand darin und kochte. Es roch lecker. Kira konnte nicht verhindern, dass ihr Magen leicht grummelte. Wie lange war sie bewusstlos? Sie wusste es nicht.
Ihr Blick glitt weiter durch die Halle. Überall verteilt standen Tische, Stühle, Sofaecken, Fernseher, sogar ein Bücherregal konnte Kira entdecken. Männer und Frauen aller Altersgruppen saßen herum und redeten.
Am anderen Ende der Halle sah Kira auf einem kleinen Podest einen weiteren Tisch, an dem zwei Personen saßen. Die eine Person saß auf einer Art Thron mit rotem Stoff gepolstert, die andere auf einem ganz normalen Stuhl.
Der Mann, der Kira hierher geführt hatte, hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt und die Halle schon zur Hälfte durchquert, als ihm auffiel, dass seine Gefangene fehlte. Er drehte sich um und blickte ihr auffordernd entgegen.
Langsam schloss Kira zu ihm auf und sah sich währenddessen genau um. Ihr entgingen dabei nicht die Blicke, die ihr von allen Seiten zugeworfen wurden. Der Großteil davon war ganz offensichtlich neugierig. Aber sie sah auch Emotionen, die sie nicht verstand. Hass und Angst. Wieso?
„Ah, endlich aufgewacht!“
Erschrocken stellte Kira fest, dass sie das kleine Podest bereits erreicht hatten.
Ein junger Mann, etwa dreißig, mit schiefem Grinsen auf den Lippen, hatte sie angesprochen. Er saß auf dem thronähnlichen Stuhl.
„Was?“, fragte Kira verwirrt.
„Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr aufwachen.“ Dabei warf er dem Mann neben sich einen finsteren Blick zu.
Dieser senkte beschämt den Kopf. Der Mann war älter, ging bereits auf die fünfzig zu, hatte schwarze höchstens drei Millimeter lange Stoppeln auf dem Kopf und kam Kira seltsam bekannt vor. War er bei dem Überfall dabei gewesen? Sie war sich nicht sicher.
Der junge Mann strich sich das hellbraune Haar aus dem Gesicht und sah sie aus seinen blauen Augen an, als er sagte: „Aber jetzt bist du ja wach.“ Er klang erleichtert, was Kira noch mehr verwunderte.
„Wie lange?“, fragte Kira. Sie spürte keine Angst. Genaugenommen spürte sie außer ihren Kopfschmerzen nichts. Im Moment fühlte sie sich leer, überrumpelt von der Situation.
„Zwei Tage“, antwortete der ältere Mann. Diese Stimme! Nun war sich Kira sicher, dass er bei dem Überfall dabei gewesen war. Sie erinnerte sich an seine Stimme.
„Setz‘ dich, Kira. Wir wollen über deine Zukunft reden.“, forderte sie der junge Mann auf.
Zögerlich betrat Kira das Podest und nahm den Männern gegenüber Platz. Ihre Zukunft? Daran wollte sie eigentlich nicht denken. Denn die würde ihr nicht gefallen. Da war sie sich sicher.
„Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Train. Lord Train. Und das ist mein Vertrauter Ismael. Ich frage mich, ob du weißt, dass Dragon dich per Steckbrief sucht?“
Unbeeindruckt sah Kira Lord Train an.
Train wartete kurz auf Antwort. „Anscheinend.“, stellte er fest. „Wieso sucht jemand wie Dragon nach einem kleinen Mädchen? Verrätst du es mir?“
Kira schwieg weiterhin.
„Willst du nicht reden? Ich habe noch mehr Fragen. Wieso gibt es zwei Steckbriefe von dir mit unterschiedlichen Beträgen?“
„Was?“, entwich es Kira ungläubig. Doch sie schalt sich sofort einen Dummkopf. Das hätte sie sich denken können. Sie war jetzt für Dragon wertvoller geworden, jetzt, da sie mit der Ausbildung begonnen hatte.
Lord Train machte eine fordernde Handbewegung und sofort kam ein Mann mit einem Stapel Papiere angelaufen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Kira, dass es ich um Steckbriefe handelte.
Train suchte eine Weile, bis er dann zwei Steckbriefe herauszog und vor Kira legte. Ihre Steckbriefe! Sie war Dragon mittlerweile 20.000 wert, stellte Kira verwundert fest. Das war jede Menge Geld. War sie ihm wirklich so wichtig?
Schnell verdrängte sie diesen Gedanken wieder. Denn er gefiel ihr nicht.
„Was geschieht jetzt mit mir?“, fragte das Mädchen statt eine von Lord Trains Fragen zu beantworten. Obwohl sie wusste, was geschehen würde, wollte sie es aus seinem Mund hören.
„Ich weiß noch nicht. Das hängt von deinen Antworten ab.“
Kiras Augen verengten sich verärgert. Aber nur kurz, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
Was für ein seltsames kleines Mädchen. „Also, wieso bist du Dragon unterschiedlich viel wert?“
„Vielleicht hat er mich ja nicht gefunden und hofft jetzt, dass es mit einer höheren Belohnung besser klappt.“, antwortete Kira. Kurz fragte sie sich, wieso sie so frech war, wieso sie keine Angst hatte. Angst wäre in dieser Situation das Normalste auf der Welt und sie legte sich furchtlos mit einem Lord an. So etwas nannte sich Dummheit, vor allem wenn ihr Leben in den Händen des Lords lag.
Ähnliche Gedanken schienen Lord Train zu beschäftigen. „Vermutungen anstellen kann ich selbst und habe es bereits zur Genüge getan. Darunter war auch diese. Doch jetzt möchte ich die Wahrheit wissen.“ Er klang etwas verärgert.
Kira spürte förmlich wie sich die Stimmung veränderte. Anstelle des fröhlichen Geplappers, das bis jetzt die Halle erfüllt hatte, trat nun gespenstische Stille ein. Alle schienen die Luft anzuhalten. Dem Mädchen entging auch nicht, dass Ismaels Hand zu dem Schwertknauf huschte, der gerade noch über den Tischrand lugte.
Es war wohl besser zu reden, dachte sie. Wenigstens ein bisschen.
„Dragon sucht mich bereits das zweite Mal. Ich wurde bereits einmal zu Dragon gebracht. Und nun bin ich nicht zu ihm zurückgekehrt, weil Ihr mich entführt habt, Lord Train.“ Kira hoffte, dass Dragon so angsteinflößend war, dass ihre Drohung Wirkung zeigte und Lord Train sie gehen ließ. Natürlich könnte ihre Drohung auch nach hinten los gehen, wenn Train sich nun entschließt, sie erst recht zu Dragon zu bringen.
Aber Lord Train schien ihre Drohung völlig kalt zu lassen.
„Was will Dragon von dir?“, fragte der Mann weiter.
„Das müssen Sie Ihn schon selbst fragen.“ Das würde Kira ihm nicht verraten. Wer weiß, auf was für Ideen dieser Mann kommen könnte, wenn er herausfand, was Dragon ihr angetan hatte.
Doch Lord Train schwieg, schwieg so lange bis Kira schließlich noch sagte: „Ich weiß es nicht. Er redet nicht mit mir.“
Das schien den Lord zufrieden zu stellen.
