Der Beginn eines neuen Lebens
Der Wagen flog durch die Luft, überschlug sich mehrfach, bis er schließlich auf den Rädern zum Stehen kam. Stöhnend regte sich nach einigen Minuten ein braunhaariges, vielleicht etwas molliges, aber blasses Mädchen auf der Rückbank. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff sie sich an die Stirn, betrachtete fragend ihre blutigen Fingerspitzen, war nicht in der Lage, zu verstehen, was sie sah. Wo bin ich? Was mach’ ich hier?
Sie hatte keine Angst, hatte kein Gefühl. Sie war nur verwirrt. Das Kind blickte sich um. Ihr Blick glitt über die eingedellten Autotüren, über das Popcorn, das überall verstreut lag. Aber auch wenn sie all diese Zerstörung sah, war sie doch nicht dazu imstande, zu verstehen, was sie sah. Obwohl es offensichtlich war, konnte sie doch nicht begreifen, was passiert war. Ihre Gedanken weigerten sich weiter als ein paar Schritte in diese Richtung zu denken. Ihr schweifender Blick war auf die Vordersitze des zerstörten Wagens gefallen. Wer ist das?
In den Sicherheitsgurten hingen zwei Erwachsene; ein Mann und eine Frau; bewusstlos und blutüberströmt. Von der Frau konnte das Mädchen nichts erkennen, außer dem langen schwarzen Haar, das ihr Gesicht verdeckte. Nun nahm das Kind den Mann in Augenschein. Er hatte ebenfalls schwarzes Haar, dunkle Haut, aber das Auffälligste an ihm war die Hakennase.
Lange betrachtete das Mädchen den Mann. Irgendetwas in ihr sagte ihr, sie müsse den Mann kennen, doch sie kannte ihn nicht. Dieses Gefühl war schrecklich verwirrend für das Kind. Jemanden zu kennen und doch zu wissen, man kannte ihn nicht.
Das Kind wollte aussteigen, den Erwachsenen helfen. Aber die Tür klemmte. Sie stemmte ihre Füße dagegen, stemmte die Schulter dagegen. Plötzlich öffnete die Tür sich und das Mädchen landete von ihrem eigenen Schwung getragen im Gras. Sie spürte den Schmerz, der durch ihren Fuß schoss, doch das hinderte sie nicht daran, aufzuspringen und den Blick schweifen zu lassen.
Die Straße war wie leergefegt. Das schrottreife Auto lag an einem kleinen Abhang. Hilfesuchend sahen ihre dunklen Augen hinauf zur Straße. Dann fuhr sie herum. Mit gewaltiger Kraftanstrengung zog das Mädchen die beiden Erwachsenen aus dem Auto und legte sie ins Gras. Eigentlich hätte dies ihre Kräfte bei weitem übersteigen müssen. Doch die aufsteigende Panik, ob des ungewissen Zustands der beiden Erwachsenen verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Verzweifelt rief das Mädchen um Hilfe, schwenkte die Arme in der Luft. Doch niemand bemerkte sie.
Schnaufend erklomm sie den Hügel, stolperte durch ein paar Sträucher auf die Straße.
Quietschende Reifen. Entgeistert riss das Mädchen die Augen auf. Kurz vor dem Mädchen kam schlingernd ein blauer Golf zum Stehen. Der Motor erstarb.
„Bist du lebensmüde, Kleine?“, fauchte der Fahrer und sprang aus dem Wagen.
„Hilfe … Unfall“, stammelte das Kind und gestikulierte den Abhang hinunter.
Der Mann starrte dem Kind verwirrt hinterher, als es den Hang hinabstolperte, doch dann wurde er dem Auto gewahr, zückte sein Handy und setzte den Notruf ab.
Das Kind hatte sich inzwischen neben den Mann auf den Boden sinken lassen. Es schien, als hätte sie all ihre Sorgen dem Retter übertragen. Ihre Umgebung interessierte das Mädchen nicht mehr. Sie zog ihre Jacke aus und legte sie dem Mann unter den Kopf. Sie fühlte überhaupt nichts; keinen Schmerz; keine Angst. Sie war nur noch verwirrt, so unendlich verwirrt. Sie wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, wer diese Erwachsenen waren, wieso sie ihr so bekannt vorkamen und sie doch wusste, dass sie die beiden nicht kannte.
„Sag doch etwas!“, flehte das Kind. Es war ihr unerträglich, auf dieses bekannte und doch zugleich unbekannte Gesicht hinabzublicken, ohne darin ein Lebenszeichen zu entdecken.
Das Mädchen hatte bereits eine zeitlang auf das Gesicht des Mannes gestarrt, als dieser plötzlich die Augen aufschlug und schwach nach ihrer Hand tastete. Das Mädchen umfasste sie mit beiden Händen, wollte dem Mann durch die Berührung Kraft geben.
„Du lebst!“, hauchte er erleichtert. Dann erschlafften seine Züge. Seine Hand sank zu Boden. Verwirrt sah sie auf den Mann, bis das Mädchen begriff, was eben geschehen war. Er war tot. Das Kind sank auf dem leblosen Körper zusammen und weinte. Die Umgebung verblasste. Es gab nur noch diesen unbekannten Mann und sie. Sie sah nur noch das Gesicht dieses Mannes; hatte nur noch einen Gedanken: Er war tot!
Irgendwann – das Kind hatte jegliches Zeitgefühl verloren – standen auf einmal zwei Sanitäter neben ihr. Doch sie beachtete die beiden nicht weiter und wandte ihren Blick wieder auf das leblose Gesicht des Mannes unter ihr.
„Eine Decke und –“ Die Frau zeigte auf das Mädchen.
Der Mann verstand, zog das Kind von dem Toten herunter. Sie riss sich los und klammerte sich an den Mann. Sie wusste nicht, wieso sie das tat, aber sie spürte eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann.
Nun – mit deutlich mehr als nur sanfter Gewalt – zog der Mann sie weg. Die Frau beugte sich über den Toten, konnte aber nur noch dessen Tod feststellen. Mit einem traurigen Blick auf das Mädchen stand die Notärztin auf und ging zu der Frau. Zwei Männer kamen und breiteten eine weiße Folie über dem Toten aus.
„Komm mit!“, forderte der Mann, der sie immer noch festhielt, das Mädchen leise auf.
Das Kind aber sank zu Boden. Plötzlich war der Schmerz da. Der Schmerz, auf den sie die ganze Zeit gewartet hatte, der bis jetzt gefehlt hatte.
„Wie heißt du?“ Das Kind blieb stumm. „Wer bist du? Wie ist dein Name?“
Panik und Erschöpfung brachen über das Kind herein. „Ich … ich weiß nicht …“ Gehetzt sah sie den Mann an und sank dann besinnungslos zu Boden.
Stille umgab das Mädchen als sie erwachte. Lange blieb sie bewegungslos mit geschlossenen Augen liegen.
Wer bin ich? Wer waren all diese Personen in ihrem Kopf?
Bilder, von den unterschiedlichsten Personen, Kinder und Erwachsene, schwirrten ihr durch den Kopf.
Gequält stöhnte das Kind auf, schüttelte den Kopf, wollte all diese Bilder aus ihrem Kopf schütteln. Bilder, die zusammenhangslos und für das Kind ohne Bedeutung waren. Und doch war sie sich sicher, dass diese Bilder für sie wichtig gewesen waren. Früher, in einem Leben, an das sie sich jetzt nicht mehr erinnern konnte.
Das Mädchen schüttelte noch einmal den Kopf, ballte die Hand zur Faust und öffnete die Augen. Sie wollte diesen Bildern entfliehen, die sie so schmerzhaft daran erinnerten, was sie alles nicht mehr wusste. Sie entkam den Bildern jedoch nicht ganz. Ein bitterer Nachgeschmack blieb.
Das Kind ließ den Blick schweifen. Ihre Umgebung interessierte sie nicht. Es war ein verzweifelter Ablenkungsversuch. Die letzte Möglichkeit diese Bilder in die hinterste Ecke ihres Kopfes zu drängen. Das Zimmer, in dem sie lag, war komplett in weiß; weiße Wände, weiße Bettwäsche, einfach alles weiß. Und als sich dann die Tür öffnete und ein älterer Herr mit schlohweißem Haar und weißem Kittel eintrat, erübrigte sich auch die Frage, die das Mädchen sich noch nicht einmal gestellt hatte. Sie war in einem Krankenhaus. Daran bestand nun überhaupt kein Zweifel mehr.
„Guten Tag. Ich bin Dr. Gerhard. Wie geht es dir?“
„Gut“, log das Mädchen. Der Kopfschmerz, der sie seit ihrem Erwachen begleitet hatte, nahm beständig an Intensität zu. Doch ihr Wissensdurst war stärker. Sie wollte endlich erfahren, was passiert war, wer sie war.
„Weißt du welchen Tag wir heute haben?“, fragte der Arzt.
Das Mädchen wandte den Kopf zum Fenster. Lange sagte sie kein Wort, sah einfach nur hinaus. Die Sonne schien, es war warm – auch wenn man in diesem klimatisierten Krankenhaus davon nichts spürte. Die Vögel zwitscherten. Die Bäume trugen saftiges Grün. Es schien Sommer zu sein. Auch ihre Kleidung wies darauf hin – Jeans und T-Shirt. Dann nach einer weiteren Ewigkeit blickte sie den Arzt wieder ins Gesicht.
„Ich weiß es nicht.“
Der Arzt nickte, als hätte er gar nichts anderes erwartet und machte sich einige Notizen auf seinem Klemmbrett.
„Wie heißt du?“
Diesmal antwortete das Mädchen schneller. Denn diese Frage hatte sie sich bereits gestellt.
