Eine Rettungsaktion – zu spät?
Während die Jungs in die Stadt eilten, Hilfe holen, wurde Hero in dem Loch noch einmal wach.
„Wieso habt ihr das getan?“, fragte Alpha über ihr aufgeregt.
„Es war unser Auftrag und wir erledigen unsere Aufträge immer“, sagte Boxer.
„Wir hätten sie in eine Irrenanstalt oder sonst wohin stecken können. Sie war doch noch so jung … zu jung zum Sterben“, fügte Alpha leise hinzu.
„Es ist nicht schade um so ein dummes Mädchen“, redete nun Pitbull.
„Stimmt. Sie war dumm“, meinte Alpha ironisch, „so dumm, dass sie uns gleich drei Mal entwischt ist.“
„Sie hatte mehr Glück als Verstand“, war Pitbull überzeugt.
„Das glaub ich nicht aber …“
Mehr bekam Hero nicht mit, denn während des Gesprächs hatte sie versucht, sich zu bewegen. Die Schmerzen waren unvorstellbar. Jetzt hatte sie nur noch einen Wusch. Endlich einzuschlafen, trotz des dumpfen Gefühls, dass wenn sie jetzt einschlief, sie nie mehr erwachen würde.
Juli und Atikes wurde von einem Polizisten zum nächsten geschoben. Es hatte sie einige Überwindung gekostet, die Polizei aufzusuchen. Doch es war für Hero. Sie mussten das Risiko eingehen.
Endlich kamen sie an zwei, die ihnen Glauben schenkten. Hauptkommissar Kranich und Hauptkommissar Richter. Beide waren noch relativ jung, höchstens dreißig Jahre alt und sie sahen sehr nett aus. Hauptkommissar Kranich hatte rötliches Haar, das locker fiel. Es reichte ihm etwa bis zum Kinn. Sein Kollege und Freund Hauptkommissar Richter hatte kurzes blondes Haar, das er mit etwas Gel aufgestellt hatte.
Bis die Jungs zu den beiden Hauptkommissaren kamen, war bereits ein Tag vergangen. Juli war der Verzweiflung nahe. Schnell erzählte Atikes, was in dem Haus passiert war, ließ die Vorgeschichte aber vorsorglich weg. Er war sich sicher, dass es Richter und Kranich aufgefallen war, aber sie fragten nicht weiter nach und Atikes war dankbar dafür.
Die Nacht mussten die Jungs in einer Zelle verbringen. Obwohl die Zellentür offen gelassen wurde, fühlten sie sich höchst unwohl. Es war als würde ihnen ihre Zukunft gezeigt werden
, fand Atikes. Zumindest ihm.
Von Juli wusste er nicht, wieso er nicht hatte zur Polizei gehen wollen. Aber er – Atikes – hatte seine Gründe, handfeste Gründe, wieso er diese Art Menschen mied.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor bis endlich eine Rettungsaktion eingeleitet wurde und sie endlich die Polizisten zu dem Haus führen konnten.
„Ihr bleibt hier draußen. Es könnte gefährlich werden.“
Das war das Letzte was sie für eine zeitlang von Richter und Kranich hörten. Immer wieder kamen Funksprüche aber es waren immer die Falschen.
„Stellen die das ganze Haus auf den Kopf und machen es auch noch sauber? Oder warum brauchen die so lange?“, fragte Juli entnervt.
Endlich kam der erlösende Funkspruch.
In der Eingangshalle standen die Polizisten und diskutierten lautstark miteinander.
Die Jungs wurden am Kragen gepackt und in eine Ecke gezerrt. Es war Hauptkommissar Kranich.
„Sie ist nicht hier!“
Wie vor den Kopf gestoßen starrten die Jungen Kranich an.
„Aber … aber sie muss hier sein“, stotterte Juli.
Atikes verzog schmerzhaft das Gesicht. Sie ist hier
, erkannte er. Sie ist hier und sie ist verletzt.
Selten hatte der Junge seine Fähigkeiten so stark gespürt. Es war Segen und Fluch zugleich. Der Junge hatte die Fähigkeiten, die körperlichen Schmerzen der Menschen zu spüren und sie bis zu einem bestimmten Grad zu lindern. Er hatte diese Fähigkeiten nicht im Griff, nicht wirklich jedenfalls. Als er Hero damals im Haus der lebenden Toten fand, hatte er versucht ihre Schusswunde zu heilen und es teilweise sogar geschafft. Aber die Heilung entzog dem Heiler genau so viel Kraft, wie die Wunde benötigt, um von selbst zu heilen.
Jetzt spürte er wie ganz langsam die Kraft aus seinem Körper floss. Es würde lange dauern bis er wirkliche Auswirkungen, wirkliche Schwäche spüren würde. Aber diese Fähigkeit zeigte ihm, dass jemand hier sein musste, jemand, der verletzt war. Das konnte nur Hero sein. Die Verletzung war schlimmer als nur ein Schnitt im Finger. Und die Polizisten sahen alle kerngesund aus.
„Sie ist hier!“, sagte Atikes bestimmt und verließ die Halle. Er konnte nicht orten, wohin seine Kraft floss, er wusste nur, dass hier jemand war, der seine Kraft dringend brauchte. Es musste nicht Hero sein. Das wusste er. Aber er hielt sich an diesem Strohhalm fest.
Von nun an durchsuchten Juli und Atikes das Haus auf eigene Faust. Sie beschlossen im Keller, genauer gesagt in dem Raum, in dem sie gefangen gehalten worden waren, anzufangen und wenig später wurden sie tatsächlich fündig.
Mit der Taschenlampe, die ihnen Kranich zugesteckt hatte, fand Atikes ein paar Räume weiter den Deckel, der das Loch verdeckte und in dem Loch fanden sie Hero. Schnell rannte Juli zu den Polizisten und berichtete.
Atikes legte sich zwischenzeitlich auf den Bauch und starrte in das Loch hinunter, spürte wie seine Kraft in den Abgrund floss.
Bald kam Juli zurück und legte sich neben ihn. Doch Atikes bemerkte es nicht. Ängstlich sah er weiter in den Abgrund. Hero lebte noch. Sie benötigt noch meine Kraft. Aber wie lange noch?
Von all dem anderen, was noch passierte, bekamen Juli und Atikes nicht viel mit. Sie lagen auf dem Bauch bei dem Loch und sahen hinunter. Sie warteten auf ein Lebenszeichen. Aber es kam keines. Das Mädchen lag reglos und ziemlich verdreht am Boden.
Als die Sanitäter eintrafen, verließen sie den Raum. Juli glaubte, weil sich Hero die ganze Zeit nicht bewegt hatte, dass sie tot war. Er wollte das Mädchen nicht als Leiche sehen, nicht nachdem er sie gesund gepflegt hatte. Sie hatten Hero im Stich gelassen.
Juli ging in die Eingangshalle, setzte sich in eine Ecke und weinte lautlos.
Atikes streifte ruhelos durch das Haus. Auch ihn plagten ähnliche Gedanken. Er konnte nicht glauben, dass die einzige Freundin, die er während seiner Flucht getroffen hatte, nun dem Tode so nah war.
Juli saß reglos in der Eingangshalle, bis Richter ihn fand. Er hatte bemerkt, dass die Jungs den Raum beinahe fluchtartig verlassen hatten.
„Das Mädchen lebt bestimmt noch.“
„Woher wollen Sie das wissen?“, fauchte Juli und wischte sich verstohlen die Tränen mit dem Handrücken weg.
„Ich hoffe es. Jetzt steigt gerade jemand zu ihr hinunter. Wo ist dein Freund?“ Suchend sah er sich um. Schließlich meinte er: „Komm mit!“
„Ich will nicht.“
Richter musste seine ganze Überredungskunst aufbieten, um Juli dazu zu bringen, wenigstens mit hinunter zu gehen. Schließlich gab Juli klein bei. Vielleicht irrte er sich und Hero lebte noch.
Aber er weigerte sich in den Raum zu gehen. Richter blieb bei ihm. Und später tauchte auch Atikes auf. Er lief aber weiterhin wie ein gefangener Tiger in einem Käfig auf dem Gang auf und ab.
Endlich kam Entwarnung von unten. Sie lebte. Hero lebte. Es gab zwar Schwierigkeiten mit der Bergung aber nach einer Stunde hatten sie es geschafft und zur größten Verwunderung aller lebte Hero immer noch.
Nun gingen die Jungs doch in den Raum. Aber Heros Anblick erschreckte die Kids trotzdem. Sie sah aus wie eine Leiche. Eine lebende Leiche. Auch die Polizisten, die aufgehört hatten sich zu zanken als die Nachricht kam, dass ein verletztes Mädchen im Haus war, waren geschockt. Hero war blutüberströmt und ihre Atmung war flach, beinahe schon zu flach. Ihr Herz schlug unregelmäßig. Das Leben des Mädchens hing an einem seidenen Faden. Sie konnten nur hoffen, dass Hero stark genug war.
Hero wurde sofort in eine Klinik geflogen. Richter und Kranich packten Juli und Atikes in ihr Auto und fuhren in die Klinik.
Während der Fahrt saßen die beiden Jungs stumm auf der Rückbank und hingen ihren düsteren Gedanken nach.
Was, wenn nur noch meine Kraft Hero am Leben erhalten hat? Was, wenn sie jetzt stirbt, weil ich nicht bei ihr bin?
, fragte sich Atikes verzweifelt.
Endlich aufgewacht
Als sie im Uniklinikum ankamen, wurde Hero bereits operiert.
Die Schwester hatte sie vorgewarnt, dass es lange dauern kann. Und es dauerte wirklich lange. Geschlagene vier Stunden saßen die vier nun schon hier und bis jetzt hatte ihnen keiner sagen können, wie es um Hero stand.
„Wie heißt sie?“, fragte Tom Kranich. Nachdem er Juli und Atikes eine Weile über ihre Vergangenheit ausgefragt hatte, oder besser gesagt ausfragen wollte. Juli hatte nur seinen Vornamen preisgegeben und auch aus Atikes war nicht mehr rauszukriegen. Nun versuchte der Polizist, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Vielleicht bekam er hier mehr raus.
