Zodiak – Freund oder Feind?
Als es schließlich stockdunkel war, hielten sie vor einem riesigen Haus. Nein, Haus war nicht der richtige Ausdruck. Es war ein Palast.
Das Mädchen konnte zwar nur die Umrisse erkennen. Aber es ließ sie erschaudern. Wie so vieles in letzter Zeit.
Die vier Männer zerrten Hero aus dem Wagen und schubsten sie vor sich her zum Haus.
Dort wurde sie an vier andere Männer übergeben, die sie an beiden Seiten flankierten. Bevor sie das Haus allerdings betraten, wurde den vier Überbringern noch ein dicker Umschlag in die Hand gedrückt. Einer öffnete ihn und sein Finger strich über die Banknoten. Hero war sich sicher, dass sich dieser Betrag auf 10.000 ¤ belaufen würde, ihr Kopfgeld. Somit hatte sich dann auch die Frage erledigt, wohin sie diesmal verschleppt worden war.
Die vier Männer setzten sich in Bewegung. Doch Hero blieb stehen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie zitterte. Das Mädchen hatte das Gefühl, dass ihre Beine im nächsten Moment nachgeben würden. Eine düstere Vorahnung beschlich sie. Betrat sie diese Burg, war sie so gut wie tot.
Sie war bei Zodiak, daran bestand kein Zweifel. Das zeigten schon die Uniformen der Männer, die nachtschwarz waren, die Knöpfe des Jacketts golden und die Hose hatte einen ebenfalls goldenen Streifen auf der Seite. Aber das Auffälligste an der Uniform war, die Stickerei auf dem Rücken. Eine Schlange – bereit zum Angriff. Mit ihrem Körper bildete sie einen Kreis um den Kopf.
Einer ihrer Bewacher stieß ihr grob in den Rücken. „Bewegung!“
Langsam setzte Hero einen Fuß vor den anderen. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg. Doch die Männer hatten sie in ihre Mitte genommen. Es gab kein Entrinnen mehr. Hero gab sich geschlagen.
„Darf ich dich endlich in diesen vier Wänden begrüßen.“
Ein Mann stand Hero gegenüber. Er war groß, muskulös und hatte helles, beinahe weißes Haar. Dieser Umstand machte es Hero unmöglich sein Alter zu schätzen.
Ganz leise warnte sie eine Stimme. Hero hatte mittlerweile gelernt ihren Gefühlen zu vertrauen; mehr als ihrem Verstand. Denn ihr Verstand sagte ihr, der freundliche Mann stellte keine Gefahr dar. Doch ihr Gefühl behauptete das genaue Gegenteil.
„Du siehst schrecklich aus. Du bist doch sicherlich müde. Komm!“ Er führte sie in einen Raum. Die vier Uniformierten ließ er stehen. „Leg dich hin! Schlaf dich aus! Ich schick dir den Arzt vorbei. Er wird sich um deine Wunden kümmern.“ Seltsam
, war alles was Hero denken konnte. Konnte es sein, dass Zodiak nett war? War dieser Mann überhaupt Zodiak?
„Woher stammt diese Narbe?“, fragte der Arzt, nachdem er die Kugel aus Heros Bein entfernt hatte.
Hero sah auf ihr linkes Handgelenk, das zwei kreisrunde Narben zierte, die etwa drei Zentimeter auseinander lagen.
„Ich … ich weiß es nicht“, sagte sie stockend.
Der Arzt stellte noch weitere Fragen, die Hero allesamt mit derselben Antwort versehen musste.
Mit einem seltsamen Lächeln im Gesicht, verließ der Arzt den Raum. Gedämpfte Stimmen drangen durch die Tür. Die Müdigkeit lastete schwer auf Hero, doch ihre Neugier siegte. Leise stand sie auf, schlich zur Tür und legte ein Ohr an das kalte Holz.
„Ich glaube, sie hat das Gedächtnis verloren“, meinte der Arzt gerade.
„Sie meinen, das Kind erinnert sich an nichts?“, fragte der Mann, der sie in Empfang genommen hatte, erstaunt und lachte. Ein Lachen, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. „Dann brauch ich mir keine Erklärung für den Tod der Erwachsenen einfallen lassen. Sie weiß also nichts vom Unfallhergang.“
„Sie weiß nicht, dass es kein Unfall war, sondern Mord“, bestätigte der Arzt in einem Tonfall, der Hero zu denken gab. Es schien, als sei der Mann mit der ganzen Sache nicht einverstanden. Nein
, verbesserte sich Hero, nicht mit der Sache, sondern mit dem Mord.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Entkräftet sank sie an der Tür zu Boden. Sie war kein Mörder.
Eine Welle der Erleichterung durchströmte Hero. Nun wusste sie mit Gewissheit, was ihr Hirn hatte löschen wollen, was es in die hinterste Ecke ihres Kopfes verbannt, hinter dicken Mauern versteckt hatte. Sie war kein Mörder. Mit dieser Erkenntnis schlugen sich die Tränen einen Weg ins Freie und rannen ihr übers Gesicht. Sie hatte geglaubt, sie sei ein Mörder, schlimmer noch, sie hatte sich zugetraut, zwei unschuldige Menschen ermorden zu können. Jetzt wusste sie, dass sie kein Mörder war. Aber nun war sie in den Händen des wahren Mörders.
Lange saß sie so zusammengesunken am Boden, hatte den Kopf an das kalte Holz gelehnt und weinte. Schließlich stand sie entschlossen auf, straffte sich und wischte die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde fliehen. Sie durfte hier nicht bleiben. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es das Beste für sie war.
Leise schlich sie durch die Burg. Doch plötzlich stand wie aus dem Boden gewachsen, der weißhaarige Mann, der sie in Empfang genommen hatte, vor ihr.
„Was stöbern wir denn hier rum?“, fragte er gefährlich ruhig.
„Ich … ich wollte mich etwas umsehen“, stotterte Hero.
„Aber verlass die Burg nicht! Das könnte gefährlich werden.“ Irrte sie sich oder war das eine leise Drohung?
Hero nickte verwirrt und machte, dass sie schnell das Weite fand. Sie sah sich nach einigen Metern verstohlen um. Der Mann stand immer noch am selben Fleck und blickte ihr hinterher. Erleichtert atmete das Kind auf als sie um die Ecke und somit aus seinem Gesichtsfeld verschwand.
Verzweifelt lief sie durch die Burg auf der Suche nach dem Ausgang. Endlich, als sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, aber sich auch schon hoffnungslos verirrt hatte, stand sie vor der großen Eingangstür. Leise öffnete sie das Tor und wider Erwarten ließ es sich lautlos öffnen. Es musste erstaunlich gut geölt worden sein.
Hero schlich durch die Nacht. Abrupt blieb das Mädchen stehen, als sie den Schuss hörte, als sie etwas in den Rücken traf. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel, öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Die Welt verlor all ihre Farbe, als sie mit der Kugel im Rücken zu Boden stürzte.
Atikes erschien vor ihrem inneren Auge. Der Film, den man am Ende seines Lebens sah, lief weiter. Jetzt erschien Alpha und der Entführer und dann war da etwas Neues. Sie sah ihre Eltern und sich als etwa neunjähriges Mädchen freudestrahlend und Scherze reisend vor ihrem nunmehr heruntergebrannten Haus stehen. Aber das war auch schon das Ende ihres Films. Mehr hatte ihr Gedächtnis nicht herausgegeben an Informationen, die es gelöscht hatte, hinter dicken, wehrhaften Mauern verschanzt hatte. Dann schlug Hero auf dem Boden auf und mit dem Aufschlag wurde ihr Bewusstsein gelöscht.
„Ich sagte doch, dass es gefährlich ist, die Burg zu verlassen“, meinte der alterslose Mann ohne die geringste Spur von Mitleid in seiner Stimme.
Rettung wider Willen
Stöhnend kehrte das Leben in den Körper zurück. Das Kind spürte schmerzhaft jede Faser ihres Körpers. Ich lebe noch
, dachte sie verwundert. Sie hatte wirklich geglaubt, dass das nun das Ende war. Die kleine Stufe, die sie in der vorherrschenden Dunkelheit übersehen hatte, hatte ihr das Leben gerettet. Ohne Zweifel hätte die Kugel ihr Ziel direkt in ihrem Herzen gefunden, wenn sie nicht fünf Zentimeter tiefer gestanden hätte. Sie zweifelte nicht daran, dass diese Burg ausgezeichnete Schützen hatte.
Hero regte sich, unterließ es aber sofort wieder, als ein unsagbarer Schmerz von der Stelle knapp über den Herzen, an der die Kugel in ihren Körper eingetreten war, in jeden Winkel ihres Körpers schoss. Hero saß am Boden, die Hände über den Kopf an einen Harken gefesselt. Um sie herum totale Finsternis. Keine Möglichkeit sich zu befreien. Jede Bewegung, ja selbst das Atmen schmerzte.
Lange saß das Mädchen bewegungslos am Boden in ihren Fieberphantasien gefangen. Zusammenhangslose Bilder liefen vor ihren Augen ab. Menschen, ihre Eltern, Atikes, Monster; undefinierbare Gestalten so ganz und gar nicht menschenähnlich. Manche hatten noch menschliche Gestalt, aber mit überzähligen Gliedmaßen, zu vielen Augen. Andere sahen wieder Tieren ähnlicher und all diese Gestalten liefen in einem Wirrwarr vor ihren Augen ab, bis sie unsanft aus ihren Phantasien geholt wurde. Eine Hand traf ihre Wange. Doch dem Mädchen fiel es schwer sich aus den Fängen dieser Bilder zu befreien. Die Hand ohrfeigte symmetriehalber ihre andere Wange. Sie ohrfeigte weiter bis Hero müde den Kopf hob und die Augen öffnete. Unscharf erkannte sie vor sich einen jungen Mann in der schwarzen Uniform mit der Schlange auf dem Rücken. Er löste ungeschickt die Fesseln, fügte ihr unabsichtlich zusätzliche Schmerzen zu. Was ihm sichtlich Leid tat. Hero stöhnte auf als der Mann ihren Arm nahm und sie auf die Beine zog.
„Kannst du gehen?“, fragte der Mann unsicher. Hero biss sich auf die Unterlippe und nickte. Mühsam setzte das Kind einen Fuß vor den anderen.
„Rechts!“, befahl der Mann.
Hero nickte gehorsam und ging mit zittrigen Knien weiter. Sie spürte plötzlich, wie schwach sie war. Das Licht tat ihren an die lange Dunkelheit gewöhnten Augen weh, und als der Mann ihr die Hand auf die Schulter legte und sie mit sanftem Druck die Treppe hinaufschob, hätte sie vor Schmerzen am liebsten aufgeschrieen.
Sie stolperte und wäre gestürzt, wenn ihr Bewacher nicht blitzschnell zugegriffen hätte. Gequält schrie sie auf. Doch Hero schüttelte die Hand trotzig ab und ging aus eigener Kraft weiter.