„Ich weiß es nicht.“
„Das habe ich vermutet.“ Der Arzt schwieg, nickte wieder und sprach dann weiter: „Du hast eine Amnesie.“
Das Mädchen war erst einmal geschockt. Aber das war die einzige Erklärung für das Fehlen ihrer Erinnerung. Amnesie – das Gehirn will einen schützen und löscht Erinnerungen, versteckt sie. Aber irgendwann kommen sie meist zurück, stückchenweise.
„Wie ... wie lange wird das dauern?“, fragte das Mädchen zögernd. Sie hatte Angst vor der Antwort.
„Stunden, manchmal Tage oder auch Wochen und manchmal auch Jahre.“
Das Kind hatte das Gefühl, dass der Arzt noch etwas sagen wollte. Doch er blieb stumm. Aber sie wusste auch ohne, dass er es aussprach, dass die Erinnerung manchmal auch gar nicht zurückkehrte.
Der Steckbrief
Sie haben gesagt, ich heiße Hero Leone und das waren meine Eltern, die mit mir im Auto saßen und beide gestorben sind, während ich mit ein paar Kratzern und einer Amnesie davongekommen bin.
Das Mädchen stand vor dem Grab und blickte auf die zwei Särge hinunter. In ihr regte sich etwas. Trauer. Aber nicht diese Art Trauer, die man verspürt, wenn man einen geliebten Menschen verloren hatte. Es war die Trauer, die man spürt, wenn zwei fremde Menschen zu Grabe getragen wurden, wenn man bedenkt, was diese zwei Menschen noch alles hätten vollbringen können. Hero konnte nicht um diese zwei Menschen trauern, konnte nicht um ihre Eltern trauen. Sie kannte sie nicht. Die Trauer wird kommen, dachte das Mädchen. Wenn die Erinnerungen kommen.
Plötzlich wurde ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Das Mädchen sah nicht auf, erschrak nicht einmal. In ihr war alles leer, abgesehen von dieser leisen Trauer. Wahrscheinlich die beiden Frauen, die sie zu der Beerdigung begleitet hatten
, dachte das Kind. Doch der Griff schloss sich immer fester um ihre Schulter. Schließlich wandte das Mädchen den Kopf und blickte auf die Hand. Sie gehörte eindeutig keiner Frau. Langsam glitt Heros Blick an dem Arm nach oben, zu deren Besitzer. Über ihr stand keine Frau, sondern ein schmächtiger Mann.
„Komm! Ich soll dich hier abholen. Ich will dir helfen! Vertrau mir!“ Mit sanfter Gewalt drehte der Mann mit der Glatze sie herum.
Hero ging mit, stellte keine Fragen. Das schlechte Gefühl, das sie verspürte, brachte sie mit einer bewussten Anstrengung zum Schweigen. Wahrscheinlich hat jemand, der eine Amnesie hat bei jedem Menschen ein schlechtes Gefühl. Angst, jemanden vergessen zu haben.
, versuchte sich Hero selbst zu beruhigen und es gelang ihr auch zum Teil. Die zwei Frauen, die sie zur Beerdigung begleitet hatten, waren verschwunden. Doch sie fragte nicht, wo sie waren. Es verwunderte das Mädchen nicht einmal, dass sie gegangen waren, ohne ihr etwas zu sagen. Sie dachte einfach nicht darüber nach.
Der Mann führte sie zu einem Auto. Hero stieg ohne zu zögern ein. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf das erstaunte Gesicht des Mannes, bevor er wieder seine teilnahmslose Miene aufsetzte. Auch darüber machte sie sich keine Gedanken. In ihr war alles leer.
Sie fuhren fast eine Stunde quer durch die Stadt, in einen Wald, bis sie mitten im Wald vor einem Haus hielten. Die ganze Fahrt lang hatte der Mann kein Wort gesagt, sondern nur mit unergründlicher Miene auf die Straße gestarrt, die hin und wieder durch ein Lächeln verdrängt wurde. Bis er sich wieder im Griff hatte und wieder die Straße beobachtete, mit einem Blick den Hero nicht zu deuten wusste. Auch interessierte das Mädchen das komische Verhalten des Mannes neben ihr nicht sonderlich. Das war sein Problem. Sie hatte ihre eigenen.
„Komm! Ich will dir was zeigen“, meinte der Mann, als er den Motor abstellte. Wieder beschlich Hero dieses seltsame Gefühl. Doch sie stieg einfach aus ohne darauf zu achten.
Sie stiegen die Stufen zum Keller hinunter. Wieder ging Hero mit ohne zu fragen. Das warnende Gefühl ignorierte sie weiter.
Vor einer schweren Holztür hielten sie. Der Mann schloss auf, schob den Riegel zurück und zog sie auf. Ein lang gezogenes Quietschen ertönte, das Hero einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Die hat das Ölen dringend nötig
, war alles was sie dachte. Der Mann trat zur Seite.
„Nach dir!“
Zögernd trat Hero an die Tür heran. Es war als ginge von der Tür eine unsichtbare Bedrohung aus. Im Halbdunkeln erkannte sie die Umrisse einer liegenden Person. Das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen. Auf einmal war das schlechte Gefühl mit einer Intensität wieder da. Sie konnte es nicht mehr ignorieren. Ihr Kopf wirbelte herum zu dem Mann.
Doch plötzlich bekam sie einen derben Stoß in den Rücken, der sie nach vorne stolpern ließ. Das Kind stürzte der Länge nach hin, wollte den Sturz abfangen, schürfte sich stattdessen den Ellbogen auf.
„Mach’s dir hier gemütlich, Hero. Das wird vorerst dein Zuhause sein!“, lachte der Mann und schmiss die Tür ins Schloss.
Woher kennt er meinen Namen?
, wunderte sich Hero. Aber die Angst verdrängte jeden weiteren Gedanken.
Sie sprang auf und hämmerte gegen die Tür. Doch diese war verschlossen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Tränen der Angst, aber auch oder vor allem Tränen der Wut. Wut auf sich selbst. Wieso hatte sie diesem Mann vertraut? Wieso hatte sie nicht auf ihr Gefühl gehört?
Ein ersticktes Keuchen erklang hinter ihr. Hero wirbelte herum. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die schlechten Lichtverhältnisse in ihrem Gefängnis gewöhnt. Da erkannte sie ihren Fehler. Es war nicht eine Person, die in der Ecke lag. Es waren zwei. Und sie kannte sie. Es waren die Frauen, die mit ihr auf dem Friedhof gegangen waren. Nun sahen sie allerdings noch schrecklicher aus als zuvor. Vorher hatte Hero ihr Aussehen nur schrecklich gefunden, ihre Klamotten, ihre Haare. Nun hing ihre Kleidung in Fetzen. Eine der Frauen hatte ein riesiges Veilchen und beide waren blutüberströmt. Sie waren aufs heftigste verprügelt worden.
Hero sank vor ihnen auf die Knie. Warum hatte man ihnen das angetan? Nur wegen ihr?
Lange betrachtete sie weinend die Frauen, bis sie zögernd die Hand ausstreckte. Kurz vor dem Hals der Frau mit dem Veilchen blieb ihre Hand bewegungslos in der Luft stehen. Sie hatte Angst, Angst vor dem, was sie fühlen würde, mehr noch vor dem, was sie nicht fühlen würde. In dem Halbdunkel, das in ihrem Verlies vorherrschte, lagen die beiden Frauen bewegungslos. Der Brustkorb hob sich nicht. Langsam, zitternd bewegte sich ihre Hand weiter. Dann spürte sie etwas. Sie spürte die Haut, die Wärme derselben und – was noch viel wichtiger war – sie spürte den Puls. Auch bei der zweiten Frau konnte sie, zwar kaum spürbar, aber dennoch da, den Puls wahrnehmen.
Ein Zittern durchlief Heros Körper, Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie hatte gedacht, hier die nächsten zwei Toten vor sich zu haben. Ihr neues Leben sollte nicht mit Toten gepflastert sein. Der Tod der Eltern hatte ihr neues Leben eingeläutet. Doch nun sollte es nicht so weitergehen.
Sie wollte die zwei Frauen in eine etwas bequemere Position legen. Doch als sie erkannte, dass sie mit Handschellen aneinander gefesselt waren, unterließ sie es, um ihnen nicht die Arme zu brechen.
Hero setzte sich neben die beiden an die Wand, umschlang ihre Beine mit den Armen und legte den Kopf auf die Knie. Sie schloss die Augen und sie weinte. Wieder kamen ihr verschwommene Bilder ins Gedächtnis, Stimmen, die sie nicht kannte, Gesprächsfetzen. Und all das endete wie immer in unsäglichen Kopfschmerzen.
Wer bin ich?
Diese Frage quälte sie, sie bohrte in ihr. Wer bin ich? Wer war ich?
„Aber, aber, Kindchen. Du freust dich ja gar nicht, dass du so berühmt bist“, meinte der Entführer, als er nach einer Ewigkeit zurückkam.
„Berühmt?“, fragte Hero vorsichtig nach. Was wollte der Entführer von ihr? Warum hatte er ausgerechnet sie entführt?
Sie wollte Antworten. Dennoch fürchtete sie sich davor. Würde sich ihre Lage durch diese Antworten verschlechtern?
„Ja, berühmt“, antwortete der Mann. Seine Stimme klang sanft. Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort hätte Hero ihn vielleicht sympathisch gefunden. „Jeder Verbrecher kennt dein Gesicht, deinen Namen. Wir wissen alles über dich und über den Tod deiner Eltern. Jeder will dich haben, die 10.000 ¤, die auf dich ausgesetzt sind.“
„10.000 ¤? Auf mich? Wieso?“, fragte das Mädchen zutiefst verwirrt. Er macht sich lustig über mich. Es kann gar nicht stimmen, was der Mann sagt.