„Hero“, antwortete Atikes abwesend.
„Und weiter?“, wollte sein Kollege Jan Richter wissen.
Juli zuckte die Achseln, sah Atikes fragend an. Doch dieser reagierte nicht.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob Hero ihr richtiger Name ist.“ Es war ja immerhin möglich. Juli wusste nur zu gut, wie leicht es war, seinen Namen zu ändern. Atikes blieb stumm. Er wusste, wer Hero war, aber das würde er den Polizisten nicht sagen.
Die Polizisten plagte das unbestimmte Gefühl, dass sie das Mädchen kannten. Aber sie konnten nicht sagen woher und am Schluss waren sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie sich das nicht nur einbildeten.
Richter und Kranich wussten aus früheren Fällen, dass es für die Angehörigen am Besten war, wenn man sie während der Wartezeit ablenkte. Also erzählten Jan Richter und Tom Kranich von den besten Fällen in ihrer Polizeikarriere. Juli und Atikes hörten nur mit einem Ohr zu. Aber sie waren dankbar dafür, dass die Polizisten überhaupt versuchten, sie abzulenken.
Obwohl Atikes sich nichts anmerken ließ, fühlte er sich schwach. Krankenhäuser behagten ihm nicht mit all diesen kranken Menschen, die Kraft so dingend nötig hatte. Der Junge verlor jegliche Farbe und starrte angestrengt geradeaus. Ihm wurde schlecht. Er hatte noch etwas Energie. Aber nicht mehr sonderlich viel. Aber allein die Erkenntnis, dass dieser Kraft bei weitem nicht reichen würde, um auch nur die Hälfte der Patienten zu helfen, machte ihn krank. Verzweifelt versuchte er seine Kräfte in seinem Körper einzusperren und als das nicht funktionierte, versuchte er seine Kraft zu koordinieren.
Während der Wartezeit blieb dem Jungen jede Menge Zeit an seiner Fähigkeit zu feilen, sie zu verbessern. Und das musste er auch, sonst würde er selbst so geschwächt werden, dass er ohnmächtig werden würde.
Endlich kam ein Arzt und erlöste sie von der langen und lästigen Warterei.
Atikes sprang auf, schwankte leicht, ignorierte aber seine Schwäche. Juli folgte fast zeitgleich.
„Gehören sie zu dem Mädchen?“, wandte sich der Arzt an Jan, überging die Jungen. Der junge Mann war etwas größer als Jan, hatte schwarzes Haar, das sich erfolgreich der Bürste widersetzt hatte und nun wild vom Kopf abstand. Sein warmes Lächeln hatte den Anschein, als würde es nie ganz aus seinem Gesicht verschwinden.
„Wie geht es ihr?“
„Den Umständen entsprechend … gut“, antwortete der Arzt, der wie man seinem Namensschild entnehmen konnte Dr. Engel hieß, grinsend.
Alle atmeten erleichtert auf.
Die Jungs spürten wie ihnen ein Stein – nein schon fast ein Berg – vom Herzen fiel.
„Aber“, dämmte der Arzt die Freude, „sie muss erst diese Nacht überstehen, dann ist sie überm Berg.“
Juli und Atikes weigerten sich strikt wegzugehen. Atikes konnte nicht weggehen. Er musste Hero doch Kraft geben. Auch wenn das für ihn bedeutete, dass er in dem Krankenhaus mit all den Schmerzen bleiben musste, obwohl er seine Fähigkeit bei weitem noch nicht unter Kontrolle hatte. Für Tom und Jan bedeutete das, dass auch sie bleiben mussten. Denn sie konnten die Kinder nicht ohne Aufsicht zurücklassen. Ihnen wurde ein Zimmer mit vier Kinderbetten zugewiesen, weil zurzeit nur Kinderzimmer frei waren. Jan und Tom mussten die Beine anziehen, denn die Betten waren ihnen zu kurz.
Alle schliefen so gut wie nicht, obwohl der Arzt versprochen hatte, sie holen zu lassen, wenn sich Heros Zustand verschlechterte.
Am nächsten Morgen als Dr. Engel, der behandelnde Arzt kam, erfuhren sie, dass Hero in der Nacht gerade noch mal so die Kurve gekratzt hatte, jetzt aber außer Lebensgefahr war.
Juli wollte den Arzt gerade anfahren, weil er sie nicht hatte holen lassen, als Dr. Engel sagte, dass Hero ins Koma gefallen war.
Die Jungs wichen den ganzen Tag nicht von Hero Seite. Sie machten sich schwere Vorwürfe, sie hätten Hero nicht allein lassen dürfen. Sie hatten gesehen, wie sauer Alpha, Boxer und Pitbull gewesen waren. Sie hätten wissen müssen, dass die drei ihr Versprechen wahr machen würden, dass sie Hero umbringen wollten.
Atikes hielt den ganzen Tag über Heros Hand und merkte, dass ihn das half, seine Kräfte allein auf Hero zu konzentrieren. Der Junge wurde stündlich blasser. Besorgt erkundigte sich Dr. Engel nach seinem Befinden. Doch Atikes wies ihn ab. Es ginge ihm gut.
Tom wollte eine Bleibe für die Jungen finden und Jan blieb als Aufpasser bei ihnen zurück.
Als Tom wieder ins Krankenhaus kam, strahlte er über beide Ohren. „Ich habe eine super Bleibe für euch gefunden. Gar nicht weit weg und Aufpasser dazu.“ Er wollte aber nicht verraten wo oder was es war. Nicht einmal Jan, seinem Kollegen.
Sie stiegen allesamt in den Wagen und warteten gespannt auf die Super-Bleibe.
Jan, Atikes und Juli versuchten während der Fahrt mehr aus Tom herauszukitzeln. Aber dieser blieb hart und verriet nichts. Für gar nicht weit weg kam Atikes die Fahrt ziemlich lang vor, denn, wie sich später herausstellen sollte, fuhren sie fast bis zum anderen Ende der Stadt.
Juli konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht ins Kinderheim brachten. Er wusste, …nein, darüber wollte er jetzt gar nicht nachdenken.
Nach einer Ewigkeit blieb das Auto vor einer Burg stehen. Erleichtert atmete Juli auf. Das war nicht das was er erwartet hatte.
„Was ist das?“, wollte Atikes wissen.
„Das ist Burg Haudrauf. Ein Internat“, antwortete Tom nicht ohne den Stolz auf seine Leistung, zwei Plätze in dieser Schule ergattert zu haben, verbergen zu können.
„Und was sollen wir hier?“, fragte Juli, obwohl er glaubte, die Antwort bereits zu kennen.
„Ihr sollt hier bleiben und in die Schule gehen“, sagte Tom. „Solange bis ihr uns verratet, wo eure Eltern sind.“ Wieso nur haben wir sie nicht sofort dem Jugendamt übergeben?
, fragte sich Tom. Wieso habe ich für sie einen Platz im Internat und nicht in einem Kinderheim gesucht. Irgendetwas
, erkannte Tom, war bei diesen Kindern anders. Irgendwie waren sie anders, besonders.
Er hatte sich mit dieser eigenmächtigen Aktion weit aus dem Fester gelehnt. Das entsprach nicht den Vorschriften.
Die Jungs enthielten sich jeglichen Kommentars, wohl wissend, dass sie gerade noch einmal einer Katastrophe entkommen waren. Beide waren nicht sonderlich gut auf Kinderheime zu sprechen.
Gemeinsam betraten sie die riesige Eingangshalle der Burg.
Dort wurden sie von einem älteren, fülligen Herrn empfangen. „Hallo, ich bin Herr Thoma, der Direktor dieses Internats. Ich freue mich, dass sie sich für dieses Internat entschieden haben. Hiermit heiße ich sie auf Burg Haudrauf herzlich willkommen“, ratterte er seinen wie auswendig gelernten Spruch herunter.
Juli musterte ihn verholen. Er konnte sich kaum das Lachen verkneifen. Der Bauch des Direktors glich einer Kugel und die hohe Stimme passte überhaupt nicht dazu.
Tom und Jan verabschiedeten sich schnell wieder, denn sie wollten, bevor sie ihren Dienst antreten mussten, im Krankenhaus vorbeischauen.
Den Jungs wurde ein Zimmer – das Gästezimmer wie sich herausstellte – zugewiesen, dort erwartete sie ein etwa gleichaltriger Junge.
„Das ist Lucas. Er wird euch einweisen“, sagte der Direktor und ließ die drei allein. Eine Flut an Fragen prasselte auf die zwei Jungs nieder.
„Hi! Wie heißt ihr? Was macht ihr hier? Warum kommt ihr mitten im Schuljahr?“
Die zwei nannten ihre Namen, beantworteten aber sonst keine seiner Fragen.
Achselzuckend begann Lucas die Führung.
Als sie wieder in dem Gästezimmer waren, fragte Lucas noch einmal: „Was macht ihr hier und wieso kommt ihr erst mitten im Schuljahr?“
„Wir sind umgezogen, weil sich unsere Eltern haben scheiden lassen“, antwortete Atikes, der sich diese Ausrede während der Führung ausgedacht hatte. Juli sah ihn dankbar an. Auch er hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Es stimmte ja schließlich … irgendwie. Er war in diese Stadt umgezogen und hatte sich den Dieben angeschlossen.
„Ach so.“ Lucas gab sich damit zufrieden. Es sah auf die Uhr. „Oh Shit, ich hab das Training vergessen. Tschüss!“ Er rannte aus dem Raum. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. „Wollt ihr nicht mitkommen?“
Natürlich kamen die zwei mit, was sollten sie auch in dem Zimmer machen, außer sich weitere Vorwürfe über Heros Zustand zu machen.
Das Training erwies sich als Weitsprung. Lucas lief zu einem Mann im blauen Trainingsanzug, der am Rand der Sandgrube stand. „’tschuldigung. Herr Larsen. Aber ich musste unseren Neuen die Schule zeigen.“
„Schon in Ordnung“ Herr Larsen musterte Juli und Atikes. „Wollt ihr nicht auch mitmachen? Ihr seht ziemlich sportlich aus.“ Die zwei nahm die Einladung freudig an.