Elend und krank, wie sie sich fühlte, erschien ihr der Weg unendlich weit. Sie hätte sich gern ein wenig ausgeruht. Aber sie war zu stolz, ihrem Bewacher ihre Schwäche einzugestehen.
Sie wurde in den Garten geführt. Der alterslose Mann, der sie bereits in Empfang genommen hatte, sah ihr erwartungsvoll entgegen.
„Du kannst gehen!“, wandte er sich an Heros Bewacher.
Dieser deutete eine Verbeugung an und empfahl sich mit den Worten: „Ja, Herr.“
Als er Heros Arm losließ, war es als würde ein unsichtbares Band gelöst, dass Hero bis jetzt auf den Beinen gehalten hatte. Das Mädchen fiel auf die Knie.
„Schön dass du erkannt hast, wie man sich mir gegenüber verhält. Komm näher!“ Der Mann lächelte. Aber dieses Lächeln war nicht freundlich. Es war eiskalt. Noch nie hatte das Kind jemanden derart kalt lächeln sehen.
„Herr?“, fragte Hero erstaunt, als sie sich mühsam auf die Beine quälte und vorsichtig näher trat, dann aber wieder zu Boden sank. Aber sie wollte nicht so unterwürfig dasitzen, so hilflos. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und stand zittrig auf.
„Ja, du hast ganz richtig gehört. Herr.“
Hero blieb stumm. Ihre Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Herr. Dann war das Zodiak.
„Ist meine Burg nicht wunderbar?“, fragte Zodiak in Heros Gedanken hinein.
Hero fand sie einfach abgrundhässlich, sagte aber nichts dergleichen. Der schwarze Stein, aus dem die Burg gemauert worden war, strahlte eine Kälte und Grausamkeit aus, die Hero erschaudern ließ.
Eine Weile musterte er Hero schweigend. „Du willst nicht antworten“, stellte er sachlich fest. „Das habe ich befürchtet. Vielleicht sollte ich dich noch eine Zeit lang einsperren.“ Er betrachtete nachdenklich die mit Diamantringen geschmückten Finger und wartete offensichtlich auf eine Antwort.
Hero schwieg beharrlich. Der Mann hatte sie sicher nicht aus dem Kerker heraufholen lassen, um sich mit ihr zu unterhalten. Zodiak wollte etwas von ihr, irgendetwas.
„Ich hoffe, du warst mit der Unterbringung zufrieden“, sagte Zodiak spöttisch. „Meine Burg ist nicht darauf eingerichtet, so hohe Gäste wie dich zu beherbergen. Aber wir geben uns Mühe.“
„Es ging“, antwortete Hero sarkastisch. „Ich habe schon besser geschlafen, aber ich will mich nicht beschweren.“
Der Mann lachte. „Du gefällst mir, Hero“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob aus dir die Tapferkeit eines Mannes oder die Verstocktheit eines Kindes spricht, aber du gefällst mir. Auch wenn ich leider feststellen muss, dass ich immer noch mit dir reden kann und nicht in dein totes Antlitz schauen kann. “
„Was wollen Sie von mir?“, fragte Hero.
„Ich will dir ein Angebot machen.“
Das Mädchen blickte den Mann mit wachsender Verblüffung an. Da stand sie hilflos, ein Gefangener dieser Burg und ihrer Männer, und Zodiak bot ihr Zusammenarbeit an!
„Sie …“, stammelte sie. „Sie wollen…!“
„Dich!“, donnerte Zodiak. „Dein Wort und deine Treue, nicht mehr und nicht weniger. Kämpfe mit mir und wir werden siegen. Keiner hat unserer vereinten Macht etwas entgegenzusetzen.“
„Macht?“, fragte Hero ungläubig.
Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber du irrst dich. In dir schlummert eine Macht, eine Kraft, die vielleicht noch größer ist, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen vorstellen kann. Aber du allein kannst sie nicht erwecken. Ich kann es. Gemeinsam sind wir mächtig, Hero. Allmächtig!“
Hero schauderte. In einer blitzartigen Vision sah sie, was dieser Verrückte alles anstellen könnte.
„Wieso?“, fragte das Mädchen leise. „Wieso ich? Wieso jetzt?“ Hero schlotterte am ganzen Leib, zwang sich jedoch ruhig dazustehen und dem Blick Zodiaks standzuhalten.
„Kennst du das Sprichwort: Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, dann mach ihn dir zum Freund. Genau das hab ich vor!“
„Wieso sollte ich Ihr Angebot annehmen? Sie haben meine Eltern auf dem Gewissen!“, sagte Hero. Ihre Knie gaben nach.
„Das war ein Versehen“, sagte Zodiak mit einem Schulterzucken, leicht verwundert, dass sich Hero daran erinnerte, wo doch der Arzt behauptet hatte, dass sie das Gedächtnis verloren hatte. „Derjenige, den ich umbringen wollte, lebt. Du lebst auch noch nach weiteren Anschlägen. Oder denkst du diese lausigen Verbrecher und die Polizei hätten dich ohne meine Hilfe gefunden? Du hast alles überlebt. Ich musste meinen Plan ändern. Nun will ich dir anbieten, für mich, mit mir zu arbeiten.“ Der Mann wartete gespannt auf Antwort.
„Niemals!“, sagte Hero leise.
„Dann eben anders!“ Auf ein Handzeichen Zodiaks hin, setzten sich zwei Uniformierte in Bewegung. Hero wurde an den Oberarmen gepackt und grob auf die Beine gezerrt.
„Bindet sie an das Kreuz!“
Die Soldaten zogen sie durch den Garten hinter die Burg und banden sie dort an ein Kreuz, das einsam und verlassen auf einem geschotterten Platz stand. Arme und Bauch wurden von festen Seilen ans Holz gepresst.
„Eine narrensichere Methode jemanden umzubringen. Du kommst hier nicht weg. Du hattest deine Chance. Du hast sie nicht genutzt. Jetzt ist dein Leben verwirkt.“
Zodiak wandte sich um und ließ Hero in der prallen Sonne stehen.
Hero bäumte sich auf. Sie wehrte sich, ignorierte den Schmerz der Schussverletzung. Aber bereits nach einem Tag hatte sie aufgegeben.
„Willst du wirklich nicht für mich arbeiten?“, fragte Zodiak am nächsten Tag.
„Aufgeben?“, fragte Hero nach.
Zodiak stand vor ihr und sah sie aus unergründlichen Augen an. Hero blieb eine Weile stumm und überlegte, was aufgeben alles mit sich brachte.
„Ich gebe mich nicht auf! Niemals! Ich kann mein Leben nicht aufgeben. Ich kann nicht mein Leben als Gefangener verbringen.“
„Wie wäre es mit dem Tod?“, erwiderte Zodiak.
Heros Gesichtszüge entgleisten. Bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dieser Gedanke war Hero schon gekommen, doch hatte sie ihn schnell wieder verdrängt. An so etwas hatte sie nicht freiwillig denken wollen. Doch nun konnte sie diese Möglichkeit nicht mehr ignorieren.
„Wenn es sich nicht vermeiden lässt, auch das“, antwortete Hero schließlich.
Von Tag zu Tag wurde Hero schwächer. Sie hing immer mehr in den Seilen. Das Mädchen konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten.
Würde sie verhungern oder doch verdursten? Wie fühlt es sich an zu verhungern? Würde sie das Bewusstsein verlieren, bevor sie starb?
Diese und andere Fragen gingen ihr in den ersten Tagen durch den Kopf. Sie hörte den Tod wie er sich langsam aber unaufhaltsam näherte.
„Dir scheint diese kleine Diätkur nichts auszumachen. Du hängst wohl am Leben. Willst du nicht doch für mich arbeiten? Bedenke deine Antwort gut. Es ist vielleicht die letzte Chance, die ich dir gewähre“, fragte Zodiak nach neun Tagen. Hero hatte nicht einmal geglaubt, dass sie es so lange durchhalten würde. Nach ihrem Wissen konnte man nur drei Tage ohne Essen und Trinken überleben. Aber sie hatte mittlerweile das Dreifache überstanden.
„Niemals!“, meinte Hero.
„Bist du so kaltblütig oder tust du nur so?“ Seine Stimme war halb voller Bewunderung, halb ein bisschen verärgert über ihre Dreistigkeit. „Mal schauen wie lang du’s wirklich aushältst. Aber wenn ich dich losbinde, gehörst du mir.“ Zodiak lächelte, drehte sich um und verschwand. Aber man sah ihm an, dass es ihn sehr verwunderte, was dieses vierzehnjährige Mädchen aushielt. Er hatte damit gerechnet, dass sie nach spätestens zwei Tagen nach Essen betteln würde. Und selbst wenn sie nicht nach Essen fragen würde, wäre sie – seiner Ansicht nach – nach allerspätestens fünf Tagen tot. Sie hing nun aber schon neun Tage hier und sah noch kein bisschen tot aus. Es wurmte ihn, dass ihn dieses Mädchen immer wieder dazwischen funkte. Er hatte sich alles so schön ausgemalt. Aber dieses Mädchen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie wollte weder mit ihm arbeiten, noch wollte sie sterben.
Ich darf jetzt noch nicht sterben! Ich hab mir was geschworen!
Einige Bilder aus ihrem neuen Leben liefen vor ihrem inneren Auge ab. Die Leichen ihrer Eltern, die beiden Frauen, die Entführungen, die Verfolgungen.
Sie hatte sich damals bei ihrer ersten Entführung geschworen, nicht mehr zu weinen, sondern zu kämpfen. Damals hatte sie sich geschworen, dass niemand mehr wegen ihr leiden musste. So hatte ihre abenteuerliche Reise begonnen. Doch sie lief von Entführung zu Entführung; alles schien sich gegen sie verschworen zu haben. Jeder x-beliebige Verbrecher kannte ihren Namen, ihr Gesicht. Jeder hatte ihren Steckbrief. Wieso, war ihr unbegreiflich. Sie hatte noch nichts getan außer von einer Entführung in die nächste zu fliehen. Und nun hing sie hier, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie verstand nicht, warum ein Mann wie Zodiak ein vierzehnjähriges Mädchen wie sie per Steckbrief suchen ließ. Aber hier an diesem Ort half ihr der Schwur nichts. Sie konnte weiter für ihr Leben kämpfen, bis ihr Körper aufgab. Aber was würde das ändern? Nichts. Früher oder später würde sie sterben. Daran bestand überhaupt kein Zweifel
Obwohl sie sich geschworen hatte, nicht mehr zu weinen, tat das Kind es jetzt doch. Sie hatte sich aufgegeben, ihr Leben. Hero hatte nicht mehr die Kraft, zu kämpfen. Ihr Leben war nichts mehr wert. Ihr würde keiner nachtrauern. Ihre Eltern waren tot. Es gab keine Verwandten, die sie vermissen würden. Jedenfalls keine an die sie sich erinnerte. Sie könnte von der Welt verschwinden und keiner würde es merken. Hero hatte ihr Leben aufgegeben. Sie wusste, dass sie tot war. Sie hatte eine Möglichkeit, ihr Leben zu retten. Doch der Preis war hoch. Sie müsste für Zodiak, für den Mörder ihrer Eltern arbeiten. Sie würde Dinge tun müssen, für die sie sich selbst hassen würde. Sie würde sich nie diesem Mann anschließen. Niemals. Auch wenn sie damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieb.