, davon war das Mädchen überzeugt, musste es sein, damit nicht die Angst und die Ungewissheit sie erdrückten.
„Schau mal, Kleines.“ Er reichte ihr einen Zettel und wischte damit ihre Überzeugung weg. Dieser eine Zettel stieß das Mädchen in einen Abgrund, aus dem sie sich lange nicht mehr würde befreien können. Dieser eine Zettel würde ihr Leben verändern.
Wanted!
Darunter war ein Bild von ihr abgebildet.
Hero Leone
10.000
Hero Leone ist 14 Jahre alt, etwa 1,60 m groß, hat braune hüftlange Haare und dunkle Augen.
Sie ist verstört durch den Tod der Eltern.
Zodiak
Darunter war eine goldene Schlange bereit zum Angriff abgebildete, die mit ihrem Körper einen Kreis um den Kopf bildete.
„Schon komisch, dass jemand so ein kleines Mädchen sucht, wie dich. Aber egal. Jetzt haben wir dich und bald übergeben wir dich Zodiak und bekommen dein Kopfgeld. Vielleicht sogar noch eine Prämie, weil du noch lebst“, erzählte der Mann freimütig. „Hier! Iss! Du musst bei Kräften sein. Wer weiß, was Zodiak mit dir vorhat.“ Er stellte Hero einen Teller mit bestrichenen Broten und ein Glas vor die Füße und ging. Die beiden Frauen beachtete er nicht.
Das Mädchen würdigte dem Essen keines Blickes. Sie war mit ihren Gedanken weit, weit weg. Wer weiß, was Zodiak mit dir vorhat
, dieser Satz schoss ihr immer wieder durch den Kopf. Mit glasigen Augen saß das Mädchen da, bis sich erneut die Tränen den Weg in die Freiheit bahnten. Das war einfach zu viel.
Wieso sucht Zodiak sie? War er Freund oder Feind?
Hero hatte ihre Lektion sehr schmerzhaft lernen müssen, mit ihrem Vertrauen vorsichtiger zu sein, nicht jedem ihr Vertrauen zu schenken. Sie hatte diesem Mann ohne zu zögern ihr Vertrauen geschenkt. Jetzt war sie gefangen, würde an Zodiak übergeben werden und weiterhin eine Gefangene sein. Denn für Hero stand es fast außer Frage, dass Zodiak nicht ihr Freund sein konnte. Kein Wohlgesinnter würde Steckbriefe herausgeben – noch dazu bei einem Betrag in dieser Höhe – und Verbrecher dazu animieren, den Gesuchten zu entführen.
Hero betrachtete durch den Tränenschleier den Steckbrief. Diese Schlange, sie kommt mir so bekannt vor.
, überlegte sie. Sie saß reglos, starrte auf den Zettel und weinte. Das Zeichen der Schlange beschwor Bilder in ihrem Kopf herauf, verschwommener als die anderen. Hero konnte noch nicht einmal sagen, ob sie ein gutes Gefühl oder ein schlechtes mit ihnen verband. Immer wieder waren ihre Eltern darunter und auch ein Auto auf dem eben diese Schlange auf der Fahrertür abgebildet war.
Was tu ich denn da?, fragte sie sich und wischte die Tränen fort. So werden meine Eltern auch nicht wieder lebendig und auch den beiden Frauen ist dadurch nicht geholfen. Ich muss etwas tun! Es dürfen nicht noch mehr Menschen verletzt werden wegen mir. Ich will nicht mehr weinen, sondern kämpfen. Ich werde Zodiak ins Gesicht lachen, wenn ich ihn sehe. Ich werde nicht weinen.
Von da an war Hero gefasst, weinte nicht mehr und verbarg ihre Angst. Denn die konnte sie nicht so einfach wie die Tränen unterdrücken. Sie hatte diesen Entschluss gefasst und wollte ihn umsetzen. Es war viel verlangt von einer Vierzehnjährigen, den Tod der Eltern einfach zu vergessen und sich in eine vollkommen neue Situation einzuleben. Doch Hero schaffte es. Vielleicht ging es auch nur deshalb so leicht, weil sie von ihren Eltern nicht viel mehr als das Aussehen kannte. Sie konnte sie nicht vermissen, sie kannte sie nicht einmal. Man kann nichts vermissen, dass man nicht kennt. Auch ihr früheres Leben konnte sie nicht vermissen. Ihr fehlte jegliche Erinnerung daran. Für Hero war es in gewisser Weise ein Glück, dass sie sich nicht erinnerte. Denn sonst wäre sie an dieser Situation, an ihrer Entscheidung zerbrochen.
Als die Verbrecher am nächsten Tag kamen und sie aus ihrem Verließ holten, ging sie mit erhobenem Haupt zwischen ihnen zum Auto, immer noch ihren Schwur im Kopf. Ich werde nicht mehr weinen, sondern kämpfen; keinen mehr wegen mir leiden lassen.
Plötzlich sprangen aus allen Richtungen Männer in schwarzer Motorrad-Kleidung auf den Hof. Augenblicklich war eine wilde Schlägerei im Gange. Aber der Kampf würde nicht lange dauern. Denn Heros Entführer waren zahlenmäßig eindeutig unterlegen.
Keiner kümmerte sich, als der Kampf losbrach, um Hero. Das Mädchen erfasste die Situation blitzschnell und rannte los in den Wald, der das Anwesen umgab. Doch da stellte sich ihr jemand in den Weg. Genauer gesagt ein Schrank von einem Mann.
„Wohin so schnell?“, fragte die Person mit gehässigem Grinsen. Er hielt Hero fest.
„Auf jeden Fall nicht zu dir.“ Hero stieg ihn mit vollem Kraftaufwand auf den Fuß. Der Mann hüpfte jammernd über den Hof. So entkam das Mädchen ungehindert in den Wald.
Alpha
Sie rannte so lang sie konnte immer tiefer hinein. Doch schließlich stürzte das Mädchen entkräftet und völlig außer Atem zu Boden. Es wurde bereits dunkel.
Sie schlief in dieser Nacht kaum. Immer wieder erwachte sie, hörte die fremden Geräusche des Waldes. Jedes dieser Geräusche empfand Hero als Bedrohung. Die Angst wurde zu einem ständigen Begleiter.
Mehrere Tage lief das Mädchen kreuz und quer durch den Wald auf der Suche nach Menschen, die ihr helfen konnten. Doch der Wald nahm einfach kein Ende. Ihre Kräfte schwanden. Der Muskelkater wurde zu einer Dauer-Erscheinung. Ihre Klamotten hingen bald in Fetzen an ihr herunter. Sie ernährte sich nur von wilden Beeren. Das gefiel ihrem Magen nicht und er zeigte seinen Unmut sehr deutlich durch lautes Brummen.
Im Laufe des vierten Tages stieß sie auf einen Bach, dessen Lauf sie folgte. Er würde irgendwann aus dem Wald herausführen.
, hoffte sie.
Wieder schlug das Mädchen ihr Nachtlager hinter Büschen auf.
Mitten in der Nacht wachte Hero auf. Sie war sofort hellwach und ihre Nerven zum Zerreisen gespannt. Aber sie hörte nichts.
Langsam nur entspannte sie sich wieder.
Aber plötzlich hörte sie etwas und war sich nun sicher, dass sie nicht von allein aufgewacht war. Sie hörte Stimmen, aber nicht die von ihren Entführern, sondern andere. Sie klangen irgendwie gefährlicher, fand das Mädchen. Und sie sollte bald erfahren, dass nicht nur die Stimmen, sondern auch die Männer gefährlicher waren. Und sie waren ganz nah.
„Seid doch mal leise. Wir wollen doch nicht, dass sie aufwacht. Wenn sie schläft, ist sie leichter zu überraschen.“
Hero hatte Angst. Diese Angst aber hatte sie seit Tagen nicht mehr losgelassen. Jedes Geräusch und sei es noch so normal ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass dieses Leben anders, grundlegend anders war, als das, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte.
Das Mädchen kroch rückwärtsgehend solange bis sie an einen Baum stieß. Sie schlang die Arme um die Beine und machte sich ganz klein, hoffte, dass man sie nicht fand.
Sie lauschte. Ein paar Mal hörte sie verdächtige Geräusche aber die Männer redeten nicht mehr. Sie wusste nicht, wo die Männer waren und konnte nur hoffen, dass es den Männern genauso erging. Doch sie wurde enttäuscht. Denn plötzlich wurde es um sie herum hell. Geblendet schloss sie die Augen.
Nachdem sich Heros Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt hatte. Sie war umzingelt.
„Haben wir dich endlich gefunden!“, meinte die Stimme, die auch schon in der Dunkelheit geredet hatte, erfreut. Sie gehörte zu einem Mann in Motorradkleidung. Er war noch jung, höchstens dreißig und sah sportlich aus. Sein schönes schwarzes Haar stand wirr vom Kopf ab. „Dich nehmen wir mit!“, sagte er. Er war zweifelsfrei der Anführer.
Eine Frau löste sich aus der Mauer, die sich um das Mädchen gebildet hatte und ging auf Hero zu. Sie war etwa fünfundzwanzig und hatte langes wasserstoffblondes Haar. Die Frau war nicht groß, wirkte aber ebenfalls sportlich.
„Rita, was machst du da?“, fragte der Anführer entgeistert.
„Ich nehme das verängstigte Kind mit, Alpha.“
Hero musste wohl verängstigt ausgesehen haben, aber innerlich war sie ruhig. Das Mädchen sprang auf, als Rita immer näher kam und wich zurück. Sie wusste, dass sie nicht entkommen konnte. Der menschliche Ring um sie war fest geschlossen, keine Lücke, die Aussicht auf Flucht bot. Und dennoch wich Hero zurück.
