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Unbenanntes Kapitel


Das Mädchen saß vor einem Teich auf einer saftig grünen Wiese und blickte sehnsüchtig in die Tiefe des Wassers. Doch statt des Wassers sah sie Personen ihre tägliche Arbeit verrichten. Die Bilder wechselten schnell. Da war ein kleiner Junge, der über seinen Hausaufgaben brütete; ein Mädchen, das mit einem Pferd galoppierte; ein Arzt, der einen Mann verband; Polizisten, die einen Bankräuber stellten; eine Mutter, die das Mittagessen zubereitete; ein Chef, der seine Angestellten anbrüllte. All das und noch viel mehr sah das Mädchen an dem Teich sitzend. Sehnsüchtig stöhnte sie auf. Wie gern wäre sie auch dort unten bei den Menschen. Doch sie saß hier im Himmel und war der Langeweile hilflos ausgeliefert. Es gab keine Aussicht auf Rettung.
Niedergeschlagen beugte sie sich über den Teich und strich über das stolz lächelnde Gesicht eines jungen Mannes, der soeben sein Abiturzeugnis erhalten hatte. Das Lachen verschwamm unter ihren Fingern. Die Bewegung des Wassers breitete sich aus und verschluckte all die Bilder, die eben noch auf der Wasseroberfläche zu sehen gewesen waren. Jetzt war nur noch das Spiegelbild des Mädchens zu sehen.
Traurig schloss sie die Augen. Sie wusste, was sie sehen würde. Einen Engel, der nicht in den Himmel passte. Und dennoch öffnete sie die Augen und blickte sich selbst ins Gesicht. Nur um wieder festzustellen, dass sie anders war. Aus dem Wasser blickten ihr tiefblaue Augen entgegen, in denen man zu versinken drohte. Wenn sie ärgerlich wurde – was sich für einen Engel nun mal gar nicht gehörte – konnten ihre Augen mitunter auch mal schwarz werden. Die anderen Engel hatten alle rehbraune Augen – ohne Ausnahme. Aber das war nicht das einzige was sie unterschied. Sie hatte ein hübsch geschnittenes Gesicht, das von braunen, leicht gewellten Haaren eingerahmt wurde. Wieder ein Unterschied zu den anderen. Alle Engel hatten blonde, ja beinahe weiße Haare und Engelslocken. Auch ihre Haut war anders. Sie selbst hatte helle Haut, mit einem seltsamen leichten Glitzern darin. Die restlichen Bewohner des Himmels hatten beinahe weiße Haut und das Glitzern, war bei ihnen schon ein Strahlen.
Traurig stellte sie wieder einmal fest, dass sie den Menschen ähnlicher sah, als den Engeln. Aber sie unterschied sich auch von diesen. Es war nicht nur das Glitzern ihrer Haut. Es waren vor allem ihre Flügel, ihre großen weißen Flügel, die sie von den Menschen trennte.
Wie oft hatte sie sich die Frage gestellte: Wo gehöre ich hin? Was bin ich? Ich bin kein Engel! Ich bin kein Mensch! Was bin ich dann? Aber sie hatte immer noch keine Antwort darauf gefunden. Eins nur konnte sie mit Sicherheit sagen: Sie war kein Engel!
Es war nicht nur ihr Aussehen, das sie zu diesem Schluss brachte. Es war auch ihr Verhalten. Engel wurden wie gesagt nicht wütend, sauer oder zeigten sonst eine andere Gefühlsregung als Freude, Glück, Zufriedenheit. Engel versuchten immer allem und jedem etwas Positives abzugewinnen. Doch sie empfand eben auch andere Gefühle. Sie war sauer hier im Himmel gefangen zu sein, zu sehen wie die anderen freudestrahlend über die Wolken wanderten. Für sie gab es keine Probleme, nichts worüber sie sich den Kopf zerbrechen mussten. Doch, dachte sie abfällig. Es gab ein Problem für die anderen Engel. Das einzige worüber sich die Engel den Kopf zerbrechen mussten, war ihr nächster Zug beim Schachspiel. Sie waren glücklich, wenn sie einfach nur umherwanderten, ohne irgendetwas zu tun.
Doch damit gab sich das Mädchen nicht zufrieden. Sie langweilte sich, wurde gereizt – wieder eine Gefühlsregung, die Engel nicht kannten. Aber das Mädchen kannte sie recht gut. Sie war nämlich oft ziemlich gereizt. Es gab im Himmel für sie nichts anderes zu tun als Umherzufliegen, zu spielen, zu beten und zu lesen. Aber das Mädchen wollte mehr. Sie sah die Menschen auf der Erde, wie sie mit ihren Problemen kämpften, sich freuten, weinten, erinnerte sich an Ausschnitte ihrer Menschenzeit und wollte einfach nur wieder ein Mensch sein. Sie wusste nicht, wie sie gestorben war. Doch sie wünschte, sie wäre es nicht, oder wäre jedenfalls nicht so brav gewesen. Selbst in der Hölle könnte es nicht schlimmer sein als hier im Himmel. Für sie war der Himmel ihre Hölle.
„Kaja!“
Das Mädchen hob müde den Kopf, wusste sie doch, was sie sehen würde. Ein junges Mädchen – blond, braunäugig, mit großen weißen Flügeln. Was hatte sie anderes erwartet? Die Engel sahen schließlich alle gleich aus. Wären da nicht die unterschiedlichen Auren der einzelnen Engel, die sie spürte, könnte man sie nicht unterscheiden. Äußerlich waren alle gleich. Nur die Farbe ihrer Gewänder unterschied sich, je nach Stand. Die Engel auf der untersten Stufe, zu denen auch sie und das auf sie zu schwebende Mädchen gehörten, waren weiß. Die Stufe darüber trug schon himmelblaue Gewänder. Sie waren bei den Menschen als Schutzengel bekannt. Die nächste Stufe trug rosa Gewänder. Ihnen wurde die Aufgabe zuteil, die neuen Engel unter den Menschen zu rekrutieren. Kaja hasste sie. Sie hatten das Mädchen erst zu dem gemacht, was sie jetzt war. Die letzte Stufe trug lila Gewänder und hatte die Aufgabe, die Aufträge Gottes zu erfüllen. Auch sie waren den Menschen bekannt. Das waren die Erscheinungen, die ausgewählte Menschen sahen und die ihnen eine Aufgabe erteilten oder die einfach nur durch ihr Erscheinen das Leben und das Verhalten der Menschen änderten.
Die meisten Engel in den weißen Gewändern waren erst seit kurzem tot und übten sich noch darin Engel zu sein. Sie mussten noch das Verhalten eines Engels annehmen, ihr altes Leben vergessen, lernen alles nur mit positiven Gefühlen zu betrachten, das Friede, Freude, Eierkuchen in der Himmelswelt zu ertragen. Die weißen Engel mussten auch noch lernen zu fliegen, sich im Himmel zurecht zu finden. Viele Engel blieben aber auch Zeit ihres Lebens – also die Ewigkeit lang – ein weißer Engel, weil sie sich auf dieser Stufe wohl fühlten, einfach nichts tun zu müssen. Sie wollten gar nicht aufsteigen zum Schutzengel.
Aber auch hierin unterschied sich Kaja von den anderen Weißen. Sie war schon seit einiger Zeit ein Engel, konnte fliegen und alles tun, was sich für einen Engel gehörte. Doch sie konnte nicht vergessen. Erst wenn ein Engel vergessen hatte, konnte er aufsteigen, was sie aber auch nicht wollte. Sie wollte zurück – was auch immer zurück hieß. Sie wollte auf die Erde.
Kaja bezweifelte auch stark, dass – selbst wenn sie vergaß - überhaupt aufsteigen konnte. Sie war schließlich anders als die anderen Engel.
„Kaja!“, rief der Engel erneut.
Gequält lächelnd hob das Mädchen die Hand und winkte. So wurde es von ihr erwartet.
„Du hast es schon wieder vergessen!“, meinte der Engel gespielt böse. Doch das Lächeln wich nicht von seinen Lippen, hing dort wie eingemeißelt.
Verständnislos blickte Kaja auf den Engel. Was hatte sie schon wieder vergessen?
„Wir wollten Ball spielen!“, lachte das Mädchen. „Komm, Kaja, sag dass du es nicht vergessen hast.“
Typisch Layla! Sie wartete wahrscheinlich seit Stunden, hätte allen Grund sauer auf sie zu sein und doch will sie nur das Gute in mir sehen.

„Ich hab’s nicht vergessen“, log Kaja. Wieder etwas was Engel eigentlich nicht mehr können sollten – hatte man ihr jedenfalls gesagt. Doch sie konnte es. Es fiel ihr ebenso leicht, wie genervt zu sein. Was sie in diesem Augenblick auch war. Sie wollte nicht Ball spielen. Ball spielen hieß, fünfzigtausendmal den Ball hin- und herzuwerfen, ohne dass es irgendeine nennenswerte Veränderung gab. Layla würde lachen und sich freuen und Kaja würde sich verzweifelt fragen, wie lange es noch dauern würde. Es war langweilig sich einfach nur den Ball zuzuwerfen ohne ein erkennbares Ziel des Spiels zu haben.
„Engel Kaja!“, erklang eine männliche Stimme hinter ihnen.
Sofort senkte Layla ehrfürchtig den Blick. Kaja reagierte wieder anders. Erst zog sie schuldbewusst den Kopf ein, doch dann straffte sie die Schultern, wandte sich um und blickte dem Engel unerschrocken entgegen. Der Engel hatte ein Allerwelts- nein wohl eher ein Allerhimmelsgesicht, blonde Engelslöckchen, rehbraune Augen und ein lila Gewand. Kaja stand einem der zwölf mächtigsten Engeln gegenüber.
„Hatten wir nicht ausgemacht, dass du es versuchst?“, fragte er tadelnd.
„Ja, hatten wir. Aber …“
Mit einer Geste brachte der Engel das Mädchen zum Schweigen.
„Engel Layla, lass uns allein.“
Ehrfurchtsvoll verbeugte sich Layla und flog davon.
Nun stand Kaja allein mit dem Engel im lila Gewand an dem Teich.
„Ich habe es wirklich versucht, so zu sein wie die anderen, Engel Petrus. Aber ich schaffe es einfach nicht. Ich will nicht vergessen, wie es ist etwas anderes als Freude zu verspüren – Ärger, Trauer, Schmerz. All das will ich nicht vergessen. Außerdem kann ich nicht einfach dasitzen und nichts tun. Ich will helfen.“
„Dann werde Schutzengel.“
„Aber wann helfen Schutzengel schon? Sie helfen, wenn ein Unfall passiert. Aber wer hilft den Menschen, wenn sie traurig sind, wenn sie Angst haben? Wo sind ihre Schutzengel dann?“
„Das ist nicht ihr Aufgabengebiet.“
„Aber wessen Aufgabengebiet ist es dann?“ Kaja gab nicht nach.
Petrus aber antwortete nicht. Er stand da, tief in Gedanken versunken und schien sie gar nicht mehr zu bemerken.
Kaja stand ruhig und wartete, wartete darauf, dass er wieder einen klaren Blick bekam. Doch diesen bekam er nicht mehr. Er war immer noch in Gedanken versunken, als er sich wortlos umwandte und einfach ging.
Schulterzuckend sah sie ihm hinterher und setzte sich, da Layla weg war, wieder an den Teich. Wieder beobachtete sie die Menschen. Ach, wie sehr wünschte sie sich dort unten bei ihnen zu sein. Doch ihr Wunsch würde nie in Erfüllung gehen. Den Engeln war es verboten, in die Menschenwelt zu gehen.
Kaja hatte es selbst schon probiert, aus dem Himmel zu fliehen. Doch nur den Zwölf, die Engel mit den lila Gewändern, war es gestattet in die Menschenwelt zu gehen und auch nur sie wussten, wie man dorthin kam. Kaja konnte sich nur mit ihrem Schicksal abfinden und sich bemühen ein wahrer Engel zu werden.