„Was wolltest du in der Stadt?“
Kira konnte nicht verhindern, dass sie mit einem tiefen, lautlosen Seufzer die Augen schloss. Dies blieb Lord Train nicht verborgen. Doch eben diese Frage konnte sie nicht beantworten, nicht ehrlich jedenfalls.
„Das kann ich nicht sagen.“
„Nicht?“, fragte Lord Train verwirrt.
Kira schüttelte den Kopf.
„Auch nicht, wenn ich dich foltern lasse?“
Das Mädchen verbarg ihr Erschrecken so gut es ging und es schien ihr zu gelingen. Denn Train hob verwirrt die linke Augenbraue.
„Verstehe“, sagte er langsam. „Dann lässt du mir gar keine andere Wahl. Du bist viel zu geheimnisvoll als das ich dich wieder gehen lassen könnte. Du wirst bei mir bleiben bis ich deine Geheimnisse gelüftet habe.“
„Was?“, entfuhr es Kira erstaunt. Der Lord hatte sie vollkommen überrumpelt. Sie hatte fest damit gerechnet zu Dragon zurück kehren zu müssen. Doch das?
„Du wirst mein Gast sein, bis du mir von deinen Geheimnissen erzählst. Du darfst dich in diesen zwei Hallen frei bewegen. Nur verlassen darfst du sie nicht.“
Kira waren ihre Gedanken wohl sehr genau anzusehen, denn Lord Train lachte auf.
„Diese Entscheidung scheint dich wohl sehr zu verwirren. Aber es ist ganz einfach. Du birgst ein Geheimnis, das spüre ich, und Dragon will dich und ich wische meinem alten Widersacher nur zu gern etwas aus.“
„Lord Train, es wird Zeit“, mischte sich Ismael ein.
„Fühl dich wie zu Hause, Kira. Wir unterhalten uns später weiter. Entschuldige mich nun, ich habe noch einen weiteren Termin.“
Mit diesen Worten stand Lord Train auf und verließ, dicht gefolgt von Ismael die Halle.
Kira blickte ihnen zutiefst verwirrt hinterher, starrte auch noch lange, nachdem die zwei verschwunden waren, auf das Tor.
Sollte sie jetzt erleichtert sein?, fragte sie sich. Sie musste nicht zu Dragon zurück, wurde nicht in Ketten gelegt, wurde aufgefordert, sich wie zu Hause zu fühlen. Was sollte das?
„Hast du Hunger?“
Erschrocken zuckte Kira zusammen. Die junge, blonde Frau, die das Mädchen zuvor kochen gesehen hatte, stand vor ihr. Sie hatte die Frau nicht kommen sehen, obwohl sie die ganze Zeit in diese Richtung geblickt hatte.
Doch die junge Frau verstand ihr Erschrecken falsch. „Du musst keine Angst haben. Es wird dir nichts geschehen. Komm!“
Die Frau streckte ihr die Hand hin, doch Kira war unfähig sich zu rühren. Die Situation kam ihr so unwirklich vor. Das kann nur ein Traum sein., war sich Kira sicher. So etwas passierte nicht im normalen Leben. Aber was war schon normal in ihrem Leben?
Da sie sich noch immer nicht rührte, griff die Frau kurzerhand nach Kiras Arm und zog sie mit.
„Wie heißt du?“, fragte die Frau mit freundlichem Lächeln, als sie mit Kira Richtung Küchenzeile ging.
Das Mädchen nannte ihren Namen, obwohl sie fast sicher war, dass jeder in diesem Raum wusste, wer sie war.
„Freut mich dich kennen zu lernen, Kira. Ich bin Emily. Bitte nimm es meinem Bruder nicht krumm, dass er dich einfach hat sitzen lassen. Aber er ist ein viel beschäftigter Mann musst du wissen.“
„Ihr Bruder?“ Hörten die Überraschungen den heute gar nicht mehr auf?
„Ja, mein Zwillingsbruder.“
Mittlerweile waren sie in der Küche angekommen. Die zweifarbigen Möbel – gelb und grün – wirkten schon etwas älter, aber sie sahen noch relativ gut aus.
Emily trat vor einen Topf und schöpfte Suppe.
„Hier! Iss! Du hast doch bestimmt Hunger.“ Emily stellte den Teller auf einen nahegelegenen Tisch und nahm Platz.
Ihr Bauch knurrte und dennoch besah sich Kira zuerst zweifelnd die Suppe. Es war eine Nudelsuppe. Naja, wohl eher viel Nudeln mit wenig Suppe. Zögerlich nahm das Mädchen einen Löffel. Sie spürte Emilys fragenden Blick.
„Gut.“, lobte Kira, weil sie glaubte, dass wollte die Frau hören und tatsächlich huschte ein Lächeln übers Gesicht der Frau.
„Das freut mich.“
Schweigend aß sie den Teller leer. Sie hatte wirklich großen Hunger.
Sie spürte wie Emily sie genau betrachtete, doch sie achtete nicht darauf. Sie sah sich ihrerseits in der Halle um. Noch viel zu viele Blicke hingen an ihr, beobachteten sie. Oft hörte sie ihren Namen fallen. Kira fühlte sich mit jeder Minute unwohler.
„Darf … darf ich in die andere Halle gehen?“, fragte das Mädchen letztendlich, als sie es nicht mehr aushielt.
„Aber natürlich, Kira. Du darfst überall hingehen, solange du diese zwei Hallen nicht verlässt. Du musst nicht erst um Erlaubnis bitten.“
Mit einem müden Lächeln stand Kira auf und verließ die Halle. Sie hatte fest damit gerechnet, dass ihr jemand als Aufpasser folgen würde. Doch dem war nicht so.
Unschlüssig stand sie in der leeren Halle und sah sich um. Die zwei Lederjacken-Typen standen immer noch vor dem Tor und rührten sich nicht. Ansonsten war die Halle immer noch leer.
Kurz überlegte sie wieder in den Raum mit dem Bett zurückzukehren. Doch allein der Gedanke machte ihr Angst. Der Raum war so klein, so beängstigend klein. Sie glaubte nicht, dass sie schon jemals unter Platzangst gelitten hatte. Doch in diesem Raum könnte sie es bekommen.
Noch einmal warf sie einen Blick durch die Halle. Schließlich blieb er an der Nische neben dem Tor zu Halle 2 hängen.
Kira setzte sich in eine Ecke, zog die Beine an den Körper und hing ihren Gedanken nach. Ihre Kopfschmerzen hatten mittlerweile einen Punkt erreicht, der kaum mehr auszuhalten war. Immer noch hörte sie die Stimmen aus Halle 2, als würden die Leute neben ihr stehen. Traurig schloss sie die Augen und hörte zu, wie Vermutungen über sie angestellt wurden, über ihr seltsames Verhalten.
Doch irgendwann wurde das Mädchen müde. Aber sie kämpfte wie gewohnt dagegen an. Sie wusste, sie wäre nie hier gelandet, wenn sie nicht so müde gewesen wäre. Wäre die Müdigkeit nicht gewesen, wäre sie nicht so unvorbereitet in den Hinterhalt gelaufen. Sie durfte nicht mehr gegen die Müdigkeit ankämpfen, damit schadete sie sich nur sich selbst. Kira wusste auch, dass sie ihre Vergangenheit nicht davonlaufen konnte. Wenn nicht im Schlaf würde sie eine andere Möglichkeit finden, sie heimzusuchen.
Und obwohl Kira das wusste, kämpfte sie doch noch etwas gegen den Schlaf an, bis er sie dann doch übermannte.