„Bleib doch stehen! Wir wollen dir nichts tun!“, meinte Rita beruhigend. Hero hätte ihr fast geglaubt, so echt hörte es sich an. Und sie wollte es glauben, wollte glauben, dass alles wieder normal wird.
Doch da lachte jemand aus der Mauer: „Hey, Rita, Kinder belügt man nicht!“
Plötzlich griff Hero jemand unter die Arme und hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest. Zu allem Übel zog der Mann sie auch noch hoch. Jetzt konnte sie sich kaum mehr wehren, denn sie hatte die größten Probleme auf Zehenspitzen stehen zu bleiben.
Doch Hero konnte auch nicht mehr. Sie konnte sich nicht mehr wehren, widersetzen. Sie war jetzt seit vier Tagen auf der Flucht, war vorher der Gefangenschaft entflohen. Ihr Leben war nicht wie es sein sollte. Sie wollte, konnte dieses Leben nicht führen. Konnte kein Leben auf der Flucht führen. Sie war dafür nicht stark genug. Sie konnte nicht gegen all diese Männer kämpfen. Sie konnte nicht entkommen. Sie gab auf. Schlaff hing sie in den Armen des Mannes.
„Wir gehen jetzt!“, sagte Alpha und wandte sich um. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern folgte ihnen Hero.
Als sie schon eine Weile durch den Wald gelaufen waren, wurde Rita, die Hero bis dahin an der Hand gehalten hatte, von zwei Männern abgelöst. Hero betrachtete sie genau und gab ihnen in Gedanken Namen nach ihrem Erscheinungsbild. Der eine hatte eine gebrochene Nase, die sein Gesicht irgendwie gefährlich wirken ließ, und von Fett triefendes blondes Haar. Hero nannte ihn „Boxer“. „Pitbull“ war klein, bullig und verbrachte anscheinend die meiste Zeit mit Krafttraining. Hero wurde in ihre Mitte genommen.
Kurze Zeit später stolperte das Mädchen über eine Wurzel. Boxer und Pitbull fassten das vollkommen falsch auf. Sie interpretierten das Stolpern als Weigerung weiterzugehen und hoben Hero kurzerhand hoch. Zwar wurde damit verhindert, dass Hero auf dem Waldboden aufschlug, aber als sie aus dem Flug gerissen wurde, wünschte sie, sie hätten es nicht getan. Es zog zwar nur kurz aber dafür umso heftiger. Doch das Schlimmste kam danach. Die beiden Muskelprotze hielten sie mit eisernem Griff hoch. Heros Haut prickelte unter ihren Pratzen.
„Hey, lasst mich runter! Ich kann alleine laufen!“, fuhr das Mädchen die beiden Männer an. Diese tauschten einen fragenden Blick und ließen Hero wieder Moos unter ihren Füßen spüren. Aber ihre Pratzen ließen sie nicht von Heros Armen. Dies jedoch bemerkte das Kind erst, als sie hinsah, denn das Gefühl war aus ihrem Armen gewichen.
So liefen sie den ganzen Tag und am Abend traten sie endlich aus dem Wald.
Hero war alles gleichgültig. Sie hatte Hunger. Aber noch schlimmer als ihr knurrender Magen, waren die Schuldgefühle. Ihre Eltern waren tot. Zwei unschuldige Frauen waren verprügelt worden und immer noch in Gefangenschaft. Und wieso das alles? Nur wegen ihr!
Hero hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass auch Alpha ihren Steckbrief kannte.
Wieso war sie auf einmal so begehrt als Geisel? Nur wegen des Kopfgelds? Jagten deshalb gleich zwei verschiedene Gangstergruppen sie?
Vor dem Wald standen Motorräder. Viele Motorräder. Sie wurde hinter Boxer aufs Motorrad gesetzt und ihre Hände sicherheitshalber um seinen Bauch gebunden. So fuhren sie durch die Nacht.
Hero fragte sich ernsthaft, ob diese Männer überhaupt schliefen. Doch dann hielten sie vor dem Gasthaus „Zum Wald“.
„Mach ja keine Zicken. Es wird den zweien eine große Freude bereiten, dich zum Schweigen zu bringen.“ Wie um Alphas Drohung – oder war es eine Warnung? Hero konnte es nicht genau sagen – zu bekräftigen, schlug Pitbull dem Mädchen mit der geballten Faust ins Gesicht. Die Nase begann sofort zu bluten. Alpha zögerte zwar kurz, sagte aber nichts, sondern ließ es geschehen.
Auf dem Weg ins Haus trafen sie eine schwarze, etwas struppig aussehende Katze. Pitbull trat nach ihr, traf aber nicht, sondern verlor stattdessen das Gleichgewicht.
„Lass das!“, knurrte Alpha gereizt.
An der Rezeption stand ein älterer Herr um die 70, mit grauem Haar und sah Hero durch seine Nickelbrille verwundert an. „Was ist denn passiert?“
„Sie ist über eine schwarze Katze gestolpert“, log Alpha ohne Rot zu werden.
„Ach, dieser Streuner. Der ist schon seit drei Tagen hier. Warte ich hol ein Taschentuch.“ Kurz darauf kam er mit dem Taschentuch wieder. Hero hielt es sich unter die Nase.
Dann holten sie ihre Zimmerschlüssel und Hero wurde von Alpha in ein Doppelzimmer geführt, dass er sich mit Rita teilte.
Das Mädchen konnte und wollte nicht einschlafen. Es gab nur einen Gedanken und dieser hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Ich muss hier raus! Ich muss den Frauen helfen! Sie leiden wegen mir.
Nach unzähligen Versuchen schaffte sie es, den Schreibtisch, an dessen Bein sie gebunden worden war, hochzuheben und ihre Fesseln darunter durchzuziehen. Und mit viel Geduld hatte sie schließlich sogar ihre Fesseln gelöst. Es war viel zu leicht
, wunderte sie sich.
Schnell stand sie auf, vergewisserte sich, dass Alpha und Rita immer noch schliefen und schlich zur Tür. Sie hatte keine Angst. Der Gedanke an Flucht hatte sie verdrängt. Außerdem musste sie die Polizei holen, um die beiden Frauen, die ihretwegen in Gefangenschaft geraten waren, zu befreien.
Sie erlebte eine böse Überraschung als sie die Tür öffnete. Vor der Tür standen …
Boxer und Pitbull.
Das Mädchen konnte einen enttäuschten Aufschrei nicht unterdrücken, als sie von Boxer grob am Oberarm gepackt wurde und er sie zurück ins Zimmer bugsierte.
„Ich hätte dich für schlauer gehalten“, sagte Alpha enttäuscht. „Ich dachte, du wärst ein braves Mädchen, das um Mitternacht schläft und keinen Spaziergang macht.“ Er schüttelte den Kopf.
Hero sah aus den Augenwinkeln wie Pitbull zum Schlag ausholte. Dann fühlte sie nur noch einen kurzen Schmerz in ihrem Nacken, bevor sich ihre Gedanken in einem schwarzen Loch verloren.
Als das Mädchen erwachte, hörte sie die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge der beiden Erwachsenen in ihrem Bett. Sie schliefen wieder. Es war immer noch dunkel vor den Fenstern, noch immer tiefste Nacht. Leise stöhnend richtete sich das Kind auf und griff sich an den schmerzenden Nacken. Erstaunt bemerkte sie, dass ihre Fesseln nicht wieder angebracht worden waren.
Entspann dich!
Hero zuckte zusammen. Ängstlich sah sie sich im Raum um. Schliefen die Erwachsenen doch nicht?
Doch die Stimme war viel zu leise, kaum wahrnehmbar. Hero glaubte sich verhört zu haben. Doch da … schon wieder.
Entspann dich!
„Wer spricht dort?“, fragte Hero leise mit zittriger Stimme. Weiterhin sah sich gehetzt im Raum um. Aber da war niemand außer den zwei Erwachsenen und die schliefen tief und fest; davon war Hero überzeugt.
Leise!, murmelte der Unbekannte. Entspann dich! Ich bin nicht hier. Aber ich will dir helfen. Entspann dich! Bitte! Lass mich in deinen Kopf!
Nur widerwillig ließ Hero ihre Anspannung fallen. Aber sie wusste, dass sie das Richtige tat. Obwohl sie sich dieses Phänomen, das eine unbekannte Stimme in ihrem Kopf sprach nicht erklären konnte, wusste sie doch tief in sich drin, dass es möglich war. Es klang so leicht – Entspann dich!
– doch das war es ganz und gar nicht.
Danke, sagte der Unbekannte und seine Stimme klang jetzt viel näher. Es war eine weiche, sympathische Männerstimme. Ich hab jetzt nicht die Zeit dir alles zu erklären. Hier nur das Wichtigste. Ich sitze meilenweit entfernt. Doch mit einer gewissen Anstrengung ist es gewissen Menschen möglich in den Kopf eines anderen Menschen einzudringen. Bei den einen leichter, bei den anderen weniger leicht. Ich musste feststellen, dass deine Barriere um deinen Geist ungewöhnlich stark ist –
Halt! Halt! Stopp! Was heißt das? Gewissen Menschen ist es möglich in den Kopf eines anderen einzudringen? Welchen Menschen? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?
Das ist verrückt.
, dachte das Mädchen bei sich. Ich höre Stimmen. Bin ich wirklich so verrückt, dass ich mit imaginären Stimmen in meinem Kopf spreche? War der Schlag auf ihren Kopf wirklich so stark?
Der Kopfschmerz, erst ganz leicht, nahm immer mehr an Intensität zu, bis er fast nicht mehr auszuhalten war.