Ein nagender Zorn auf Zodiak machte sich in ihr breit. Dieser Mann schien so etwas wie ein Fluch zu sein. Alles hatte mit ihm angefangen, und nun schien es auch zumindest durch ihn zu enden. Sie wusste, diese Zeit am Kreuz würde sie nicht überleben. Auch wenn sie jetzt schon wider aller erwarten neun Tage überlebt hatte, würde sie früher oder später sterben. Der große Blutverlust begann an ihren Kräften zu zerren. Aber das war ihr egal. Ihr Leben war vorbei. Selbst wenn ein Wunder passieren würde und sie fliehen könnte, würde ihr Leben vorbei sein. Zodiak und alle Verbrecher würden sie jagen, bis sie daran zugrunde ging. Hero zweifelte daran, dass sie lange ein Leben auf der Flucht aushielt.
Hero hing in den Seilen und wartete auf den Tod. Doch da kam die Wende. Eine Wende, die ihr Leben veränderte, die sie selbst veränderte.
„Hallo du, was machst du da?“ Hero schreckte aus ihrem Dämmerschlaf hoch. Verwirrt sah sie sich um. Da kletterten doch tatsächlich zwei Jungen auf die Mauer.
„Hey du, was macht du hier? Wo ist der Verbrecher?“, fragte der Junge noch einmal. Sein wirres, braunes Haar harmonierte perfekt mit seinen blauen Augen. Er war groß, aber nicht so groß wie sein Begleiter. Dieser überragte ihn noch um einen Kopf.
Er schwang seinen schlanken Körper über die Mauer und ging auf Hero zu.
Sein großer Begleiter war etwa genauso alt wie der Junge und Hero, hatte blondes Haar und ein spitzbübisches Gesicht.
„Welcher Verbrecher?“, fragte Hero irritiert. Dann traf sie die schreckliche Erkenntnis: Die beiden waren in Gefahr, wenn Zodiak sie entdeckte, war es um sie geschehen.
„Haut ab! Schnell! Verschwindet! Bevor er euch entdeckt.“ Hero war außer sich, wenn Zodiak sie entdeckte, würden noch zwei Unschuldige auf das Konto Zodiaks gehen, würden noch zwei Unschuldige wegen ihr leiden müssen. Sie zerrte an den Seilen. Das durfte nicht passieren!
„Verschwindet! Vielleicht hat er euch noch nicht entdeckt.“
Der größerer Junge tat als hörte er ihren Einwand nicht und antwortete stattdessen auf ihre Frage: „Draußen an der Mauer hängt ein Schild:
Vorsicht! Extrem gefährlicher Verbrecher wird hier gefangen gehalten. Wer dem Verbrecher hilft, macht sich selbst zum Verbrecher.
“, leierte er die Aufschrift herunter. „Und da wir neugierig sind, mussten wir einfach über die Mauer sehen. Und da hängst du und kein Verbrecher.“
„Pass auf, was du sagst!“, drohte Hero. „Ich bin dieser gefährliche Verbrecher. Ich bin zwar völlig erschöpft, aber mit euch werde ich locker fertig.“
Der Kleinere ignorierte Heros Worte: „Seit wann hängst du hier?“
Das Mädchen ergab sich ihrem Schicksal. Die beiden ließen sich nicht vertreiben. Sie hatte eindeutig die schlechteren Karten. Doch das Mädchen hoffte, dass wenn sie die Fragen der beiden beantwortet hatte, diese wieder verschwanden und Zodiak sie noch nicht gesehen hatte. „Zehn Tage.“
„Ohne Essen?“, fragte der Große erstaunt.
„Zehn Tage ohne Essen“, murmelte der Kleinere mehr zu sich als zu den anderen.
„Wir binden dich los!“, beschloss der Große.
„Nein! Nicht!“
Irritiert sah der Junge Hero an. „Warum nicht?“
„Das hast du gerade selbst gesagt: Jeder der mich losbindet, wird selbst zum Verbrecher. Und Zodiak ist nicht zimperlich. Das Wort Gnade
ist ein Fremdwort für ihn. Also verschwindet lieber, bevor er euch sieht. Ich schaff das schon allein. Also haut endlich ab.“ Die letzten Worte hatte Hero geschrieen.
„Woher willst du das wissen?“, fragte der Große ruhig.
„Was hat der denn vor?“, rief Hero entsetzt anstatt zu antworten. Der Kleinere hatte sich plötzlich in Bewegung gesetzt und ging Richtung Burg davon.
„Weiß nicht“, gab der Große zu. „Aber das bedeutet nichts Gutes. Immer wenn Juli dabei ist, passiert etwas Gefährliches.“
„Bind mich los! Ich muss ihn vor seiner eigenen Dummheit bewahren!“
„Was ist denn mit dir los? Vorhin wolltest du doch nicht losgebunden werden.“
„Mach schon!“, drängte das Mädchen. Hero zog und zerrte an den Stricken. Sie schnitten sich tief in die bereits vorhandenen Wunden an ihren Handgelenken. Doch das Mädchen ignorierte den Schmerz. Das einzige was zählte, war, dass nicht noch mehr leiden, dass Juli nicht leiden musste.
Das Band um ihren Bauch hatte der Junge schnell gelöst. Doch die Stricke an ihren Händen waren fester gebunden.
Ihr Entschluss stand fest. Sie würden diese Jungen retten und dann hoffen, dass sie selbst auch entkommen konnte. Aber die Jungs hatten Vorrang. Ihnen durfte nichts passieren.
„Ich schaff’s nicht!“, jammerte der Junge.
„Versuch’s weiter, aber beeil dich um Himmels Willen!“
Vom Haus her wurden Schreie laut: „Ein Eindringling!“
„Da läuft er!“
„Fasst ihn!“
„Lasst ihn nicht entwischen!“
„Beeil dich!“, flehte Hero den Tränen nahe. Endlich fiel das Seil von der einen Seite ihres Armes ab. Der andere Knoten war schneller gelöst.
Ihrer Stütze beraubt, sank Hero zu Boden. Nur noch das Seil hatte sie auf den Beinen gehalten.
Die Schreie wurden immer lauter und schon kamen Juli und seine Verfolger in Sicht.
Der Junge lief geradewegs auf das Kreuz zu, vor dem Hero saß und mühsam versuchte auf die Beine zu kommen. Doch diese wollten ihr Gewicht nicht tragen. Sie fühlten sich an wie Wackelpudding, der Blutverlust, der Nahrungsentzug hatten ihr zuviel Kraft entzogen.
Der größere Junge starrte der wilde Meute entgeistert entgegen. Zitternd sank er auf die Knie, als er die Übermacht an Gegnern sah.
Juli kniete sich neben Hero. Die Verfolger schienen, ihn wenig zu interessieren. „Hier! Iss! Du musst wieder zu Kräften kommen.“
Hero ignorierte das Essen, starrte stattdessen auf jemanden hinter Juli.
„Interessant, plant ihr drei etwa eine Verschwörung? Und erfreut stelle ich fest, dass du nicht mehr am Kreuz hängst. Du weißt was, das bedeutet. Du gehörst mir!“, donnerte Zodiak. Der Mann stand breitbeinig vor ihnen. Er fühlte sich großartig in seiner Rolle als Bösewicht. Seine Opfer knieten vor ihm und winseln um Gnade. „Und deine zwei kleinen Freunde werden bis sie alt und grau sind in meinen Diensten stehen. Vielleicht … als Putzmänner“, lachte Zodiak.
„Niemals!“, zischte Hero.
„Du bleibst bei mir und damit Punkt.“
„Niemals und damit Doppelpunkt.“
„Dann beenden wir die Sache eben hier und jetzt! Ihr drei“, er deutete auf drei seiner Soldaten, „gebt ihnen eure Schwerter!“, befahl er.
Drei Uniformierte zogen zögernd ihre Schwerter aus den Scheiden. Fragend sahen sie Zodiak an, hatten aber nicht den Mut seine Entscheidung infrage zu stellen. Sie schmissen den Kids die Waffen vor die Füße.
Fragend betrachteten diese das glänzende Metall.
„Nehmt sie oder nehmt sie nicht. Die Regeln sind klar: ihr drei gegen meine Männer. Auf Leben und Tod. Wenn ihr siegt, könnt ihr gehen. Versagt ihr, seid ihr sowieso schon tot“, erklärte Zodiak.
„Was? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, fragte Juli entsetzt.
„Mein voller Ernst. Also auf mit euch oder wollt ihr kampflos wie Feiglinge sterben und mir damit den Spaß eurer Niederlage versagen?“
Juli sprang auf die Beine und schnappte sich ein Schwert. Der größere Junge blieb sitzen. Er war kalkweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Leib. Von ihm konnten sie keine Hilfe erwarten. Hero quälte sich auf die Beine. Schwankend blieb sie stehen.
Sie wusste, Zodiak scherzte nicht und würde sie auch umbringen, wenn sie sich nicht wehrten. Allerdings würden sie eines qualvollen Foltertodes sterben. Da erschien dem Mädchen, ein schneller Tod im Kampf gnädiger; gnädiger als der Tod, der ihr bis vor kurzen vor Augen gestanden hatte – qualvoll zu verhungern und zu verdursten.
Doch da regte sich etwas in Hero, das immer dagewesen aber nie zu Tage getreten war. In ihrem bisherigen Leben hatte es dafür auch keinen Grund gegeben. Sie hatte eine behütete Kindheit gehabt. Sie erinnerte sich an das Bild, dass sie kurz nachdem die Kugel sie getroffen hatte, gesehen hatte. Ihre Eltern und sie lachend vor ihrem Haus. Aber Zodiak hatte alles zerstört. Aber nun … ihr Kampfgeist war erwacht.
Sie hob das Schwert vor ihren Füßen auf und stand nun einer hämisch grinsenden Meute von etwa zehn Mann gegenüber. Die Schwäche und der Schmerz der Schussverletzung verflogen. Fest stand sie auf den Beinen und genauso fest war ihr Wille, die beiden Jungen unversehrt aus diesem Schlamassel zu bringen.
„Fangt endlich an!“, befahl Zodiak und schon stürmten zehn Mann auf zwei Kids ein. Mit erbittertem Widerstand hatten sie dabei nicht gerechnet wie ihre erstaunten Gesichter zeigten. Sie hielten es für wahrscheinlicher, dass die beiden Kids ihre Waffen wegwarfen und ihr Heil in der Flucht suchten. Doch Hero und Juli kämpften.