                                                *


„Sie ist die einzige, die es schaffen kann. Sie ist die Einzige, die noch etwas darüber weiß!“
„Aber sie ist noch ein Weißer! Nein, dass können wir nicht verantworten.“
„Aber wir müssen. Sehen Sie nicht, wie finster es in der Menschenwelt wird. Wenn wir nichts unternehmen wird der Teufel siegen.“, widersprach Engel Petrus heftig seinem Gegenüber.
Dieser blieb stumm, überlegte lange und gründlich. Schließlich holte er tief Luft und sagte: „Ich fürchte, Sie haben Recht.“


                                                *


Kaja saß immer noch an dem Teich, als Petrus zurückkam.
„Du hast es wieder nicht versucht!“, tadelte er lächelnd.
„Ich habe es versucht.“, erwiderte Kaja, nachdem sie aufgesprungen war. Diese Begrüßung wiederholte sich immer wenn sie sich begegneten und Kaja sich wieder einmal anders verhielt als alle anderen Engel. Was bei genauer Betrachtung eigentlich immer der Fall war.
„Engel Kaja, ich muss mit dir reden.“
Kaja erschrak. So ernst hatte sie Petrus noch nie erlebt.
„Ich … ich werde mich bessern. Ich werde alles versuchen.“, stammelte Kaja.
Petrus lächelte müde.
„Komm! Setz dich zu mir!“
Ungläubig betrachtete das Mädchen den Engel im lila Gewand. Einer der höchsten setzte sich auf den Boden!? Kaja verstand die Welt nicht mehr. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Was war nur in der kurzen Zeit passiert?
„Was weißt du noch über dein Menschenleben?“
Oh, oh.
„Ich weiß nur noch Ausschnitte.“, antwortete Kaja ausweichend.
„Was weißt du noch über dein Menschenleben?“, wiederholte Petrus ohne seine Stimmlage zu verändern.
„Ich … ich weiß noch wie ich über meinen Hausaufgaben geschwitzt habe, wie ich mit meinen Freundinnen lachend über die Straßen geschlendert bin, wie ich den Chemielehrer gehasst habe.“ Kaja verstummte reumütig.
„Weiter!“, forderte Petrus sie mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht auf.
„Ich kann mich an Freude, Glück aber auch an Schmerz und Trauer erinnern.“ Kaja stockte wieder, als sie über Trauer und Schmerz nachdachte. Sie wusste nicht mehr, über was sie getrauert, weswegen sie Schmerzen empfunden hatte, aber sie wusste, wie dieses Gefühl war, welche Intensität es hatte.
„Wofür, glaubst du, gibt es Engel, wo es dir doch auf der Erde so gefallen hat?“, änderte Petrus plötzlich das Thema.
Kaja sah ihn fragend an. Doch an seinem Blick erkannte sie, dass er auf seine Frage eine ernsthafte Antwort wollte.
„Weil es etwas nach dem Tod geben muss.“, antwortete sie.
Petrus schwieg. Kaja überlegte weiter.
„Weil es einen Teufel gibt und jemand den Menschen helfen muss.“
Petrus blickte auf. Er schien über diese Antwort überrascht.
„Genau darüber muss ich mit dir sprechen.“ Bevor er weitersprach, holte er noch einmal tief Luft. Es schien, als hätte er sich auf dieses Gespräch lange vorbereitet. „Der Teufel gewinnt an Macht. Früher reichten die Schutzengel aus, um die schlimmsten Attacken des Teufels zu verhindern. Doch jetzt ist es anders. Er hat seine Strategie geändert. In der Menschenwelt wird es finster. Immer mehr Unheil geschieht. Die Herzen der Menschen vergessen in Liebe zu schlagen, werden hart, sind angefüllt von Schmerz und Leid und ihr Lachen stirbt. Sie haben vergessen wie es ist sich zu freuen. Der Tag ist grau und kalt ist die Nacht, kein Sonnenstrahl bringt ihren Herzen Hoffnung. Doch so kann und darf es nicht weitergehen. Die Schutzengel sind für diese Aufgabe nicht geeignet. Denn sie können nicht auf die Erde. Sie können nur die größten Unfälle verhindern. Wir bräuchten einen Engel auf der Erde.“
Kajas Augen begannen zu leuchten. Doch zwang sie sich, nicht zu hoffen. Wieso sollte man sie auswählen?
„Wir bräuchten einen Engel, der wieder Hoffnung auf die Erde bringt und damit das Lachen zurückbringt. Doch kein Engel ist dafür geeignet. Jeder hat vergessen, wie es ist ein Mensch zu sein. Aber du bist anders. Du hast dein Leben nicht vergessen, obwohl du schon seit langem hier im Himmel bist. Du bist der einzige, der sich noch wie ein Mensch verhalten kann, der zurück auf die Erde kann. Engel Kaja, wir haben dich auserwählt, Hoffnung auf die Erde zu bringen.“
Kaja saß stocksteif. Sie konnte kaum glauben, was sie soeben vernommen hatte. Sie durfte zurück auf die Erde? Ungläubig sah sie Engel Petrus an, bis dieser schließlich auflachte und sie in die Arme schloss: „Pass nur auf dich auf, Engel Kaja, damit du wieder in den Himmel zurück kommst.“
Erschrocken hielt Kaja die Luft an. Petrus war immer unnahbar gewesen und jetzt lag sie in seinen Armen. Sie war von der Nachricht immer noch wie betäubt, sodass sie seine Umarmung nicht erwiderte. Sie durfte auf die Erde zurück!
„Ich lass dich kurz allein. Später werden wir über alles Weitere reden. Aber jetzt würdest du es ja doch nicht verstehen. Du hast die Nachricht noch nicht verdaut.“
Petrus stand auf und warf noch einen kurzen Blick auf das kleine Mädchen, das wie gelähmt auf dem Boden saß. Hoffentlich hatte er damit nicht ihr Todesurteil unterschrieben. Engel konnten zwar nicht sterben, doch es gab Schlimmeres als den Tod. Den Teufel beispielsweise. Und genau mit diesem sollte sich Kaja nun anlegen. Das war sein Plan gewesen. Er trug die Schuld, wenn ihr etwas geschah. Doch dann riss er seinen Blick von dem Mädchen los und ließ sie allein.


                                                *


„Weißt du noch, wie alt du warst, als du gestorben bist?“, wollte Engel Petrus wissen, als er sich am Ende dieses Tages wieder zu ihr an den Teich setzte, ohne sie dafür zu tadeln, dass sie nicht einmal versucht hatte, sich wie die anderen Engel zu verhalten.
„Ich … ich glaube, ich war vierzehn.“, antwortete Kaja zögernd. Petrus hatte sie nicht erschreckt, konnte es gar nicht. Sie hatte seine Aura schon lange gespürt. Er war schon lange in ihrer Nähe gewesen. Wieder etwas, was sie von anderen unterschied, dachte sie traurig. Layla hatte ihr gesagt, dass Engel die Auren der anderen nicht spüren konnten. Doch Kaja konnte es. Sie spürte sie schon lange bevor, die Person in Sichtweite kam.
„Ja und von Vierzehnjährigen wird erwartet, dass sie auf eine Schule gehen. Deswegen mussten wir dich auf einer Schule anmelden.“
„Aber … wie … ich bin doch kein Mensch … sie werden es merken.“
Petrus lachte auf. „Wir können vielleicht nicht auf die Erde. Aber wir können alles so arrangieren, dass es für dich auf der Erde passt. Vergiss nicht: Du hast Gott auf deiner Seite. Eins muss dir klar sein, Engel Kaja. Deine Aufgabe auf der Erde wird nicht leicht und auch nicht ungefährlich sein. Bist du unter diesen Umständen immer noch bereit auf die Erde zu gehen. Du wirst dort auf dich allein gestellt sein. Kein Schutzengel wird dir zur Seite stehen, der Teufel und seine Dämonen werden gegen dich sein und auch die Menschen werden dich auf Distanz halten. Du wirst dort unten ganz allein sein.“ Petrus sah das Mädchen an und hoffte beinahe inständig, dass das Mädchen es sich noch anders überlegen würde. Er selbst war nicht glücklich mit seinem Plan, wurde mit jeder Sekunde unglücklicher. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Aber er sah bereits an Kajas Blick, dass sie nicht an seinem Plan zweifelte.
„Ich werde gehen!“ Ihr Blick war entschlossen.
„Nun gut, wenn das deine Entscheidung ist … Deine Aufgabe wird darin bestehen, Hoffnung und Liebe in die Herzen der Menschen zu säen.“
Petrus stand auf und bedeutete Kaja ihm zu folgen.

 