Wer ich bin spielt keine Rolle und weißt du nicht längst dass es möglich ist? Und was ich von dir will? Ich will dich retten. Immer gerätst du in Schwierigkeiten, Hero Leone. Tz, tz, tz. Siehst du das Fenster?
Hero hob den Kopf und sah zu dem einzigen Fenster, durch das von Zeit zu Zeit ein kühler Luftzug zu ihr herüberwehte.
Das ist dein Weg in die Freiheit.
Was?
, fragte Hero verwirrt.
Schnell kletter raus. Ärger ist im Anrollen.
„Aber ich kann nicht klettern.“ Vor lauter Aufregung vergaß sie, ihren Gedanken zu denken.
Wenn du weiter so schreist, brauchst du es auch nicht mehr.
, antwortete die Stimme gereizt.
Hero reagierte nicht auf die Bemerkung der Stimme. Sie war über ihre eigene viel zu überrascht. Ich kann nicht klettern.
Sie hatte sich an etwas erinnert. Die Erinnerung kehrte zurück. Doch das Glücksgefühl wurde sofort wieder zerstört, als ihr bewusst wurde, in welcher abwegigen Situation sie sich befand. Sie war mittlerweile das zweite Mal entführt worden, innerhalb kürzester Zeit und redete mit Stimmen. Stimmen, die es nur in ihrer Fantasie geben konnte. Oder etwa nicht? Konnte es sein, dass diese Stimme echt war?
Dann wurde sie sich ihrer brenzligen Situation bewusst und dass es bessere Zeiten gab, um über diese Stimme und ihre Echtheit nachzudenken.
Das Kind starrte das Fenster ungläubig an. Schließlich sagte die Stimme in ihrem Kopf: Ich frag mich, wie es diese Rasse jemals von den Bäumen heruntergeschafft hat.
Hero sah verwundert auf. Aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Wenn sie jetzt nicht handelte, war sie morgen bei Zodiak. Langsam stand sie auf – sie hatte keine andere Wahl, wenn sie leben wollte –, ging zum Fenster, kletterte aufs Fensterbrett und von dort ging es die Regenrinne nach unten.
Nicht nach unten sehen! Bloß nicht nach unten sehen! Du schaffst das!
, sprach sie sich selbst Mut zu.
Bis zum 1. Stock klappte es erstaunlich gut. Doch alle guten Zusprüche halfen nichts. Ein losgelöster Stein fiel in die Tiefe und Hero folgte seinem Fall mit den Augen. Dadurch verlor sie den Halt, konnte sich zwar im letzten Moment doch noch festhalten. Aber die die Erschütterung war zuviel für die Regenrinne. Sie löste sich aus der Verankerung. Hero stürzte mit einem leisen Schrei in die Tiefe, schlug schwer auf und verletzte sich nur durch ein Wunder nicht schwer.
Der Krach war ohrenbetäubend, als die Regenrinne auf den Boden aufschlug. Hero war sich sicher, dass wegen des Lärms jeder in dem Haus im Bett stehen musste.
Als sich das Mädchen benommen aufrichtete, meinte die Stimme abfällig: Aha. So also.
Hero schenkte ihm einen bitterbösen Blick – auch wenn sie nicht wusste, wo die Stimme war und ob sie diesen Blick überhaupt sehen konnte, falls es sie tatsächlich gab –, beließ es aber dabei.
Wohin gehst du?
, wollte die Stimme wissen, als sich Hero in Bewegung setzte.
Ich gehe zur Polizei.
Was willst du dort?
Melden, dass zwei Frauen und ich entführt wurden.
Entführungsopfer meldet sich zurück
, lachte die Stimme. Doch sie wurde augenblicklich ernst. Ich unterbreche unseren Kaffeeklatsch nur ungern aber es kommen gerade drei Typen in unsere Richtung.
Das Mädchen rannte davon. Sie wollte nicht zurück. Sie wollte nicht wieder gefangen genommen werden. Sie wollte vor allem nicht zu Zodiak.
Eine schicksalhafte Wendung
Hero stand wie erstarrt an dem Schaufenster. Wie hypnotisiert starrte sie auf den Nachrichtensprecher. Er stand vor einem ausgebrannten Haus. Gespannt lauschte sie dem Bericht.
„… brannte das Haus der Familie L. aus bisher unerfindlichen Gründen nieder. Die Feuerwehr konnte den Brand löschen, bevor er auf die benachbarten Häuser übergriff. Doch das Haus selbst konnte nicht mehr gerettet werden. Die Anwohner wollen die vierzehnjährige Tochter der Familie gesehen haben, bevor der Brand ausbrach. Vor wenigen Tagen kamen die Eltern des Mädchens bei einem Autounfall ums Leben. Die Nachbarn berichteten, dass das Kind kurz vor dem Unfall einen heftigen Streit mit ihren Eltern hatte. War dieser Streit Grund genug, die eigenen Eltern umzubringen? Doch bevor die Polizei das Mädchen befragen konnte, floh diese aus dem Krankenhaus. Die Polizei sieht darin ein Schuldeingeständnis und weißt die Anklage der Brandstiftung nicht einfach von der Hand. Sie fahndet nach Hero L.“
Ein Bild flimmerte über den Bildschirm. Es sah Hero nicht mehr sonderlich ähnlich. Da es schon drei Jahre alt war. Dennoch erschrak sie und blickte sich schnell um. Keiner schien sie zu beachten.
„Informationen über den Aufenthaltsort des Mädchens nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Doch es wird gewarnt, sich dem Mädchen zu nähern. Es schreckt auch vor Mord nicht zurück.“
Das Bild verschwand und eine Wetterkarte tauchte auf. Jetzt erst wurde Hero das ganze Ausmaß des Geschehens bewusst. Sie war ein gesuchter Mörder. Sie konnte nicht mehr zur Polizei. Sie würden sie verhaften.
Mit ihrem Haus war ihr ganzes Leben in Flammen aufgegangen.
Wer bin ich? Wer ist Hero Leone? Was hab ich getan?
Wieder erschienen die Bilder der zwei Toten vor ihren Augen. Wieder fragte sie sich, ob das wirklich ihre Eltern waren. Konnte sie dem Fernsehen trauen? Hatte sie zwei Menschen umgebracht? Hatte sie einen Brand gelegt? Waren diese zwei schrecklichen Taten Grund für ihre Amnesie? War das wirklich sie?
Doch da erkannte sie plötzlich mit erschreckender Klarheit, dass sie nun auf sich allein gestellt war, es gab keinen auf der Welt an den sie sich wenden konnte. Zum einen erinnerte sie sich nicht an Freunde oder Verwandte und auch die Polizei konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sie war ganz allein.
Es war als hätte dieser Bericht alle Kraft aus ihr gesogen. Kraftlos sank sie gegen die Wand. Ihr Blick leerte sich. Völlig apathisch lehnte sie an der Wand. Was hatte sie getan?
„Da ist sie!“ Unendlich langsam drehte sich das Mädchen um. Mit leerem Blick beobachtete sie die beiden Polizisten. Die Männer stürmten durch die Menge auf sie zu.
Hero wusste, dass sie ihretwegen hier waren, dass sie fliehen musste. Doch dem Mädchen fehlte die Kraft. Es weigerte sich zu glauben, dass es wahr war. Das kann nur ein böser Traum sein
, dachte sie auf ein Neues.
„Bleib ganz ruhig! Wir wollen dir nichts tun.“ Langsam kamen die zwei näher. Eine Hand immer auf der Waffe.
Hero wich instinktiv einen Schritt zurück.
Sofort zog einer der beiden seine Waffe. Ein Schuss fiel. Die Kugel schlug ein paar Zentimeter neben Hero ein. Erschrocken sah sie auf. Panik brach aus. Die Menschen stürmten schreiend auseinander.
War das ein Warnschuss? Oder waren die beiden tatsächlich bereit auf sie zu schießen?
Hero hatte nicht vor, es zu erfahren, wirbelte herum und rannte los. Weitere Schüsse fielen.
Ein gleißender Schmerz durchzuckte ihren Körper. Sie strauchelte, fiel, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Als sie sich aufrappelte, sah sie es. Die Kugel hatte sie getroffen. Die Jeans an ihrem rechten Oberschenkel färbte sich dunkelrot. Hero humpelte über den Platz in eine kleine Gasse. Harkenschlagend lief sie durch die Stadt. Sie spürte die Schmerzen nicht mehr. Die Panik verdrängte alles. Sie hatte nur noch einen Gedanken: Sie musste hier weg.
Völlig außer Atem blieb sie schließlich vor einem Haus stehen, unfähig auch nur einen Schritt weiter zu rennen. Ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Ihr Atem ging stoßweise.
Das Haus strahlte eine Gefährlichkeit aus, die Hero zurückweichen ließ.
Ich geh doch da nicht rein?
, fragte sich Hero. Gehetzt sah sie sich um. Sie konnte die Polizisten hören.
Die riesige, schaurige Eingangtür öffnete sich wie von Geisterhand.
Wie es scheint, will aber jemand, dass ich genau das tue
, bemerkte das Kind. Sie sah die Polizisten um die Ecke biegen. Es blieb ihr gar keine andere Wahl. Hero setzte sich in Bewegung. Sie hoffte inständig, die Polizisten würden die Häuser nicht durchsuchen.
Kaum war sie über die Schwelle getreten, schloss sich die Tür wieder. Das Mädchen fuhr herum.
Ich sitze fest.
, stellte sie ohne Angst fest. Warum überrascht mich das überhaupt nicht?