Dafür dass das Mädchen noch nie ein Schwert in Händen gehalten hatte, schlug sie sich tapfer im Kampf. Ihre Gegner konnten ihre Hochachtung vor ihrer Leistung nicht verbergen. Doch waren sie bei weitem besser als Hero im Schwertkampf ausgebildet.
Ein Schwert sauste auf ihren Kopf zu. Geistesgegenwärtig warf Hero sich nach hinten und wich ihm aus. Doch zeitgleich zielte ein weiteres Schwert auf sie. Diesem konnte sie nicht entkommen. Das Schwert fand sein Ziel. Ein kurzer, aber heftiger Schmerz durchzuckte sie. Die Welt um Hero herum schien stillzustehen. Sie lag im Dreck und ihre Hand schob sich langsam, fühlend über ihren Bauch. Als sie diese wieder betrachtete, war sie voller Blut. Sie hatte Angst davor, was sie sehen würde, wenn sie an sich herunterschauen würde. Ihren Bauch zierte ein roter Strich. Er sah nicht sonderlich gefährlich aus. Doch er blutete heftig.
Ich … ich bin verletzt. Ich werde es niemals schaffen, die Jungen vor Zodiak zu retten. Jetzt noch weniger als vorher
, erkannte sie ihre aussichtslose Lage.
Der Zweifel lastet schwer auf Hero. Aber nun erwachte ihr Kampfgeist, jener Trotz, der Nachteile nicht beachtet, das Unmögliche nicht gelten lässt und die Stimme der Vernunft überhört. Sie sprang auf die Füße und kämpfte wie ein Berserker ohne den geringsten Schmerz zu spüren. Ohne es zu bemerken, hatte sie zwei Schwerter in der Hand.
„Überanstreng dich nicht, Hero! Deine Gedärme fliegen raus“, meinte Zodiak trocken.
„Die stopf ich wieder rein!“ Hero sah einen Hoffnungsschimmer. Es lag immerhin schon gut die Hälfte der Angreifer kampfunfähig auf dem Boden.
Juli bewunderte das Mädchen. Er war sich nicht sicher, ob er mit so einer Wunde immer noch kämpfen würde. Das spornte ihn zusätzlich an.
Schließlich hatten sie es geschafft sich einen Fluchtweg zu erkämpfen. Zodiak hatte nicht vor ihre Abmachung einzuhalten, dass sah Hero bereits an seinem Blick. Doch hatte der Mann auch nicht vor ins Kampfgeschehen einzugreifen. Er würde warten, warten bis Hero wieder vor seiner Haustür abgeliefert wurde oder von selbst kam. Aber dann würde sie sein Schüler sein. Nun hatte er sie kämpfen gesehen und traute seinen Augen nicht. Es war phänomenal. Das Mädchen war wie geschaffen für seine Zwecke.
Sie hatte das Kämpfen im Blut wie ihr Vater.
Neue Freunde
Juli schmiss das Schwert zur Seite, zog seinen Freund auf die Beine und rannte davon. Hero folgte ihnen immer noch die Schwerter haltend und presste keuchend eine Hand auf die Wunde. Doch nach nur wenigen Metern kippte sie ohnmächtig zusammen. Die Jungs machten kehrt, griffen Hero unter die Arme und rannten mit ihr weiter. Ihre Verfolger hatten fast zu ihnen aufgeschlossen.
Juli warf, nachdem sie die Burg hinter sich gelassen hatten, einen Blick nach hinten. Ihre Verfolger waren außer Sicht. Das verwunderte Juli. Aber vielleicht hatte Zodiak seine Männer zurückgepfiffen.
„Verstecken wir uns irgendwo“, meinte sein Begleiter, der auch einen Blick über die Schulter geworfen hatte. Leichter gesagt als getan. Wo sollten sie sich verstecken?
Um sie herum war nichts als Felder.
„Da rein!“, entschied Juli. Er bog von dem Feldweg ab und kämpfte sich durch die Reihen eines Maisfeldes ins Innere vor. Nachdem man den Weg nicht mehr sehen konnte, ließ er sich entkräftet zu Boden sinken. Auch er hatte einige Schnittwunden davongetragen und das Rennen hatte ihm den Rest gegeben. Er war total erschöpft. Juli schloss für ein paar Sekunden die Augen. Sein Begleiter nahm derweil Heros Verletzungen in Augenschein.
„Wir müssen sie verbinden, sonst verblutet sie uns“, meinte er fachmännisch. Aber diese Bemerkung warf eine Frage auf. Womit?
Juli zog sein Hemd aus und darunter kam ein schwarzes – nun durch sein Blut noch schwärzeres – T-Shirt zum Vorschein.
„Zieh dein Hemd aus, Fabian!“, befahl er.
„Wozu?“
„Du kannst Fragen stellen.“ Kopfschüttelnd nahm er Fabians Hemd entgegen und machte sich daran Heros Wunde zu verbinden. Dabei entdeckte er auch das Einschussloch in ihrem T-Shirt und darunter die Wunde. Aber diese konnte er nicht verbinden.
Lange betrachtete Juli das neben ihm liegende Mädchen.
Fabian saß daneben und überschüttete ihn mit Vorwürfen. „Konntest du dich nicht damit begnügen über die Mauer zu schauen? Reichte es dir nicht, das Mädchen loszubinden? Nein, der Herr musste ja auch noch in die Burg gehen und massenhaft Ärger mitbringen. Wir hätten das Mädchen befreien sollen, wenn nötig vielleicht sogar mit Gewalt von ihrem Kreuz und dieser Burg wegbringen sollen; nicht aber in die Burg gehen, dann hätte man jetzt nicht frei Sicht auf die Innereien.“
Seine Schimpftriade ging noch weiter, aber Juli hörte nicht mehr zu. Er wusste nicht, was ihn dazu bewegt hatte, ins Schloss zu gehen und Essen zu holen. Vielleicht war es der Anblick des Mädchens, dass Wissen, dass sie seit Tagen hungerte.
Juli unterzog das Mädchen einer genauen Untersuchung. Langsam hob und senkte sich ihr Brustkorb. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen.
Wir wären jetzt nicht mehr am Leben, wenn dieses Mädchen nicht gewesen wäre. Ich war kurz davor aufzugeben, nachdem ich ein paar saftige Schwerthiebe einstecken musste und erkannte, dass die Männer um Längen besser waren als ich. Dann wurde sie auch noch verletzt und stürzte. Da war ich wirklich nur noch ganz kurz davor, das Schwert wegzuschmeißen. Doch dann stand sie wieder auf und kämpfte erbittert weiter. Das gab mir neuen Mut. Sie ist etwas ganz Besonderes. Es gibt nicht viele Menschen, die mit solchen Verletzungen weiterkämpfen.
, dachte er bewundernd aber auch zutiefst verwirrt. Wenn man ihren Worten trauen konnte – und davon war er überzeugt – , hing sie nun den zehnten Tag am Kreuz und hatte dennoch genügend Kraft, zu kämpfen, hatte überlebt, trotz der blutenden Wunde an ihrem Rücken.
„Wir müssen zurück in die Stadt. Sie braucht einen Arzt!“, meinte Juli und unterbrach somit seinen Freund. Erstaunt sah er ihn an, doch dann erreichten die Worte sein Gehirn. Er stand auf.
Die beiden Jungs nahmen Hero in die Mitte und schleiften sie zurück auf den Weg. So liefen sie die ganze Nacht hindurch, denn mittlerweile war es dunkel geworden.
„Ihr lebt ja noch“, meinte plötzlich jemand verwundert, als die Sonne bereits im Begriff war aufzugehen. Erschrocken sahen sich die Jungs um. Dann bemerkten sie, dass das Mädchen den Kopf gehoben hatte.
„Nicht sprechen!“, meinte Fabian besorgt. „Du bist verletzt.“
„Dieser Kratzer kann mich doch nicht aufhalten“, meinte das Mädchen trotzig und stellte sich auf ihre Beine. Etwas wacklig blieb sie stehen. „Wohin geht ihr?“
„In die Stadt. Zu einem Arzt“, sagte Juli.
„Wer braucht denn einen?“, fragte Hero und blickte fragend an den Jungs herunter. Ihr Erschrecken verbarg sie gekonnt, denn sie konnte nicht in die Stadt zurück und schon gar nicht zu einem Arzt. Deshalb beschloss sie, die Starke zu mimen.
„Du!“, sagte Fabian verwirrt.
„Nein, ich brauch keinen!“, sagte Hero entschlossen.
„Aber deine Wunden“, versuchte es Juli.
„Das ist ein Kratzer, mehr nicht. Der verheilt von alleine.“
„Ein Kratzer?“, fragte Fabian außer sich. „Dass nennst du einen Kratzer? Daran stirbt jeder normale Mensch ohne sofortige ärztliche Versorgung.“
„Ich lebe noch, oder?“
„Na gut, dann gehen wir eben in die Stadt, um Verbandszeug zu ste … leihen“, meinte Fabian.
„Ihr wollt es klauen“, vermutete Hero.
„Ja“, sagte Fabian. „Aber du brauchst es … dringend. Sonst stirbst du wirklich.“
Sie gingen weiter, dem Sonnenaufgang entgegen.
Das Mädchen überlegte fieberhaft. Ihr musste etwas einfallen. Sie durfte nicht in die Stadt. Es erstaunte sie sowieso, dass die beiden sie nicht erkannt hatten. Bei ihrem Glück, dass sie zurzeit hatte, grenzte es beinahe an ein Wunder.
„Wie heißt du eigentlich? Ich bin Fabian und das ist Juli“, holte Fabian die Vorstellung nach.
„Hero“, gab das Mädchen widerwillig zur Auskunft.
„Und weiter?“
„Nichts weiter.“ Sie hüllte sich in Schweigen. Während die Jungs kleinere Streitereien über den Verlauf der bevorstehenden Aktion austrugen, lief das Mädchen schweigend zwischen ihnen. Sie musste die zwei loswerden und zwar dringend, bevor noch irgendjemand auf die Idee kam, sie anzugreifen. Die Jungs waren in ihrer Nähe, was bei Hero seit kurzem gleichbedeutend mit großer Gefahr war.
Nach einer Stunde kam ein kleines Dorf in Sicht. Fabian ging zielstrebig darauf zu. Hero und Juli folgten etwas langsamer. Hero konnte zwar laufen aber bei Kräften war sie bei weitem nicht. Genau genommen war sie kurz davor zusammen zu brechen. Ihre Stirn glühte fiebrig. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Glaubte sie jedenfalls. Doch Juli waren seit einer geraumen Weile die Schweißperlen auf ihrer Stirn aufgefallen, das unkontrollierte Zittern, dass das Mädchen von Zeit zu Zeit befiel und auch die immer kraftloser werdenden Schritte waren ihm nicht entgangen. Es bestand kein Zweifel. Das Mädchen würde nicht mehr lange durchhalten.
In der Dorfmitte entdeckten sie eine Apotheke. Sie war noch geschlossen. Doch das hinderte Fabian nicht. Er ging um das Haus herum und brach die Hintertür auf. Juli hielt Wache und Hero ließ sich erschöpft an der Hauswand zu Boden gleiten.