Die Jungs hatten Spaß, vergaßen für einen kurzen Augenblick Hero.
Am nächsten Tag nach dem Unterricht wurden sie von Tom und Jan abgeholt. Dann saßen sie den ganzen Nachmittag an Heros Bett.
„Aufwachen!“, drängte die Stimme. „Wach auf, Hero, du hast lange genug geschlafen.“
Hero regte sich unwillig, wollte die Aufforderung nicht hören. Die Wärme, die sie umgab, war zu behaglich, um sie schon aufzugeben. Doch die Stimme gab nicht nach. „Steh auf! Wir brauchen dich!“ Da erkannte Hero die Stimme. Atikes! Sie wollte die Augen aufschlagen. Doch es ging nicht. Irgendetwas hinderte sie daran. So sehr sie es auch versuchte und plötzlich war die Stimme verschwunden. Sie umgab wieder diese schwarze Masse, aus der sie sich nicht befreien konnte.
Alle Tage der nächsten zwei Wochen verliefen gleich. Nur der Unterricht brachte den Jungs Abwechslung.
Die beiden Polizisten schauten jeden Tag vor Dienstbeginn und nach dem Dienst im Krankenhaus vorbei. Heute musste Jan allerdings noch etwas einkaufen.
Tom hielt ihn zurück. „Was soll ich sagen, wenn sie aufwacht?“ Woran er eigentlich nicht glaubte, es aber doch hoffte.
„Wie wär’s mit Hallo.“ Jan ließ ihn stehen.
Tom starrte schon eine geraume Weile stumm auf das blasse Gesicht. Plötzlich fiel sein Blick auf Heros Finger, die aus dem Gips noch herausschauten. Das Mädchen war größtenteils eingegipst oder einbandagiert worden. Aber die Finger – ihm stockte der Atem – sie bewegten sich. Das gibt’s doch nicht. Sie wacht auf. Tatsächlich. Sie wacht endlich auf.
Jetzt bewegten sich auch ihre Lider und der Mund. Tom konnte nicht verstehen, was sie sagte. Aber das interessierte ihn jetzt auch reichlich wenig.
Auf einmal schlug das Mädchen die Augen auf und schloss sie gleich wieder geblendet. In ihrem Kopf explodierte etwas und sofort fing jemand an mit einem Hammer wild drauf los zu hämmern.
Sie wusste nicht, wo sie war oder was passiert war. Langsam öffnete sie die Augen wieder. Das Weiß blendete und irgendjemand beugte sich über sie. Aber sie sah nur eine verschwommene Gestalt. Langsam klärte sich ihr Blick. Dann erblickte sie Tom und erschrak zutiefst. Sie wollte wegkriechen aber sie konnte nicht. Ihre Arme und Beine bewegten sich nicht. Die Panik spiegelte sich in ihren Zügen wider.
„Keine Angst, ganz ruhig. Du bist in Sicherheit. Dir droht keine Gefahr mehr.“ Tom wusste nicht, wieso er das sagte, wieso er ausgerechnet diese Worte gewählt hatte.
Es dauerte eine Weile bis Hero den Sinn dieser Worte verstand. Langsam entspannte sie sich wieder etwas.
Tom lächelte sie an, drehte sich um und ging zur Tür. Er wollte einen Arzt holen und gab Hero somit Gelegenheit das Zimmer genauer zu inspizieren. Es gab wenig zu entdecken. Die Wände waren weiß gestrichen und viele komische Geräte, deren Funktion Hero nicht erraten konnte, standen herum.
Dann kamen Tom und ein Arzt ins Zimmer.
„Ach hallo. Weilen wir wieder unter den Lebenden?“, begrüßte der Arzt sie lächelnd.
Hero versuchte zu antworten, aber sie brachte nur einen erbärmlichen Krächzer zustande. Ihr Mund war staub trocken. Dr. Engel reagierte sofort und half ihr beim Trinken.
„Danke“, krächzte Hero.
„Bitte, bitte“, antwortete der Arzt.
„Wer…wer ist das?“, fragte Hero schwach. Denn dass der eine ein Arzt war, konnte Hero unschwer an dem weißen Kittel erkennen.
„Das ist ein Polizist. Hauptkommissar Kranich“
Hero erschrak zutiefst. Wusste der Mann schon, wer sie war, wer sie laut Medien war? Ein Mörder? Ein Brandstifter?
„Und ich bin Dr. Engel“, stellte sich der junge Mann vor.
„Du kannst mich Tom nennen wie deine Freunde.“
„Meine Freunde? Wo sind sie?“ Hero vergaß die Angst um ihre Zukunft, machte sich nun Sorgen um Juli und Atikes.
Hero spürte die Schwäche und die Schmerzen kaum noch, als sie an Juli und Atikes dachte.
„Sie sind in Sicherheit“, antwortete Tom. Er wusste wieder nicht, wieso er das sagte. Doch das war genau das, was das Mädchen hören wollte
., erkannte er.
„Wo sind sie?“, wiederholte Hero ihre Frage.
„In einem Internat ganz in der Nähe.“
Das beruhigte Hero ein wenig aber nicht ganz, denn Alpha oder jemand anderes konnte sie auch dort finden.
Das Mädchen war erschöpft. Dieses kurze Gespräch hatte sie all ihrer Kräfte beraubt.
„Wir lassen sie jetzt allein. Sie braucht jetzt viel Ruhe“, sagte der Arzt, der seine kleine Patientin genau beobachtet hatte.
Hero schloss die Augen und schlief augenblicklich ein.
Juli und Atikes hatten gerade Biologie. Sie waren kurz vorm Einschlafen, als Tom und Jan ohne Anzu-klopfen das Klassenzimmer stürmten.
„Was fällt ihnen ein?“, fragte der Lehrer.
„’tschuldigung. Aber wir müssen Juli und Atikes erlösen“, sagte Jan grinsend.
„Was? Das lass ich nicht zu!“
„Müssen sie aber“, sagte Tom und kramte in seiner Jacke.
„Wieso sollte ich?“ Die Augen des Lehrers verengten sich gefährlich.
„Deswegen.“ Jan, der seinen Ausweis vor Tom gefunden hatte, hielt ihn dem Lehrer unter die Nase. Der Pauker lief rot an vor Wut, gab sich aber geschlagen.
Jetzt hielt es Juli nicht mehr aus. „Ist etwas mit Hero?“
„Sie ist endlich aufgewacht“, sagte Jan freudestrahlend. Juli fiel Atikes um den Hals und führte – soweit das in dem engen Klassenzimmer möglich war – einen Freudentanz mit ihm auf.
Diesen Freudenausbruch nutzte der Rest der Klasse, um zu reden. Die Fragen gingen alle in dieselbe Richtung. Was will die Polizei von den Neuen? Wer ist Hero? Was ist passiert?
Sie stellten Mutmaßungen an aber keine kam auch nur irgendwie in die Nähe.
„Ruhe! Ruhe!“, versuchte der Lehrer die Klasse zu bändigen. Genauso gut hätte er aber auch versuchen können, ein Flugzeug am Abstürzen zu hindern.
Wunder um Wunder geschieht
„Hero, was ist mit dir geschehen?“, fragte Dr. Engel, als seine kleine Patientin wieder aufwachte.
Das Mädchen sah ihn stumm an.
„Du hast Wunden, die nicht von dem Sturz stammen können. Auf dich wurde geschossen. Du wurdest zwei Mal getroffen. Die Wunde an deinem Bauch sieht aus wie von … von einem Messer. Was ist mit dir geschehen?
Als die Jungs endlich im Krankenhaus ankamen, wurden sie von einem händeringenden Arzt empfangen. „Ein Wunder ist geschehen. Ein wahres Wunder.“ Dr. Engel konnte es nicht anders beschreiben. Wunder gehörte zwar nicht unbedingt zu seinem Wortschatz als Arzt. Aber der Mann konnte das Geschehene nicht anders in Worte fassen.
„Was ist denn passiert?“, fragte Tom.
„Ihre Knochenbrüche sind alle geheilt. Auf zwei Wochen sind ihre Knochen wieder zusammengewachsen“ Dr. Engel schüttelte verwirrt den Kopf. Er hatte schon viel gesehen. Aber so was … nein!
„Das ist doch unmöglich“, wunderte sich Jan.
„Unmöglich aber wahr“, sagte Dr. Engel. „Sie hat keine einzige Narbe von ihrem Sturz davongetragen.“
Gemeinsam betraten sie Heros Zimmer.
Hero saß aufrecht in ihrem Bett und ihr Mund lächelte. Aber ihre Augen sahen traurig drein. Juli und Atikes fielen ihr um den Hals. Auch Tom und Jan umarmten sie. Denn mittlerweile hatten sie die drei ins Herz geschlossen.
„Aber“, meinte der Arzt traurig, „sie wird vielleicht nie wieder laufen können.“
„Was?“, riefen Tom, Jan, Juli und Atikes erschrocken wie aus einem Munde.
Dr. Engel wusste nicht, wieso ihm diese Patientin so zu Herzen ging. Der Arzt hatte noch keinem seiner Kollegen von diesem Wunder erzählt. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es überhaupt machen würde. Irgendetwas hatte dieses Mädchen an sich. Sie war etwas Besonderes.
Dr. Engel war ihren dunkeln Augen verfallen.
„Ja“, antwortete Hero an Stelle des Arztes. Ihre Stimme war schwach, ihr ganzer Körper war schwach. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
„Aber es besteht noch Hoffnung“, versuchte Dr. Engel sie aufzumuntern.
Nachdem sie auch diesen Nachmittag im Krankenhaus verbracht hatten, brachten Tom und Jan Juli und Atikes ins Internat zurück.
Die Jungs hatten mit Hero über einige ungefährliche Dinge gesprochen, denn vor den Polizisten wollten, konnten sie nicht von den Dieben, von ihrem Abenteuer sprechen.