~


Kira erwachte schreiend, hatte es gar nicht anders erwartet. Sie brauchte einen Moment, um sich aus den Fängen der Träume zu befreien und in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sie saß immer noch in der Nische. Irgendjemand hatte eine Decke über sie ausgebreitet.
Von ihrem Schrei aufgeschreckt, stürmte Emily, gefolgt von zwei Männern, aus der angrenzenden Halle.
„Was ist … Was ist passiert?“, bestürmte sie Emily.
„Nichts.“, antwortete Kira ausweichend.
„Aber du hast geschrien.“, fragte die Frau verwundert.
„Sie hat schlecht geträumt.“ Einer der beiden Lederjacken-Typen hatte seinen Posten verlassen und war zu ihnen gekommen. Es war ein dunkelhäutiger Mann, mit schwarzen Haaren und leuchtend weißen Zähnen. Das Mädchen konnte sein Alter nicht schätzen, von zwanzig bis fünfzig wäre alles möglich.
Kira schien ihn mit ihren Blicken scheinbar zu durchbohren, doch das störte ihn nicht. Er redete einfach weiter.
„Sie hat etwas von Max und einem Mann gemurmelt, immer wieder „Nein, bitte nicht“ gefleht und irgendetwas von Blut gefaselt.“
Kira ballte wütend die Fäuste.
„Was hast du geträumt?“, fragte Emily mitfühlend.
Die drei Männer grinsten nur.
„Das geht euch gar nichts an.“, knurrte Kira. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte den Männern ihr hämisches Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Sie fühlte sich so klein. Sie saß hier, zitterte wie ein kleines Kind wegen einem Alptraum und wurde nun zu allem Überfluss noch von Emily bemuttert.
„Wer ist Max? Ein Freund von dir?“, bedrängte sie Emily weiter.
„Das geht niemanden etwas an. Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!“, brüllte Kira wütend.
Erschrocken wich Emily zurück. „Dass du jetzt nicht erzählen willst, sehe ich ein, aber falls du doch mal jemanden zum Reden brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.“ Mit diesen Worten, aber nicht ohne vorher noch einmal einen mitleidvollen Blick auf Kira zu werfen, wandte Emily sich um und ging. Die Männer folgten ihrem Beispiel. Aber ohne das Mitleid, in ihren Augen mischten sich Belustigung und Verwirrung. Aber auch sie ließen Kira allein.
Traurig blieb Kira in ihrer Nische zurück. Es war nicht, weil sie Emily und die drei Männer so rüde abgewiesen hatte. Nein, das war es wirklich nicht. Das war ihr egal. Was sie belastete, waren ihre Erinnerungen, ein paar Wochen, Monate und doch war so viel Leid darin. Es war so viel passiert, was sie lieber wieder vergessen würde. Ihre Eltern waren tot und sie konnte noch nicht einmal trauern. In ihr regte sich zwar etwas. Vielleicht Trauer. Aber nicht diese Art Trauer, die man verspürt, wenn man zwei geliebte Menschen verloren hatte. Es war eine andere Trauer, wenn zwei Fremde sterben, wenn man bedenkt, was diese Fremden noch alles hätten vollbringen können. Nichts anderes waren ihre Eltern für sie – Fremde.
Traurig schloss das Mädchen die Augen. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, verstohlen wischte sie sie weg.
Doch damit noch nicht genug Leid. Damit fing es erst richtig an. Sie war mehrmals entführt worden, zu einem Killer ausgebildet, hatte mehrere Menschenleben auf dem Gewissen. Nur einen davon hatte sie selbst getötet. Doch was machte das für einen Unterschied? Sie waren alle tot.

~



Nach einigen Stunden – für Kira fühlte es sich wie Tage an – kehrte Lord Train zurück und blieb an Kiras Nische stehen.
„Was sitzt du hier draußen auf dem kalten Boden? Begleite mich nach drinnen.“
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Lord Train, aber ich würde lieber hier draußen bleiben.“ Kira blieb betont freundlich. sie wollte Lord Train nicht verärgern. Denn sie war sich sicher, dass dem Lord nie etwas ausgeschlagen wurde und falls es doch einmal passiert war, ist es demjenigen bestimmt nicht gut ergangen.
Kiras Vermutung schien sich zu bewahrheiten, denn in Lord Trains Gefolgschaft wurde erschrockenes Keuchen laut und allzu viele Hände zuckten in Richtung der Waffen.
Doch Lord Train erstaunte seine Männer, indem er relativ gelassen reagierte.
„Ich verstehe, dass dir das alles hier Angst mach, dass du Zeit zum Nachdenken brauchst. Ich respektiere deinen Wunsch. Du bist noch so ein kleines Mädchen …“
Lord Train verschwand in Halle 2 und ließ Kira allein, allein mit ihren Gedanken. Sie wusste nicht, was schlimmer war, die neugierigen Blicke der Männer und Frauen in Halle 2 oder ihre niederschmetternden Gedanken und doch blieb sie allein in der Halle zurück, von den zwei Lederjacken-Typen mal abgesehen, die sie allerdings auch nicht weiter beachteten.
Erst als der Hunger sie quälte, stand sie auf und ging in Halle 2. Sofort waren wieder alle Blicke auf sie gerichtet, sofort verstummten die Gespräche. Sie spürte die Blicke, die sie überall hin begleiteten. Die Neugier der Männer und Frauen verlor sich einfach nicht. Sie war eine Rarität, darüber war sich Kira im Klaren. Sie war so anders als ein Mädchen sein sollte. Ein entführtes Mädchen sollte verängstigt sein, sollte weinen, flehen wieder nach Hause zu dürfen. Aber was hatte sie getan? Sie hatte sich Lord Train wiedersetzt, hatte seine Fragen ignoriert, nur so viel preisgegeben, wie sie auch wollte und wirkte nicht im Mindesten verängstigt.
Kira wusste, dass sie ihre Mimik gut unter Kontrolle hatte, dass man ihr die Angst, die sie hin und wieder befiel nicht ansah. Wenn es eins gab, was sie wirklich bei Dragon gelernt hatte, dann ihre Gefühle zu verstecken. Was war nur los mit ihr? Das war nicht normal. Sie war nicht normal.
Niedergeschlagen ging sie zu Emily, die wieder in der Küche stand.
„Darf … darf ich etwas zu essen haben?“
„Aber Kira“, lachte Emily. „Du musst doch nicht fragen, du Dummerchen. Nimm dir einfach, was du willst. Es ist immer was da. Fühl dich wie zu Hause.“ Die Frau machte eine Geste, die alles mit einschloss.
Kira nahm ein Sandwich und eine Flasche Wasser und verließ beinahe fluchtartig Halle 2. Sie spürte die Blicke, die ihr folgten, egal was sie tat. Erst in Halle 1 konnte sie aufatmen.
Nachdem sie gegessen hatte, saß sie wieder untätig in der Nische, ihre Gedanken schweiften ab. Später konnte sie nicht mehr sagen, an was sie gedacht hatte. Beinahe übergangslos glitt sie in den Schlaf.