Hero wandte sich wieder dem Haus zu. Vor ihr erstreckte sich ein langer, dunkler Gang am Ende war eine geöffnete Tür, durch die schwaches Licht in den Gang fiel. Leise drangen die aufgeregten Rufe der Polizisten durch die Tür hinter ihr. Wenn ich hier schon warten muss, gefangen bin
, dachte das Mädchen, kann ich mich ebenso gut ein wenig umsehen.
Hero ging auf die Tür am Ende des Ganges zu. Doch das Mädchen kam nicht sehr weit. Plötzlich schossen spitze Pfähle aus dem Boden. Das Mädchen schrie erschrocken auf. Nur mit einem schnellen Sprung nach hinten konnte sie sich retten. Ihr Herz raste.
Die Pfähle waren extrem spitz. Das hatte das Mädchen am eigenen Leib erfahren müssen. Sie hatte sich die Handfläche aufgekratzt. Der Schmerz war nur kurz. Das Ergebnis aber umso größer. Der Schnitt erstreckte sich vom Daumen bis hin zum kleinen Finger. Das Blut lief in Strömen aus der Wunde, das Handgelenk hinunter. Hero starrte noch darauf, als sie die Pfähle längst hinter sich gelassen hatte. Das Blut schien ihr verdeutlichen zu wollen, wie gefährlich ihr Leben auf einmal war. Ihr wurde auf einmal mit erschreckender Klarheit bewusst, dass ihr Leben so nicht sein sollte, durfte.
Sie war etwa zehn Schritte von den Pfählen weg, als sich unter Heros Füßen plötzlich der Boden öffnete. Mit einem erschrockenen Schrei stürzte sie in die Tiefe. Ihr freier Fall wurde durch eine Rutsche beendet und weiter ging es in rasanter Fahrt nach unten. Die Rutsche endete in einem Loch etwa drei Meter über dem Boden.
„Ah! Aua.“ Hero rieb sich das schmerzende Hinterteil. Mit großen Augen sah sie sich verwundert in dem riesigen Raum um, der durch Fackeln erhellt wurde. Alles war vergoldet, sogar die Wände waren mit Gold überzogen. Überall standen Statuen von ägyptischen Göttern. Ägypten war aber auch das einzige was Hero mit ihnen verband. Dem Mädchen fielen zwar noch einige Namen ein – Anubis, Osiris, Isis – aber sie konnte diese keiner, der hier stehenden Statuen zuordnen. Am anderen Ende des Raumes war eine Tür. Zögernd ging Hero darauf zu. Die Tür öffnete sich wieder wie von Geisterhand. Doch das Mädchen wunderte sich nicht mehr, hatte es aufgegeben. In ihrem Leben schien nichts mehr normal zu sein. Wieso sollten sich also Türen normal öffnen? Sie redete schließlich auch mit imaginären Stimmen, floh von der Polizei.
Der Raum dahinter war wie der, in dem sie gelandet war mit Gold nur so vollgestopft. An der Kopfseite des Raumes erhob sich ein Thron aus dem Boden und in der Mitte thronte auf einem kleinen Sockel unübersehbar ein Sarg – genauer gesagt ein Sarkophag.
Neugierig trat das Mädchen näher, vergaß die Angst, vergaß die Schmerzen.
Nun konnte man die Abstammung des Sarges nur noch schwer leugnen. Er war übersäht mit Hieroglyphen. Für Hero sah es zwar so aus, als hätten Hühner drauf rumgepickt, aber sie mussten eine Geschichte erzählen.
Wieder ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
Diesmal entdeckte sie etwas, was sie bei ihrer ersten Inspektion übersehen hatte. Neben der Tür, durch die sie gekommen war, waren noch zwei weitere. Sie ging auf die erste zu und öffnete sie. Dann stockten Herzschlag und Atem. Hero schlug die Tür geschockt wieder zu. Hinter dieser Tür war ein Raum mit massenhaft Mumien. Und das Schlimmste daran war: Sie lebten. Wieder eine Absonderlichkeit, die das Mädchen allerdings nicht mehr sonderlich erstaunte. Andere würden in Ohnmacht fallen. Doch mittlerweile würde es Hero überraschen sich mit ganz normalen Teenager-Problemen konfrontiert zu sehen. Entführungen, Stimmen, die in die Gedanken eindringen, sich von Geisterhand öffnende Türen, lebende Mumien, das alles gehörte nicht unbedingt zu den Problemen, denen sich ein vierzehnjähriges Mädchen stellen musste. Und doch wusste sie tief in ihrem Inneren, dass es alles stimmte und dass es noch weitaus schlimmere Dinge gab. Das Kind schrak vor ihren eigenen Gedanken zurück. Wie kann ich das alles wissen, ohne zu wissen wer ich bin?
Hinter ihr quietschte es. Die Mumien öffneten die Tür.
Von Angst gelähmt blieb das Mädchen stehen. Als schließlich die erste wandelnde Klopapierrolle nach draußen trat, löste sich ihre Erstarrung und Hero rannte zur letzten Tür und hoffte inständig, dass sie nach draußen führte. Hinter dieser befand sich ein endlos langer Gang, dessen Ende man nicht erkennen konnte, da er eine starke Steigung hatte.
Das Mädchen rannte den Gang entlang, stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf, fiel erneut und rannte von Angst getrieben weiter. Dennoch kamen die Mumien immer näher.
Heros Kraft ging rasend schnell dem Ende entgegen. Um ihre Kondition war es noch nie sonderlich gut bestellt gewesen und der Muskelkater, die Schussverletzung und die Schwäche taten ihr Übriges. Dem Mädchen fiel es immer schwerer das scharfe Tempo zu halten. Hero roch bereits den Moder, den die wandelnden Klopapierrollen mit sich brachten. Denn ihnen ging nicht die Luft aus. Hero zweifelte sogar daran, dass diese Monster überhaupt noch Lungen hatten.
Plötzlich wurde der Boden wieder eben. Kaum war die Freude darüber aufgekommen, dass ihre Flucht nun einfacher sein würde, weniger anstrengend, da sie nun nicht mehr bergauf rennen musste, wurde sie bereits wieder von neuen Schrecken verdrängt. Denn auf einmal tauchte vor dem Mädchen ein Loch im Boden auf. Hero schaffte es gerade noch abzubremsen. Nun saß sie in der Klemme. Vor ihr das Loch, hinter ihr die Mumien. Wohin jetzt?
Gehetzt sah sie sich um.
Das Mädchen sah nur einen Ausweg. Sie musste springen. Zögernd trat das Kind ein paar Schritte zurück, blieb stehen, hörte die lebenden Toten hinter sich, rannte los und sprang. Überrascht von ihrem eigenen Mut, vergaß sie die Angst.
Sie landete auf der anderen Seite. Ihr verwundetes Bein trug das Gewicht nicht mehr, gab nach und Hero sank zu Boden. Erstaunt blieb sie liegen. Sie hatte es geschafft, sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie hatte die Mumien hinter sich gelassen.
Ein erstauntes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Die lebenden Toten hatten das Loch erreicht. Neugierig sah das Mädchen den Mumien zu. Gespannt darauf, was diese nun tun würden. Sie war sicher, dass sie hier sicher vor ihnen war. Einige der Mumien stürzten in das Loch. Aber diese Dinger sind ja schon tot, da macht ihnen dieser Sturz nichts aus.
Aber leider lernten diese Klopapierrollen zu schnell. Sie traten zurück. Hero atmete auf. Sie gaben auf. Doch diese nahmen Anlauf, sprangen und der Großteil schaffte es über das Loch. Zu früh gefreut!
Hero sprang auf und rannte in halsbrecherischem Tempo davon. Der Gang zweigte sich vor ihr. Wo lang? Das Mädchen zögerte nur kurz und entschied sich für rechts. Aber so weit kam sie nicht mehr. Plötzlich rannte jemand in sie hinein und schmiss sie zu Boden. Das Mädchen sprang schwerfällig wieder auf die Füße und rannte keuchend weiter. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass sie in eine Mumie gelaufen war. Dann erblickte sie die Mumien, die aus beiden Abzweigungen auf sie zugerannt kamen. Ihr blieb nur ein Fluchtweg. Die dritte Abzweigung. Aber auch diese endete nach kurzer Zeit. Hero schlüpfte durch die vergoldete Tür und schmiss sich mit aller Kraft dagegen. Die schwere Tür fiel ins Schloss. Die würde so schnell keiner aufkriegen. Na hoffentlich hatte sie sich damit nicht selbst in die Falle gelockt.
Doch in dem Raum war alles ruhig.
Hero glitt zitternd an der Tür herunter. Sie zitterte teils vor Erschöpfung, aber den größten Teil machte die Angst aus.
„Was ist nur los? Spielen denn alle verrückt? Das kann doch nicht sein. Das darf alles nicht sein.“ Stöhnend griff sich Hero an den Kopf. Sie weigerte sich, obwohl sie es tief in ihrem Inneren wusste, dass alles als Geschehen anzunehmen. All diese Absonderlichkeiten durfte es in ihrem Weltbild nicht geben. Doch dann forderten der Blutverlust und die Erschöpfung seinen Zoll und beförderte das Kind in die Ohnmacht.
Als sich der schwarze Schleier wieder hob, war noch nicht viel Zeit vergangen. Hero spürte es. Es dürften weniger als zehn Minuten gewesen sein. Mit geschlossenen Augen lag sie auf dem kalten Boden und horchte in sich hinein. Da kam die Erinnerung wieder. Der Brand – die Polizisten – die Mumien. Die Bilder waren einfach zu schrecklich, um wahr zu sein. Sie träumte. Ich träume ganz sicher. Das muss ein Traum sein.