Aber das Mädchen hatte wenig gesagt. Immer wieder hatte sie beinahe ängstlich einen Blick zu Tom und Jan geworfen. Hatte man sie erkannt? Hatte man Hero Leone erkannt?
Doch die Polizisten lächelten sie freundlich an.
Im Internat angekommen, wurden die Jungs von den Schülern mit Fragen bestürmt.
„Wer ist Hero?“
„Was ist mit Hero?“
Aber Juli und Atikes verschwanden schnellstens in ihrem Zimmer ohne irgendeine Frage zu beantworten. Sie wollten jetzt nicht reden. Sie mussten die Geschehnisse des Tages erst verarbeiten.
Auch am nächsten Morgen beantworteten sie keine Fragen.
Nach der Schule wurden sie wieder von den Polizisten abgeholt. Die Jungs verbrachten den ganzen Nachmittag im Krankenhaus.
„Hero, dein Nachname? Wie lautet der?“, wollte Tom am nächsten Tag wissen, als er mit seinem Kollegen und dem Mädchen allein war.
Hero presste die Lippen aufeinander. In ihrem Kopf arbeitete es. Dem Namen Hero Leone haftete so vieles an, was das Mädchen am liebsten vergessen würde.
Hero Leone soll verantwortlich für den Autounfall sein.
Hero Leone soll den Tod ihrer Eltern verschuldet haben.
Hero Leone soll ein Brandstifter sein.
Hero Leone ist ein gesuchter Mörder.
Hero Leone ist Zodiak 10.000 ¤ wert.
Hero wusste, dass die Polizisten früher oder später ihren Nachnamen erfahren würden. Aber sie hatte Angst davor, ihn selbst zu nennen, hatte Angst vor den Folgen ihres Namens. Was würden die Polizisten unternehmen, wenn sie es wüssten?
„Hero, wenn du uns nicht deinen vollen Namen sagst, können wir deine Eltern nicht informieren.“
Heros Gesicht verdüsterte sich. „Meine Eltern sind tot.“
Die Polizisten unterließen für diesen Tag weitere Fragen. Doch am nächsten Tag fingen sie wieder an. Weiterhin weigerte sich Hero ihren Namen zu sagen.
So verging die nächste Woche.
Hero wurde von Tag zu Tag verschlossener, denn sie nahm jetzt erst richtig wahr, was alles geschehen war, was alles geschehen war, seit sie ihre Eltern verloren hatte, seit sie ihr Leben verloren hatte.
Nach zwei weiteren Tagen kam Dr. Engel besorgt in Heros Zimmer. Er betrachtete erst das Essen, das Hero nicht angerührt hatte und dann das blasse Mädchen.
„Wenn du nicht bald etwas isst, müssen wir dich an den Tropf hängen.“
Widerwillig nahm Hero die Gabel in die Hand und aß ein paar Bissen, um den Arzt eine Freude zu machen.
Eines Nachts wachte Hero wieder einmal schweißgebadet auf. Sie wusste nicht, was sie geträumt hatte aber es musste ein Alptraum gewesen sein. Wie es schon so viele Nächte vorher der Fall gewesen war.
Aber plötzlich fühlte sie ein Kribbeln in ihren Füßen. Vorher hatte sie absolut nichts gespürt. Das konnte nur ein gutes Zeichen sein.
Am nächsten Morgen erzählte das Mädchen der Krankenschwester von dem Kribbeln.
Frau Beisinger machte ihrem Namen alle Ehre, als sie bissig antwortete: „Das bildest du dir nur ein. Das passiert so gut wie nie! Wieso sollte es ausgerechnet bei so einem Rotzlöffel wie dir geschehen?“
Hero konnte die Beisinger nicht leiden und es steigerte sich immer mehr. Bald würde es Hass sein, wenn das so weiterging.
Frau Beisinger kam nur, wenn es unangenehme Arbeiten gab. So wie heute: Blutabnahme. Einfühlsamkeit war ein Fremdwort für sie. Sie schlug die Nadel in die Haut, als ob sie durch eine extrem dicke Kuhhaut wollte. Und Hero glaubte, dass Frau Beisinger nicht nur sie, sondern alle so schlecht behandelte. Denn Hero war sich keiner Schuld bewusst. Sie hatte Frau Beisinger weder absichtlich noch unabsichtlich verärgert.
Hero hatte zudem das dumpfe Gefühl, dass nicht nur Frau Beisinger davon überzeugt war, dass sie nie wieder laufen würde. Denn das Mädchen hatte bereits lernen müssen, selbstständig in den Rollstuhl ein- und auszusteigen.
Jetzt saß sie den ganzen Tag an einem See im Park und dachte nach, versuchte sich zu erinnern an das Leben vor dem Autounfall.
An diesem Tag saß Hero schon eine Weile allein am Wasser und beobachtete die Enten, die trotz der Kälte auf dem See schwammen.
Ein Junge etwa sieben oder acht Jahre alt mit feurig roten Haaren und leichtem Übergewicht ebenfalls im Rollstuhl fuhr auf den Steg und fütterte die Enten mit Brotkrümmeln.
Als ihm die Tüte aus der Hand fiel, bückte er sich, um sie wieder aufzuheben. Leider löste sich die Bremse und sein Rollstuhl setzte sich in Bewegung. Bevor der Junge ihn stoppen konnte, fuhr er über den Rand des Stegs und plumpste ins Wasser. Es war kein anderer Mensch in der Nähe, um den Jungen, der um sein Leben kämpfte aus dem Wasser zu ziehen.
Hero dachte nicht an die möglichen Folgen, dachte nicht daran, dass sie gelähmt war, dass sie gar nicht schwimmen konnte, als sie zum Uferrand fuhr und sich ins Wasser fallen ließ. Als sie im eiskalten Wasser war, schaltete sich ihr Hirn aus, jedenfalls glaubte sie das nachher.
Sie schwamm ungeschickt zu dem entkräfteten Jungen und hielt ihn mit einer Hand über Wasser während sie mit dem anderen Arm und den Beinen – sie bewegte tatsächlich ihre Beine – Schwimmbewegungen machte. Doch das registrierte Hero nur am Rande ihres Bewusstseins.
Sie schwamm zu ihrem Rollstuhl zurück, der umgefallen war und zog den bewusstlosen Jungen an Land.
Zitternd vor Anstrengung und Kälte kroch sie zu dem Rollstuhl, stellt ihn wieder hin, setzte sich hinein, rollte zu dem Jungen und hob ihn auf. Ihre Beine hatten sich zwar bewegt, aber jetzt funktionierten sie nicht mehr.
Es wurde Schwerstarbeit den Jungen zu dem Krankenhaus zurückzubringen. Auf dem ganzen Weg begegnete ihr keine Menschenseele. Der Weg war ihr noch nie so lang vorgekommen.
In der Eingangshalle war niemand. Das durfte nicht sein. Aber immer wenn man jemanden braucht, war keiner da.
, erkannte Hero bevor sie endgültig die Kräfte verließen. Erst jetzt hatte sie gemerkt, dass sie sich noch nicht vollkommen erholt hatte, obwohl sie das bisher angenommen hatte – wie verrückt es auch klingen mochte. Es war aber auch erst zwei Wochen her, seit sie aus dem Koma erwacht und dem Tod endgültig von der Schippe gesprungen war.
Nach ungefähr zehn Minuten kam eine Krankenschwester aus der Mittagspause zurück und entdeckte die beiden, die mittlerweile aus dem Rollstuhl gefallen waren und jetzt auf dem kalten Boden lagen.
Als Hero erwachte lag sie in einem Bett in einem weißen Zimmer. Im ersten Moment wusste sie gar nicht was los war. Sie fror erbärmlich. Es was als würde ihr Gedächtnis schnell zurück gespult. Enten – Junge – Wasser. Sie sah nach rechts und links. Sie lag in einem Zwei-Bett-Zimmer und in dem anderem Bett lag der Junge und schien tief und fest zu schlafen.
Die Tür ging auf und jemand trat leise ein. Hero richtete sich so plötzlich auf, dass der Eintretende den Mund aufriss.
„Hero, was machst du nur für Sachen?“, fragte der Arzt. „Ist dir eigentlich klar, dass du hättest sterben können!?“
„Klar, aber sollte ich deswegen den Jungen sterben lassen? Was ist mit ihm?“ Hero wollte von sich ablenken. Das war offensichtlich. Doch Dr. Engel ging darauf ein.
„Er hat eine leichte Unterkühlung sonst fehlt ihm nichts. Bis jetzt jedenfalls.“
„Was soll das heißen?“, fragte Hero argwöhnisch.
„Ihr könntet eine schöne Grippe kriegen.“
„Aha. Hatschi.“
„Sie fängt schon an“, stellte der Arzt schlauerweise fest.
„Danke, das hätte ich selbst auch noch mitbekommen“, antwortete Hero gereizt.
Während des Gesprächs hat ein ausgeflippter Schlagzeuger mit elektronischer Verstärkung zwischen ihren Ohren angefangen zu trommeln. Nicht zum Aushalten war das.
Und Hero hatte das ungute Gefühl, dass das erst der Anfang war. Und sie sollte Recht behalten.
Innerhalb der nächsten zwei Stunden legte der Schlagzeuger erst richtig los. Dazu kamen noch Übelkeit, Fieber und eben alles was zu einer richtigen Grippe dazugehörte. Billy – so hieß der Junge - erging es besser. Er bekam nur einen leichten Schnupfen. Doch Heros Körper war noch so angeschlagen von den Verletzungen von deren rasanter Heilung, dass er sich nicht gegen die Viren zur Wehr setzen konnte.
Am selben Tag noch kamen Billys Eltern und seine große Schwester Eva, die etwa so alt war wie Hero.
Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Hero bereits Fieberträume. Sie träumte, dass Juli und Atikes Alpha nicht entkommen waren und dass Alpha die Jungen nun folterte.
„Sohn, was hast du jetzt schon wieder angestellt?“, fragte der Vater ernst.