Die Welt verschwamm vor ihren Augen und dann stand plötzlich – ohne, dass das Mädchen sagen konnte, wie viel Zeit vergangen war – Fabian vor ihr. Er hatte eine große Tüte dabei, die bis oben hin mit Verbandszeug gefüllt war.
„Das wird reichen“, meinte er.
Sie setzen sich in eine kleine Gasse unweit der Apotheke und verbanden Heros und Julis schlimmste Wunden. Bevor sie auf die Straße zurückgingen, zogen die beiden ihre zerschnittenen T-Shirts darüber. Nun war ihr Anblick etwas normaler. Dennoch wurden sie auf der Straße angeglotzt. Es waren zwar nicht viele Personen auf der Straße. Aber dafür fielen die Kids umso mehr auf. Hero war sich sicher, dass es nicht nur wegen ihres Aussehens war. Ihr T-Shirt verbarg den Verband kaum; es reichte nicht mal mehr bis zum Bauchnabel.
In einigen Gesichtern glaubte sie aber auch, ein Erkennen neben dem Entsetzen zu entdecken. Und die Personen – vor allem Männer – verschwanden sehr schnell von der Straße. Um – wie Hero vermutete – sich Gewissheit zu verschaffen und ihren Steckbrief anzuschauen.
Sie trieb die Jungs weiter. Sie wollte hier weg, bevor jemand mit Sicherheit wusste, wer sie war. Sie rannte nicht, aber es fehlte nicht mehr viel. Die Angst um die Jungs öffnete eine Quelle der Kraft.
Hero hatte nicht damit gerechnet, aber sie schafften es ohne einen Hinterhalt aus dem Dorf.
„Was ist denn in dich gefahren?“, fragte Juli schwer atmend.
Hero sah sich gehetzt um. Aber die erwarteten Verfolger blieben aus. Als das Dorf außer Sicht war, verlangsamte das Mädchen ihren Gang. Es hatte viel Kraft gekostet und jetzt war umso weniger übrig.
„Du verheimlichst uns etwas“, vermutete Fabian. Wieder antwortete Hero nicht.
Die drei Kids kamen der Stadt immer näher. Kurz davor blieb Hero stehen: „Ich kann nicht in die Stadt.“
„Wieso nicht?“, fragte Juli verwundert nach.
„Ich kann es einfach nicht“, sagte Hero gequält.
„Du verheimlichst uns doch etwas“, sprach Fabian seinen Verdacht von vorhin noch einmal aus.
Diesmal antwortete Hero: „Wieso sollte ich?“ Aber es klang nicht überzeugend. Was herausfordernd klingen sollte, klang einfach nur trotzig.
„Was weiß ich. Aber es ist doch nicht normal, dass du beinahe fluchtartig das Dorf verlassen hast.“
Das Mädchen sah ihn einfach nur traurig an.
„Stimmt’s? Du verheimlichst etwas“, fragte Fabian wiederum.
Hero blickte zu Boden. Leise hauchte sie ihr „Ja“.
„Was ist es?“, wollte Fabian wissbegierig wissen.
„Ich … ich kann es euch nicht sagen.“ Heros Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und angereichert mit Schmerz, Schmerz, den sich die Jungs nicht erklären konnten. Er stammte nicht von der Verletzung, nicht vorrangig jedenfalls. Es musste etwas weitaus Schlimmeres geben.
Fabian blieb stumm. Er wusste nicht mehr, ob er es wirklich wissen wollte, was dieses Mädchen so schmerzte.
„Wieso?“, fragte Juli.
„Es würde euch in Gefahr bringen.“
„Noch mehr als wir sowieso schon sind?“, fragte Juli zweifelnd.
„Ja.“
„Das ist uns egal“, meinte Juli.
Ich darf es ihnen nicht sagen. Das würde sie noch mehr in Gefahr bringen und damit hätte ich sie noch viel tiefer ins Dunkel meines Lebens gezerrt und dort gehörten die zwei nicht hin. Dort gehörte niemand hin. Ich muss mit der Sache alleine fertig werden. Ich wollte keine Unschuldige mit in die Sache hineinziehen.
Und so sehr die Jungs auch drängten, Hero sagte nichts. Mit dem Blick starr auf den Boden gerichtet lief sie zwischen den Jungen und diese ließen Hero in Ruhe. Aber damit war das Problem immer noch nicht aus der Welt. Die Stadt kam immer näher.
Obwohl Hero sich stark gab und aus eigener Kraft zwischen Juli und Fabian lief, spürte die Wunde immer mehr an ihren Kräften zerrten. Das Mädchen schwankte kaum merklich. Mist, warum muss die Wunde jetzt so wehtun und das Fieber. Ich dachte es geht vorbei, wenn ich mich ein bisschen bewege.
Plötzlich sackte Hero zusammen und schlug hart auf dem Feldweg auf.
„Was ist mit ihr? Ist sie tot?“, fragte Fabian ängstlich.
„Ich glaub nicht. Aber ihre Wunden…“, meinte Juli. Der Verband unter Heros zerrissenem T-Shirt hatte sich dunkelrot gefärbt und auch auf dem an ihrem Rücken war ein roter Fleck zu entdecken.
Gemeinsam schleppten sie Hero durch die Stadt auf Schleichwegen, die selbst der Stadtkarte neu wären.
Nun standen sie vor einem wohl einst sehr glamourösen Hotel mit dem Namen „Sonnenschein“. Aber jetzt war es heruntergekommen und die Türen und Fenster waren verrammelt.
Fabian sah sich vorsichtig um, bückte sich und hob mit sichtlicher Anstrengung den Kanaldeckel hoch. Sie begaben sich in die Kanalisation
Die Jungen blieben vor einer Tür mit der Aufschrift „Notausgang“ stehen.
Fabian klopfte zweimal, wartete, klopfte wieder zweimal. Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.
„Passwort?“, kam es von drinnen.
„Schulschluss“
Die Tür wurde ganz geöffnet. Hinter ihr stand ein kleiner, blasser Junge, der sie entgeistert anstarrte.
„Wer ist das?“
„Ich sag’s dir“, antwortet Fabian, „wenn du uns aus dem Weg gehst.“
Der Junge zögerte.
„Mach Platz, Ratte“, fuhr Juli ihn an.
Sofort machte der Junge Platz und sie traten ein.
Mit vereinten Kräften trugen sie Hero durch den Gang, eine Treppe nach oben und in einen Raum. Juli war erstaunt wie leicht Hero war. Sie legten das Mädchen behutsam auf eine der Matratzen, die in einer Ecke lagen.
„Wer ist das?“, fragte ein älterer, etwa 19-jähriger Junge und zeigte auf Hero.
„Hero“, antwortete Fabian in Gedanken. Er erhob sich und betrachtete unsicher den gerade von ihm neu angelegten Verband.
„Wieso ist sie hier? Wollten wir nicht gemeinsam über potentielle Bewerber abstimmen?“
„Erstens müssen wir sie nicht aufnehmen und zweitens konnte ich sie nicht ihrem Schicksal überlassen.“ Fabian wurde lauter, weil der ältere Junge Anstalten machte ihn zu unterbrechen. „Ich konnte sie ja kaum verbluten lassen. Ich habe sie schon einmal im Stich gelassen. Diesen Fehler werde ich nie wieder machen. Diese schreckliche Wunde hat sie nur, weil ich zuviel Schiss hatte, zu kämpfen. Sie hat gekämpft, um Juli und mich zu retten. Und ich saß da und sah zu wie sie verletzt wurde.“
„Aber -“
„Nichts aber!“, unterbrach Fabian den Jungen. „Ich sagte nicht, dass du sie aufnehmen musst. Sie will sich nur ausruhen. Basta!“ Für ihn war das Gespräch beendet. Fabian drehte sich um und ging weg. Den verdatterten Jungen ließ er einfach stehen.
Der Junge starrte noch eine Weile auf die Tür, in der Fabian verschwunden war, dann drehte er sich wütend um und wollte gehen. Da fiel sein Blick wieder auf das Mädchen. Er betrachtete sie eine Weile und als er sich auf die Suche nach Fabian, Juli und Ratte, hatte er seine Meinung bereits wieder geändert. Doch etwas weitaus wichtigeres war ihm bei seiner Betrachtung des Mädchens aufgefallen. Der Verband um ihren Bauch färbte sich bereits wieder dunkelrot, obwohl Fabian ihn gerade erst gewechselt hatte. Sie brauchte einen Arzt und das verdammt schnell.
Er machte sich auf die Suche nach den anderen. Aber auf einmal stand der König der Diebe, ihr Anführer, hinter ihm. Seltsam, er hatte ihn gar nicht kommen hören.
„Wir brauchen einen Arzt! Dringend!“, forderte der Junge von dem Erwachsenen, dessen schwarze Haare wirr vom Kopf abstanden. Seine Augen hinter der schwarzen Maske glitzerten.
Der Erwachsene fragte nicht weiter nach, wirkte aber auch nicht sonderlich besorgt. Er drehte sich um. „Ich schicke jemanden vorbei, der keine Fragen stellt“, versprach er und verschwand.
Eine Stunde später klopfte es an den Notausgang. Richtiger Klopfrhythmus und richtiges Passwort, aber es stand ein unbekannter Mann vor der Tür.
„Ich bin Arzt.“ Der Mann kümmerte sich ohne Fragen zu stellen um Hero und verschwand wieder.
Nach zwei Tagen und zwei Nächten erwachte Hero wieder. Es war stockdunkel. Sie spannte ihre Hände und Füße an und spürte erleichtert, dass sie nicht gefesselt war. Und da sie das spüren konnte, war sie auch nicht tot.
Sie stemmte sich auf die Ellenbogen in eine halb sitzende halb liegende Position hoch. Eine Reihe von Schmerzwellen durchströmte ihren Körper. Stöhnend sank sie zurück und wartete bis der Schmerz erträglich geworden war.
Dann richtete sie sich erneut auf. Diesmal vorsichtiger und langsamer. Wieder dieser Schmerz. Doch diesmal war sie darauf gefasst und biss die Zähne zusammen. Als der Schmerz einigermaßen minimiert worden war, ließ sie ihren Blick schweifen. Da kam die Erinnerung zurück. Sie war mit Juli und Fabian auf den Weg in die Stadt gewesen. Aber wo war sie jetzt?
Neben sich erblickte Hero Juli. Das Mädchen erhob sich und schlich immer an der Wand entlang durch den Raum. Sie wollte hier weg. Jeder in ihrer Umgebung geriet in Gefahr. Eine Hand auf ihren Bauch gepresst, versuchte sie die Schmerzen zu lindern. Das Einschussloch knapp über ihrem Herzen brannte wie Feuer. Ihre Wunden zerrten an ihren Kräften und der Hunger tat ein Übriges.