~


Kira wusste nicht, wie lange sie schon hier gefangen war. Die schwarzen Streifen hatten sich wirklich als Fenster herausgestellt, aber das Kind konnte nicht sagen, wie oft es schon dunkel geworden war. Jeder Tag verlief gleich, schien kein Ende nehmen zu wollen. Tagtäglich saß Kira in ihrer Nische und versuchte an nichts zu denken, nicht an die Vergangenheit, auch nicht an die Zukunft. Aber auch über die Gegenwart war es nicht vorteilhaft nachzudenken.
Hin und wieder hatte Lord Train Anführer anderer Verbrecherbanden empfangen. Diese Gespräche hatten Kira nie wirklich interessiert. Es waren immer nur Verhandlungen über irgendwelche Waren. Aber es war wenigstens eine Abwechslung gewesen. Sie hatte dafür nicht mal Halle 2 betreten müssen. Die Stimmen waren selbst in Halle 1 noch deutlich zu verstehen. Doch jetzt war seit längerem nichts mehr passiert.
Entnervt stöhnte Kira auf. Sie langweilte sich. Langsam stand sie auf und schritt die Halle ab. So oft schon hatte sie das schon getan, so oft schon hatte sie die Blicke der Lederjacken-Typen ignoriert, wenn sie stundenlang im Kreis lief. Doch heute reichte es nicht. Egal wie lange sie heute im Kreis lief, es fehlte etwas. Ohne zu wissen wie es passierte, befand sie sich plötzlich in einem leichten Trab. Kira spürte die erstaunten Blicke der Lederjacken-Typen und ihre erhöhte Wachsamkeit und dennoch lief sie immer weiter, einfach immer weiter bis sie sich schließlich erschöpft in der Nische zu Boden sinken ließ. Sie schloss die Augen, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Ja, das hatte ihr gefehlt. So blöd es auch klingen mag, sie vermisste das Training. Sie vermisste Caleb. Ob er wohl noch lebt? Oder musste sie ihn auch auf ihre gedankliche Liste der Todesopfer setzen?
Traurig schloss sie die Augen. Hoffentlich war Caleb noch am Leben. Er war der einzige, der wirklich normal mit ihr umgegangen ist, nachdem ihre Anfangsschwierigkeiten beseitigt waren. Die anderen in der Burg hatten sie mit – Ja, was? War es Ehrfurcht? Angst? Misstrauen? Wahrscheinlich ein bisschen von allem – betrachtet. Und Dragon – nun ja, das war ein Fall für sich – der war immer so gefühlslos gewesen. Für ihn war sie nur eine weitere Angestellte gewesen. Ein weiterer Killer. Nur Caleb war wirklich nett zu ihr gewesen. Es täte ihr ehrlich leid, wenn ihm etwas zugestoßen war.

~



Wieder einmal erwachte Kira schreiend, wie so oft in letzter Zeit. Die grausamen Erinnerungen ließen sie einfach nicht los, sie konnte nicht vergessen.
So oft schon war sie schreiend aus dem Schlaf geschreckt, dass die beiden Lederjacken-Typen es zwar mit steigender Verwirrung, aber dennoch einfach nur zur Kenntnis nahmen.
Schwer atmend saß Kira in der Nische und versuchte alle Erinnerungen zu verdrängen. Doch es wollte ihr nicht gelingen.
„Lord Train schickt nach dir.“
Kira zuckte zusammen. Ein junger Kerl stand in der Tür zu Halle 2. Sie hatte ihn nicht gesehen. Mühsam rappelte sie sich auf und begab sich widerwillig auf den Weg zu Lord Train. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie konnte sich schon denken, was er von ihr wollte. Er erwartete Antworten, Antworten, die sie nicht zu geben bereit war.
Sie spürte die Blicke, die ihr folgten, kaum, dass sie Halle 2 betreten hatte. Am liebsten wäre sie umgekehrt, zurück in ihre Nische und dennoch stand sie nun vor Lord Train.
„Nimm doch Platz, Kira. Mir kam zu Ohren, dass dir etwas bei unserer Gastfreundschaft fehlt. Sag es mir und ich werde besorgen lassen, was du brauchst.“
„Wie kommen Sie denn darauf, dass mir bei der Gefangenschaft, die Sie Gastfreundschaft nenne, etwas fehlt?“, fragte Kira sarkastisch. Es war seltsam. Sie war gereizt, weil sie so lange zum Nichts-Tun verdammt war. Zudem schien ihr gesunder Menschenverstand abgeschalten zu haben. Es war nicht gut Lord Train zu verärgern. Doch diese Mischung machte sie tollkühn.
„Gefangenschaft?“ Lord Train schien über die Bedeutung dieses Wortes nachzudenken.
„Ja, Gefangenschaft. Ich bin vielleicht nicht in einem Kerker eingesperrt oder gefesselt. Aber es ist trotz allem eine Gefangenschaft.“
„Ich sehe schon, wir werden uns wohl nicht auf ein Wort einigen können. Aber sag mir Kira, was fehlt dir hier?“
Kira musste nicht lange überlegen. Sie wusste genau, was ihr fehlte und das sie das nicht bekommen würde. „Freiheit.“
„Nun ja, die kann ich dir leider nicht gewähren und das weißt du. Aber gibt es sonst etwas, was du begehrst?“
Kira blieb stumm.
„Mir kam zu Ohren, dass du das Bett meidest, dass du auf dem Boden schläfst. Wieso?“
„Ich …“, begann Kira und stockte. Sollte sie ihm überhaupt antworten? Sollte sie ihm wirklich sagen, dass sie Angst vor einem Raum hatte? Angst davor, hineinzugehen, Angst davor, darin eingesperrt zu sein. Nein, das konnte sie nicht. Es widerstrebte ihr zutiefst als verängstigtes, kleines Mädchen dazustehen, obwohl es in dieser Situation das Normalste der Welt gewesen wäre.
„Ich schlafe lieber auf dem Boden.“, beendete sie ihren angefangenen Satz.
Lord Train huschte ein Lächeln über das Gesicht. Was für ein seltsames Mädchen, dachte er auf ein Neues.
„Mir kam auch zu Ohren, dass du immer allein in der anderen Halle sitzt.“
„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte Kira unvermittelt.
Lord Train blinzelte kurz wegen des abrupten Themenwechsels.
„Du bist bereits sechs Tage hier.“, eröffnete ihr der Lord, was Kira zu einem schockierten „Was?“ veranlasste. Es war nicht die Tatsache, dass Kira bereits sechs Tage hier war, die sie erschrak, sondern, dass sie erst sechs Tage hier war. Es kam ihr vor wie Monate.
Lord Train lächelte, sagte aber nichts weiter dazu.
„Du wirst es nicht wissen, Kira. Aber es gibt eine neue Druckauflage deines Steckbriefs. Es hat sich nicht wirklich viel geändert, nur ein einziger Satz: „Bonus bei lebendiger Ablieferung.“ Interessant, nicht? So etwas wollte Dragon noch nie. Bis jetzt schien es ihm egal gewesen zu sein, ob die Gesuchten tot oder lebendig bei ihm ankamen. Aber nicht bei dir. Sag mir, Kira, warum ist das so?“
Kira verdaute noch ihr Erschrecken und auch ihre Freude, sodass es ein wenig dauerte bis sie frech antwortete: „Seh‘ ich aus, als ob ich Gedanken lesen könnte?“
Ismael, der wieder an Lord Trains Seite war, verzog wütend das Gesicht, sprang auf und griff nach seinem Schwert, das von der Hüfte baumelte. Doch Lord Train lachte. „Du gefällst mir, Kira. Du bist so anders, als ich erwartet hatte, so anders, als all meine weiblichen Gäste – ältere Gäste wohlgemerkt – vor dir waren.“
Freak, huschte es durch Kiras Geist.
„Ich dachte, es wird anstrengend sein, einen so kleinen Gast zu beherbergen. Wenn die Älteren schon weinen und betteln, was wird dann erst ein vierzehnjähriges Mädchen tun? Doch du fällst kaum auf. Ich finde es wirklich interessant mit dir zu reden. All die anderen Gäste haben mich mit ihren Tränen und ihrer Angst gelangweilt. Aber du nicht. Du scheinst keine Angst zu haben, du bist frech und du bist nicht auf den Mund gefallen. Und das Wichtigste: Du heuchelst keine Unterwürfigkeit, wenn ich in deinen Augen doch lesen kann, dass du dich niemanden unterwirfst. Du hast einen erstaunlich starken Willen für so ein kleines Mädchen.“
Kira hörte zwar diese letzte, seltsame Bemerkung, beachtete sie aber nicht weiter. Sie war zu sehr damit beschäftigt, abzuwägen, ob es nicht vielleicht besser für sie wäre, wenn sie weinen und betteln würde, ob er sie dann vielleicht gehen ließe. Doch sie kam auch zu dem Schluss, dass sie das nie tun würde. Das würde sie in ihrem Stolz verletzen, genauso wie die Bezeichnung kleines Kind.
„Wenn Sie mich noch einmal kleines Kind nennen, werde ich kein Wort mehr mit ihnen wechseln.“, drohte Kira. Ihre Augen verengten sich verärgert.
Lord Train sah sie irritiert an und ein erschrockenes Aufkeuchen ging durch die Halle. Doch dann begann er lauthals zu lachen.
„Genau das meine ich. Du bist wirklich interessant. Am liebsten würde ich dich gar nicht mehr gehen lassen.“
Erschrecken mischte sich in Kiras wütenden Blick.
„Aber keine Angst. Ich habe dir mein Wort gegeben, dass du gehen darfst, wenn ich dein Geheimnis kenne und ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht.“
Kira runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Lord Train das jemals gesagt hatte. Doch sie wies ihn nicht darauf hin. Vielleicht ließ er sie ja wirklich gehen, wenn ...
Doch ihre Gedanken machten diese Hoffnung sofort wieder zunichte. Wenn er erst einmal ihr Geheimnis kannte, ließ er sie bestimmt nicht mehr gehen, auch wenn er ihr nun sein Wort gegeben hatte.
„Willst du mir dein Geheimnis nicht verraten?“, fragte Lord Train nach einigen Minuten der Stille.
„Was wenn ich mein Geheimnis selbst nicht kenne?“, fragte Kira entmutigt.
Lord Train schwieg, schien zu überlegen und ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Kira starrte zurück. Ihr Blick war hoffnungslos. Sie würde hier nie wieder wegkommen, egal, ob sie ihm nun etwas erzählte oder nicht. Für sie wäre es aber wohl besser, wenn sie schwieg. Wenn Lord Train erfuhr, dass Dragon sie zu einem Killer ausbildete, könnte er auf dieselben schrecklichen Gedanken kommen wie Dragon vor ihm.
„Ich glaube schon, dass du dein Geheimnis kennst. Vielleicht nicht alles, aber doch einen Teil.“