                                            *


Ehrfürchtig blieb Kaja vor dem Wolkengebilde stehen. Das Haus Gottes! Niemand durfte es betreten außer den Zwölf. Die Wolken glichen einem Palast, einem riesigen Palast.
Auch Petrus blieb stehen und wandte sich um. „Was du nun siehst, darfst du niemanden erzählen. Nicht den Engeln, nicht den Menschen und schon gar nicht den Dämonen. Kaja, jetzt hast du noch die Möglichkeit umzukehren.“
Erstaunt blickte das Mädchen auf den Mann. Er hatte nicht Engel Kaja gesagt! Im Himmel war es üblich, die anderen Bewohner mit Engel anzureden, wie die Menschen die anderen mit Herr oder Frau ansprechen. Erst wenn man sich näher kannte, wenn man befreundet war, wurde das Engel weggelassen. Und nun hatte Petrus das Engel weggelassen. Kaja wusste nicht, was sie davon zu halten hatte.
„Wenn du dieses Haus betreten hast, gibt es kein zurück mehr. Bitte Kaja, überleg es dir noch einmal.“ Eindringlich blickte Petrus das Mädchen an. Und diese überlegte wirklich. Doch was hielt sie schon im Himmel? Freunde? Layla, war die einzige, die sich mit ihr abgab, die anderen mieden sie, weil sie anders war. Layla würde damit zurechtkommen. Sie würde sich für sie freuen. Doch sonst fiel ihr nichts ein, was sie im Himmel halten konnte. Was hielt sie von der Menschenwelt fern? Klar, die Unsicherheit, wie ein Leben auf der Menschenwelt ist, wenn man fast alles vergessen hat und natürlich auch die Dämonen. Aber waren diese Argumente stark genug, um sie im Himmel zu halten? Nein, denn eins hatte sie vergessen. Gott braucht sie. Gott braucht sie auf der Erde. Petrus hatte es selbst gesagt, keiner konnte das tun, was sie zu tun gedachte. Keiner konnte auf die Erde.
„Nein, ich werde gehen.“, sagte Kaja entschlossen.
Petrus erschauderte. In Kajas Blick lag etwas, was er nicht zu deuten wusste. Es lag etwas darin, was er noch von keinem anderen Engel gesehen hatte. Da war das Glitzern der Abenteuerlust, die wilde Entschlossenheit und … noch etwas. Petrus konnte es nicht in Worte fassen.
„Wenn du auf die Erde gehst, musst du dort unten bleiben, bis dein Auftrag erfüllt ist.“ Was nie geschehen wird, dachte er traurig. Wie sollte ein einzelner Engel den Teufel besiegen. Doch dies sagte Petrus Kaja nicht so deutlich, wie er es sich dachte. Es war ihm verboten. Aber Petrus wusste, Kaja war nicht dumm. Sie musste schon selbst darauf gekommen sein. Dieser Gedanke beruhigte den Engel ein wenig. Wenigstens ging Kaja im vollen Bewusstsein der Folgen auf die Erde.
Schließlich betraten sie das Wolkengebilde und wandten sich in der pompösen Eingangshalle nach rechts. Im Himmel gab es kein Gold, um den Reichtum anzuzeigen. Aber je heller das Strahlen der Wolken, umso reicher das Haus. Und hier blendete das Strahlen fast. Kaja musste kurz die Augen schließen.Wieder etwas, was sie von den anderen Engeln unterschied. Engel konnte ohne Sonnenbrille oder dergleichen ins Licht sehen und auch das Strahlen des Haus Gottes machte ihnen nichts aus. Doch Kaja hatte diese Fähigkeit nicht. Ungeschützt in die Sonne zu blicken, war ihr unmöglich. Es schmerzte. Es schmerzte tatsächlich, obwohl Engel eigentlich keine Schmerzen empfinden dürften. Ein weiterer Grund den Himmel zu verlassen. Auf der Erde war man weiter von der Sonne entfernt.
Die Eingangshalle war voll von Statuen – von Engeln wie auch von Menschen. Die wenigsten davon kamen Kaja bekannt vor. Sie wusste, hier standen die Helden des Himmels und der Erde. Hier standen diejenigen, die im Kampf gegen den Teufel Siege davongetragen hatten oder qualvoll gestorben waren oder sogar beides. Kaja erschauderte.
Doch Petrus hielt sich nicht mit dem Betrachten der Statuen auf, sondern ging weiter. Den Raum, den sie jetzt betraten, wirkte im Vergleich zur Eingangshalle beinahe trist. Es stand nur ein einzelner Schreibtisch darin. Hinter diesem nahm nun Petrus Platz und wies auf einen weiteren Wolkenstuhl vor dem Tisch.
Während sich die federweiche Wolke an Kajas Körper anpasste, öffnete Petrus eine Schublade seines Schreibtisches und holte ein kleines Kästchen daraus hervor. Lange betrachtete er in Gedanken versunken, das braune, hübsch verzierte Kästchen. Es sieht wertvoll aus, dachte Kaja.
„Das will ich dir schenken! Du brauchst es nötiger als ich.“
Er überreichte Kaja das Kästchen. Ehrfürchtig nahm sie es entgegen. Sie warf Petrus einen scheuen Blick zu, doch dieser bedeutete ihr lächelnd es zu öffnen.
Das Kästchen war innen mit rotem Samt ausgekleidet und in der Mitte lag eine weiße Perle an einem filigranen silbernen Kettchen.
Kaja war so in der Betrachtung der Perle versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Petrus sie ansah. Kaja war anders. Nicht nur äußerlich. Nein! Auch, dass sie sich erfolgreich widersetzte ein wahrer Engel zu werden. Wenn man es genau bedenkt, überlegte Petrus, war sie auch als Mensch schon anders. Selbst die Umstände ihres Todes waren … seltsam. Doch darüber wollte er jetzt lieber gar nicht nachdenken. Ein Lächeln erhellte sein sorgenvolles Gesicht. Wenn es jemand schaffen konnte, dann Kaja. Man braucht für diesen Job jemanden, der anders war als die Engel, um Zugang zu den Menschen zu finden. Man braucht jemand, der anders war als die Menschen, um nicht vom Teufel beeinflusst zu werden. Man braucht jemanden wie Kaja. Und obwohl Petrus im Moment davon überzeugt war, dass Kaja es schaffen konnte, traf er Vorkehrungen. Die Perle war eine davon.
„Die Perle“, begann er und riss Kaja damit aus ihren Gedanken, „ist keine gewöhnliche Perle. Sie“ Petrus stockte. „Kaja, ist dir eigentlich klar, dass du dort unten sterben könntest?“
Falls Kaja erschrak, zeigte sie es nicht. Sie hat keine Angst, erkannte Petrus bewundernd. Sie ist schon ein seltsamer kleiner Engel.
„Die Perle schützt dich. Zwar nicht vor Verletzungen, aber zum größten Teil vor dem Tod. Die Perle nimmt von deiner Energie und gibt sie dir zurück, wann immer du sie brauchst. Wenn sie aufgeladen ist, kann sie dich sogar vor dem Tod schützen. Durch die zusätzliche Kraft der Perle können deine Verletzungen schneller heilen.“
Ungläubig starrte Kaja auf die unscheinbare Perle. Aber wieso wunderte sie sich darüber? Sie war schließlich im Himmel.
Wieder griff Petrus in den Schreibtisch und beförderte ein kleines Büchlein ans Licht. Es hatte einen smaragdgrünen Einband und ein kleines Schloss. Ein Tagebuch?, wunderte sich Kaja.
„Über dieses Buch kannst du mit mir kommunizieren, auch wenn du nicht zurück in den Himmel kommst. Alles, was du in dieses Buch schreibst“, Petrus deutete auf das smaragdgrüne Buch, „kann ich in diesem lesen.“ Der Engel holte ein blaues Buch aus der Schublade. Es glich dem Buch, das Kaja in der Hand hielt, nur war es eben blau.
„Ich werde deine Stimme im Himmel sein.“
Kaja reagierte nicht, blickte nur in Gedanken versunken auf die Perle. Sie kam ihr so bekannt vor. Wieso nur? Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge. Der Engel konnte sie nicht in Worte fassen. Sie waren verschwommen und … düster.
Petrus legte ihr die Hand auf die Schulter. „Komm!“
Nur schwerlich konnte Kaja die Bilder abschütteln. Sie machten ihr Angst und sie konnte noch nicht einmal sagen, wieso.
Petrus führte sie erneut durch die Eingangshalle, um am anderen Ende eine weitere Tür zu öffnen. Der Raum dahinter war leer. Nur eine weitere Tür führte wieder aus dem Raum hinaus. Aber Petrus blieb mitten in dem Raum stehen.
„Nun müssen wir uns verabschieden“, sagte er traurig. „Wenn du durch diese Tür gegangen bist, wirst du in der Eingangshalle deines neuen Zuhauses stehen. Ein Hochhaus mit vielen Bewohnern; du wirst nicht auffallen.“
Auf einmal überfiel Kaja die Angst. Was tat sie hier überhaupt? Wie konnte sie sich einbilden, dass sie, ein kleiner Engel, etwas auf der Erde ausrichten konnte? Sie war dort unten ganz allein! Doch schnell verdrängte Kaja die Zweifel wieder. Sie hatte sich dafür entschieden. Es gab kein Zurück.
„Willst du dir es nicht doch noch einmal überlegen? Jetzt ist die letzte Chance. Wenn du durch diese Tür gegangen bist, gibt es kein Zurück mehr.“, verschlimmerte Petrus ihre Zweifel. Doch Kaja straffte die Schultern, drückte das Kästchen und das smaragdgrüne Buch an ihre Brust und sagte: „Nein! Ich werde gehen!“
„Kaja, du musst das nicht tun.“, sagte Petrus, obwohl er wusste, dass nur Kaja es versuchen konnte.
„Doch … ich muss. Ich gehöre nicht hierher. Vielleicht kann ich auf der Erde mehr für Gott tun. Hier störe ich nur.“
Petrus wollte widersprechen. Doch er schluckte seine Einwände hinunter, als er in Kajas trauriges Gesicht sah. Sie meint, was sie sagt, erkannte er.
Schon komisch
, dachte Kaja. Die Menschen wünschten sich nichts sehnlicher als ein Engel zu werden und in den Himmel zu kommen und sie … sie wünschte sich nichts sehnlicher als dem Himmel zu entkommen.
„Ähm … ich werde mich dafür einsetzten, dass du, falls du stirbst wieder ein Engel wirst.“
Schnell wandte sie sich um. Petrus sollte die Tränen in ihren Augen nicht sehen.
Kurz bevor sie über die Schwelle in die Menschenwelt trat, drehte sie sich noch einmal um.
„Keine Sorge! Ich komme zurück!“
Kaum war Kaja über die Schwelle getreten, als ihre Umgebung verschwamm. Der Engel verlor den Boden unter den Füßen, ihr wurde schwindlig. Doch dieses Gefühl war sofort wieder vorbei, als sie festen Boden unter den Füßen spürte und ihre Umgebung wieder materialisierte.
Sie sog ihre Umwelt in sich auf. Wie sehr hatte sie das vermisst. Im Himmel war alles weiß und hier strömte ein buntes Sammelsurium an Farben auf sie ein. Die grünen Pflanzen neben der Tür, die schwarzen Bodenfließen, das Weiß der Wand, die bunt gekleideten Menschen auf der Straße, die der Engel durch eine riesige Fensterfront sehen konnte, die abstrakten Bilder an den Wänden der Eingangshalle, die grauen Briefkästen. Doch bevor sie ihre Umgebung weiter in Augenschein nehmen konnte, sackte Kaja zusammen. Ihre Beine trugen ihr Gewicht nicht mehr. Kaum verwunderlich. Seit sie im Himmel war, hatte sie ihre Beine nicht mehr gebraucht. Dort flog man. Mit einem leisen Stöhnen schlug sie auf den schwarzen Steinfliesen auf.
Aber bevor sie versuchen konnte, sich wieder auf die Beine zu quälen, wurde der Engel von seinem Spiegelbild, das sich in der großen Fensterfront spiegelte, in den Bann gezogen. Sie bekam Angst. Man wird sie entdecken!, war sie sich sicher. Wenn man es genau betrachtete, hatte sich das Mädchen überhaupt nicht verändert. Alles war wie gehabt. Ihre helle Haut hatte immer noch dieses seltsame Glitzern. Ihre Haare waren immer noch braun, ihre Augen blau. Nur die Flügel fehlten. Das strahlende Weiß ihres Engelkleides war zu einem normalen Weiß verblasst. Aber dennoch: Sie sah nicht aus wie ein Mensch.
Kaja war so in ihr Spiegelbild versunken, dass sie nicht mitbekam, wie die Eingangstür aufglitt.
Plötzlich aber bekam sie einen Tritt und jemand stolperte über sie.
Wütend richtete Kaja sich auf, doch der Junge, der ihr gegenübersaß, war schneller.
„Hey, pass doch auf, du dumme Kuh!“, fuhr der etwa gleichaltrige Junge auf.
Doch Kaja hatte es die Sprache verschlagen. Dieser Junge … war so vollkommen anders als die Engel. Er hatte kohlrabenschwarzes Haar mit einem seltsamen Schimmer darin. Dasselbe Schimmern überzog seine helle Haut. Seine Augen waren von einem tiefen Blau, beinahe schon Schwarz. Im Moment feuerten sie wütende Blitze auf Kaja ab, während der Junge sich aufrichtete und sich sein smaragdgrünes Buch schnappte.
„Hat es dir die Sprache verschlagen, oder was?“
„Ent…entschuldigung“, stammelte Kaja nur. Diese Wut, die ihr entgegenschlug … sie … Kaja hatte so etwas schon lange nicht mehr erlebt.
Wütend vor sich hin murrend, drehte sich der Junge um und verschwand im Aufzug.
Auch als sich die silbrige Aufzugtür hinter dem Jungen geschlossen hatte, war der Engel unfähig sich wieder auf die Beine zu stellen. Zutiefst verwirrt verharrte ihr Blick auf dem Aufzug. Ihre Gefühle verunsicherten sie. Da war Wut, Verwirrung, Angst und etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte.
Schließlich schüttelte sie den Kopf, stand entschlossen auf oder versuchte es jedenfalls. Doch erneut sackte sie zusammen. Nach dem dritten Versuch schaffte sie es sich wenigstens auf den Beinen zu halten. Sie nahm das Kästchen und das Buch, welche sie beim Sturz verloren hatte, wieder an sich. Schwankend lief sie zum Aufzug. Doch diesen Weg schaffte sie nicht ohne einen erneuten Sturz. Wieder quälte sie sich auf die Beine und schwankte weiter Richtung Fahrstuhl. Dort angekommen blieb sie zweifelnd stehen. Wohin? Doch dann fiel ihr auf, dass sie nicht nur Kästchen und Buch in der Hand hielt, sondern auch einen Schlüssel. 414, stand darauf. Entschlossen drückte Kaja den Knopf für die vierte Etage und ließ sich müde an der Fahrstuhlwand zu Boden gleiten. Ihre Füße trugen sie nicht mehr. Sanft setzte sich der Aufzug in Bewegung und fuhr Kaja in ihr neues Leben.

 