„Ich bin in den See gefallen.“
„Was?“, rief seine Mutter erschrocken. „Aber du kannst doch gar nicht schwimmen.“
„Kann ich auch nicht.“
„Und wieso lebst du dann noch?“, fragte seine Schwester frech.
„Weil mich ein Mädchen aus dem Wasser gezogen hat.“
Vater und Mutter schlossen Billy in die Arme. Tränen rannen leise über das Gesicht der Mutter. Hero war der Familie noch nicht aufgefallen.
„Hatschi“
„Du bist krank“, stellte Billys Mutter besorgt fest.
„Ist nicht so schlimm.“
„Und wo ist deine Lebensretterin?“, wollte der Vater wissen.
„Da!“ Billy wies auf Hero, die in diesem Moment wieder zum Reden anfing.
„Was hat sie?“, wollte Eva wissen.
„Fieber“, antwortete Billy nur.
„Alpha lass sie in Ruhe. Sie haben nichts mit der ganzen Sache zu tun“, murmelte Hero immer wieder.
„Das arme Kind. Wie hoch ist das Fieber?“, fragte die Mutter.
„41°C“, antwortete Dr. Engel, der leise eingetreten war. „Ihr Sohn hatte Glück. Unverschämtes Glück, will ich behaupten.“
„Wieso das denn?“, fragte der Vater besorgt.
„Hero“, er zeigte auf das Mädchen, „kann auch nicht laufen.“
„Aber schwimmen“, bemerkte Eva grinsend, wurde aber sofort wieder ernst. „Woher kommt sie eigentlich?“
„Wieso willst du das wissen?“ Billy sah seine Schwester herausfordernd an.
„Ich dachte, ich hab sie schon einmal gesehen“, antwortete sie nachdenklich.
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Arzt wahrheitsgemäß.
„Bekommt sie denn keinen Besuch?“, fragte Billy.
„Doch von zwei Polizisten und zwei Jungen.“
„Und ihre Eltern?“
„Tot“, gab er traurig zur Auskunft.
Eva betrachtete Hero jetzt mit anderen Augen und doch war sie sich sicher, dass Mädchen war ihr schon einmal begegnet.
Am nächsten Tag war Hero immer noch in den Fieberträumen gefangen. Auch heute hatte sie keinen Besuch. Das war ungewöhnlich wie Dr. Engel fand, aber auch verständlich, denn sie hatten die Telefonnummer beziehungsweise Namen weder von den Polizisten noch von den Jungen, um sie von dem Vorfall zu unterrichten.
Am Tag darauf schlief Hero immer noch. Aber diesmal hatte sie nur noch 38°C und somit auch keine Fieberträume mehr.
Als Billys Familie wieder da war, wachte sie endgültig auf. Wieder wusste sie nicht, wo sie war, denn sie war der festen Ansicht, dass sie bei Alpha war und er Juli und Atikes folterte. Verwirrt schweifte ihr Blick durch den Raum.
„Hallo“, sagte eine männliche Stimme.
Hero sah in das Gesicht des Mannes. Schnell ließ sie die Gesichter der Männer von Alpha vorbeilaufen. Aber dieser Mann gehörte nicht dazu. Davon war sie felsenfest überzeugt. Hero entspannte sich wieder etwas, denn sie hatte sich, ohne dass sie es hätte verhindern können, bereit zur Flucht gemacht.
„Hallo“, sagte der Mann noch einmal. „Ich bin Billys Vater.“
„Wessen Vater?“, fragte Hero verdattert nach. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht allein im Raum waren. Das Mädchen, die Frau sowie der Mann waren ihr vollkommen unbekannt. Aber den Jungen kannte sie recht gut. Dank ihm konnte sie wieder laufen – na ja, wenigstens hatte sie wieder ein Gefühl in den Beinen.
Auf einmal legte der verrückte Schlagzeuger wieder los. Hero verzog das Gesicht von den plötzlichen Schmerzen.
„Sollen wir einen Arzt holen?“, fragte Billys Mutter ängstlich.
„Wieso? Nein!“, wehrte Hero schnell ab.
Billys Mutter betrachtete sie aber weiterhin besorgt.
„Wir wollen uns bei dir bedanken, dass du unseren Sohn gerettet hast“, kam der Mann auf das eigentliche Gesprächsthema zurück. „Wenn du dir irgendetwas wünscht, musst du es nur sagen.“
„Nein, danke. Aber das hab ich doch gern gemacht.“
„Aber du hast dich dabei in Gefahr begeben, um unseren Billy zu retten“, meinte die Mutter.
„Mir ist ja nichts passiert“, erwiderte Hero.
„Aber du bist sehr krank“, widersprach Billys Mutter.
Hero blieb stumm.
Obwohl fünf Leute im Raum waren, wurde es unheimlich ruhig.
Gerade als die Stille immer bedrückender wurde, kam Dr. Engel herein. Hero schien es, als würde das ganze Krankenhaus nur aus diesem einen Arzt bestehen.
„Und geht es uns wieder besser?“ Der Arzt versteckte es, falls es ihn erstaunt hatte, Hero wach vorzufinden.
„Na klar“, antwortete Hero so gut gelaunt wie es mit diesem Schlagzeuger im Kopf möglich war.
Das Mädchen hatte sich dazu entschlossen, das Kribbeln auch weiterhin zu verschweigen. Sie wollte niemanden falsche Hoffnungen machen, am wenigsten sich selbst.
Als sie nach fünf Tagen Bettruhe – in denen sie sich schrecklich gelangweilt hatte – endlich wieder raus durfte, entschied sich Hero dafür einen anderen Weg in dem weitläufigen Krankenhauspark auszuprobieren. Sie nahm einen der unbenutzt aussah, denn für ihr Vorhaben brauchte sie keine Zuschauer. Nachdem sie dem Weg eine Weile gefolgt war, kam sie an einen See, der zwar kleiner war als der, an dem sie sonst saß, aber auch auf ihm schwammen Enten. Um den See herum standen sechs Bänke verteilt.
Sie fuhr direkt zu einer dieser Bänke, stützte sich auf die Lehne und hievte sich aus dem Rollstuhl. Ihr Gewicht lag dabei größtenteils auf ihren Armen und trotzdem krachte sie zusammen wie ein Kartenhaus. So ging es den ganzen Tag.
„Was hast du da gemacht?“ Dr. Engel wies auf ihr Kinn und ihre Wange, die blutige Kratzer zierten, die von ihren unzähligen Stürzen herrührten.
„Das? Ich bin über einen Stein gefahren und hingeflogen“, log Hero ohne rot zu werden.
Der Arzt glaubte ihr nicht aber er konnte ihr auch nicht das Gegenteil beweisen.
„Komm mit!“, sagte er schließlich. „Wir müssen das reinigen.“ Kopfschüttelnd ging er voran und Hero folgte ihm deutlich langsamer. Ihre Arme fühlten sich an wie Blei.
Als Hero endlich in ihrem Zimmer war, ließ sie sich erschöpft aufs Bett fallen.
Nach weiteren fünf Tagen und weiteren Schürfwunden konnte Hero bereits langsam und ohne Halt laufen. Jetzt wollte sie es Dr. Engel zeigen.
Das Mädchen saß im Schneidersitz auf ihrem Bett als dieser zur täglichen Visite kam.
Er wandte sich erst Billy zu und stand somit mit dem Rücken zu ihr. Hero stand auf und ging leise und leicht schwankend auf den Arzt zu.
Billy machte große Augen. Das Mädchen legte den Zeigefinger auf ihren Mund. Der Junge verstand und tat, als sei nichts.
Hero tippte Dr. Engel auf die Schulter. Dieser drehte sich um und stand stocksteif mit offenem Mund da.
„Aber … aber … du … du kannst laufen“, brachte er mühsam hervor.
Billy kugelte sich vor Lachen. So ein dummes Gesicht machte der Arzt selten.
Hero nickte.
„Seit wann?“ Der Arzt hatte sich wieder gefangen.
„Seit fünf Tagen“, antwortete Hero. „Hätten Sie mal ein Telefon und ein Telefonbuch?“, fragte sie.
„Ja, aber warum?“
„Ich möchte Juli und Atikes anrufen!“
Später saßen Dr. Engel, Billy, seine Familie, Juli, Atikes, Tom, Jan und Hero in der Cafeteria und aßen Kuchen.
„Ich will nie laufen können“, verkündete Billy gerade.
„Wieso nicht? Ich habe es vermisst“, meinte Hero ehrlich erstaunt.
„Erstens weiß ich nicht, ob Laufen anstrengend ist, weil ich es ja noch nie konnte und zweitens müsste ich dann Sport treiben und das ist ja bekanntermaßen Mord“, erklärte er.
Alle lachten. Es wurde ein amüsanter Nachmittag.
Die Polizisten wollten die gute Stimmung nicht verderben, daher behielten sie ihre Neuigkeiten noch für sich. Aber am nächsten Tag fingen sie Hero vor ihrem Zimmer ab.
„Hero … Leone?“ Gespannt warteten Tom und Jan auf Heros Reaktion.
Das Mädchen erschrak zutiefst. Sie hatte gewusst, dass die Polizisten irgendwann darauf kommen würden. Doch hatte sie sich der abstrusen Hoffnung hingegeben, dass sie immer einfach nur Hero sein konnte und nicht Hero Leone, der Mörder. Das Mädchen konnte ihr Erschrecken nicht einmal ansatzweise verbergen. Ihre Gesichtsfarbe änderte sich von blass zu kalkweiß.
Die Polizisten waren nicht sonderlich begeistert von ihrer Entdeckung. Sie mochten das Mädchen. Doch wenn sie ein Mörder war, musste sie ihre gerechte Strafe erhalten. Sie war zwar erst vierzehn und somit nur bedingt strafmündig aber bei dieser Schwere des Verbrechens würde sie sicher in ein Heim für schwererziehbare Kinder gesteckt werden.