~


Wieder trabte Kira im Kreis. Sie wusste nicht, wie lange schon. Sie spürte wie sie langsam ermüdete, wie sie zu keuchen begann.
Plötzlich stellte sich ihr der dunkelhäutige Lederjacken-Typ in den Weg. Kira wollte einfach an ihm vorbeilaufen, doch er hielt sie fest. Es zog schmerzhaft in ihrem rechten Arm, als sie im Lauf gestoppt wurde. Das Mädchen keuchte erschrocken auf.
„Was tust du da?“, fragte er.
Kira sah ihn an, als wäre er vom Mond und entgegnete schnippisch: „Wonach sieht es denn aus? Ich laufe.“
„Ja, seit einer Stunde. Ich bin schon fix und fertig vom Zuschauen.“
Kira wollte ihm den Arm entziehen, doch er hielt sie unerbittlich fest.
„Wieso tust du das? Du siehst schon ziemlich fertig aus. Du solltest dich hinsetzen.“
Kira schloss die Augen. Sie war immer noch wütend. Wütend auf Lord Train, auf den Lederjacken-Typ, auf die Halle, auf Dragon, auf sich selbst, auf die ganze Situation, ja, eigentlich auf die ganze Welt. Sie wusste, es würde besser werden, wenn sie nur müde genug war. Dann würde die Hoffnungslosigkeit kommen. Doch das war besser als diese Wut, wegen der sie alles kurz und klein schlagen wollte. Sie atmete ein paar Mal tief durch, öffnete die Augen und blickte in das sorgenvolle Gesicht des Lederjacken-Typen. Sie schluckte ihre Wut hinunter und antwortete stattdessen wahrheitsgemäß: „Ich vermisse mein Training.“
„Training?“, fragte der Kerl verdutzt.
„Ja, ich bin früher viel gelaufen und so was.“ Und so was war eine maßlose Untertreibung, für das was sie noch getan hatte. Am meisten vermisste sie aber den Schwert-Tanz, den ihr Caleb beigebracht hatte. Okay, wahrscheinlich hieß er anders, aber es sah immer so aus, als würde man Tanzen. Man hatte kein Schwert in der Hand, tat aber so, als hätte man, und wehrte imaginäre Gegner ab.
Kira seufzte. Aber sie konnte es hier nicht machen. Es würde verraten, dass sie mit einem Schwert umzugehen wusste. Und das wäre wahrscheinlich gar nicht gut.
„Ich verstehe.“, meinte der Mann. „Aber du solltest jetzt damit aufhören. Wir bekommen Besuch.“
Kira nickte und ging wortlos zu ihrer Nische, als er sie endlich losließ. Sie widerstand der Versuchung, ihre schmerzende Schulter kreisen zu lassen. Sie wollte nicht als zimperlich erscheinen. Kopfschüttelnd ließ sie sich in der Nische zu Boden gleiten. Irgendwann würde ihr Stolz sie noch in ernste Schwierigkeit bringen.