                                            *


Das Wochenende hatte Kaja damit zugebracht, sich zu erinnern, was es hieß ein Mensch zu sein und als sie am Montagmorgen vor ihrer neuen Schule stand, fühlte sie sich wieder wie ein Mensch. So als wäre sie nie weg gewesen, dachte sie. Nicht ganz, verbesserte sie sich sogleich selbst. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie, als sie noch ein Mensch war, die Auren der anderen hatte sehen können. Doch das konnte sie jetzt. Diese Fähigkeit war leider nicht mit ihren Flügeln verschwunden, hatte sich stattdessen verändert. Die Auren der Engel hatte Kaja nur spüren können, die der Menschen konnte sie sogar sehen.
Ein mürrischer Schüler holte Kaja abrupt aus ihren Gedanken, als er sie beinahe über den Haufen lief.
„Pass doch auf, Kleine!“, fuhr er den Engel wütend an.
Kopfschüttelnd sah Kaja ihm nach, wie er in der Menge verschwand. Dort fiel er nicht wirklich auf. Alle Schüler strömten mürrisch ins triste Schulhaus, das eigentlich nur ein grauer Betonquader mit Fenstern und Türen war, ohne ein Tüpfelchen Farbe. Alles grau in grau. Vor dem heute vorherrschenden grauen Himmel hob es sich kaum ab. Die Vorstellung dort hinein zu gehen, hob niemandens Laune an. Daher schloss sich Kaja ebenso mürrisch den Schülerstrom an.
Nach einem kurzen Abstecher ins Sekretariat, schlängelte Kaja sich mit einem Lageplan in der einen und einem Stundenplan in der anderen Hand durch die Schülermenge. Erfreut stellte sie fest, dass sie nicht verlernt hatte, was es hieß, sich in einem Schulhaus zu bewegen. Man musste mit dem Strom schwimmen und jede sich bietende Lücke nutzen, um an sein Ziel zu kommen.
Vor ihrem künftigen Klassenzimmer wurde das Mädchen von einer etwas fehl am Platz wirkenden Frau abgefangen. Alle Erwachsenen, denen Kaja in diesem Gebäude begegnet war, trugen entweder ein graues Kostüm oder einen schwarzen Anzug. Aber diese Frau trug Jeans und einen roten Pullover. Auch mit ihrem Alter fiel die Frau aus dem Konzept. Alle anderen waren teilweise schon weit über vierzig. Doch sie war knapp über dreißig. Wortlos, aber mit einem warmen Lächeln auf den Lippen legte die Frau Kaja den Arm um die Schultern und bugsierte sie in den Klassenraum.
Nach und nach wurde es still in dem Klassenzimmer. Schließlich standen alle brav hinter ihren Stühlen.
„Guten Morgen!“, grüßte die Frau mit klarer Stimme.
„Guten Morgen, Frau Geier!“, kam die Antwort in vielstimmigen Chor zurück.
„Setzt euch!“
Nachdem das Stühlerücken verklungen war und auch der letzte saß, verstärkte Frau Geier den Griff um Kajas Schulter, so als habe sie Angst, das Mädchen könne ihr weglaufen. Und damit hatte sie nicht einmal so unrecht. All die verschiedenen Eindrücke, die auf Kaja einströmten, waren beinahe zuviel für den Engel. Die vielen neuen Gesichter, die verschiedenen Auren, die ihre Mitschüler umgaben – ihr Facettenreichtum reichte von hellem weiß über grau bis hin zu fast schwarz – und auch die verschiedenen Blicke, mit denen sie gemustert wurde – viele wirkten gelangweilt, einige neugierig. Natürlich gab es auch – wie sollte es in einer Schule auch anders sein – abwesende Blicke. Aber das war es nicht, was Kaja verängstigte. Es waren die wenigen Blicke, die Hass widerspiegelten. Kaja bekam auf einmal große Angst. Sie wusste nicht, was diese Angst auf einmal ausgelöst hatte. Doch auf einmal sah sie ganz klar. Sie gehörte nicht hierher. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
„Darf ich euch vorstellen“, holte Frau Geier den Engel aus seinen finsteren Gedanken, „Kaja Müller.“
Leicht erstaunt registrierte sie ihren eigenen Nachnamen. Engel Petrus hat an alles gedacht, stellte sie bewundernd fest.
„Sie wird ab jetzt eure Klasse besuchen. Seid nett zu ihr. Kaja“, wandte sich Frau Geier an den Engel, „dort hinten ist noch ein Platz frei.“
Den Blick starr auf ihr Ziel gerichtet, lief sie durch die Reihen der Schüler, immer verfolgt von ihren Blicken. Erleichtert sank sie auf den Stuhl in der letzten Reihe. Richtig aufatmen konnte sie aber erst, als Frau Geier mit dem Unterricht begann. Langsam wandten sich die meisten Blicke wieder nach vorne. Erst dann wagte der Engel seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Der Platz neben ihr war frei. Ob er das immer war oder ihr Banknachbar einfach nur krank war, ließ sich nicht feststellen.
Das Gefühl beobachtet zu werden, ließ sie aufsehen. Suchend sah sie sich in den Klassenzimmer um. Doch als sie ihren Beobachter fand, konnte sie es kaum glauben.Der Junge aus dem Hochhaus! Er saß hier inmitten all dieser Schüler und wirkte seltsam fehl am Platz. Kaja konnte nicht in Worte fassen, wieso sie dieser Junge in diesem kahlen Klassenzimmer störte. Vielleicht war es sein Aussehen, das ihn von den anderen unterschied. Das seltsame Schimmern seiner Haut und seines Haares, das Kaja bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war, umgab ihn auch jetzt. Vielleicht war es aber auch die Art, wie er sich gab. Lässig lehnte er auf seinem Stuhl. Es wirkte nicht, als säße er in einem Klassenzimmer, sondern in einem Café. Dazu noch dieses schelmische Lächeln, mit dem er sie angrinste. Unverwandt blickte er den Engel an. Dieser senkte irritiert, schüchtern den Blick. Doch nicht für lange. Der Junge zog ihren Blick beinahe magisch an. Und als sich ihre Blicke wieder trafen, hielt sie ihm stand. Irgendetwas störte sie an diesem Bild. Es war nicht sein Aussehen. Es war nicht sein Verhalten. Es war … und plötzlich wusste Kaja, was sie so sehr störte. Seine Aura. Er hatte keine. Von jedem in diesem Raum, von jedem, der ihr bis jetzt begegnet war, ja, sogar von den Engeln, konnte sie die Auren sehen oder wenigstens spüren. Nur von ihm nicht.
„Hey, kannst du vergessen.“
Erschrocken wandte Kaja den Kopf.
„Stimmt schon, der ist wirklich süß“, meinte das blonde Mädchen vom Nebentisch. „Aber der redet mit niemanden von uns. Ist sich wohl zu gut dafür. Aber er ist wirklich verdammt süß“, schwärmte das Mädchen.
Mit einem nicht zu deutenden Lächeln wandte sich der Junge der Tafel und Kaja sich dem Mädchen zu.
„Hi, ich bin Aleyna“, lächelte das Mädchen.
Kaja hätte die helle Aura des Mädchens nicht sehen müssen, um zu wissen, dass sie nett war.
„Kaja.“
„Weiß ich doch“, lachte das Mädchen. „Ein guter Rat: Lass die Finger von ihm. Er würde dich ja doch nicht beachten.“
Kaja wollte noch mehr fragen, doch da unterbrach Frau Geier ihr Gespräch.
„Aleyna, kannst du mir die Antwort sagen.“
Aleyna begann zu stottern und Kaja schaltete ab. Hier war die Welt noch in Ordnung.
Der Pausengong erklang und Frau Geier verließ den Raum.
Unschlüssig blieb Kaja auf ihrem Platz und sah sich plötzlich von ihren neuen Mitschülern umringt. Alle bestürmten sie mit Fragen. Verwirrt blieb Kaja stumm. Welche Frage sollte sie zuerst beantworten? Als sie sich gerade dazu entschlossen hatte, von ihrem Umzug zu berichten, ließ eine neue Stimme sie aufhorchen.
„Ach, das Mädchen vom Boden.“ Die Stimme war weich, melodisch und jedes einzelne Wort wurde klar ausgesprochen.
„Ach, der Junge ohne Augen“, erwiderte Kaja. Doch plötzlich fiel ihr die ungewöhnliche Stille auf, die sie umgab. Alle starrten sie ungläubig an. Da fiel ihr auf, was sie eben getan hatte.
„Sagtest du nicht, er redet mit niemanden?“, wandte Kaja sich fragend an Aleyna.
„Tue ich normalerweise auch nicht“, grinste der Junge aus dem Hochhaus. „Hi, mein Name ist Zess. Willst du mit mir zum Essen gehen?“
Ungläubiges Schweigen legte sich über das Klassenzimmer. Die Gedanken der anderen waren nicht schwer zu erraten. Erst antwortet Zess nur auf Fragen der Lehrer und jetzt redet er mit der Neuen.
„Oh … ja … gerne“, stotterte Kaja. Seine dunklen Augen hatten sie in Beschlag genommen. Sie konnte nicht anders. Sie musste ihn einfach anstarren. Noch dazu ihre Gefühle, die sich nicht in Worte fassen ließen. Was war nur los mit ihr? Kaja war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
„Komm mit!“, lachte Zess, als er nach ihrer Hand griff, da sich der Engel nicht rührte. Bei seiner Berührung explodierte ein wahres Feuerwerk an Gefühlen in Kajas Körper. Glück, Zufriedenheit, Angst, aber auch eine seltsame Vertrautheit und etwas, das Kaja nicht kannte. Etwas, das ihren gesamten Körper ausfüllte, etwas das stärker war als die Angst, aber auch als das Glück.
Auch Zess schien auf einmal seltsam verwirrt. Doch dann kehrte das Lächeln auf sein Gesicht zurück, breiter als zuvor. Er wirkte auf einmal sehr fröhlich, so als wolle er tanzen und Kaja konnte es ihm nachempfinden. Sie fühlte genauso. Auf einmal war die ganze Angst, das ganze Sich-Beobachtet-Fühlen verschwunden. Sie fühlte sich nur noch glücklich und seltsam behütet, als sie Zess durch das Schulhaus folgte. Die sie verfolgenden Blicke ihrer Mitschüler fielen Kaja schon noch auf, doch sie schüchterten sie nicht mehr so ein. Auf einmal wusste sie: Sie war nicht allein. Als sie an diesem Morgen allein durch das Schulhaus lief, war sie schutzlos. Doch nun war Zess bei ihr. Wahrscheinlich wäre es genauso gewesen, wenn sie mit Aleyna zum Mittagessen gegangen wäre., dachte sie. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es nicht das Gleiche gewesen wäre.
In der Mensa angekommen, steuerte Zess zielstrebig einen Tisch am anderen Ende des großen Raumes an. Dieser Tisch war frei, obwohl alle anderen schon fast vollbesetzt waren. Zess ließ sich auf einen der sechs Stühle sinken und der Engel nahm neben ihm Platz.
Oft hörte Kaja die Frage „Ist hier noch frei?“. Doch nie kam jemand an ihren Tisch. Es schien als machten alle einen großen Bogen um diesen Tisch. Zess schien das zu belustigen.
„Sitzt du immer allein?“, wollte Kaja wissen.
„Ja“, gab er ohne Umschweife zur Antwort.
„Aber wieso hast du mich dann eingeladen?“
„Du bist etwas Besonderes.“
Kaja erschrak.Sollte er wissen …?
Aber Zess ging nicht weiter darauf ein und Kaja versuchte sich zu beruhigen. Woher sollte er es denn wissen?
Sie redeten über Belanglosigkeiten wie über die Schule und ob es Kaja in der Stadt gefiel.
Am Ende der Pause dann stellte Zess noch eine letzte Frage: „Woher kommst du?“ Seine Augen glitzerten erwartungsfroh.
„Früher habe ich in Wampersreuth gewohnt“, antwortete Kaja. Doch diese Antwort schien Zess zu verärgern. Wortlos stand er auf und verließ die Mensa. Verwirrt blickte Kaja ihm hinterher. Was hatte er denn jetzt?
Schulterzuckend stand schließlich auch sie auf und ging zurück in ihr Klassenzimmer.
Kaja konnte den Blick nicht von Zess abwenden, doch dieser schien sie nicht mehr zu beachten. Was hab ich getan?, fragte Kaja sich verzweifelt. Es schmerzte den Engel, obwohl sie Zess noch gar nicht so lange kannte.
Auch in der nächsten Pause wurde Kaja von Zess ignoriert. Traurig saß sie an einem Tisch und sah zu Zess hinüber, der allein an seinem Tisch saß. Doch dieser starrte stur geradeaus. Er schien über irgendetwas extrem wütend zu sein.
Auf dem Weg zurück zum Klassenraum versuchte Kaja Zess anzusprechen. Doch dieser beschleunigte, ohne sie eines Blickes zu würdigen, seinen Schritt und verschwand in der Menge. Zutiefst verletzt blieb Kaja mitten auf dem Gang stehen. Schwer nur konnte sie die Tränen zurückdrängen. Der Engel verstand seine Gefühle nicht. Wieso ging es ihr so nah, das ein ihr bis dahin unbekannter Junge nicht mehr mit ihr reden wollte?
Abwesend saß der Engel die restlichen Stunden ab. Aber immer wieder schweifte ihr Blick zu Zess, der sie aber weiterhin ignorierte.
Doch Aleyna gelang es ihre Traurigkeit zu durchbrechen. Oftmals drehte sie sich zu Kaja und fragte sie aus. Die einsilbigen Antworten schienen sie dabei gar nicht zu stören.
„Wo wohnst du?“, war eine ihrer ersten Fragen.
„Sonnenallee 31.“
„Cool! Dann wohnen wir ja im gleichen Haus.“ Es war nur kurz still, dann war Aleyna auch schon etwas Neues eingefallen. „Wollen wir zusammen heimgehen?“
Kaja hatte ohne an die Folgen zu denken zugestimmt. Und die Folgen waren immens. Ihre neue Freundin war eine richtige Plaudertasche. Es gab nur kurze Momente, in denen sie still war. Ihre erste Freundin auf der Erde, dachte Kaja und ihr Herz wurde kurzzeitig ganz warm und angefüllt mit Freude. Doch dann kam die Trauer, der Ärger zurück und wieder fragte sie sich: Wieso ging es ihr so nahe, dass Zess sie nicht mochte? Es war schließlich ganz normal, dass man nicht alle leiden konnte.
„Wahnsinn!“, holte Aleyna sie aus ihren Gedanken, als sie das Schulhaus verließen. „Erst redet Zess überhaupt nicht mit uns und dann redet er mit dir, der Neuen.“
Die Erwähnung seines Namens verursachte bei Kaja einen Stich mitten ins Herz. Wieso tut es so weh?
 Doch Aleyna schien es nicht zu bemerkten. Sie plapperte einfach munter weiter.
„Und dann hat er dich auch noch mit zum Essen genommen. Bei ihm durfte noch nie jemand sitzen. Und glaub mir, es haben schon viele versucht. Mit dir zusammen war er sogar fröhlich.“ Aleyna begann eine Lobeshymne auf Zess. Wie schön er doch war. Aber Kaja wollte das nicht hören. Angestrengt versuchte sie wegzuhören.
„Kaja, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Aleyna leicht vorwurfsvoll.
„Oh! Was?“ Verwirrt registrierte der Engel, dass sie sich bereits im Fahrstuhl befanden.
„Ich muss hier raus.“, lachte das Mädchen. „Tschüss! Bis morgen!“ Aleyna war schon im Gehen begriffen, als sie sich noch einmal umwandte. „Treffen wir uns morgen früh in der Eingangshalle?“
Kaja nickte nur.
„Okay, dann bis morgen um sieben.“, lachte Aleyna und verließ den Fahrstuhl.
Aleyna hätte ein Engel sein können. So fröhlich. So sorglos. So unbeschwert.
, stellte Kaja traurig fest. Wehmütig dachte der Engel an den Himmel. Vielleicht hätte sie nicht gehen sollen, dann wäre sie jetzt nicht so niedergeschmettert. Sie wäre gelangweilt. Aber Langeweile schmerzt nicht.
Kaum war sie in der Wohnung angekommen, als sie auch schon den Fernseher einschaltete. Es war nicht so, dass sie etwas sehen wollte. Sie tat es nur, damit die Stille nicht so laut wurde.
Auch am nächsten Tag änderte sich Zess‘ Verhalten nicht. Es veränderte sich die ganze nächste Woche nicht. Ihre Mitschüler erklärten sich diesen Verlust des Interesses damit, dass es nur die Faszination des Neuen war. Doch Kaja wollte diese Erklärung nicht gelten lassen. Es musste eine andere geben. Alles andere würde zu sehr schmerzen. Doch selbst das Nachdenken über eine andere Erklärung schmerzte, sodass Kaja versuchte sich abzulenken. Sie versuchte verzweifelt anderen zu helfen. Ihr selbst war nicht klar, dass es nur ein Ablenkungsversuch war. Doch auch dieser Ablenkungsversuch schmerzte. Denn oftmals wurde ihre Hilfe schroff abgeschlagen.
Niedergeschlagen verließ der Engel das Schulhaus und machte sich an diesem trüben Tag auf den Heimweg.
„Lassen Sie mich Ihnen helfen!“, rief Kaja, als sie auf eine ältere Dame mit ihren Einkäufen aufmerksam wurde, die am Straßenrand stand und immer wieder nach rechts und links blickte. Schnellen Schrittes ging Kaja auf die Dame im grauen Kostüm und einer ebenso grauen Aura zu und bot ihr helfend ihre Hand an. Der Blick der Frau war erst ungläubig, dann ängstlich und ging schließlich über in Verärgerung. Kaja registrierte diese Gefühlsveränderung, doch verstand sie es nicht.
„Hilfe! Polizei! Hilfe, sie will meine Tasche! Polizei! Hilfe ein Dieb!“, schrie plötzlich die Dame los.
Die Menschen auf dem Bürgersteig drehten sich interessiert um. Keiner machte jedoch Anstalten einzugreifen. Doch Kaja fiel diese fehlende Hilfsbereitschaft nicht auf. Sie bekam Panik und lief weg. Sie rannte, rannte immer weiter, bis die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel. Völlig außer Atem sank sie an der Tür zu Boden. Noch konnte der Engel nicht fassen, was soeben geschehen war. Sie wollte doch nur helfen. Irgendwann gewann die Erkenntnis an Kraft, wurde so stark, dass Kaja sie nicht mehr ignorieren konnte. Wie sollte sie Hoffnung, Liebe in die Herzen der Menschen bringen, wenn sie sich noch nicht einmal helfen ließen?
Mit tränenverhangenen Blick kämpfte Kaja sich schließlich auf, ging zum Bücherregal und holte das Buch, das Engel Petrus ihr gegeben hatte und schrieb einen Satz, der alles verändern sollte:


Engel Petrus, ich kann den Menschen nicht helfen, wenn sie sich nicht helfen lassen wollen.

 

                                            *


So, so
, dachte der Besitzer des Buches. Ein Engel auf Erden? Dann wollen wir mal sehen, dass wir unseren Spaß mit dir haben. Ein gänsehauterregendes Lachen erklang aus seinem Mund. Ja, mein kleiner Engel, du hättest nicht auf die Erde kommen sollen.

 

                                             *


Kaja saß auf dem Sofa, wirkte abwesend. Aber in ihr arbeitete es. Sie konnte nicht zurück in den Himmel, wenn sie ihren Auftrag nicht erledigt hatte. Außer natürlich sie starb. Aber daran wollte der Engel nicht denken. Diese Möglichkeit wollte es nicht in Betracht ziehen. Doch wie sollte sie den Auftrag erfüllen, wenn die Menschen nicht zuließen, dass sie ihnen Liebe und Hoffnung, neuen Mut geben wollte? Kajas Gedanken drehten sich im Kreis. Doch immer wieder hatte sie denselben Gedanken. Sie konnte nichts tun!
Plötzlich kehrte sie aus ihren Gedanken in die Realität zurück. Irritiert sah sie sich um. Dann wurde sie auf die Nachrichtenmoderatorin aufmerksam.
„Die Verbrechen von bisher unauffälligen Personen häufen sich. Liebende Väter werden zu eiskalten Tyrannen, fürsorgliche Ärzte zu Mördern. Dies sind nur zwei Beispiele, von hunderten. Familie, Freunde, Bekannte, alle bekräftigen, dass der Täter sich von einen Tag auf den anderen komplett verändert hat. Es scheint, als wären sie vom Bösen besessen.“
Vom Bösen besessen,
hallte es in Kajas Kopf wider.
Langsam stand der Engel auf und holte das Buch und begann zu schreiben.


Mir tut es leid, was ich gerade geschrieben habe, Engel Petrus.
Ich habe jetzt eine Idee, wie ich helfen kann. Es gibt Menschen, die vom Bösen besessen sind. Ich will so einen Menschen sehen. Dann kann ich helfen.

 

                                            *


Wenn das dein Wunsch ist, kleiner Engel, soll er dir erfüllt werden.
, dachte der Besitzer des Buches.

 

                                             *


Kaja saß an diesem Morgen auf ihrem Platz in der letzten Reihe und beobachtete ungläubig ihre Mitschülerin Jessica.
Diese stand breitbeinig vor Max, dem Basketball-Star der Schule und machte ihn fertig. Kaja aber irritierte nicht nur die Situation, vielmehr störte sie Jessicas Aura. Einstmals in hellem Grau, erstrahlt sie nun in Tiefschwarz. So eine dunkle Aura hatte der Engel noch nie gesehen. Aufgrund der Veränderung ihrer Aura war die Veränderung von Jessicas Verhalten nicht mehr verwunderlich. Früher war Jessica ein ruhiges, zurückhaltendes beinahe ängstliches Mädchen. Sie hatte sich alles gefallen lassen und das hatten einige ausgenutzt. Darunter auch Max und das Basketball-Team. Jessica war immer das Opfer ihrer Scherze. Doch nie hatte sie sich gewehrt. Bis heute.
„Du glaubst, du darfst mich ungestraft niedermachen?“, schrie Jessica wütend und sprang auf. Max war an ihr vorbeigegangen und hatte ihr – wie so oft – an den Haaren gezogen.
Max drehte sich um und grinste. Doch bevor er einen Ton sagen konnte, kam ihm Jessica zuvor. Sie griff in sein kurzes, blondes, zu Stacheln aufgestelltes Haar und zerrte daran. Erschrocken schrie Max auf.
„Wie gefällt dir das?“, schrie Jessica.
Verzweifelt versuchte Max sich zu befreien. Doch Jessica war stark, stärker als sie sein dürfte.
Auf einmal war Kaja klar, was sie vor sich sah. Jessica war besessen! Und sofort stellte sie sich die alles verändernde Frage: Wie konnte sie Jessica helfen?
Doch bevor sie sich weiter mit dieser Frage beschäftigen konnte, trat der Lehrer ein und Jessicas Verhalten änderte sich erneut. Sie ließ Max‘ Haare los und setzte sich auf ihren Platz. Es schien, als wäre das nie geschehen. Max sah sie entsetzt an. Doch dann ging auch er wortlos zu seinem Platz.
Der Unterricht verlief ohne Störungen. Doch Kaja bekam nichts davon mit. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um Jessica und wie sie ihr helfen konnte. Doch sie kam bis zum Ende des Schultags zu keiner Lösung.
In der allgemeinen Aufbruchsstimmung hatte sie plötzlich diese Eingebung. Sie wusste, was zu tun war. Sie wusste nicht, woher dieser Eingebung gekommen war. Doch wusste sie, dass es richtig war und dass sie jetzt handeln musste.
Jessica sprang auf und verließ das Klassenzimmer. Kaja beeilte sich ihr hinterherzukommen.
„Jessica!“
Erst auf dem Pausenhof holte Kaja das Mädchen ein. Sie hielt sie am Arm fest. Plötzlich spürte sie wie sich von ihren Fingerspitzen eine Kälte über ihren gesamten Körper ausbreitete. Erschrocken ließ der Engel den Arm des Mädchens los.
„Was willst du?“, knurrte Jessica.
„Ich will dir helfen.“
„Ich brauche keine Hilfe.“
Tief in sich wusste der Engel, dass er das Richtige tat, als er befahl: „Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“
Jessica lachte. Doch dieses Lachen ließ Kaja erschaudern. Es war nicht Jessicas Stimme, es war der Dämon, dessen Lachen aus Jessicas Mund kam.
Und dann auf einmal spürte Kaja etwas, von dem sie dachte, dass sie es bis zu ihren erneuten Tod nicht mehr spüren würde. Ihre Flügel! Sie spürte den Flügelansatz zwischen ihren Schulterblättern. Erschrocken sah sich der Engel um. Doch der Hof war verlassen. Kaja wunderte sich kurz wo die Schüler waren, die eigentlich aus dem Schulhaus strömen sollten. Doch dann erblickte sie ihre Flügel und alle anderen Gedanken waren wie weggeblasen. Das waren nicht die großen weißen Flügel, die sie im Himmel noch gehabt hatte. Sie waren anders. Sie waren durchschimmernd und durchzogen von silbernen Ornamenten. Und sie waren kleiner, wirkten zierlicher.
Kaja stand nun mit diesen wunderschönen neuen Flügeln von einem Mädchen, dessen Augen schwarz geworden waren.
„Ein Engel!“; zischte der Dämon durch Jessicas Mund.
Kaja trat wortlos vor, hielt den Dämon mit ihren Augen fest. Der Dämon wollte fliehen. Doch der Panik in seinen Augen sah man an, dass er wie gelähmt war. Der Engel trat noch einen Schritt auf Jessica zu und schloss sie in die Arme. Sie spürte, wie sich ihre Flügel um Jessica wölbten und dann spürte sie Jessicas Körper in ihren Armen zittern. Kaja verstärkte ihre Umarmung. Sie wusste, dass sie das Mädchen nicht aus ihrer Umarmung lassen durfte. Sie wusste nicht wieso, doch tief in sich drin hatte sie das Gefühl das Richtige zu tun.
Auf einmal waren sie von einem hellen, weichen Licht umgeben. Jessica fing an zu schreien. Sie schrie, schrie sich die Seele aus dem Leib.
Kaja drückte sie fest an sich. Sie spürte die Kälte, die von dem Mädchen ausging.
Noch einmal wiederholte Kaja den Befehl, den sie schon einmal ausgesprochen hatte: „Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“
Und auf einmal veränderten sich die Schreie. Es war nicht mehr Jessica, die schrie – nein – es war der Dämon. Seine hohen, verzweifelten Schreie, schmerzten Kaja in den Ohren, doch ließ sie Jessica nicht los.
„Nein!“, kreischte der Dämon und auf einmal war es still.
Jessica sank in sich zusammen. Vorsichtig legte Kaja das bewusstlose Mädchen auf den Boden und sah sich verwundert um. Sie konnte nicht glauben, was eben passiert war. Doch wusste sie, was geschehen war. Sie hatte den Dämon vertrieben. Aber dieses Hochgefühl wurde von einem Gefühl zwischen ihren Schulterblättern vertrieben, oder eben von dem Fehlen dieses Gefühls. Ihre Flügel waren weg. Sie brauchte nicht hinzusehen, um dies zu wissen und doch tat sie es. Erschrocken sog sie die Luft ein. Es war nicht das Fehlen ihrer Flügel, weshalb sie erschrak – das wusste sie ja bereits – es war die Person, die hinter ihr stand.
„Aha, ein Engel!“


                                                *


Du bist besser als ich gedacht habe, mein kleiner Engel. Leider. Mal sehen wie es dir gefällt, wenn ich auf die Erde komme.