„Wieso hast du das getan? Wieso hast du deine eigenen Eltern umgebracht?“
Diese Frage erschütterte Hero mehr als alles andere was die Polizisten hätten sagen können. Das Kind war unfähig, darauf zu antworten. Diese Frage zeigte ihr, dass Tom und Jan schon fast von ihrer Schuld überzeugt waren.
Hero schüttelte stumm den Kopf und ging in ihr Zimmer.
Die Polizisten folgten ihr nicht. Bei Hero bestand keine Fluchtgefahr. Dafür war das Kind, ihrer Meinung nach, zu schwach. Sie konnte keine weiten Strecken laufen. Dennoch trugen sie Dr. Engel ohne nähere Erklärungen auf, Hero besonders im Auge zu behalten und verließen das Krankenhaus.
Als der Arzt das Zimmer betrat, lag das Mädchen auf dem Bett und weinte. Ihr Leben, vor dem sie bis jetzt erfolgreich geflohen war, hatte sie eingeholt. Keiner würde ihr glauben, dass sie nicht der Mörder war, für den sie alle hielten.
Leise verließ Dr. Engel das Zimmer wieder, ohne seine kleine Patientin angesprochen zu haben. Es verletzte ihn, Hero in einem derartigen Zustand zu sehen. Nicht einmal, als er dem Mädchen hatte sagen müssen, dass sie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht wieder würde laufen können, hatte Hero geweint. Sie war immer tapfer gewesen. Doch jetzt?
Dr. Engel schüttelte traurig den Kopf. Was hatten die Polizisten Hero erzählt? Was hatte sie so aus dem Gleichgewicht gebracht?
Am Abend setzte sich das Kind auf. Sie hatte erneut einen Entschluss gefasst. Sie würde aufrecht stehend alles weitere ertragen. Sie hatte nun so viel ausgehalten, war ihrem Verderben und sogar dem Tod in letzter Zeit unglaublich nah gekommen, da würde sie auch diese Strafe überstehen. So schlimm wie ihre letzen Wochen konnte es unmöglich sein. Dennoch brachte es Hero nicht über sich, den Jungs von diesem Teil ihres Lebens zu erzählen, den Jungs zu erzählen, wieso sie auf der Flucht war, dass die angeblich ihre Eltern umgebracht hatte. Die Jungs erfuhren nichts von dem, was die Polizisten herausgefunden hatten. Atikes kannte zwar die Nachrichtenmeldung, kannte auch Heros Version der Geschichte, doch auch ihm erzählte sie nichts, vom dem, was nun passieren würde.
Doch dann änderte sich alles. Nach zwei Tagen, in denen sie intensiv Laufen geübt hatte und die Polizisten sich nicht mehr hatten blicken lassen, sah sie Brutalo im Park umherstreifen. Hero konnte sich gerade noch rechtzeitig vor ihm verstecken.
Was will der denn hier?
, fragte sich Hero. Nein
, verbesserte sie sich selbst. Die bessere Frage wäre: Wie hat er mich hier gefunden?
Am selben Tag noch kamen Juli und Atikes. Auch sie waren überrascht und geschockt, dass Hero ihre Vergangenheit, so schnell eingeholt hatte.
Eins stand für sie fest: Sie mussten verschwinden.
Einen kurzen Abschiedsbrief würden die Polizisten am nächsten Tag finden.
Tut uns Leid, wir müssen weg von hier. Hero hat Brutalo (er heißt nicht so) gesehen.
Hero Atikes Juli
P.S. Ich hab sie nicht umgebracht. Bitte glaubt mir.
Ein verschwundener Arzt und eine seltsame Macht
Die drei gingen zurück zu den Dieben, um dort neue Pläne zu schmieden.
Hero wusste, der Tag würde kommen, an dem sie Juli, Atikes und die Diebe verlassen würde. Sie hatte Juli und Atikes nun schon mehrere Male in Gefahr gebracht. Hero wollte sie schützen. Es ging den Verbrechern nur um sie. Und plötzlich ohne Vorwarnung war der Tag gekommen.
Die Tageszeitung lag an diesem Morgen wie jeden Tag auf dem Tischchen in der Ecke. Normalerweise ging Hero ohne ihr eines Blickes zu würdigen, daran vorbei. Doch heute erregte ein Bild auf der Titelseite ihre Aufmerksamkeit. Von der Titelseite her blickte ihr Dr. Engel entgegen. Verwirrt blieb das Mädchen stehen und las den Artikel.
SPURLOS VERSCHWUNDEN!
Der renommierte Arzt, Dr. E., der in der Klinik dieser Stadt arbeitet, ist nun seit drei Tagen spurlos verschwunden. Dem Anschein nach kam der Arzt nach Beendigung seiner Schicht nicht mehr in seiner Wohnung an. Aber es liegt auch keine Lösegelderpressung vor. Seine Mutter kann sich nicht erklären, wo ihr Sohn ist. Nach ihren Aussagen hatte er keine Feinde.
Einer der letzten Patienten, die er behandelt hat, ist ebenfalls spurlos aus dem Krankenhaus verschwunden und wird bis heute vermisst. Besteht zwischen den zwei Fällen ein Zusammenhang? Herr Kaidoz äußerte diese Vermutung. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Ungläubig stand Hero vor der Zeitung. Irgendetwas irritierte sie an dem Artikel. Vielleicht das ein verschwundener Arzt einen Artikel auf der Titelseite bekam. Aber noch mehr verunsicherte sie, die Vermutung, die dieser Herr Kaidoz ausgesprochen hatte.
Halt, Moment mal. Wieso wird Kaidoz ausgeschrieben und Dr. Engel abgekürzt? Kaidoz … Kaidoz …
, überlegte das Mädchen. Irgendetwas regte sich in ihr und dann kam die Erleuchtung. Kaidoz ist Zodiak. Rückwärts gelesen. Zodiak hat Dr. Engel.
, erkannte Hero. Ich muss ihn befreien!
Sie zerknüllte die Zeitung, warf sie wütend in eine Ecke, schnappte sich ohne zu überlegen ihre zwei Schwerter, die in ein Tuch eingewickelt worden waren, und rannte aus dem Haus, aus der Stadt. Blind vor Wut mit nur einem Ziel vor Augen. Dr. Engel befreien. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus, wurde aber sofort wieder verdrängt.
Sie kam bei der Burg an und schlich leise in den Kerker. Den Weg kannte sie ja. Auf dem Weg dorthin begegnete ihr keine Menschenseele. Die Burg schien wie ausgestorben.
Mir kann’s ja egal sein. Aber es ist viel zu einfach. Vielleicht eine Falle?
Hero verdrängte den Gedanken schnell wieder. Und doch wusste sie, dass sie in ihr Verderben rannte.
Bei den Kerkern hing der Schlüssel vor dem einzigen versperrten Raum. Sie hastete die Treppe hinunter. Unten saß Dr. Engel verängstigt, verwirrt, frierend. Das Lächeln, das sonst immer aus seinem Gesicht auszumachen war, war verschwunden.
„Hero … Du … hier?“, stotterte er verwirrt.
„Ja, ich werde Sie befreien. Kommen Sie schon, stehen Sie auf! Beeilung!“
Hero zog den Mann hinter sich her, den Weg, den sie gekommen war.
„Ich habe schon auf dich gewartet, Hero!“, meinte Zodiak, der einsam und verlassen in der großen Halle stand.
Also doch eine Falle.
, dachte das Mädchen ohne eine Gefühlsregung. Ich wusste es.
„Doktorchen“, meinte Zodiak zuckersüß. „Sie gehen jetzt ganz schnell in ihr Zimmer zurück.“
Tatsächlich drehte sich Dr. Engel um und war im Begriff, den Raum wieder zu verlassen.
„Nein, Sie bleiben hier!“, sagte Hero bestimmt. „Ich befreie Sie, bringe Sie zurück zur Stadt.“
„Man belügt keine Erwachsenen, Hero, weißt du das nicht?“, fragte Zodiak mit weicher Stimme.
„Ich werde ihn befreien!“, sagte das Mädchen noch einmal.
„Deine Selbstüberschätzung ist fast lächerlich.“
„Ich nenne das eher Zutrauen.“ Hero blieb herausfordernd stehen. Langsam ging die Tür hinter Zodiak auf und zehn bewaffnete Uniformierte traten ein.
„Die werden reichen, um deine Meinung zu ändern“, meinte Zodiak lächelnd.
„Wieso sollten ein paar so Clowns meine Meinung ändern?“, fragte Hero herausfordernd. Das Mädchen wusste, aus dieser Falle würde sie nur schwerlich herauskommen. Aber wenigstens der Arzt musste in Sicherheit gebracht werden, wegen ihm veranstaltete sie das ganze Theater schließlich. Leise meinte sie zum Arzt: „Ich lenk die Gartenzwerge ab und Sie verschwinden!“
„Hero, ich hab dich nicht stundenlang operiert, nur damit dich dieser Irre ein zweites Mal umbringen kann“, flüsterte Dr. Engel. Er hatte Angst. Das hörte man deutlich. Doch war er nicht bereit, Heros Leben für seine Freiheit aufs Spiel zu setzen.
„Ich lasse mich nicht umbringen“, sagte Hero bestimmt.
Langsam und mit einer Ruhe, die Zodiak ihr gar nicht zugetraut hätte, wickelte Hero ihre Schwerter aus. Keine Sekunde zu früh warf sie den Stoff zu Boden, denn schon stürmten die Männer auf sie zu.
Hero hatte schon einige Hiebe einstecken müssen und der Arzt stand immer noch stocksteif mit vor Angst und auch vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen an demselben Platz.
„Jetzt verschwinden Sie endlich, meinen Sie ich mach das hier zum Spaß?“
Nun endlich setzte sich der Arzt in Bewegung. Diese eine Sekunde, die Hero abgelenkt war, hat ein Angreifer genutzt und sein Schwert schnitt schnell durch ihre Waden. Das Mädchen schrie auf, schwankte, hatte dann aber ihr Gleichgewicht wieder gefunden und kämpfte weiter. Sie spürte ihr warmes Blut, das langsam an ihren Beinen herab lief. Und schon nach wenigen Augenblicken flammte ein heftiger Schmerz in ihr auf. Das schaff ich nicht!, dachte sie und kämpfte trotzdem weiter. Ihre Schwerter sausten zwar langsamer aber immer noch schnell genug durch die Luft. Ihr Mund verzerrte sich vor Anstrengung. Es war ein Kampf gegen ihre geschundenen Beine – ein Kampf, den sie nicht zu verlieren gedachte. Die Minuten krochen im Schneckentempo dahin.