~



Kira musste wohl eingenickt sein, denn al sie erwachte, hörte sie aufgeregte Stimme in ihrer Nähe.
Langsam öffnete sie die Augen und erschrak zutiefst, als ein Mann ihr unter das Kinn griff und ihren Kopf ruckhaft nach oben riss.
Das Mädchen war umgeben von etwa zehn Männern. Der Mann, der ihren Kopf hielt, trug eine Brille auf der Nasenspitze und sah darüber hinweg einen anderen Mann fragend an.
„Ja, das ist sie!“ Der Mann, der dies sagte, war groß und muskulös. Nicht, dass er durchtrainiert wirkte, sondern er ähnelte einer Bulldogge. Seine wohl einst gebrochene Nase half nicht, dieses Bild zu verringern.
Seine Glatze glänzte im Licht der Neon-Röhren.
Auf die Worte des Mannes hin, traten zwei Männer zu Kira, rissen sie hoch und hielten sie mit eisernem Griff fest. Es half nichts, dass Kira sich wehrte. Sie schienen es noch nicht einmal zu bemerken.
„Aber, Boss, wir sind in Lord Trains Gebiet.“
Bulldogge fuhr zu dem kleinen Mann herum, der dies gesagt hatte. Dieser zuckte erschrocken zusammen.
„Was kümmert mich dieser Schnösel?“, knurrte Bulldoge.
Endlich schien Kira aufgewacht zu sein, endgültig. Sie erkannte in was für einer Situation sie sich befand und dass sie allein war. Die zwei Lederjacken-Typen waren verschwunden.
„Entschuldigung?“
„Ruhe, Walker!“, knurrte Bulldogge ohne sich umzudrehen.
Er kannte sie! Er kannte ihren Steckbrief! Er kannte ihren Wert! All das schoss Kira durch den Kopf und machte sie wütend. Zwar auf Dragon. Aber das war ihr egal.
„Hey, Schwabbelbacke!“
Wütend fuhr Bulldogge herum.
„Wie hast du mich genannt?“, fragte er mit einer Stimme, die einem das Fürchten lehren konnte.
Kira wiederholte ihre Beleidigung nicht noch einmal, hatte sie ihn schon genug geärgert und außerdem seine volle Aufmerksamkeit.
„Du bist zu spät. Ich bin bereits Gefangene von Lord Train.“ Sie wusste ganz intuitiv, dass es ihr bei Lord Train besser ergehen würde als bei Bulldogge.
„Und du glaubst das interessiert mich?“ Er lachte. „Siehst du ihn hier irgendwo, deinen Lord Train?“
Nein, dachte Kira. Es war keiner da. Sie war ganz allein.
„So, und jetzt noch einmal zurück.“ Drohend kam Bulldogge näher. Kira wäre zurückgewichen, hätte sie gekonnt. Aber sie stand bereits an der Wand und wurde von zwei Muskelprotzen an den Armen festgehalten.
„Schwabbelbacke. Hast du mich gerade tatsächlich so genannt?“
Bulldogges Männer grinsten schadenfroh und Kira wusste schon bevor er ausholte, was jetzt kam. Bulldogge schlug ihr mit geballter Faust in den Magen. Keuchend, unfähig vor Schmerzen zu schreien, krümmte sich das Mädchen, wäre zu Boden gegangen, wenn die Muskelprotze sie nicht gehalten hätten. Jetzt rissen die zwei sie wieder hoch und Bulldogges Faust landete erneut in ihrem Magen.
„Äh, Boss?“, kam es schüchtern von hinten.
Bulldogge knurrte unwillig und der kleine Mann, der so gar nicht in diese Gruppe voll Muskelprotze zu passen schien, sprach weiter.
„Auf dem Steckbrief stand, es gibt einen Bonus, wenn sie noch lebt.“
„Wer sagt, dass ich sie umbringe?“ Und damit schlug er erneut zu.
Keuchend entwich dem Mädchen die Luft aus den Lugen.
Kira wusste nicht, wie oft Bulldogge schon zugeschlagen hatte, doch auf einmal gaben ihre Beine nach und sie lag am Boden.
Anfangs hatte ihr die Luft gefehlt, um nach Hilfe zu schreien, nun fehlte ihr die Kraft. Sie lag am Boden, zu einer Kugel zusammengerollt und versuchte so viel wie nur möglich von ihrem Körper vor Bullogges Tritten zu schützen.
Verzweifelt fragte sie sich, wieso keiner kam, wieso keiner da war. Wo waren die Lederjacken-Typen? Sie waren sonst immer da.
Sie war gefährlich nahe dran, das Bewusstsein zu verlieren. Und doch wusste sie, dass sie das nicht durfte, nicht wenn sie überleben wollte.
„Was ist hier los?“, donnerte Lord Trains Stimme wütend durch die Halle. Kira hatte ihn noch nie so wütend gehört, und war auch noch nie so froh gewesen diese Stimme zu hören. Sie konnte nur verschwommene Schemen wahrnehmen. Blut lief ihr in die Augen.
„Was machen Sie da mit meinem Gast?“, fragte Lord Train gepresst vor unterdrückter Wut.
„Wir werden Sie ihres Gastes entledigen“, äffte Bulldogge Lord Trains Sprechweise nach.
„Sie ist mein Gast und ihr hattet nicht das Recht Hand an sie zu legen.“
„Spar dir den Scheiß. Wir nehmen sie mit.“
Plötzlich fiel ein Schuss. Kira konnte nicht sagen, welche Seite zuerst geschossen hatte. Doch auf einmal war die Halle erfüllt von dem klirren der Schwerter. Kurz fragte sich Kira, wieso sie keine Pistolen verwendeten, die sie ganz offensichtlich hatten. Doch dann wurde sie an der Schulter berührt und zuckte panisch zusammen. Ohne es zu merken, hatte Kira die Kugel etwas gelöst, sich etwas entspannt. Doch sofort rollte sie sich wieder eng zusammen in Erwartung eines neuen Schlags.
„Kira?“, hörte sie wie von fern. Es dauerte ein bisschen bis sie die Stimme erkannte. Emily!
„Kira? Kannst du mich hören?“
Das Mädchen war unfähig etwas zu sagen, sich zu bewegen. Sie brauchte alle Kraft, die sie noch hatte, um nicht gegen die Bewusstlosigkeit zu verlieren.
Plötzlich wurde sie auf die Beine gezerrt. Zwei starke Hände stützten sie. Kira bekam Panik, war aber unfähig sich zu wehren.
Doch dann hörte sie Emilys Stimme: „Wir bringen dich hier weg!“
Kira wusste nicht, was dann passiert. Vielleicht war sie kurz bewusstlos, aber als sie wieder zu sich kam, spürte sie einen kühlen Windhauch. Sie seufzte resignierend. Jetzt war sie aus den Hallen draußen, aber zu schwach, um zu fliehen.
Und als wäre das das Stichwort gewesen, verlor sie nun endgültig das Bewusstsein.