                                                       *


„Z…Zess“, stotterte Kaja. Sie war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
„Komm, ich bring dich nach Hause.“ Zess ergriff Kajas Hand und führte sie weg. Ein unerklärliches Glücksgefühl breitete sich ihn dem Engel aus.
Da endlich setzte Kajas Denken wieder ein. „Aber Jessica.“
Der Junge wandte sich um, sah erst den Engel und dann das bleiche am Boden liegende Mädchen verständnislos an. Sofort aber wurde das Verständnislose von einer nicht zu deutenden Miene abgelöst, die ihn so cool erscheinen ließ.
„Wir bringen sie ins Krankenzimmer“, sagte er schließlich und ließ Kajas Hand los. Plötzlich ergriff Kaja eine Traurigkeit, die sie selbst nicht verstand. Er hob Jessica mit einer Leichtigkeit auf, als wöge sie nichts. Auf dem Weg ins Krankenzimmer sah er sich immer wieder besorgt nach Kaja um. Der Engel war bleich und schwankte leicht.Die Vertreibung des Dämons musste sie viel Kraft gekostet haben, erkannte er.
Als sie Jessica mit der Ausrede sie hätten das Mädchen bewusstlos gefunden, in der Obhut der Krankenschwester zurückließen, ergriff Zess wieder Kajas Hand. Wieder breitete sich dieses Glücksgefühl in dem Engel aus. Wie ein Blitz fuhr es von ihrer Hand durch ihren gesamten Körper.
„Komm, kleiner Engel, gehen wir nach Hause.“
Willenlos folgte Kaja dem Jungen. Kleiner Engel. Diese zwei Worte brachten Kaja schmerzhaft in Erinnerung, was Zess gesehen hatte. Wieso hatte er keine Angst?, fragte sich Kaja. Doch sofort fand sie eine Antwort darauf. Keiner hat Angst vor einem Engel!
Der Nach-Hause-Weg verlief in tiefem Schweigen. Zess grinste vor sich her, wirkte vergnügt; Kaja hingegen wirkte betrübt.
Im Fahrstuhl auf dem Weg in den vierten Stock, fand Zess seine Sprache wieder. „Wieso hast du es mir nicht gesagt? Hast du nicht gespürt, dass ich nicht wie die Menschen bin? Ich bin wie du … ein Grenzgänger.“
Verständnislos sah der Engel ihr Gegenüber an. „Ein Grenz-was?“
„Ein Grenzgänger.“ Zess runzelte die Stirn. Sollte sie etwa nicht wissen…?
„Ein Grenzgänger?“, fragte Kaja.
„Du weißt nicht, was das ist?“, fragte Zess. Er klang beinahe entsetzt. Sollte er wirklich unberechtigt auf sie sauer gewesen sein?
Der Engel blieb stumm, sah ihn einfach nur fragend an.
„Wie … wie oft bist du schon gestorben?“, fragte Zess plötzlich einen Verdacht habend.
Verwirrt runzelte Kaja die Stirn. „Ein Mal.“
Zess Gesicht wurde von einem Grinsen erhellt. Sie konnte es nicht wissen! Er lachte glücklich los. Ihm war es egal, was der Engel nun von ihm dachte, aber er war einfach nur froh, dass die Angelegenheit nun geklärt war. Sie hatte ihn nicht angelogen. Kaja sah ihn zweifelnd an. Deutlich waren auf ihrem Gesicht, ihre Gedanken abzulesen. War er verrückt geworden?
„Was ist ein Grenzgänger, Zess?“, fragte Kaja ungeduldig, als sich der Junge langsam beruhigte.
Irritiert hob Zess die rechte Augenbraue. Ein ungeduldiger Engel? Dann lächelte er und begann zu erklären: „Du bist ein Engel.“
„Zess, stell dir vor, das weiß ich schon.“
Der Junge lachte auf. „Kaja, sei nicht so ungeduldig. Lass mich erzählen!“
Verstimmt schränkte Kaja die Arme und wartete.
„So ist es brav, kleiner Engel.“ Doch bevor Kaja ihren Unmut äußern konnte, sprach Zess schnell weiter: „Also es gibt Engel, Menschen, Dämonen. Das müsstest du wissen.“
Zess wartete auf eine Äußerung des Engels. Doch Kaja blieb stumm.
„Aber es gibt noch mehr. Es gibt uns. Es gibt Grenzgänger. Noch eine Frage: Weißt du, wie entschieden wird, ob du ein Engel oder Dämon wirst?“
„Es hängt davon ab, welches Leben man als Mensch geführt hat. Mit einem guten Leben wird man Engel, mit einem schlechten Leben, wird man ein Dämon.“, leierte Kaja gelangweilt das herunter, was sie als Mensch und auch als Engel gelernt hatte.
„Und genau das ist das Problem. Denn so stimmt es nicht. Ein Mensch stirbt und dann beginnt ein Wettlauf. Engel und Dämonen versuchen die körperlose Seele als erster zu erreichen. Denn der Erste gewinnt die Seele für sich. Das Leben des Menschen spielt keine Rolle, denn nach dem Tod kann er sich nicht mehr daran erinnern.“
Wieder überzogen Falten Kajas Stirn.
„Du kannst dich an dein Leben erinnern, hab ich Recht, Kaja?“
Der Engel nickte.
„Das ist ein Merkmal für Grenzgänger. Aber es gibt noch mehr, was uns von den normalen Engeln oder Dämonen unterscheidet. Du kannst etwas, was kein anderer Engel kann. Jeder Grenzgänger hat eine eigene, ganz besondere Fähigkeit.“
„Aber … aber wie wurde ich ein Engel, wenn ich Grenzgänger bin?“
„Grenzgänger leben unter den Menschen, meist unerkannt. Nur bei wenigen wird ihre Fähigkeit schon als Mensch offensichtlich. Aber wenn dem so ist, ist der Kampf um die Seele unerbitterlich. Jeder – Engel und Dämonen – wollen einen Grenzgänger unter sich wissen.“
„Aber … aber wieso?“
„Grenzgänger sind mächtig, mächtiger als jeder andere Engel, Dämon oder Mensch. Deswegen sind Grenzgänger immer die Führenden unter den Engeln, Dämonen aber auch unter den Menschen. Aber sie gehören nirgends dazu. Sie sind weder Mensch, noch Dämon, noch Engel. Sie sind eine eigene Spezies.“
Traurig senkte Kaja den Blick. Damit hatte sich die Frage nach ihrer Zugehörigkeit geklärt. Sie gehörte nirgends dazu.
Zess verstand Kajas Traurigkeit, spürte er sie doch selbst. „Aber du bist nicht allein.“, meinte er mitfühlend, griff nach ihrer anderen Hand und drückte sie fest. „Ich bin wie du – ein Grenzgänger.“
Der Engel sah auf, doch die Traurigkeit war nicht aus seinem Blick gewichen.
„Oh, kleiner Engel“, sagte Zess mit belegter Stimme und nahm sie in den Arm. Steif stand der Engel in dieser Umarmung. Sanft strich er ihr übers Haar. „So lange habe ich gedacht, ich wäre allein, in diesem Teil der Menschenwelt.“
Irritiert horchte Kaja auf. Zess war genauso einsam wie sie, erkannte der Engel. „Jetzt sind wir nicht mehr allein“, sagte der Engel und erwiderte Zess‘ Umarmung. Es war nicht ganz klar, wem dieser Satz galt. Sollte er nun Zess beruhigen oder den Engel selbst?
„Ja, jetzt haben wir uns!“ Auf einmal spürten beide eine tiefe Verbundenheit.
Erst jetzt registrierte Kaja, dass sie in einer Wohnung standen. Es war aber nicht ihre. Zess‘ Wohnung, erkannte sie schließlich.
„Willst du dich setzen?“, fragte der Junge, als sie sich endlich aus der Umarmung lösten. Doch ihre Hände blieben ineinander verschlungen. Beide spürten sie dieses unnatürliche Glücksgefühl, das immer dann Einzug in ihre Körper erhielt, wenn sie sich berührten. Und beide kannten auch, die immense Trauer, wenn sie sich trennten.
Kaja konnte sich diese Gefühle nicht erklären. Noch nie hatte sie solch starke Gefühle gespürt. Sie sah in Zess selig lächelndes Gesicht. Nichts war mehr von dem Jungen geblieben, den sie kennen gelernt hatte. Zess war in dem Klassenzimmer gesessen, unbeteiligt, beinahe griesgrämig. Doch nun stand er lächelnd vor ihr.
Auch auf dem schwarzen Designersofa sitzend, ließen sie sich nicht los.
„Wieso bist du auf der Erde?“, wollte Zess wissen.
„Ich habe einen Auftrag.“
Zess sah sie verwirrt an. Der Junge hatte mit etwas in Richtung Vom Himmel ausgeschlossen eben ein gefallener Engel erwartet. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, sich an die anderen anzupassen, wenn man anders war.
„Einen Auftrag?“
Kaja fragte sich kurz, ob sie das Zess erzählen durfte. Doch dieses Glücksgefühl, das ihren Körper durchströmte, verhinderte Zweifel.
„Ich wurde geschickt, um gegen den Teufel anzutreten.“
„Gegen den Teufel antreten?“, unterbrach Zess ungläubig den Engel.
„Ja, ich soll den Menschen Hoffnung und Liebe bringen.“
Zess sah sie erst geschockt an, dann brach er in lautes Lachen aus.
„Was?“ Kaja war verstimmt. Er traute ihr das nicht zu.
„Was für einen Teufel hättest du gern? Mit Holzbein, Pferdefuß oder mit drei goldenen Haaren?“
Verständnislos blickte Kaja ihr Gegenüber an.
„Kaja, es gibt keinen Teufel. Er ist nur eine Erfindung der Menschen. Durch ihn wollen sie sich erklären, wieso es ihnen so schlecht geht, wieso Gott ihnen nicht hilft.“
Mit großen Augen sah der Engel den Jungen an. Es musste einen Gegenspieler zu Gott geben. Gott war gütig. Er würde nie zulassen, dass Menschen dieses Leben führen mussten.
„Ich werde meinen Auftrag trotzdem ausführen.“
„Und wie willst du das tun?“
„Ich weiß nicht so genau, vielleicht gegen die Dämonen des Teufels kämpfen.“
„Kaja, ich hab dir doch eben gesagt, dass es keinen Teufel gibt.“
„Vielleicht gibt es keinen Teufel, aber irgendetwas Böses muss es geben.“, war Kaja überzeugt.
„Wieso muss es etwas Böses geben? Kann es nicht sein, dass das Leben der Menschen von Gott gewollt ist?“
„Nein!“, widersprach der Engel heftig.
Zess erschrak. Ein wütender Engel! Du bist schon seltsam, kleiner Engel. Wie konntest du dich nur so erfolgreich gegen ihre Lebensweise wehren? Zess wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, wie schwer, beinahe unmöglich, es ist, sich gegen die Lebensweise zu wehren, wenn man noch nicht einmal wusste, dass man ein Grenzgänger ist.
„Gott ist gütig. Er würde so etwas nie zulassen. Es muss etwas Böses geben!“
„Wenn Gott so gütig und so allmächtig ist, wie du sagst, dann erklär mir, wieso es auf der Welt so aussieht. Sieh dir die Menschen an. Sie leiden. Wieso hilft Gott ihnen nicht? Ist er dazu nicht mächtig genug?“
„Der Teufel ist eben zurzeit mächtiger.“
„Hab ich dir nicht gerade schon gesagt, dass es keinen Teufel gibt? … OK“, sagte er schließlich und hob abwehrend die Hände, bevor Kaja erneut widersprechen konnte. „Aber dann will ich dir dabei helfen.“ Es sah aus als fiele es Zess schwer, dieses Angebot auszusprechen. Was tue ich hier?, fragte sich der Junge verwirrt.
„Nein.“, antwortete der Engel traurig. „Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Außerdem hast du einen eigenen Auftrag.“
„Einen Auftrag?“, fragte Zess entgeistert.
„Ja.“ Kajas Stimme klang zweifelnd. „Man kann doch nur mit einem Auftrag auf die Erde kommen.“
„Ach ja! Der Befehl. Aber das ist kein Problem. Er widerspricht deinem Auftrag nicht.“ „Nicht wirklich“, murmelte Zess. Doch dies hörte Kaja nicht. Sie war von dem Wort Befehl irritiert.
„Hast du Hunger?“, änderte Zess abrupt das Thema.
Der Rest des Abends verlief mit gemeinsamen Kochen und unverfänglichen Themen.