Verzweifelt fragte sie sich, ob dem Arzt die Flucht gelungen war. Doch dann erblickte sie ihn an der Tür. Unschlüssig stand er im Türrahmen.
„Jetzt verschwinden Sie doch endlich!“, rief Hero den Tränen nahe.
Endlich verschwand der Arzt aus ihrem Blickfeld.
„Hero, gib auf, du kannst dich ja kaum mehr auf den Beinen halten“, meinte Zodiak gutmütig.
„Nein, niemals.“
„Du hast einen starken Willen, das muss man dir lassen, aber du bist auch unendlich blöd. Gib auf!“
„Aufgeben? Daran würde ich niemals denken“, meinte Hero schwer atmend. Es bereitete ihr immer größere Schwierigkeiten auf den Beinen zu stehen. In einem letzten Kraftakt holte sie einen Angreifer von den Beinen. Doch dann holte die Union Zodiaks zum Gegenschlag aus. Alle noch verbliebenen Männer stürzten sich auf Hero und überwältigten sie.
Zwei Männer hielten sie an den Armen gepackt. Kraftlos hing das Mädchen zwischen ihnen. Sie musste sich ihre Niederlage eingestehen und wenn sie ehrlich war, hatte sie nie wirklich daran geglaubt, gewinnen zu können.
Zodiak setzte sich lachend in Bewegung.
Er ging in ein Spiegelkabinett. Hero traute ihren Augen nicht. Wohin sie sah, überall war Zodiak. Doch wo war der leibhaftige, lebendige Zodiak?
„Weißt du wieso ich dich hierher bestellt habe? In mein Spiegelkabinett?“
Hero hatte eine Menge frecher Antworten auf Lager, doch sie schluckte sie alle hinunter, auch wenn sie daran fast erstickte.
„All meine Feinde werden hierher gebracht. Ihnen wird anschaulich dargelegt, was geschehen wäre, wenn…“ Er sprach nicht weiter, sondern betrachtete Hero genau. Er suchte nach einer Regung, einer ganz bestimmten. Nach Angst. Doch Hero zeigte keine Anzeichen davon. „Sie werden allein gelassen mit sich, ihren unzähligen Spiegelbildern und mit ihren Gedanken. Nach kurzer Zeit werden ihre Gedanken wirr. Sie werden verrückt. Wozu das alles?, fragst du. Ich werde dir sagen, wozu. Verrückte sind einfacher dazu zu bewegen, Selbstmord zu begehen. Aber keine Angst. Dir wird dieses Schicksal nicht zuteil.“ Er grinste dämonisch. „Dir habe ich ein weitaus Schlimmeres zugedacht. Schau dich noch einmal genau an. Dank deinen Fähigkeiten siehst du unversehrt aus. Doch wie würdest du aussehen, ohne diese Gabe?“ Zodiak ließ ihr Zeit zum Überlegen.
„Ohne diese Fähigkeiten würde ich wahrscheinlich noch brav zu Hause sitzen und mich nicht mit Größenwahnsinnigen wie Ihnen herumschlagen müssen“, fauchte das Mädchen obwohl sie nicht wusste, auf welche Fähigkeiten Zodiak hinauswollte.
„Danke für das Kompliment.“ Dann richtete Zodiak seinen Zeigefinger auf Hero. „Zeig dein wahres Gesicht!“ Er berührte Heros rechten Oberarm. Gleich darauf war das Mädchen von blauen Flammen eingehüllt und sie wurde in die Höhe gehoben – das Mädchen war wehrlos.
Kurz darauf stand sie wieder auf eigenen Beinen. Aber es war nicht mehr die Hero, die vor ein paar Sekunden noch dort gestanden hatte. Sie sah vollkommen anders aus. Hässlich, um genau zu sein. Sie war übersäht mit widerlichen Narben; von Kopf bis Fuß. Fassungslos starrte das Mädchen ihr Spiegelbild an. War sie das?
„Dein Körper wird durch mein Wirken jede Menge zu tun haben. Er wird gegen all deine Krankheiten, Knochenbrüche und was du sonst noch so hattest, ankämpfen; gegen alles auf einmal. So wird er sich langsam aber unaufhaltsam zugrunde richten. Während dein Körper gegen Phantome kämpft, wirst du immer schwächer. Ein langer grausamer Weg steht dir bevor, ehe du ruhig die Augen schließen kannst und sie nie wieder öffnen wirst.“
Hero hatte seinen Ausführungen still gelauscht, plötzlich durchzuckte ihren Körper ein alles dagewesene übertreffender Schmerz. Sie krümmte sich und presste die Hand auf ihren Bauch.
„Du spürst es schon, nicht wahr“, lachte der Mann. „Aber das ist noch gar nichts, gegen das was noch kommen wird.“ Bösartig lachend verließ er den Raum und ließ Hero allein, allein mit ihren Spiegelbildern und ihren Schmerzen.
Ein Kind ohne Erinnerung
Ein Mann, Mitte vierzig mit schwarzen aber bereits leicht angegrautem Haar, lief suchend durch den Schnee. Auf seinem Arm hatte er bereits eine beachtliche Menge an Brennholz angesammelt. Doch plötzlich entglitt ihm das Holz. Erschrocken rannte er los. Denn der Mann hatte etwas entdeckt, etwas, das nicht in den Wald gehörte. Schon gar nicht um diese Jahreszeit. Halb von Schnee bedeckt, der dieses Jahr schon sehr früh gefallen war, lag ein Kind, ein Mädchen.
Der Mann ließ sich neben dem Mädchen zu Boden sinken, fühlte den Puls und hatte ein Ohr knapp über ihrem Mund. Angestrengt versuchte er, den Puls zu fühlen, den Atem zu spüren. Aber da war nichts.
Als er seine Bemühungen schon aufgeben wollte, hielt er erschrocken inne. Da! … War da nicht was? … Ja, ganz schwach. Ihr Puls war kaum spürbar, aber da! Sie lebte!
Schnell befreite er den Körper des Mädchens von Schnee, wunderte sich kurz über ihre Kleidung – Turnschuhe, T-Shirt und Hose bis knapp über die Knie – und hob sie sanft hoch. Er war erstaunt, wie leicht dieses Mädchen war. Sein Brennholz ließ er einfach liegen und ging auf dem schnellsten Wege zurück zu seinem Haus.
Mit einem leisen Schrei und schweißüberströmt fuhr das Mädchen hoch. „Nein, nicht!“
„Alles ist gut! Du bist hier in Sicherheit!“
Verwirrt sah das Mädchen den Jungen an, der auf der Bettkante saß. Er war etwa vierzehn, hatte helle Haut und blondes Haar. Seine blauen Augen taxierten das Mädchen besorgt.
„Wer bist du?“, wurde sie von ihm gefragt. Sie öffnete den Mund, nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, aber ihr wollte ihr Name partout nicht einfallen.
„Ich … ich weiß es nicht“, antwortete sie einer Panik nahe.
Erschöpft sank sie zurück aufs Kopfkissen und schloss die Augen. Aber es war kein erholsamer Schlaf. Sie sah Bilder, massenweise Bilder von Menschen aller Geschlechter; jung oder alt, das spielte keine Rolle.
Wie von fern hörte sie zwei Stimmen.
„Wie geht es ihr?“, fragte jemand heiser.
Eine andere, jüngere Stimme, die des Jungen antwortete betrübt: „Sie hat seit gestern Abend kein Wort mehr gesagt.“
Urplötzlich erschienen andere Stimmen, die diese beiden übertönten. Die jetzigen Stimmen riefen etwas, dennoch konnte das Mädchen sie nicht verstehen.
Irgendwann schlief das Mädchen wieder ein. Aber die Stimmen folgten ihr, selbst in ihre Träume.
In dem Haus, in dem das Mädchen lag, ging die Konversation zwischen Vater und Sohn weiter.
„Ich muss in die Stadt; einkaufen. Kümmer dich um sie, Jaden. Sie darf nicht sterben. Verstanden?“
Der Junge nickte gehorsam. „Vergiss die Polizei nicht.“ Mit diesen Worten drückte er seinem Vater einen Zettel in die von der Sonne gegerbten Hände. Auf dem Zettel waren das Bild des Mädchens und eine Beschreibung ihrer Kleidung. Vielleicht wurde sie ja vermisst.
Nach fast zwei Tagen öffnete das Kind die Augen wieder. Der Junge, Jaden, war im Raum.
„Ah, du bist endlich aufgewacht. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“
Dem Mädchen fiel es schwer, die Augen offen zu halten. Sie fühlte sich so schwach. Jaden sah es.
„Nicht wieder einschlafen. Du musst was essen. Warte! Aber nicht einschlafen!“ Schnell verließ er den Raum und kehrte mit einem Teller Suppe zurück.
Das Mädchen schaffte es nicht einmal, den Arm zu heben. Jaden stopfte hinter den Rücken des Mädchens Kissen, sodass sie aufrecht saß. Der Junge lehnte ihren Kopf an die Wand. Sie hatte noch nicht einmal die Kraft den Kopf zu heben. Jaden fütterte sie.
Nach ein paar Löffeln Suppe fielen dem Mädchen die Augen zu. Sie war erschöpft.
Jaden hatte Angst. Angst, dass ihre Kräfte irgendwann nicht mehr reichten, um zu atmen, ihr Herz in Bewegung zu halten.
Als das Mädchen das nächste Mal die Augen öffnete, stand Jadens Vater neben ihr und betrachtete sie eingehend.