Plötzlich verfing sich ihr Fuß. Das Mädchen stürzte über einen Stock oder etwas Ähnliches. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei und stöhnte gepeinigt auf. Suchend tastete sie nach der Stolperfalle in der Dunkelheit. Da! Das… das sind Schwerter. Meine Schwerter.
Hero lehnte sich gegen die Wand und betrachtete die Schwerter. Die hatten ihr Leben gerettet.
Sie drückte die Schwerter gegen ihre Brust. Sie gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit. Dann verließen Hero die Kräfte und sie gab sich der Bewusstlosigkeit hin.
Gähnend regte sich Juli auf seiner Matratze. Sein erster Blick galt Hero. Doch diese war nicht mehr da.
„Fabian, schnell, wach auf! Hero ist weg!“ Juli schüttelte seinen Freund. Auch die anderen erwachten. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach Hero.
„Hier! Ich hab sie gefunden!“, rief Ratte. Schnell versammelten sich alle mit einigem Sicherheitsabstand um Hero.
„Wer weckt sie auf?“, fragte Fabian.
„Ich nicht. Bin doch nicht lebensmüde. Siehst du die Schwerter? Ihr habt uns selbst erzählt, wie gut sie damit umgehen kann. Was ist, wenn sie erschrickt und nach den Schwertern greift und uns umbringt?“, fragte Ratte. „So ganz aus Versehen.“
Juli schüttelte ungläubig den Kopf und ging langsam auf Hero zu. Links neben ihr ging er in die Hocke und berührte sie sanft an der rechten Schulter. Das Mädchen fuhr erschrocken hoch und griff instinktiv nach einem der Schwerter. Es war, als wäre das Schwerter die natürliche Verlängerung ihres Armes. Hero nahm es nicht bewusst wahr, als sie mit einem Schwert nach rechts stieß.
„Na, na immer langsam. Du willst doch niemanden verletzen“, meinte Juli.
Das Mädchen sah erst den Jungen und dann das Schwert in ihrer Hand an. Als ihr bewusst wurde, dass sie Juli verletzt, vielleicht sogar getötet hätte, ließ sie das Schwert erschrocken los, als hätte sie sich daran verbrannt. Klirrend fiel es zu Boden.
Widerwillig ließ Hero sich von Juli zurück zu den Matzratzen führen. Dankbar verschlang sie das Frühstück.
Juli kümmerte sich fürsorglich um Hero, leistete ihr die meiste Zeit Gesellschaft. Der Junge versuchte sein Bestes, Hero ans Bett zu ketten. Doch länger als eine Woche konnte er das Mädchen nicht halten.
Das war sowieso schon viel zu lange, fand Hero. Sie musste unbedingt zum Haus der lebenden Toten. Atikes wartete dort auf sie. Doch Juli ließ sie nicht gehen.
„Aber Atikes. Er wartet auf mich. Er ist verletzt.“
Heros Wunden waren bei weitem noch nicht verheilt. Jede Bewegung bereitete ihr Schmerzen. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie musste zum Haus der lebenden Toten. Atikes … Er ist verletzt … Er ist ihretwegen verletzt.
Sie wollte zwar alle aus ihrem Leben heraushalten. Aber sie musste zu Atikes. Er wartete auf sie.
„Du gehst nicht … Jedenfalls nicht allein … Ich begleite dich“, gab Juli schließlich nach.
Zusammen machten sie sich auf den Weg. Es dauerte etwas bis Hero das Haus der lebenden Toten wieder fand.
„Atikes?“, rief sie. „Bist du hier … irgendwo?“
Doch es kam keine Antwort. Die Zweifel begannen an Hero zu nagen. Hatte er es nicht geschafft? Hatten die Verbrecher ihn erwischt? War er hier gewesen und sie kam zu spät?
Langsam erklomm sie die Stufen. Darauf bedacht keine ruckartigen Bewegungen zu machen, um sich nicht noch mehr Schmerzen zu verursachen, die das Laufen ihr sowieso bereitete. Sie spürte wie das Fieber stieg, sie immer schwächer wurde. Die Verletzungen waren bei weitem noch nicht verheilt
, musste sie sich eingestehen. Auch wenn sie sich stark gab, raubten ihr diese Wunden jedes bisschen Kraft. Sie öffnete die Eingangstür.
„Atikes?“
Hero trat ein paar Schritte in das Halbdunkel des Ganges, wagte es aber nicht weiter in das Haus vorzudringen aus Angst vor den Mumien und den Fallen.
„Er ist nicht hier. Gehen wir wieder“, meinte Juli und blickte sich unbehaglich um. Auch er spürte die düstere Atmosphäre, die das Haus umgab.
„Nein. Ich warte.“ Hero ließ sich erschöpft auf die Stufen sinken. Aber sie wollte nicht, dass ihr Begleiter ihre Schwäche sah. So blieb sie kerzengerade sitzen und sank nicht in sich zusammen, was ihrer Verfassung eher entsprochen hätte.
Seufzend setzte sich Juli neben sie. Sie warteten.
So saßen sie nun schon fast eine halbe Stunde und Hero ließ sich durch nichts, was Juli sagte, dazu bewegen, zu gehen.
„Hero!“ Äpfel kullerten zu Boden. Atikes stürmte auf Hero zu. Das Mädchen sprang auf – zu schnell. Die Welt drehte sich. Atikes hatte sie erreicht, umarmte sie stürmisch und verhinderte somit zugleich, dass Hero umfiel. „Ich dachte, sie hätten dich erwischt.“ Atikes lachte auf, so als wäre diese Vorstellung unmöglich.
Hero löste sich schnell wieder aus der Umarmung aus Rücksicht auf ihre Wunden. Es zog schmerzhaft in ihrem Bauch. „Hatten sie auch. Aber wo warst du? Wie geht es dir?“ Hero betrachtete den Jungen genau aber von seinen Schnittwunden, die er sich zugezogen hatte, war nichts mehr zu sehen. Seltsam
, dachte sie.
„Essen -“ Er stoppte kurz. „- organisieren.“
Juli lächelte wissend.
„Wer ist das?“, fragte Atikes und blickte den Jungen herausfordernd an.
„Das ist Juli. Er hat mich gerettet oder ich ihn, wie man es sehen mag.“
Sie kehrten in den Unterschlupf zurück.
Kaum waren die drei zurück, wurde Hero von Juli sofort wieder ins Bett verfrachtet. Zwei Wochen hielt Hero die strenge Bettruhe ein, doch dann begann sie wieder – langsam zwar nur – zu laufen. Ihre Wunden heilten in einer Geschwindigkeit, die sie sich nicht erklären konnte, die nicht normal sein konnte. Aber sie konnte keine Antwort auf diese Frage finden.
Zwischenzeitlich war auch Heros und Atikes’ Aufnahme geklärt. Die anderen Kinder waren so begeistert von ihnen, dass sie beide, ohne sie auch nur zu fragen, in ihre Bande aufgenommen hatten. Wieder musste Hero verwundert und doch erleichtert feststellen, dass sie hier keiner zu kennen schien, keiner ihren Steckbrief oder die Nachrichten über sie zu kennen schien.
Neue und alte Freundschaften
In den nächsten Wochen wurde Atikes und Hero – nachdem ihre Wunden annähernd verheilt waren – erklärt, wie man am besten stahl. Denn die zehn Kinder waren eine Diebesbande, die nur stahl, um sich über Wasser zu halten, wie sie versicherten. Genau genommen waren es zwei Banden. Die fünf Größeren nannten sich Lümmel und die anderen fünf Bengel. Die Kinder hatten Gruppen gebildet, weil es zu auffällig und vor allem zu laut wäre, wenn bei einem Einbruch zehn Leute beteiligt waren. In jeder Bande sollten mindestens zwei und höchstens fünf Kinder sein.
Also mussten Hero und Atikes eine neue Bande bilden.
„Hier nehmt Juli dazu!“, bot Fabian an.
Erstaunt sahen Hero, Juli und Atikes den Jungen an.
„Ihr braucht erstens jemanden, der schon etwas Erfahrung hat und zweitens ist mir das zu gefährlich mit Juli aus dem Haus zu gehen. Überall wo er ist, passiert etwas. Also nach der letzten Sache habe ich die Nase gestrichen voll. Jetzt reicht’s.“
Juli lachte und schloss sich Hero und Atikes an. Es machte ihm nichts aus. Außerdem verstand er seinen Freund. Zudem war sich der Junge sicher, dass es mit Hero sicher spannend werden würde. Schließlich hatten sie das Mädchen an ein Kreuz gebunden vorgefunden, wo sie sterben sollte.
Sosehr die Jungen Hero auch bedrängt hatten, das Mädchen hatte nicht preisgegeben, wieso sie mit einer Schussverletzung an einem Kreuz gehangen hatte. Doch Juli war sich sicher, irgendwann würde er es erfahren.
Die Bande der drei Kids brauchte nur noch einen Namen, aber einen schönen. Kein Schimpfwort, das stand fest.
Zurzeit stand „Kinder der Nacht“ zur Debatte. Aber dieser war zu lang, denn bei jedem Bruch sollte man seinen Initialen hinterlassen.
Am Ende war unklar, wer „Black kids“ vorgeschlagen hat, aber diesen behielten sie.
Nach ein paar Wochen gehörten die drei bereits zu den Meisterdieben. Das war die höchste Auszeichnung, die es unter den Dieben gab.
Um ein richtiger Meisterdieb zu werden, musste man allerdings in ein durch eine Alarmanlage gesichertes Haus, Museum, etc. einbrechen. Die drei entschieden sich für das historische Museum. Dort stahlen sie eine ägyptische Kette. Alles lief glatt. Es war fast so einfach, wie einem Baby den Lutscher zu klauen. Die Alarmanlage des Museums war uralt und sie hatten keine Schwierigkeiten, diese zu überlisten.
Nach diesem Bruch wollte Hero erst einmal allein sein. Sie musste darüber nachdenken, was sie zu tun gedachte. Atikes und Juli gingen zurück zu dem Unterschlupf.
Das Mädchen lief durch die um diese frühe Uhrzeit noch schlafende Stadt und hing ihren düsteren Gedanken nach. Sie wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Aber hatte sie eine andere Wahl?
Schmerzlich kamen ihr die letzten Wochen in Erinnerung. Zodiak, die Steckbriefe, all die anderen Verbrecher, die Polizei. Sie musste die Jungs verlassen. Sie brachte sie nur in Gefahr.
Plötzlich wurde Hero hinterrücks angefallen. Nicht schon wieder! Was fanden die Verbrecher nur alle an ihr?
Sie hatte keine Chance sich zu wehren. Die Übermacht war einfach zu groß. Die vier Männer schleiften das Mädchen in einen Kastenwagen. Er fuhr los und jagte durch die menschenleeren Straßen. Das Mädchen kullerte von einer Ecke in die nächste.