                                                   *

 
„Darf ich vorstellen“, begann der Direktor am nächsten Morgen, „das ist Herr Luzifer, euer neuer Klassenlehrer.“
Vor der Klasse stand ein junger, gertenschlanker, durchtrainiert wirkender Mann mit einem wirklich schönen Gesicht. Von seinen schwarzen Augen wirkte die Klasse wie gebannt. Das helle Gesicht wurde von langen schwarzen Haaren eingerahmt, die Herr Luzifer im Nacken mit einem Haarband zusammengebunden hatte.
Zess, der nun neben Kaja saß, blitzte den neuen Lehrer wütend an.
„Was ist mit Frau Geier?“, rief Max mit erhobenem Zeigefinger in den Raum.
„Frau Geier hatte gestern einen schweren Autounfall. Sie wird dieses Schuljahr nicht mehr in den Unterricht zurückkehren.“
Frau Geier war an diesem Morgen nicht die Einzige, die nicht in die Klasse zurückgekehrt war. Auch Jessica fehlte.
Doch an diesem Morgen war noch einiges anders. Zess hatte Kaja vor ihrer Wohnung erwartet. Gemeinsam, händchenhaltend waren sie in den Aufzug gestiegen. Lächelnd empfingen sie Aleyna, die beinahe in Ohnmacht fiel, als sie den Aufzug betrat. Sie konnte ihren Blick nicht von den verschränkten Fingern lösen.
Kaja fühlte sich leicht unwohl, doch Zess‘ Gegenwart machte alles leichter.
Der Engel dachte, dass die Begegnung mit Aleyna die Schwierigste sein würde. Doch da hatte sie sich getäuscht. In der Schule war es noch viel schlimmer. Kaum hatten sie immer noch händchenhaltend den Schulhof betreten, waren alle Augen auf sie gerichtet.
Zess ließ Kajas Hand los. Kaum hatte sie ihre Trauer darüber überwunden, war sie froh deswegen. Sie hatte das Image der Neuen, die ständig angegafft wurde noch nicht überwunden. Sie musste den anderen ja nicht noch mehr Grund geben, ihre volle Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Doch Zess sah das anders.
Er legte seinen Arm um ihre Schulter und spazierte mit ihr über den Schulhof.
Entsetzt sah der Engel den Jungen an. Doch dieser grinste nur.
„Wir sind gerade dabei, alle Regeln zu brechen und wenn dann brechen wir sie richtig.“
Natürlich war den zweien jetzt die volle Aufmerksamkeit der Schülerschaft sicher. Das verdankten die zwei nicht nur dem Umstand, dass Kaja die Neue war, sondern auch dem, dass Zess als cool galt, eben weil er bis jetzt unnahbar gewesen war. Er hatte keine Freunde an der Schule, er hatte noch nicht einmal mit irgendjemanden mehr als ein paar Worte gesprochen. Zess hatte es fertig gebracht, ein Gespräch mit einigen, wenigen Gesten und noch weniger Worten abzuwürgen, bevor es überhaupt begonnen hatte. Und nun war er mit der Neuen zusammen!
Zess‘ Arm lag immer noch auf Kajas Schulter, als sie ihr Klassenzimmer betraten.
Augenblicklich verstummten die Gespräche und der Spießrutenlauf begann erneut. Mit zum Teil offenen Mündern starrten ihre Klassenkameraden die zwei an, als sie zu Kajas Bank in der letzten Reihe gingen und Zess auf dem freien Stuhl neben ihr Platz nahm. Zess grinste vor sich her – er schien sich wohl zu fühlen – während sich Kaja trotz Zess‘ Nähe immer unwohler fühlte.
„Hey, die zwei sind keine Außerirdischen. Glotzt sie gefälligst nicht so an!“, befahl Aleyna in die Stille.
Und es war als würde damit ein Bann gebrochen und das normale Leben wieder hergestellt. Auf einmal fingen die Gespräche wieder an, lauter und aufgeregter als zuvor. Es war nicht zu überhören, dass das einzige Gesprächsthema Zess und Kaja waren. Doch das war besser als von einundzwanzig Augenpaaren angestarrt zu werden.
„Solche Aasgeier!“, beschwerte sich Aleyna, als sie sich neben Kaja auf den Stuhl sinken ließ. „Aber jetzt sagt mal, seit wann seid ihr zusammen und wieso zum Teufel nochmal habt ihr mir nichts gesagt?“ Aleyna klang beleidigt. War sie bis jetzt viel zu überrascht von der Situation gewesen, brach jetzt ihr Wissensdurst durch.
Kaja konnte nicht antworten. Sie hatte ein Wort vollständig in Beschlag genommen. Zusammen? Nannte man es so? Ja, so musste es sein.
Da Kaja noch immer unfähig war, zu antworten, übernahm es Zess. Wieder legte er den Arm auf Kajas Schulter und sein Kinn auf ihre andere Schulter.
Kaja, die ihm den Rücken zugewandt hatte, erschrak als sie auf einmal dieser bekannte, geliebte Stromschlag durchfuhr.
Zess grinste Aleyna über Kajas Schulter hinweg an. Er grinste, wie Aleyna ihn noch nie hatte grinsen gesehen. Er hatte auch vorher hin und wieder gegrinst, doch nie so. Früher war sein Grinsen eine Grimasse, allerhöchstens schadenfroh. Doch jetzt wirkte sein Grinsen echt. Es wirkte glücklich. Zess war glücklich, erkannte Aleyna. Sie sah nun Kaja mit ganz anderen Augen. Sie hatte geschafft, was bisher noch keiner vollbracht hatte. Sie hatte Zess‘ Mauer der Coolness durchbrochen und war zu dem Jungen dahinter vorgedrungen.
„Seit gestern Abend.“, antwortete Zess auf Aleynas schon fast vergessene Frage.
„Auf die Plätze!“, erklang Herr Luzifers Stimme von vorne.
Augenblicklich verschwand Zess‘ Grinsen und er zischte wütend neben Kajas Ohr. Sofort ließ er den Engel los, lümmelte sich lässig auf seinen Stuhl mit ausgestreckten, überkreuzten Beinen und verschränkten Armen. Er ließ den neuen Lehrer nicht aus den Augen und sein Blick zeigte keine Neugierde – was zu vermuten gewesen wäre – sein Blick zeigte Hass.
Auch Herr Luzifers Blick war auf Zess gerichtet. Doch der Lehrer grinste. Nur wirkte sein Grinsen nicht so, wie man normalerweise einen Schüler angrinst. Es wirkte anders, vertrauter.
Nach der Stunde ließ sich Zess viel Zeit, um seine Sachen einzupacken und schickte schließlich Kaja und Aleyna, die auf ihn warteten schon in den Chemiesaal.
Letztendlich war Zess mit Herrn Luzifer allein im Zimmer.
„Ich habe nicht erwartet meinen besten Schüler hier zu finden.“
„Verschwinde von hier!“, zischte Zess.
„Ein bisschen mehr Respekt!“ Herrn Luzifers Stimme, gerade noch freundlich, klang auf einmal gefährlich hart.
„Was wollen Sie hier, Mylord?“ So wie der Junge Mylord aussprach, klang es eher nach einer Beleidigung als nach Respekt.
„Bild dir bloß nichts darauf ein. Ich bin nicht wegen dir hier. Auch wenn ich dich liebend gern in deine Schranken weisen würde. Was bildest du dir ein, einfach zu desertieren? Ich hab dir so viel gegeben, dich so viel gelehrt. Du hattest Macht.“
„Ich hatte keine Lust mehr.“, unterbrach Zess Herrn Luzifer. „Mir gefielen die Befehle nicht.“
„Ich geb dir nur diesen einen Rat, Zess. Verschwinde von hier, bevor ich es mir anders überlege und dich zerquetsche.“
Mit einem leisen „Entschuldigung“ steckte Kaja den Kopf zur halb geschlossenen Tür herein. „Ich habe mein Buch vergessen.“
„Komm nur herein, Kaja.“ Herr Luzifer Gesicht, das sich während des Gesprächs mit Zess immer mehr verfinstert hatte, hellte sich augenblicklich auf. „Mit dir wollte ich auch noch kurz sprechen.“
„Das geht jetzt nicht. Wir müssen in Chemie.“ Zess ergriff Kajas Hand und zerrte sie kurzerhand aus dem Raum.
„Was sollte das, Zess? Das war sehr unhöflich.“
„Unhöflich ist es in Chemie zu spät zu kommen.“
Zess‘ Verhalten verwirrte den Engel. Doch auf dem Weg zu Chemie sagte der Junge kein Wort mehr und antwortete auf keine von Kajas Fragen.
Aber kaum hatte der letzte Gong die Schule beendet, war Zess wieder fröhlich. Einen Block von der Schule entfernt, suchte Zess, der Kaja während der ganzen Schulzeit nicht berührt hatte, wieder Kajas Nähe. Er legte Kaja wieder den Arm um die Schulter und zog sie nah an sich.
Aleyna gluckste, als sie Kajas verwirrtes Gesicht sah. Den Engel überraschte es immer wieder aufs Neue, dass sie bei jeder, wenn auch nur flüchtigen Berührung von Zess, dieser Stromschlag durchfuhr.
„Bis morgen!“, verabschiedete sich Aleyna.
Vor Kajas Wohnungstür standen die zwei sich wortlos, händchenhaltend gegenüber und fanden keinen Weg sich zu verabschieden.
Langsam näherte sich Zess Kajas Gesicht. Fasziniert betrachtete der Engel seine dunkelblauen Augen, konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Kurz vor ihrem Mund stockte Zess, schien zu warten, ob Kaja zurückschrak. Doch der Engel blieb stocksteif stehen.
Langsam, behutsam näherte sich der Junge weiter Kajas Mund und schließlich berührten sich ihre Lippen.
Kaja erschrak vor der Explosion ihrer Gefühle, die ihren Körper erschüttert, die sie aber sofort lieben lernte, so wie sie diesen Jungen liebte.
Der Engel wünschte sich, der Kuss würde ewig währen. Doch als sich der Junge langsam löste und sie wieder in seiner dunkelblauen Augen blicken konnte, reichte das um ihre Trauer zu überwinden.
Zess selbst grinste sie verlegen an. Er hatte einen Engel geküsst. Auch wenn Kaja genaugenommen ein Grenzgänger wie er war, blieb sie für ihn immer ein Engel.
Zess gab Kaja noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand mit einem „Bis morgen, Engel.“ in seinem Appartement
Auch der Engel schloss die Wohnungstür auf, musste sich aber in der Wohnung an die Wand lehnen weil sich ihre Knie in Wackelpudding verwandelt hatten. Zess hatte sie geküsst! Sie spürte noch die Berührung seiner Lippen, schmeckte seinen Geschmack. Vorsichtig berührte sie mit ihren Fingern ihre Lippen hatte Angst diese Illusion zu zerstören.

 
Engel Petrus, ich bin glücklich.

 
schrieb Kaja an diesem Abend in ihr Buch.


                                                    *

 
Wütend schrie der Besitzer des Buches auf. Nein! Das soll nicht sein. Das müssen wir ändern!
Lange Zeit blieb der Besitzer stumm. Doch dann erhellte sich sein Gesicht und ein bösartiges Lachen drang aus seinem Mund. Engelchen, du wirst leiden.