~



Schreiend erwachte das Mädchen, wieder einmal.
Sie fuhr hoch, sackte dann aber stöhnend zurück. Ihr tat alles weh. Jede einzelne Faser ihres Körpers schmerzte. Und mit dem Schmerz kam die Erinnerung.
Langsam öffnete sie die Augen erneut. Sie lag in einem Bett, aber nicht das in Halle 1. Das Zimmer war groß und freundlich in Gelb gestrichen, außerdem lichtdurchflutet. In dem Zimmer stand ein kleines Nachtkästchen aus dunklem Holz, eine Kommode und ein Schrank in demselben Holz.
Langsam setzte Kira sich auf. Ein qualvolles Stöhnen kam über ihre Lippen. Doch sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Behutsam schwang sie die Beine aus dem Bett und stand vorsichtig auf. Sie schwankte leicht und ihr Körper schrie erneut vor Schmerzen auf.
Schwerfällig torkelte sie zum Fenster im ersten Stock und sah keuchend hinaus.
Ihr Blick erstreckte sich über ein Wohngebiet. Im Garten nebenan wurde der Rasen gemäht, auf der Straße spielten Kinder und eine ältere Dame trug ihre Einkäufe nach Hause. Traurig und kraftlos ließ sich Kira zu Boden gleiten und lehnte sich schweratmend am Nachtkästchen an. Dieser kurze Weg, diese paar Schritte vom Bett zum Fenster hatten sie geschwächt. Tränen rannen über ihr Gesicht, Tränen des Schmerzes, aber auch der Trauer. Sie würde nie wieder so unschuldig spielen können wie diese Kinder dort unten. Ihre Zukunft war vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Dragon hatte alles zerstört. Ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und dadurch auch ihre Zukunft. Was war nur los mit ihr? Warum sie? War sie wirklich Dragons Nichte? Geschah alles deshalb? Oder war es einfach nur Zufall?
Das Mädchen wusste nicht, wie lange sie hier schon saß, die Beine eng an den Körper gezogen, fest umklammert. Die Tränen waren versiegt. Die Schmerzen, da sie sich nicht mehr bewegt hatte, auf ein Minimum herab geschraubt. Sie war gefangen in ihren Erinnerungen, düsteren Erinnerungen.
Leise wurde die Tür einen Spalt geöffnet und dann erschrocken ganz aufgestoßen.
Plötzlich wurde Kira an der Schulter berührt. Das Mädchen schrie verzweifelt auf, zog ihre Beine noch fester an den Körper, spannte sich an und schrie dann gepeinigt vor Schmerzen auf.
„Kira?“ Erschrocken zog Emily die Hand zurück. Dann verstand sie. „Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit. Keine Angst, Kira. Hier kann dir nichts geschehen“, redete Emily beruhigend auf das Mädchen ein, aber ohne sie ein weiteres Mal zu berühren.
Langsam nur drang Emilys Stimme durch Kiras panische Angst. Und viel länger dauerte es bis das Mädchen den Sinn der Wort verstand.
Vorsichtig entspannte sich Kira und hob den Kopf.
Emily kniete vor ihr und betrachtete sie mit sorgenvollem Blick.
„Ist alles in Ordnung?“
Wenn Kira die Kraft gehabt hätte, hätte Emily auf diese dumme Frage eine saftige Antwort bekommen. Sah sie etwa so aus, als wäre alles in Ordnung? An einzelnen Stellen ihres Körpers wurden die Schmerzen vehement stärker, während der Rest ihres Körpers immer noch gleich stark schmerzte.
„Komm, ich helfe dir zurück ins Bett.“
Kaum das Kira zurück im Bett war, ging Emily zur Tür, drehte sich aber noch einmal zu dem Mädchen um und verkündete mit sorgenvollem Gesicht: „Ich werde unseren Arzt verständigen.“
Kira entwich ein panisches „Nein!“ und Emily blieb verdutzt stehen
„Nein?“, fragte sie.
„Ich brauche keinen Arzt.“ Und keine Vitaminspritzen, dachte Kira panisch.
„Aber …“
„Mir geht es gut.“, log Kira und hoffte inständig, sie sah nicht so schlimm aus, wie sie sich fühlte.
Emily blieb stumm und sah sie zweifelnd an, doch dann meinte sie: „Falls du noch etwas brauchst, einfach rufen.“

~


Kira döste nun schon eine Weile vor sich hin. Immer wieder suchten die Gestalten ihrer Vergangenheit sie heim, was sie jedes Mal mit rasendem Herz hochschrecken ließ.
Als sie dieses Mal aufschreckte, saß auf einmal Lord Train in einem Sessel an ihrem Bett. Beides war vorher noch nicht dagewesen. Lord Train saß entspannt, hatte die Beine überschlagen und schien schon eine Weile zu warten und zudem war er allein. Ein ganz ungewohntes Bild. Ismael, der ihm sonst wie ein Schatten folgte, war nicht dabei.
Als der Lord bemerkte, dass Kira wach war, lächelte er freundlich.
„Es tut mir Leid, dass dir so etwas unter meiner Gastfreundschaft widerfahren ist. Big D. ist für seine Dreistigkeit zur Rechenschaft gezogen worden.“
Umständlich setzte Kira sich auf, lehnte sich an die Wand und sah Lord Train wortlos an. Sie kämpfte gegen die Schmerzen, die ihr Denken vernebelten. Es schien ihm wirklich Leid zu tun, erkannte das Mädchen verwirrt.
„Du bist wirklich seltsam, Kira. Meine Schwester sagte mir, dass du keinen Arzt willst. Wieso? Ich sehe dir an, dass du Schmerzen hast. Er könnte dir etwas gegen die Schmerzen geben. Eine Spritze oder …“
„Nein!“, unterbrach Kira ihn panisch.
Irritiert hielt Lord Train inne. „Hast du Angst vor Spritzen?“, fragte der Mann schließlich. Ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel verriet seine Belustigung.
„Nein.“, meinte Kira müde. Nicht wirklich, dachte sie. Sie hatte keine Angst vor Spritzen, sondern vor dem Inhalt.
„Aber wenn du keine Angst vor Spritzen hast, wieso willst du dann keinen Arzt?“, fragte Lord Train verwirrt.
„Ich brauche keinen. Mir geht es gut.“
„Das stimmt nicht, Kira. Ich sehe dir an, wie schwer es dir fällt, nicht vor Schmerzen das Gesicht zu verziehen. Es ehrt dich zwar, nicht zu jammern, aber das hier ist dumm. Jeder weiß, dass du Schmerzen hast. Wieso verweigerst du jede Hilfe?“
„Wieso war keiner da?“, fragte das Mädchen unvermittelt. Es sollte keine Beschwerde sein. Sie wollte es einfach nur wissen.
Lord Train schien wegen dieses Themenwechsels zunächst verwirrt, doch dann schlug er reumütig die Augen nieder.
„Es tut mir Leid, dass du so schmählich im Stich gelassen wurdest. Doch sie folgten meinem Befehl. Sie sollten Big D. anmelden. Ich ließ ihn warten, um seine Ungeduld und Wut noch zu steigern. Es tut mir Leid, dass er die Wut gegen mich an dir ausgelassen hat.“
„Das war es nicht“, sagte Kira schwach. Sie fühlte sich auf einmal so müde, so unendlich müde.
„War es nicht?“
„Nein.“ Kira lächelte müde. „Ich glaube, ich habe Schwabbelbacke beleidigt.“
Lord Train brach in schallendes Gelächter aus. Als er sich beruhigt hatte, was Kira in ihrer sitzenden Position eingeschlafen, nur leicht zur Seite gefallen.
„Du bist schon ein wirklich seltsames, kleines Mädchen“, murmelte der Lord. „Ich würde zu gern dein Geheimnis kennen.“
Er blieb im Sessel sitzen und betrachtete das schlafende Mädchen. Sie sah so friedlich aus. So oft hatte er diesen gequälten Ausdruck in ihren Augen gesehen, nicht nur, wenn er das Kind nach ihrem Geheimnis gefragt hatte. Was verbarg sie vor ihm?