Als die Tür nach Stunden geöffnet wurde, blendete sie heller Sonnenschein. Zwei starke Hände griffen nach ihr und zogen sie aus dem Wagen. Als sich ihre Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte Hero, dass sie vor einem großen und einst noblen Haus stand, das von Wald umgeben war. Sie wurde von den vier maskierten Männern ins Haus und von dort geradewegs in den Keller geführt. Dort brannten Fackeln und es gab richtige Kerker. In einen von diesen wurde Hero nun gebracht. Dort brannte in einer Ecke auch eine Fackel, die einen kleinen Teil des Raumes erhellte. Der Rest lag in vollkommener Dunkelheit. Hero zitterte. Hier war es empfindlich kalt. Dennoch sah sie sich neugierig im Raum um. Eine Menge alter Rüstungen standen herum. Der Rest des Raumes war voll gestopft mit allen erdenklichen Folterinstrumenten.
Als sie sich unter die Fackel setzten wollte, wurde die Tür erneut geöffnet. Ein Maskierter bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er führte sie in einen Raum am Ende des Ganges. Der Raum war vollkommen leer bis auf einen Stuhl in der Mitte und einem Scheinwerfer. Der Maskierte drückte sie auf den Stuhl.
Jemand klopfte an der geschlossenen Tür. Der Scheinwerfer wurde auf Hero gerichtet und eingeschaltet. Geblendet schloss sie die Augen und hob schützend die Hand davor.
Jemand trat ein und stellte sich hinter den Scheinwerfer. Vielleicht sollte das einschüchternd wirken, da Hero nur die Stimme hören, nicht aber den Kidnapper sehen konnte. Doch das funktionierte nicht.
„Wie heißt du?“, fragte eine tiefe Männerstimme, die sie vorher noch nie gehört hatte, sanft.
Hero überlegte fieberhaft. Sollte sie ihm den richtigen Namen sagen? Oder einen anderen? Sollte sie überhaupt antworten?
„Wie heißt du?“, fragte die Stimme nun schon ungeduldig.
Hero zog es vor überhaupt nicht zu antworten, obwohl sie große Angst vor den Folgen hatte. Wer weiß, was sie tun würden?
Aber noch größer war die Angst vor den Folgen, die ihr Name mit sich brachte. Bisher hatte jeder Verbrecher ihren Namen und ihr Gesicht gekannt und dementsprechend gehandelt. Vielleicht lassen sie mich laufen, wenn sie meinen, dass sie das falsche Mädchen haben.
An diese Hoffnung klammerte sich Hero. Es war nicht mehr als ein Strohhalm, aber es war ihre einzige Hoffnung.
Der Mann fragte noch einige Male. Aber sie antwortete nicht.
Plötzlich wurde der Scheinwerfer ausgeschaltet. Ein muskulöser, braunhaariger Mann trat vor und beugte sich über sie. „Wie heißt du?“, fragte er wiederum mit zornblitzendem Blick.
Als Hero wieder nicht antwortete, holte er aus und schlug Hero mit dem Handrücken ins Gesicht.
Hero fuhr zurück, eher vor Schreck als vor Schmerz. Ungläubig hob sie ihre Hand und berührte ihre schmerzende Wange. Aus großen Augen blickte sie zu Brutalo, der Mann, der sie geschlagen hatte, auf. Sie sagte keinen Ton. Sie lassen mich laufen!
Mit diesem Gedanken ertrug sie alles weitere.
Der Maskierte, der noch im Raum war, sagte: „Vielleicht ist sie stumm.“
Der Braunhaarige glaubte nicht daran. Er fragte immer wieder und ohrfeigte sie weiter.
Als Brutalo endlich aufgab, glühten ihre Backen und waren geschwollen.
Das Mädchen wurde unsanft von dem Maskierten in das Verließ zurückgezerrt.
Hero beschloss, weiterhin die Stumme zu spielen. Das war höchstwahrscheinlich gesünder für sie. Der Maskierte hatte ihr ohne es zu wollen, eine super Lüge zurechtgelegt. Aber es wird nicht leicht sein. Aber sie müssen mich freilassen! Ich bin die Falsche!
Das hielt sie sich immer wieder vor Augen.
„… haben wir tatsächlich die falsche Göre mitgenommen“, meinte der Maskierte. Leise drang seine Stimme durch die geschlossene Tür.
Hero jubilierte innerlich. Sie war fast frei.
„Auch gut“, sagte Brutalo gleichgültig. „Stumme Kinder, vor allem Mädchen sind beliebte Sklaven. Die widersprechen nicht.“ Er lachte rau. „Sie wird uns viel Geld einbringen“
Sklaven. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, was man Sklaven – weiblichen Sklaven – antun konnte. Energisch schüttelte sie den Kopf. Sie wollte, sie durfte jetzt nicht daran denken.
Auf der Suche nach einem Ausweg, blickte sie sich im Zimmer um. Die Fackel fiel ihr ins Auge. Schnell löste Hero diese aus ihrer Verankerung.
Ihr Plan war riskant und wenn er nicht glückte, war sie geliefert. Doch dieses Schicksal erschien ihr gnädiger als das eines Sklaven.
Auch wenn Hero es nicht bemerkte, verhielt sie sich nicht wie ein normales vierzehnjähriges gekidnapptes Kind, hatte es noch nie. Normale Kinder hätten sich in ihr Schicksal ergeben. Doch nicht Hero.
Das Mädchen trat auf die Streckbank zu, die ihr am nächsten stand. Diese war wie alles in diesem Raum aus uraltem Holz. Sie holte noch einmal tief Luft und hielt dann die Fackel an das Holz. Gleich darauf stand der ganze Raum in Flammen. Der Rauch nahm die Sicht und den Atem.
Verzweifelt und hustend trommelte Hero gegen die Tür. Ein Mann stürmte herein, sah das Feuer und machte auf dem Absatz kehrt.
In dem allgemeinen Chaos, das daraufhin folgte, konnte Hero ungesehen entkommen. Doch sie wusste, ihre Flucht würde nicht allzu lange unentdeckt bleiben. Spätestens nachdem der Brand gelöscht war, würden sie ihr Fehlen bemerken.
Hustend rannte sie nach draußen. Sie rannte so schnell sie konnte. Sie spürte ihre Wunde am Bauch, das Einschussloch knapp über ihrem Herzen und auch das in ihrem Oberschenkel. Doch sie ignorierte sie. Die Angst spornte sie zusätzlich an. Hustend rannte sie in den Wald. Dort würde sie sich verstecken können.
Von den Leuten, denen sie gerade entkommen war, konnte sie sich verstecken. Doch leider waren auch andere in dem Wald, die sie nur zu gut kannte. Sie lief ihnen geradewegs in die Arme.
„Ach hallo. Wen haben wir denn da?“
Sie wirbelte blitzschnell herum und stand nun direkt vor Alpha. Wie beim ersten Treffen war sie bereits von Alphas Leuten umzingelt. Boxer und Pitbull näherten sich ihr von hinten. Sie bemerkte es, war aber unfähig sich zu rühren. Der Schock saß einfach zu tief.
Wie klein die Welt doch war.
Hero hatte das unbestimmte Gefühl vom Regen in die Traufe gekommen zu sein.
„Warum kommen Sie ausgerechnet hierher?“, wollte Hero wissen, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Sie hustete qualvoll.
„Unser Boss gab uns den Tipp“, sagte Alpha.
„Ach du bist gar nicht der Höchste.“ Es war eine Feststellung, aber Alpha fasste es als Frage auf. „Nein. Ich dachte du bist schlau genug, um selbst draufzukommen. Immerhin bist du uns zwei Mal entwischt. Und außerdem welches Interesse sollte ich an einem kleinen Mädchen haben? Wie sprichst du eigentlich mit mir? Seit wann sind wir per Du? Oder ist mir etwas entgangen?“
„Wie soll ich dich denn sonst nennen? Majestät oder Höchster kann ich ja kaum sagen. Denn du bist ja nicht der Höchste.“ Hero wusste, dass sie sich sehr weit aus dem Fenster lehnte. Und sie bekam auch gleich die Quittung dafür. Alpha gab ihr eine Ohrfeige. Hero spürte wie sich ihre ohnehin schon geschwollene Wange feuerrot färbte. Es prickelte unter der Haut. Das Kind musste die Tränen der Wut und des Schmerzes verdrängen. Sie wusste selbst nicht, woher diese Wut auf alles und jeden so plötzlich kam. Sie ballte die Fäuste.
Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, fragte sie: „Welches Interesse hat euer Boss an mir?“
„An dir hat er gar keines“, sagte Alpha.
„Und wieso lasst ihr mich dann nicht in Ruhe?“, rief sie verzweifelt.
„Er will das Amulett. Er sagte, du weißt welches Amulett.“
„Nee, sollte ich?“, fragte Hero nun wieder frech.
Alpha schwieg.
„Wenn ich euch das Amulett gebe, lasst ihr mich dann in Ruhe?“, fragte Hero zweifelnd. Alpha nickte. Hero fischte ein silbernes Kettchen mit einem Kreuz unter ihrem T-Shirt hervor, betrachtete es zweifelnd und auch ein bisschen wehmütig und übergab es Alpha. Sie wusste nicht, welches Amulett gemeint war, aber das war die einzige Kette, die sie besaß. Sie gab es dem Mann und er ließ es in eine der unzähligen Taschen seiner Hose verschwinden.
Alpha gab Boxer und Pitbull ein Zeichen und ehe sich Hero versah, waren ihre Hände auf den Rücken gefesselt.
„Hey. Was soll das? Du hast gesagt, ihr lasst mich in Ruhe.“
„Ich geb dir jetzt einen Tipp: Glaube nie
einem Gauner, der etwas haben will. Aber leider wird dir dieser Tipp nicht mehr viel nützen.“
„Wieso? Was habt ihr mit mir vor?“ Angst ergriff die Oberhand.
„Wir sollen dich entsorgen“, sagte Alpha mit gequältem Grinsen. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut, dass sah man ihm deutlich an.
„Was?“, fragte Hero ungläubig. Alpha verzog das Gesicht.
„Wir sollen dich von der Bildfläche verschwinden lassen.“
„Das heißt so viel wie töten.“ Das war das erste Mal, dass Boxer redete. Er hatte eine tiefe rauchige Stimme.
Das heißt so viel wie töten
, hallte es in ihrem Kopf wider.
„Komm, wir haben nicht alle Zeit der Welt!“
Hero lief niedergeschlagen zwischen Boxer und Pitbull. Sie konnte nicht entkommen
, dachte sie traurig.
Bald musste sie feststellen, dass es gar nicht so leicht war mit gefesselten Händen zu laufen. Oft musste sie um ihr Gleichgewicht kämpfen. Wenn sie stürzte, wurde sie grob wieder hoch gezerrt und auf die Füße gestellt.
Plötzlich schrie jemand: „Da ist sie!“
Das Mädchen erkannte die Stimme, würde sie nie wieder vergessen. Diese Stimme hatte ihr neues Leben eingeläutet. Diese Stimme gehörte ihrem ersten Entführer, der sie damals vom Friedhof entführt hatte.