Doch als sie die Augen aufschlug, lag sie auf dem kalten Boden in dem Raum, in den sie sich vor den Mumien gerettet hatte. Das Kind hätte am liebsten aufgestöhnt. Doch dann hielt sie erschrocken die Luft an. Neben ihr saß ein Junge. Seine blauen Augen in http://www.bookrix.de/media/text_italic_down.gifdem sonnengeerbten Gesicht, das von schwarzen Haaren eingerahmt war, waren starr auf ihren Fuß gerichtet. Er trug eine blaue Hose, ein schwarzes T-Shirt und darüber eine Jacke in demselben Blau. Eine Hand hielt er über Heros Oberschenkel, in dem es auf einmal sonderbar kribbelte. Er hatte noch nicht bemerkt, dass Hero aufgewacht war. Erschrocken kroch Hero weg. Der Junge blickte auf.
„Hallo“, sagte er lächelnd. „Schön, dass du wieder wach bist.“ Sein Lächeln war warm und ehrlich.
Doch Hero ignorierte es. Sie konnte niemanden mehr vertrauen
, hielt sie sich immer wieder vor Augen.
Das Mädchen kroch immer weiter von dem Jungen weg. Ihr rechtes Bein zog sie nach. Bis sie an eine Wand stieß, war sie total erschöpft, obwohl die Wand nur wenige Meter entfernt war.
Was machte der Junge da? Was machte er bei den Mumien?
Doch plötzlich überrollten sie die Erinnerung und mit den Erinnerungen kamen die Tränen. Das passiert nur in Filmen, aber nicht im normalen Leben; nicht mir.
Das Mädchen rollte sich zu einem Ball zusammen, schloss die Außenwelt aus. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte nichts mehr sehen. Wieso ich?
, fragte sie sich immer wieder verzweifelt.
Leise Schritte kamen auf sie zu. Hero reagierte nicht. Sie wollte mit dem Ganzen nichts mehr zu tun haben. Hero hätte sich auch nicht von der Stelle gerührt, selbst wenn sie gewusst hätte, dass das ihren Tod bedeuten würde. Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft.
Jemand strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht. Durch den Tränenschleier erkannte sie den Jungen, der vor ihr in die Hocke gegangen war.
„Was machst du hier?“, schluchzte Hero. „Du musst hier weg. Die Mumien … wenn sie kommen …“
Den Jungen schien es gar nicht zu überraschen, dass das Mädchen von Mumien sprach.
„Ich gehe nicht ohne dich, Hero“, sagte er ernst. In seinen blauen Augen spiegelten sich Trauer und Mitgefühl.
„Aber du musst … woher weißt du meinen Namen?“ In Heros Augen flackerten Misstrauen und Angst.
„Ich habe die Nachrichten gesehen“, antwortete der Junge.
Erschrocken setzte sie sich auf.
„Ich will dir nichts tun.“ Besänftigend hob er die Hände. „Ich will dir helfen. Ich weiß, wie es ist auf der Flucht zu sein. Ich weiß nur zu gut, wie einsam und verlassen man sich fühlt.“ In seinem Blick lag tiefe Trauer und seine Stimme wurde ganz leise. Doch dann hob er den Kopf und lächelte Hero an: „Ich bin Atikes. Draußen laufen Heerscharen von Polizisten zusammen und alle suchen dich. Ich bin vor ihnen hierher geflüchtet und da hab ich dich gesehen. Schon erstaunlich, dass ein so kleines Mädchen so viele Polizisten in Bewegung versetzten kann.“
Irritiert starrte Hero den Jungen an. Wieso immer ich?
, fragte sie sich zum wiederholten Male. Erst Mumien und jetzt auch noch ein weiterer von der Polizei Gesuchter. Was hab ich nur angestellt, dass man mich so bestraft?
„Verschwinden wir von hier“, sagte Atikes ohne erkennbare Panik. „Die Mumien kommen!“ Er schien allerdings nicht sonderlich erstaunt, dass hier Mumien, lebende Mumien herumliefen.
Tatsächlich streckte bereits die erste Mumie ihre Hand durch den Spalt.
Schnell liefen die zwei Kids zur gegenüberliegenden Tür und öffneten sie. Aber dahinter war wieder nur ein Gang. Dennoch am Ende konnte man eine Tür erkennen, durch die heller Sonnenschein fiel.
Sie hatten kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als die Stimme rief: Beil von links.
„Beil von rechts“, kam es zeitgleich von Atikes.
„Beil von oben“, rief Hero.
Sie gab dem Jungen einen Stoß und brachte sich mit einem Sprung nach hinten selbst in Sicherheit.
Das Beil verfehlte sie um Haaresbreite. Kreidebleich kroch sie weg.
Plötzlich gab eine Fließe unter ihrer Hand nach und gleich darauf schoss eine Feuerfontäne aus der Wand über sie hinweg. Sie warf sich flach auf den Boden.
Hero entkam dem Feuer nicht ganz ihre Kleidung wurde angekokelt. Endlich hatte auch diese Falle sich beruhigt.
Mit klopfenden Herzen stand Hero auf. Atikes stand hinter den Beilen unfähig sich zu rühren. Wie in Trance schob sich Hero durch die Beile hindurch. Und ging auf die Tür zu. Sie war mit knapper Not dem Tod entkommen.
Endlich waren sie wieder unter freiem Himmel.
Entkräftet und verstört trottete Hero Atikes hinterher, der sie in eine ruhige Straße führte.
Erschöpft ließ sich das Mädchen an der Hauswand herab gleiten. Fast augenblicklich schlief sie ein. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an die Gefahren, die hier auf sie lauern könnten, dachte nicht daran, dass die Polizei sie vielleicht finden könnte, wenn sie schlief.
Kleinere und größere Fluchten
Hero schreckte aus dem Schlaf hoch. Jemand hatte sie geohrfeigt. Sie war sofort hellwach, erfasste die Lage blitzschnell und gab ihrerseits Atikes einen Fußtritt. „Blödmann“, murmelte sie verschlafen. Durch den Tritt war nun auch Atikes wach.
„Was fällt dir ein? Wieso hast du mich getreten?“, fuhr Atikes auf.
„Weil du mich geohrfeigt hast“, antwortete Hero.
„Ich soll … was? Du spinnst doch.“ Atikes tippte sich unmissverständlich an die Stirn. Hero wollte etwas erwidern, doch da tauchte eine schwarzgekleidete Person am Ende der Straße auf.
Erschrocken sprangen die Kids auf und rannten davon. Sie wussten noch nicht einmal, ob die Person sie wirklich suchte. Doch Vorsicht war besser als Nachsicht.
„Wir müssen reden“, meinte Atikes, als sie japsend in einer dunklen Gasse standen. „Du wirst gesucht, Hero.“
„Erzähl mir was Neues“, fuhr Hero den Jungen an. Sie wollte nicht daran erinnert werden. Sie wollte vergessen, in ein normales Leben zurückkehren.
„Ich will dir helfen. Aber du musst dein Aussehen verändern.“
Hero sah an sich herunter. Was könnte man verändern?
Atikes musste ihre Frage auf ihrem Gesicht erkannt haben.
„Du musst deine Haare abschneiden“, redete er weiter.
Was? Hero konnte nicht glauben, was sie gehört hatte. Ihre Haare waren das letzte, was sie noch an ihr altes Leben band. Die konnte sie doch nicht einfach abschneiden. Doch sie wusste auch, dass ihre Haarpracht viel zu auffällig war. Es gab sicher nicht viele Mädchen mit einer beachtenswerten Haarlänge bis zur Hüfte. Das Kind musste einsehen, dass sie dieses Opfer bringen musste, wenn sie überleben wollte, weiterhin auf freiem Fuß.
Atikes verschwand und ließ das Mädchen in der Gasse zurück. Hero hing ihren Gedanken nach. Sie versuchte noch immer krampfhaft das Geschehene zu verarbeiten. Sie war noch kein Stückchen weiter, als der Junge zurückkehrte mit einer Schere. Hero fragte lieber nicht, woher er die hatte.
Atikes betätigte sich als Frisör. Wehmütig betrachtete Hero die langen Strähnen in ihren Händen. Mit ihrem nun nur noch schulterlangen Haar hatte sich Heros Antlitz stark verändert. Ihr wichtigstes Erkennungsmerkmal war nun weg. Aber mit ihm war noch mehr verschwunden. Ihr ganzes Leben; ihre Vergangenheit.
„Jetzt musst du nur noch eins tun“, meinte Atikes und betrachtete zufrieden sein Werk.
„Was denn noch?“, fragte Hero genervt.
„Deine Hose waschen!“
Das Mädchen betrachtete ihre zerrissene Hose. Der dunkelrote Fleck hatte sich ausgebreitet.
Hero humpelte durch die Straßen. Die Wunde hatte sich wieder geöffnet, wenn sie sich überhaupt jemals geschlossen hatte. Selbst darüber war sich Hero nicht sicher. Atikes stützte das Mädchen, gegen ihren Willen. Doch Hero fehlte die Kraft für heftigeren Widerstand.
Die Kids gelangten an einen Fluss, nachdem sie einen kurzen Zwischenstopp in einer weiteren dunklen Gasse eingelegt hatten und Atikes das Mittagessen organisiert hatte. Hero vermutete ganz richtig, woher es kam. Doch sie hütete sich, es auszusprechen.
Irgendwann meinte Hero: „Du solltest gehen!“
„Wohin?“, fragte Atikes verständnislos.
„Du solltest mich allein lassen. Bei mir ist es zu …“, Hero fiel es schwer, dieses Wort auszusprechen. Doch wusste sie, dass es wahr war, „zu gefährlich. Ich werde von der Polizei gesucht und nicht nur von ihr.“ Hero schloss kurz die Augen, atmete tief ein. „Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.“
Hero kannte diesen Jungen nicht und doch fühlte sie sich seltsam mit ihm verbunden. In seiner Nähe fühlte sie sich wohl. Sie wollte nicht, dass er wegen ihr leiden musste.