~


„Blut“, wimmerte Kira. „Überall Blut.“
Lord Train schreckte aus seinem Gedanken hoch.
„Nein … bitte nicht … tun Sie das nicht … Max … Nein!“ Mit einem panischen Schrei erwachte sie. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie wusste auf Anhieb nicht, wo sie war, dass ihr Traum schon vergangen war. Es war so real, so unglaublich real gewesen. Trauer und Schuldgefühle überwältigten sie.
Langsam nur erkannte sie, dass es ein Traum gewesen war. Doch dieser war viel schlimmer als alle vorher es gewesen waren.
„Wer ist Max?“, hörte Kira eine Stimme, konnte sie aber nicht zuordnen.
„Er war ein junger Mann“, antwortete Kira ohne ihr Zutun, ohne darüber nachzudenken. Sie war viel zu beschäftigt, diesen Traum zu verdrängen.
„War? Was ist mit ihm geschehen?“
Schwerfällig kam ihr Geist wieder in Schwung. Lord Train!, erkannte sie die Stimme. Verwirrt sah sie sich um und entdeckte den Mann im Sessel.
Kira schwieg. Weiterhin liefen Tränen über ihr Gesicht. Sobald sie die Augen schloss, sah sie Max, den Mann, Kugeln, Blut. Sie musste sich bewegen, sie musste vergessen.
Doch kaum, dass sie sich bewegt hatte, war Lord Train neben ihr und drückte sie sanft wieder ins Bett.
„Ich muss aufstehen!“, protestierte Kira unter Tränen.
„Nein, musst du nicht. Du bist verletzt. Wir wissen nicht, wie schwer, weil du dich nicht von dem Arzt untersuchen lässt.“
Voll Sorge betrachtete der Lord das Mädchen, das weinend im Bett saß und gegen ihn ankämpfte. Doch gegen seine Kraft war sie in diesem Zustand unterlegen. Die Stellen ihres Körpers, die nicht von ihrer Kleidung bedeckt wurden, waren übersät mit einem Sammelsurium an bläulich-grünen Flecken. Sie sah schrecklich aus und Lord Train plagten die Schuldgefühle.
Doch er sah auch, dass sie sich in ihrem derzeitigen seelischen Verfassung nicht gegen seine Fragen wehren konnte. Es fühlte sich falsch an. Doch Lord Train wusste auch, dass das vielleicht seine einzige Chance auf Antworten war. Sobald Kira sich wieder besser fühlte, ihren Traum verdaut hatte, würde sie wieder so frech wie früher werden und keine seiner Fragen ernsthaft beantworten.
„Wer war Max?“, fragte der Lord erneut und fühlte sich schäbig.
Allein der Name reichte, um Kira erneut zum Schluchzen zu bringen. Doch sie kämpfte dagegen an, presste die Lippen aufeinander, sodass sie nur noch als Strich zu erkennen waren, krallte ihre Finger in die Oberarme und schwieg.
Aber Lord Train gab nicht auf. Er bombardierte sie mit Fragen. „Was ist mit ihm geschehen? Was ist bei Dragon passiert? Was hast du getan? Wieso gibt es zwei Steckbriefe?“
Bis Kira schließlich zusammenbrach. Er hatte sein Ziel erreicht und fühlte sich schlecht. Aber sie erzählte. Das Mädchen erzählte alles, von der Entführung, von Dragon, von der Ausbildung, von Max, von dem Mord, von ihrer Flucht.
Jetzt hatte der Lord Antworten, doch er wusste nicht, ob er sie überhaupt haben wollte. Dem Kind war schreckliches widerfahren und er hatte sie gezwungen all das noch einmal zu durchleben.
Traurig betrachtete er das Mädchen, das im Gästezimmer in der Wohnung seiner Schwester lag, sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte, als wolle es die Außenwelt aussperren und weinte.
Es heißt immer, es wird besser, wenn man seine Sorgen teilt. Geteiltes Leid, ist halbes Leid. Doch das stimmte nicht, Es machte alles nur noch schlimmer. Jetzt war alles wieder da, alles, was Kira mühsam zu verdrängen versucht hatte, war wieder da.
Ein weiteres Schluchzen entrann ihrer Kehle.
„Was hast du getan?“, hörte Kira Emilys Stimme wie von fern und ein ebenso fernes Klatschen.
„Aua“, beschwerte sich Lord Train über Emilys Schlag. „Wofür war das denn?“
„Du hast sie zum Weinen gebracht.“
Dafür hätte es Emilys Schlag gar nicht bedurft. Er fühlte sich auch so schlecht genug.
„Was hast du getan?“, wiederholte die junge Frau ihre Frage von Anfang.
„Nach ihrem Geheimnis gefragt.“
Schon in seiner Stimme konnte sie hören, dass ihm die Antwort nicht gefallen hatte. Sie sah in sein zerknirschtes Gesicht, zu dem weinenden Mädchen und erkannte, dass dieses Geheimnis etwas war, was besser ein Geheimnis blieb.
Langsam nahm Emily auf der Bettkante Platz und strich Kira eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sofort verkrampfte sich das Mädchen und stöhnte unter Schmerzen auf. Emily stockte zwar kurz, aber strich dann weiter über Kiras Haar. Und tatsächlich wurde das Mädchen immer ruhiger, entspannter und schlief schließlich ein.
Während dieser Zeit hatte Emily kein Wort gesagt und der Lord ebenso wortlos wie verwundert seine Schwester beobachtet.
Auch als das Mädchen schlief, erhob sich die junge Frau nicht, aber sie hörte auf, Kira über den Kopf zu streicheln.
„Wir brauchen einen Arzt.“ Besorgt ließ Emily ihren Blick über den geschundenen Körper des Mädchens schweifen. Die Stellen, die nicht von ihrer Kleidung verdeckt wurden, färbten sich bereits in den schillerndsten Farben.
„Nein.“
Erschrocken fuhr seine Schwester herum. „Nein? Aber sie braucht einen.“
„Sie will keinen.“ Bevor die junge Frau widersprechen konnte, fuhr er fort. „Emily, ich verstehe, warum sie keinen will, ich verstehe es wirklich. Einen Moment bleib Lord Trains Blick an Kiras Gesicht hängen, an diesem friedlichen Ausdruck, der in ihm lag. „Sie hatte es nicht leicht. Die letzten Wochen waren mehr als so manch anderes Kind aushalten würde, woran die meisten Kinder zerbrechen würden. Aber sie hat ihren freien Willen behalten, hat ihn wiedergefunden, als er gebrochen wurde. Viele andere Kinder hätten sich unter diesen Umständen aufgegeben, aber sie nicht. Wir sollten ihr ihren Willen lassen. Ich kann fühlen, dass sie nicht so schwer verletzt ist. Sie wird es überleben.“
Lange blieb Emily stumm, sah ihren Bruder zweifelnd an.
„Was willst du jetzt tun?“
„Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich sie gar nicht mehr gehen lassen. Die Welt da draußen ist so böse. Sie kann da nicht überleben, nicht allein. Aber ich habe ihr versprochen, sie gehen zu lassen.“ Lord Train schwieg, war tief in Gedanken versunken.
„Ich weiß es nicht.“, murmelte er erneut.

~




Impressum

Texte: Alle Rechte an der Geschichte liegen bei mir. Das Cover wurde von mishi.s gestaltet.
Bildmaterialien: Model: ~infidem-stock (dA)
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

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