Hero drehte sich erschrocken um. Doch dann wurde sie von starken Händen an den Hüften gepackt und bei Boxer über die Schulter gelegt. Der Mann rannte los. Zu ihrem Glück oder Pech – sie wusste es nicht – stolperte Boxer über eine Wurzel.
Als sich das Mädchen mühsam aufgerappelt hatte, lag Boxer immer noch bewegungslos am Boden. Er blutete aus einer kleinen Wunde über der rechten Augenbraue. So konnte sie fliehen. Hero rannte so schnell sie konnte trotz gefesselten Händen.
Oft schaute sie zurück, ob jemand kam. Leider konnte sie gleichzeitig nicht nach vorne schauen. Einmal rannte sie gegen einen Baum und blieb benommen liegen. Hero kämpfte gegen die Ohnmacht an. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Endlich hatte sie es geschafft, die Sternchen wegzublinzeln und aufzustehen. Sie rannte weiter. Aber nach kurzer Zeit als sie wieder nach hinten blickte, stieß sie mit einem weichen, warmen Etwas zusammen.
Als sie am Boden liegend auf das Etwas sah, dass ebenfalls umgefallen war, sah sie einen Jungen, der etwa gleich alt war.
„Hey, nicht so stürmisch. Was ist denn mit dir los?“
Hero antwortete nicht, sondern starrte ihn nur ungläubig an. Das war nicht irgendein Junge, das war Atikes. Und neben ihm stand Juli. Jetzt hatten die Jungs sie auch erkannt.
„Hero, was ist? Sag schon!“
Eine Mücke stach Hero am Hals. Sie kümmerte sich nicht weiter darum. Sie brachte nur noch ein Wort heraus: „Hilfe“ bevor sie einfach umfiel und sich nicht mehr rührte. Atikes sah sie verwundert an. Doch dann fiel auch er einfach um. Das gleiche geschah mit Juli.
Das Ende naht
Als Hero mit dröhnenden Kopfschmerzen erwachte, lag sie an Händen und Füßen gefesselt auf dem kalten Boden. Wo bin ich jetzt wieder hingeraten und vor allem wie?
Neben ihr raschelte etwas und dann stöhnte jemand auf. Juli, Atikes, schoss es ihr durch den Kopf.
„Atikes, bist du das?“
„Mhm, oh mein Kopf. Wo sind wir und wieso sind wir gefesselt?“, fragte Juli
„Ich kann dir nicht sagen, wo wir sind. Aber die Fesseln sind dazu da, dass wir nicht weglaufen können“, meinte Hero in einem Anflug von Galgenhumor.
„Woher kommen nur diese verdammten Kopfschmerzen?“, fragte Atikes.
„Das kann ich euch sagen.“ Ein Mann trat aus dem Dunklen. „Das waren diese schönen, kleinen Betäubungspfeile.“
Er hielt einen kleinen Pfeil ins Licht und betrachtete ihn lächelnd.
Währenddessen betrachtete Hero den Mann genauer. Irgendwoher kenn ich dich. Wenn ich nur wüsste woher.
Sie legte den Kopf schief und überlegte. Ihre Gedanken schweiften ab. Dann war dieser Mückenstich gar kein Mückenstich, sondern der Betäubungspfeil.
Auf einmal wusste sie auch, woher sie den Mann kannte. Er war einer von Alphas Bande!
„Wo ist Alpha?“, fragte sie.
Juli, Atikes und der Mann sahen sie verwundert an.
„Woher weißt du…?“, wollte der Mann irritiert wissen.
„Ich habe sie erkannt. Also wo ist er?“
„Er wird bald kommen.“
Eine Weile schwiegen sie. Hero und Atikes hatten es geschafft sich aufzusetzen und halfen noch Juli sich aufrecht hinzusetzten.
Irgendwann durchbrach Hero die Stille. „Was geschieht jetzt mit uns?“
„Du hast aber ein sehr kurzes Kurzzeitgedächtnis oder sind das die Nachwirkungen der Betäubung?“, fragte der Mann höhnisch.
„Aber die Umstände haben sich doch geändert“, rief Hero verzweifelt. Das durften sie nicht tun.
„Inwiefern?“
„Diese Jungs haben nichts mit der Sache zu tun.“ Hero hoffte inständig, dass der Mann nicht wusste, dass sie den Jungs nahe stand.
„Ungewöhnliche Umstände verlangen ungewöhnliche Maßnahmen. Ihnen wird dasselbe Schicksal zuteil wie dir“, sagte Boxer, der in Begleitung von Alpha und Pitbull leise eingetreten war.
„Aber sie haben doch damit gar nichts zu tun.“ Hero war verzweifelt. Ihr war es egal, wenn sie sterben musste. Damit konnte sie umgehen. Aber nicht die Jungs! Sie waren unschuldig. Sie waren nur durch sie in Gefahr geraten.
„Stimmt. Sie könnten uns auch nur beschreiben“, meinte Pitbull. Der Mann, der die ganze Zeit dagewesen war, verließ auf einen Wink von Pitbull den Raum, was Hero zeigte, dass auch Pitbull und Boxer etwas Höheres in Alphas Bande sein mussten.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, wandte Hero sich dennoch an Alpha.
Der Mann nickte.
„Wieso macht ihr das?“
„Wieso willst du das wissen?“, kam die Gegenfrage.
„Ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe“, antwortete Hero. Die Jungs saßen stumm daneben.
„Es ist ja egal, weil ihr es niemanden mehr erzählen könnt …“
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, entgegnete Hero selbstsicherer als sie sich fühlte.
„Du bist uns drei Mal entkommen, dass heißt aber nicht, dass es ein viertes Mal passieren muss. Du hattest mehr Glück als Verstand“, schielt sich Boxer wieder ein.
„Abwarten“, meinte Hero.
Alpha wechselte abrupt das Thema. „Wir bekommen den Auftrag, wir erledigen den Auftrag.“
„Dann ist diese ganze Scheiße nicht auf eurem Mist gewachsen. Aber auf wessen dann? Wer ist euer Auftraggeber?“, fragte das Mädchen. Sie war wütend. Wieso immer sie? Wieso brachte ihre Gegenwart ihre Freunde in Gefahr?
Hero hatte die leise Vermutung, dass auch diese Entführung mit Zodiaks Steckbrief zusammenhing, aber sie erwartete keine Antwort auf ihre Frage.
Alpha überraschte sie, als er doch antwortete: „Er nennt sich Sir Henry.“
Also nicht Zodiak. Aber auch egal.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ Alpha das Zimmer wieder. Boxer und Pitbull folgten ihm. Jetzt waren Black kids allein. Hero kroch zu Juli. Sie verstanden sich ohne Worte. Sie setzten sich Rücken an Rücken. Hero fingerte an Julis Fesseln rum. Endlich hatte Hero es geschafft, den Knoten von seinen Fesseln zu lösen. Juli streifte den Strick ab, bewegte seine verkrampften Hände, sein schmerzendes Handgelenk.
Dann drehte er sich um und nahm Hero die Handfesseln ab und dann auch Atikes. Heros Handgelenke zierten schmerzhafte wunde Stellen.
„Wo warst du so lange?“, fragte Atikes.
Langsam hob das Mädchen den Blick von ihren roten, teilweise bereits blutenden Handgelenken.
Etwas widerwillig erzählte Hero, denn sie fand, dass es keine Glanzleistung war, sich gefangen nehmen zu lassen und das dreimal in Folge.
Juli und Atikes hatten stumm zugehört und auch jetzt blieben sie still. Schweigend saßen die drei Kinder nebeneinander. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Sterben war einsam
, erkannte Hero. Den Weg hierher war sie mit ihren Freunden gemeinsam gegangen. Doch nun musste jeder allein weitergehen. Wie gern hätte sie ihre Freunde nun an einem anderen Ort gewünscht. Sterben, das war nur ihre Sache.
Der Tod kam auf leisen Schritten, hieß es. Doch ihr Tod war alles andere als leise. Schwere, stampfende Schritte hatte er.
„Sie kommen“, murmelte Atikes. Er war kreidebleich. Aber auch Juli und Hero waren Gespenstern nicht unähnlich.
Die Schritte hielten vor der Tür, ein Schlüssel wurde umgedreht und die Männer kamen herein. Alpha ging auf die drei Kids zu. Diese sprangen auf.
Sofort bildeten die Übrigen einen Kreis um sie. Darin hatten sie ja Übung. Immer wenn Hero ihnen begegnet war, hatten sie sofort einen Kreis gebildet. Somit war ihr Gedanke an Flucht zerplatzt wie eine Seifenblase.
Jetzt da die Todesangst am größten war, war sie plötzlich verschwunden. Hero sah Alpha gelassen entgegen. Mit der Todesangst war auch jede andere Angst verschwunden. Nur eine blieb. Die Angst um ihre Freunde. Und diese brachte Hero zu einer Verzweiflungstat. Sie stürmte auf Alpha zu, schlug auf ihn ein mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte.
Es kam Bewegung in die Mauer. Boxer und Pitbull eilten Alpha zu Hilfe, der sich nicht wehrte, nur schützend die Hände vors Gesicht gehoben hatte.
Juli und Atikes rannten los, erreichten die Lücke, rannten hindurch und blieben stehen. Hero wäre ihnen gern gefolgt doch Boxer hielt sie fest.
„Lauft! Haut ab! Ich komme schon allein zurecht.“ Die beiden bewegten sich nicht vom Fleck. Pitbull wandte sich Juli und Atikes zu. Seine Visage reichte, um die Jungs zur Flucht zu bewegen.
Alpha war sauer – stink sauer um genau zu sein. Aber noch schlimmer war die Laune von Boxer und Pitbull. Ein paar Halbwüchsige führten sie an der Nase herum. Das konnten sie nicht auf sich sitzen lassen.
Boxer zerrte Hero aus dem Raum und schleifte sie in einen anderen, dort zog er sie in eine dunkle Ecke und während Boxer Hero festhielt, die keine Anstalten mehr machte zu fliehen, machte sich Pitbull am Boden zu schaffen. Hero sollte es Recht sein. Solange sich diese zwei um sie kümmerten, konnten sie nicht die Verfolgung von Juli und Atikes aufnehmen. Alles andere war ihr vorerst egal. Nur die Jungs mussten entkommen. Das war das einzige, was zählte.
Nach den Geräuschen zu urteilen, die Pitbull machte, als er sich am Boden zu schaffen machte, zog er etwas Schweres weg. Schließlich trat er zur Seite und Boxer gab Hero einen kräftigen Stoß in den Rücken. Sie stolperte einen Schritt vor, verlor den Boden unter den Füßen und stürzte in ein tiefes schwarzes Loch ohne wirklich registriert zu haben, was geschah, ohne einen Schrei auszustoßen.
„Tschüss.“ Boxer fing hysterisch an zu lachen und Pitbull stimmte mit ein. Es war eine Genugtuung wenigstens einen dieser kleinen Bälger zu bestrafen.
ENDE Teil 2
Texte: Die Geschichte gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010
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