„Sonderbar, du wirst nicht vermisst, siehst aber so aus als wärst du schon länger auf der Reise. Deine Kleidung ist zerfetzt und mit Blut besudelt. Deine Waden sind … sind offen.“ Der Mann hatte Angst auszusprechen, was er wirklich dachte, was er wirklich sah. Ihre Waden waren nicht nur offen, ihre Waden waren aufgeschnitten.
„Wer bist du?“, fragte der Mann.
Das Mädchen sah ihn lange an. Schließlich sagte sie – es war kaum mehr als ein Hauchen: „Ich weiß es nicht.“
Er fütterte das Mädchen, bis diese erschöpft die Augen schloss und wieder in tiefem Schlaf versank.
So verging eine Woche und das Mädchen konnte sich immer noch nicht erinnern und war immer noch zu schwach, um aufzustehen, wurde immer schwächer.
„Du weist keine innerlichen Verletzungen auf und auch äußerlich scheint … fast alles bei dir in Ordnung zu sein. Ich kann mir diese Schwäche nicht erklären.“
Jadens Vater wollte noch mehr sagen, wurde dann aber von einem energischen Klopfen an der Tür unterbrochen. Fragend sah er zur Tür. Die Frage, die er sich stellte, war deutlich auf seinem Gesicht auszumachen. Wer konnte das sein?
„Aufmachen!“, rief eine männliche Stimme mit befehlsgewohnten Ton. Langsam öffnete Jadens Vater die Tür, trat hinaus und schloss die Tür sofort wieder.
Das Mädchen in ihrem Bett bekam Angst, unvorstellbare Angst. Mit angehaltenem Atem lauschte sie dem Gespräch.
„Wo ist sie?“
„Hier bin nur ich“, antwortete Jadens Vater selbstsicher. Aber ein leises Zittern in seiner Stimme konnte er nicht verbergen. „Tun Sie die Pistole weg! Hey, was soll das? Das ist mein Haus.“
Der Mann drängte sein Gegenüber mit gezückter Pistole ins Haus zurück.
„Aber hier ist doch niemand“, stammelte Jadens Vater.
„Sie ist hier. Ich weiß es.“
Gerade noch rechtzeitig hatte sich die Hintertür geschlossen. Das Mädchen robbte durch den Garten. Der Schnee war weg. So war es unmöglich ihre Spuren zu verfolgen. Das Mädchen wunderte sich selbst über ihre Gedanken, über ihr Verhalten. Sie machte sich Gedanken über Spuren, lief von einem Mann davon, den sie nicht einmal kannte, von dem sie nicht einmal wusste, was er wollte.
Ihre Kräfte gingen rasend schnell dem Ende entgegen. Es war schon verwunderlich, dass das Mädchen es überhaupt soweit geschafft hatte. Sie hatte es schließlich bis jetzt nur unter größter Kraftanstrengung geschafft, sich aufzusetzen und jetzt krabbelte sie durch den Garten. Aber die Panik verlieh ihr ungeahnte Kräfte.
Plötzlich verlor sie den Halt und kullerte einen Abhang hinunter. Unten blieb sie kraftlos liegen. Sie hatte nicht mal mehr die Kraft, die Augen zu öffnen, zu sehen, ob der Mann kam, vor dem sie gerade geflohen war.
„Hallo, ist hier jemand? Vater? Wo seid ihr?“ Jaden lief durchs Haus, durchsuchte alle Räume. Doch sie waren leer. Aber es war jemand hier gewesen. Alles war durchsucht. Besonders in seinem Zimmer fiel ihm dieser Zustand auf. Dort herrschte immer Chaos, aber Chaos mit System. Jetzt war es nur noch Chaos.
Jaden setzte seine Suche draußen fort. Es wurde schon dunkel. Plötzlich schrie er auf. Am Seeufer! Da lag jemand.
Er rutschte den Hang hinunter.
„Was ist mit dir? Sag doch was!“
Das Mädchen öffnete schwach die Augen, öffnete den Mund und begann qualvoll zu husten. Leise erzählte sie.
Der Junge legte sich ihren Arm um die Schulter, zog sie auf die Beine und führte sie zurück zu dem Haus.
Jaden legte das Mädchen ins Bett zurück. Erschöpft schloss sie die Augen und war im nächsten Augenblick wieder eingeschlafen.
Jaden aber war noch lange wach, dachte an seinen Vater, fragte sich, wohin er gegangen sein mochte. Der Junge wollte sich nicht eingestehen, was er längst wusste. Sein Vater war entführt worden.
Als das Mädchen wieder aufwachte saß der Junge wieder auf der Bettkante. Neben ihm standen noch zwei weitere Jungen. Diese kamen ihr seltsam bekannt vor und dennoch kannte sie die Jungs nicht. Ihr Gedächtnis versagte ihr den Dienst, ihr Gefühl allerdings sagte ihr recht deutlich, dass sie die zwei kennen musste.
„Hero! Endlich du bist wieder wach. Wie geht es dir?“, bestürmte sie der Jungen mit dem wirren brauen Haar.
Das Mädchen wich erschrocken zurück. „Wer bist du?“, fragte sie schwach. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Kennst du mich denn nicht mehr?“, fragte der Junge traurig. „Ich bin’s. Juli.“ Hoffnungsvoll sah er das Mädchen an. „Das ist Atikes. Du musst uns doch erkennen.“ Zweifel breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Ich kenn euch nicht.“ Mit diesen Worten schloss Hero die Augen. Sie glaubte, diese zwei Jungen wieder zu erkennen, aber sie wusste es nicht mit Gewissheit. Sie musste nachdenken.
Diese Nacht war die Schlimmste, die sie je durchgestanden hatte. In dem Mädchen bohrte es. Sie wollte sich erinnern. Sie bekam Kopfschmerzen von dem angestrengten Nachdenken. Doch Stückchen für Stückchen kehrte ihre Vergangenheit zurück.
Nach einem Tag qualvoller Gehirnakrobatik kehrte ihre Erinnerung zurück. Auch die Erinnerung an ihre Amnesie. Welch eine Ironie des Schicksals.
„Ich weiß wieder, wer ich bin!“ Hero saß aufrecht im Bett und lächelte müde, aber ihre Augen glänzten unternehmungslustig. Es war als hätte die Erinnerung einen großen Teil der Schwäche vertrieben.
Immer gerätst du in Schwierigkeiten, Hero Leone und diesmal hat es verdammt lange gedauert, dich daraus zu befreien. Mir gingen schon langsam die Bilder aus
, flüsterte die Stimme, die Hero bereits mehrmals gehört hatte. Sie konnte nicht aus ihrer wirren Phantasie stammen, es musste sie geben. Oder war sie tatsächlich so
verrückt?
Was meinen Sie?
, fragte das Mädchen, ignorierte die Frage, ob sie nun verrückt war oder nicht und versuchte sich zu entspannen, dem Fremden das Eindringen in ihren Kopf leichter zu machen.
Danke. Du hast doch viele Bilder gesehen. Wunderbare Bilder, wenn ich mich mal selbst loben darf.
Die Alpträume sind von Ihnen?
Hat dir meine Auswahl an Bildern – schönen Bildern wohlgemerkt – nicht behagt?
Sie haben einen schauderhaften Geschmack.
„Schön, dass du dich wieder erinnerst. Aber leider muss ich euch jetzt alleine lassen. Ich muss einkaufen gehen. Wir haben nichts mehr zu essen“, sagte Jaden. Er klang traurig. Sicher vermisste er seinen Vater.
„Wie kommst du in die Stadt?“, wollte Juli wissen. „Du willst doch nicht etwa den ganzen weiten Weg laufen? Und auch wieder zurück.“
„Von wollen kann gar keine Rede sein. Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich kann kein Auto fahren und mein Fahrrad ist in der Werkstatt“, sagte Jaden mit gequälten Gesichtsausdruck.
„Dann begleiten wir dich und helfen dir beim Tragen“, bot Juli an. Und Atikes nickte.
„Das ist nett von euch, aber was wird mit ihr?“
„Macht euch um mich keine Sorgen. Ich komm schon allein zurecht“, meinte Hero.
Die Jungs machten sich nach einem abschließenden, prüfenden Blick auf Hero auf den Weg, um noch vor der Dunkelheit in der Stadt anzukommen.
Hero lag noch eine Weile geschwächt im Bett. Im Halbschlaf kitzelte ein Sonnenstrahl ihr Gesicht. Plötzlich überkam sie das unwiderstehliche Verlangen nach draußen zu gehen.
Mühsam schwang sie die Beine aus dem Bett, stolperte zur Wand und schob sich daran langsam zur Tür Stück für Stück vorwärts. Jeder Schritt schmerzte. Schwer atmend ließ sie sich draußen neben der Tür an der Wand herunter sinken. Heros Gesicht war weiß, weiß wie die Wand und Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.
Die Sonne glänzte auf dem Schnee. Zwei Rehe standen ruhig am Waldrand. Vögel stiegen auf. Enten schnatterten. Wieso war dieser Mann hierher gekommen? Was wollte er von ihr? Woher kannte sie nur seine Stimme?
Einer haarsträubenden Vermutung folgte die nächste. Und da war noch etwas: Sie spürte die Anwesenheit des Fremden in ihrem Kopf. Und dann meldete er sich zu Wort: Wo du gerade sowieso über Gott und die Welt philosophierst, will ich dir noch ein Häppchen hinwerfen. Wenn du bis heute Nacht dein Gedächtnis nicht wieder gefunden hättest, wärst du unweigerlich an Schwäche gestorben. Du solltest mir dankbar sein. Erst durch deine Erinnerung war dir die Möglichkeit gegeben, wieder zu Kräften zu kommen.
Hero sagte nichts. Plötzlich wusste sie, woher sie den Mann gekannt hatte.
„Zodiak … Er hat Jadens Vater … Wir müssen ihn retten!“, stammelte das Mädchen. Langsam erhob sie sich. Schwankend blieb sie stehen und sah sich suchend um. In der Nähe lag ein Ast. Diesen verwendete sie als Gehstock. Ungeduldig wartete sie auf die drei Jungs, konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben.
Texte: Die Geschichte gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010
Alle Rechte vorbehalten