Atikes fing lauthals an zu lachen. „Glaubst du, mich stört das? Ich wusste, wer du bist und ich wusste, was du angeblich getan hast und dennoch habe ich mir dir genähert. Ich habe mich entschieden, Hero. Du kannst mich nicht mehr umstimmen. Ich bleibe bei dir, solange es mir Spaß macht.“
„Aber das ist kein Spaß.“
„Ich weiß. Aber allein wirst du nicht überleben, vor allem nicht in deiner Verfassung.“ Atikes berührte kurz Heros Oberschenkel und das Mädchen schrie schmerzerfüllt auf.
Hero erwiderte nichts, starrte einfach nur geradeaus, war in Gedanken versunken.
Am Fluss warteten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit. Sorgfältig wuschen sie das Blut aus.
Atikes riss einen Ärmel seines langen schwarzen T-Shirts ab.
Hero zog die mittlerweile getrocknete Hose an und der Junge band den schwarzen Stoff über die Wunde. Das stillte einerseits die Blutung, falls die Wunde noch einmal aufplatzte und verdeckte andererseits die zerrissene Hose. Während der Wartezeit hatte Hero erfahren, dass Atikes seit nun fast einem Jahr auf der Flucht war und das Haus der lebenden Toten als Unterschlupf nutzte. Nur hatte der Junge kein Wort darüber verlauten lassen, weshalb er auf der Flucht war. Und auch Hero hatte ihm ihre Geschichte erzählt. Den Fremden allerdings hatte sie mit keinem Wort erwähnt. War wahrscheinlich besser so
, erkannte sie. Atikes würde sie für verrückt erklären.
„Halt still“, befahl Atikes und streckte seine rechte Hand über die Wunde an Heros Oberschenkel. Wieder verspürte sie dieses seltsame Kribbeln.
„Was tust du da?“, fragte Hero verwundert. „Heilen.“, antwortete Atikes einsilbig. Doch sosehr Hero auch bohrte, sie konnte nicht mehr aus dem Jungen herausbringen. Doch verwundert spürte sie das Resultat. Die Schmerzen in ihrem Bein ließen nach.
„Geh’n wir weiter! Es ist viel zu gefährlich zu lange an einem Ort zu bleiben“, entschied Hero. Doch das war nur ein vorgeschobener Grund. Sie wollte sich bewegen, um ihre Gedanken zu verdrängen.
„Aber es ist auch gefährlich, wenn sie dich auf der Straße sehen“, meinte Atikes und ließ offen, wen er mit sie meinte – Verbrecher oder Polizei. Doch Hero setze sich durch. Ziellos liefen sie durch die Straßen auf der Suche nach einem Ausweg.
„Da ist sie!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihnen.
Die zwei Kids fuhren erschrocken herum, sahen mehrere schwarzgekleidete Personen auf sie zu rennen.
Das darf doch nicht wahr sein
, dachte Hero niedergeschlagen. Gerade sind wir einer Katastrophe entkommen und schon sind die nächsten hinter uns … nein, hinter mir her.
Sie fuhren herum und rannten so schnell sie konnten in die entgegengesetzte Richtung. Angst trieb sie zusätzlich an. Die Straße war übersät mit Unrat. Und dann kam es, wie es kommen musste. Atikes stolperte. Hero fuhr herum.
„Hero, bring dich in Sicherheit. Schnell ver …“ Das letzte Wort blieb ihm im Halse stecken.
Plötzlich wurde Hero mit festem Griff von hinten an der Schulter gepackt. Das Mädchen blieb stocksteif stehen. Nicht schon wieder!
, fuhr es ihr durch den Kopf. Der Griff lockerte sich und drehte das Kind herum.
Aus Schreck geweiteten Augen starrte Hero die Personen hinter sich an. Nicht der schon wieder!
Nun stand Hero Alpha gegenüber. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie ihre ersten Verfolger bei Atikes ankamen und ihn auf die Beine zogen.
„Komm!“, befahl Alpha.
Hero sträubte sich. Doch der Mann war stärker.
„Hey, ihr da, bleibt stehen!“, rief der Rufer von vorhin. Alpha reagierte nicht. Ein Schuss fiel. Neben Alpha zerbarste eine Flasche. Der Mann drehte sich bedrohlich langsam um.
„Was wollt ihr?“, fragte er leise. Aber es kam einem Schreien gleich.
„Das Mädchen!“, bellte der Mann und hielt Atikes im Schwitzkasten. Die Finger des Jungen krallten sich in den Arm des Mannes. Er japste nach Luft.
Auch Alpha nahm Hero fester. Sein rechter Arm lag über ihrer Brust und klammerte sich in ihren linken Arm. Aus angstgeweiteten Augen beobachtete Hero wie der Mann die Pistole hob und sie an Atikes Schläfe drückte. Der Junge erbleichte, sein Widerstand erlahmte.
„Gib mir das Mädchen! Oder …“ Er ließ seine Drohung offen im Raum stehen und das machte es noch gefährlicher.
„Der Junge interessiert mich nicht. Ich will nur das Mädchen. Du kannst mit ihm machen, was du willst, mir ist er egal.“
Hero schnappte erschrocken nach Luft. „Nein!“, schrie sie.
Alpha wandte sich erneut zum Gehen.
„Das würde ich nicht tun“, drohte der Mann. Hero brauchte die Waffe gar nicht sehen, sie spürte förmlich, was ihr neues Ziel war und auch Alpha schien dieses Gefühl zu haben. Denn er gab Hero einen Stoß und diese stolperte in die wartende Menge seiner Gruppe. Einer ergriff sie am Arm. Hero sah nicht auf. Sie wirbelte herum und blickte ängstlich zu Atikes. Er war für die Verbrecher nicht mehr nützlich. Was würden sie mit ihm machen?
Der Mann stieß Atikes von sich und der Junge fiel in einen Haufen Flaschen. Einige zersplitterten. Scherben schnitten sich Atikes tief in die Haut.
Und dann ging alles ganz schnell. Plötzlich, ohne dass Hero sagen konnte, wer angefangen hatte, befanden sich die Männer der verschiedenen Banden in einem erbitterten Kampf. Keiner achtete auf Atikes. Dieser kroch langsam aus dem Ballungsfeld. Nun lag zwischen den zwei Kids das Schlachtfeld.
„Verschwinde!“, rief Hero über den Lärm hinweg. „Wir treffen uns beim Haus der lebenden Toten.“ Das Mädchen trat dem Verbrecher, der sie festhielt gegen das Schienbein. Dieser heulte auf vor Schmerz. Dieses Heulen erinnerte das Mädchen stark an jenes Heulen, das der Mann bei ihrer ersten Entführung ausgestoßen hatte. Auch diesen hatte sie getreten, auch er hatte zu Alphas Leuten gehört. Mit einem leisen Lächeln registrierte Hero, dass es wahrscheinlich der gleiche Mann war.
Keiner der anderen aus Alphas Bande war in der Nähe, um Heros Flucht zu verhindern.
Das Mädchen rannte, rannte bis sie schließlich erschöpft zusammensank. Ihr Blick war verschleiert. Das Kind spürte das warme Blut, das aus der Wunde am Bein floss. Zu Tode erschöpft schlief sie ein, dachte nicht an all die Gefahren, die auf der Straße auf sie lauerten. Sie hätte sie nicht verhindern können. Dazu war sie viel zu erschöpft.
Als sie wieder erwachte, war die Straße bereits wieder belebt.
Drei Männer gingen langsam in einer Reihe auf sie zu. Die Männer hatten sie fast erreicht. Sie sahen ganz normal aus, so wie ganz normale Familienväter. Dennoch kam Hero der Vergleich mit einer Treibjagd.
Die Männer stürzten sich gemeinsam auf das Mädchen.
Irgendwie schaffte sie es, weg zu kriechen, bevor die Männer sie erreicht hatten. Hero rannte los.
Plötzlich – zu plötzlich, um auszuweichen – trat jemand aus einem Hauseingang heraus. Das Mädchen prallte mit ihm zusammen und stürzte zu Boden. Als sie sich benommen wieder aufrichtet, standen die drei und der, mit dem sie zusammengeprallt war, mit Pistolen über ihr.
„Keinen Mucks, sonst knallt’s!“, befahl ein großer, schwarzhaariger Mann. „Aufstehen! Hopp! Ein bisschen schneller!“ Die anderen sagten nichts.
Hab ich denn nur Pech?
, fragte sich das Kind niedergeschlagen. Sie sollte sich ein dunkles Loch suchen, sich darin verkriechen und nie mehr rauskommen.
, dachte sie verzweifelt.
Als Hero aufgestanden war, drehte der Schwarzhaarige ihr den rechten Arm auf den Rücken und zog ihn nach oben. Hero verzog den Mund vor Schmerz, sagte aber nichts.
Sie führten das Mädchen auf eine belebte Straße zu. Die Männer versteckten ihre Waffen unter Mänteln und der schwarzhaarige Mann ließ ihren Arm los.
„Keinen Mucks!“, schärfte er ihr nochmals ein. Sie wurde in einen schwarzen Kastenwagen mit getönten Scheiben verfrachtet, die Tür zugeknallt und der Wagen fuhr los.
Hero wurde von einer Ecke in die nächste geschleudert, denn der Wagen fuhr nicht gerade langsam. Endlich war die Fahrt vorbei. Das Kind zweifelte nicht daran mindestens fünf blaue Flecken mehr zu haben.
ENDE Teil 1
Texte: Die Geschichte gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010
Alle Rechte vorbehalten