 
                                                      *


Der Engel war wie berauscht von diesem Kuss und allen folgenden. Sie vergaß ihren Auftrag, den Teufel, das Böse, was auch immer zu bekämpfen, war einfach nur glücklich.
Auch Zess erging es nicht anders. Er war so glücklich, dass es ihm egal war, dass man sie zusammen in der Schule sah. Noch gestern war es ihm nicht ganz egal gewesen. Auf dem Schulhof wollte er noch alle Regeln brechen, in der Klasse war es ihm auch egal gewesen, erinnerte sich Kaja. Doch als der Lehrer das Klassenzimmer betrat war er auf einmal wieder kalt und war es den ganzen Schultag. Doch seit dem Kuss war es ihm egal. Er wich nicht mehr von Kajas Seite und strahlte mit dem Engel um die Wette.
Seit gut einer Woche waren die zwei nun ein Paar. Doch ihre Mitschüler, die ganze Schule konnte sich nicht satt sehen an ihrem Glück. Kaja hatte von so vielen unterschiedlichen und ihr meist unbekannten Leuten gehört, wie gut sie doch zusammenpassten. Aber auch der Neid blieb nicht fern. Viele, fast alle Mädchen hatten Zess angehimmelt. Doch der Neid dieser Mädchen eskalierte nicht, nicht wirklich jedenfalls. Zwar war Kaja anfangs Opfer blöder Witze, aber nachdem Zess mit den Mädchen geredet hatte, wurde der Neid leiser und schließlich wurde er still. Kaja vermutete, dass er immer noch da war, aber die Mädchen wagten es nicht mehr etwas gegen Zess‘ Freundin zu sagen.
„Zess, setz dich bitte auf deinen alten Platz!“, wies Herr Luzifer den Jungen an diesem Morgen an.
Doch Zess blieb auch unter Herrn Luzifers bohrenden Blicken weiterhin unberührt sitzen, sodass der Lehrer schließlich mit dem Unterricht begann. Doch sein Blick machte deutlich, dass dieses Verhalten ein Nachspiel haben würde.
Entgeistert sah der Engel ihren Freund an. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern und grinste sie an. Kaja wandte sich mit einem resignierenden Seufzer dem Unterrichtsgeschehen zu. Sie hatte es aufgegeben, sich über Zess‘ sonderbares Verhalten zu wundern, was den Lehrer anging.
„Zess, du bleibst hier!“, befahl Herr Luzifer am Ende der Stunde, als alle Schüler aus dem Klassenzimmer stürmten.
Zess‘ Blick verfinsterte sich kurz, doch dann setzte er wieder sein Lächeln auf und meinte zu Kaja: „Geh schon mal vor. Ich komm gleich nach.“
Beunruhigt verließ Kaja das Klassenzimmer. Zess würde für sein aufsässiges Verhalten jetzt bestimmt bestraft werden. Nachsitzen? Hausordnung abschreiben?
Doch Zess schien das nicht zu stören. Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht wartete der Junge bis der Engel den Raum verlassen hatte. Doch dann verschwand das Lächeln augenblicklich aus seinem Gesicht, als er sich Herrn Luzifer zuwandte.
Aber dieser schien ihn gar nicht zu beachten, mit einem unheilverkündenden Lächeln sah er auf die Tür, durch die Kaja verschwunden war.
Sofort kamen Zess wieder Zweifel. War es richtig gewesen, dass er sich mit Kaja in der Öffentlichkeit gezeigt hatte? War es gut, dass Herr Luzifer nun von Kaja wusste?
„Was findest du an dem Mädchen nur so interessant? Ein gewöhnliches Mädchen… oder ist sie etwa ein …? Vielleicht sollte ich …“
„Denk nicht mal daran!“, unterbrach Zess den Lehrer in seinen Überlegungen.
„Ein bisschen mehr Respekt!“, befahl der Lehrer.
„Denken Sie nicht, Mylord. Das tut Ihnen nicht gut.“
„Du …“ Drohend hatte Herr Luzifer die Hand erhoben, doch dann schien er sich an seine Rolle zu erinnern und ließ die Hand sinken. Die von Zess grinsend erwartete Ohrfeige blieb aus.
„Langsam, aber sicher, Zess, bekomme ich Lust darauf dich leiden zu sehen. Vielleicht solltest du eine Rolle in meinem Plan spielen. Ja“, überlegte Herr Luzifer, „das wäre sicher nett.“
„Vergessen Sie es. Da spiele ich nicht mit.“
„Wer sagt denn, dass du eine Wahl hast oder dass du es freiwillig tust.“ Mit diesen Worten drehte Herr Luzifer sich um und verließ den Raum.
Wütend stapfte Zess ebenfalls aus dem Raum.


                                                     *

 
„Darf ich euch vorstellen: Das ist Lillith, eure neue Mitschülerin.“ Herr Luzifer stand mit einem schlanken, blondhaarigen Mädchen mit dunklen Augen an der Tafel. Lillith wirkte wie ein Modepüppchen, als wär sie eben einer Modezeitschrift entstiegen.
„Meine Güte, schon wieder eine Neue. Wie viele kommen denn noch?“, grummelte Max wenig freundlich.
Als Zess die Neue sah, zischte er wütend: „Der will mich wohl verarschen. Die zweitbeste!“
Kaja hörte Zess nicht, obwohl sie neben ihm saß. Sie war ganz von Lillith in Beschlag genommen, genauergesagt von ihrer Aura. Schnell ließ sie ihren Blick durch die Reihen schweifen, um sich zu vergewissern wie eine Aura normalerweise aussah. Lilliths Aura war seltsam. Sie war gräulich, oder vielleicht doch schwarz? Kaja konnte es nicht genau sagen. Es schien als wäre Lilliths Aura von einem Nebelschleier umgeben. Kaja konnte die Auren der anderen klar und deutlich sehen, nur Lilliths Aura war verschwommen.
„Wer bietet sich an, sich um Lillith zu kümmern, bis sie sich eingelebt hat?“ Herr Luzifer gab den Schülern gar nicht die Möglichkeit zu antworten. „Wie wär es mit dir Zess. Du kümmerst dich schon so gut um Kaja. Wie wäre es, wenn ihr zwei euch um Lillith kümmert?“
Zess Augen verengten sich hasserfüllt. Doch seiner Stimme merkte man nichts davon an. Diese triefte vor Ironie als er antwortete: „Aber sicher doch, Herr Luzifer.“
Wieder dachte Kaja, dass ihr Freund in Bezug auf Lehrer ein seltsames Verhalten an den Tag legte. Doch sie hatte es aufgegeben sich zu wundern. Manchmal war Zess einfach seltsam.
Beim Pausengong stürmte Zess aus dem Klassenzimmer ohne auf Kaja oder Lillith zu warten.
Der Engel schüttelte seufzend den Kopf.
„Hallo, ich bin Kaja.“, stellte sich der Engel Lillith vor, wurde aber sofort von Lilliths seltsamer Aura abgelenkt.
„Lillith.“
„Kommt! Gehen wir Essen.“, holte Aleyna Kaja aus ihrer Betrachtung.
Kaja und Lillith folgten Aleyna. Der Engel konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war neu zu sein, war schließlich noch nicht allzu lange her. Sie war eingeschüchtert, überfordert gewesen. Aber Lillith wirkte nicht eingeschüchtert. Sie lief selbstbewusst durch die Schulgänge als würde sie schon seit der ersten Klasse durch diese Gänge laufen.
In der Mensa angekommen, ging Kaja zielstrebig auf den Tisch zu, den Zess in Beschlag genommen hatte. Doch heute war der Tisch verweist. Wo war Zess hin?
Aleyna ließ sich auf einen Stuhl fallen, denn seit Kaja und Zess zusammen waren, saß sie mit an Zess‘ Tisch.
Auch Kaja und Lillith nahmen Platz.
Während des Essens war der Engel mit den Gedanken bei Zess und überließ Aleyna das Gespräch und diese machte ihre Aufgabe gut. Lillith war die die ganze Pause über beschäftigt.
Kaja glaubte am Ende der Pause noch, Zess im Klassenzimmer zu finden. Doch als sie den Raum betrat, wurde ihre Hoffnung zunichte gemacht. Zess war nicht da und er tauchte auch den ganzen Schultag nicht mehr auf.
Herrn Luzifer schien Zess‘ Fehlen gar nicht aufzufallen oder es schien ihn nicht zu stören. Er machte ungerührt mit seinem Unterricht weiter.
Ärgerlich stapfte der Engel nach Hause. Wo war Zess?
„Hey! Hallo!“, rief Lillith hinter ihr.
Kaja drehte sich um sah erneut Lilliths seltsame Aura. Was war mit Lillith los? Wieso war ihre Aura anders? War das Mädchen anders?
„Ich muss in dieselbe Richtung.“ Mit diesen Worten schloss sich Lillith dem Engel an.
„Wo ist denn Zess so plötzlich hin?“, erkundigte sich Lillith.
„Ihm war nicht gut. Er ist nach Hause gegangen.“, log der Engel, wusste nicht, wieso sie nicht sagte: „Ich weiß nicht.“
„Ich glaube, er mag mich nicht.“
„Er kennt dich doch gar nicht.“, wehrte Kaja ab.
„Wer weiß.“, meinte Lillith uneindeutig. „Wo wohnst du eigentlich?“, änderte Lillith das Gesprächsthema.
„Sonnenallee.“, antwortete Kaja einsilbig. Der Engel dachte noch über Lilliths „Wer weiß“ nach.
„Was? Wirklich? Ich auch!“
„Wirklich?“, fragte Kaja verwirrt. „Was für ein Zufall.“
„Bis morgen!“, verabschiedete sich der Engel im Aufzug.


                                                     *


„Meister. Ich habe den Engel noch nicht gefunden.“
„Halte die Augen offen!“, antwortete der Meister kalt.

 
                                                     *

 
Kaja hatte bei Zess an die Tür geklopft. Doch der Junge war nicht da. Auch eine Woche später war Zess noch nicht wieder aufgetaucht.
Traurig saß der Engel mit angezogenen Beinen auf dem Sofa, hatte den Kopf auf die Knie gelegt, fühlte sich auf einmal wieder schrecklich allein. Wo war Zess nur hin?
Eine Woche schon hatte die Traurigkeit den Engel nicht mehr losgelassen. Die Traurigkeit fraß ein Loch in ihr Herz. Es schmerzte.
Als sie an diesem Tag das Klassenzimmer betrat, spürte sie sofort, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.
Von ihrem Platz aus beobachtete sie ihre Mitschüler. Sie wusste, irgendetwas war falsch. Ein Dämon?, fragte sich der Engel. Aber alles schien normal und als Herr Luzifer dicht gefolgt von Lillith den Raum betrat, war auch das Gefühl weg, dass etwas falsch war.
Verwundert saß Kaja im Klassenraum. Sie war sich sicher, dass etwas nicht stimmte, auch wenn das entsprechende Gefühl verschwunden war.
In der Pause stand Kaja allein in einer Ecke. Sie hatte Aleyna weggeschickt, wollte allein sein. Und auf einmal sah sie es. Max‘ Aura war schwarz geworden, gerade noch grau war sie nun plötzlich kohlrabenschwarz. Ein Dämon!
Ohne Nachzudenken ging der Engel über den Schulhof auf Max zu. Sie hatte nur noch einen Gedanken. Sie musste Max befreien! Dieser Gedanke verdrängte die schmerzende Traurigkeit. Deshalb hielt Kaja an ihm fest.
„Max!“, rief der Engel als sie noch fünf Schritte von dem besessenen Jungen entfernt war. Doch dieser reagierte nicht.
Weiter ging Kaja auf den Jungen zu und berührte ihn schließlich an der Schulter. Max fuhr herum.
Kaja spürte diese nun schon bekannte Kälte, die von dem Dämon ausging. Doch diese ließ sie nicht zurückschrecken.
Noch einen Schritt tat sie auf den Jungen zu, machte Anstalten den Jungen zu umarmen. Sie dachte nicht daran, was passieren würde, wenn ihre Mitschüler ihre Flügel sahen, die nun erscheinen würden. Sie hatte nur noch diesen einen Gedanken. Sie musste Max befreien!
„Kaja!“
Der Engel fuhr herum. Zess?
Der Junge stürmte über den Schulhof auf das Mädchen zu.
Der Engel vergaß völlig Max und den Dämon hinter ihr, betrachtete nur den auf sie zustürmenden Jungen.
Zess fiel ihr um den Hals und murmelte dicht neben ihrem Ohr: „Tu es nicht! Nicht hier! Sie könnten dich sehen“
Kaja stand stocksteif. Sie spürte wie sich das Loch in ihrem Herzen langsam schloss. Sie spürte diesen geliebten Stromschlag, der bei Zess‘ Berührung durch ihren Körper schoss.
Langsam löste Zess die Umarmung, griff nach Kajas Hand und führte den willenlosen Engel weg, weg von Max, weg von der gaffenden Meute, hin zu der verlassenen Ecke, in der Kaja vor kurzem noch gestanden hatte.
Der Engel folgte dem Jungen, war völlig unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sie spürte nur die Stromschläge, die bei jeder von Zess‘ Berührungen durch ihren Körper schoss, spürte die Wärme des Jungen und spürte schließlich auch wie die Kälte der Traurigkeit, der Einsamkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte, ihren Körper endgültig verließ.
Doch statt der Einsamkeit kam nur die Wut. Der Engel entriss Zess seine Hand und fauchte ihn wütend an: „Wo warst du?“
Verwirrt blickte der Junge sein Gegenüber an. Immer wieder vergaß er, dass von ihm kein wirklicher Engel stand, sondern ein Grenzgänger und Grenzgänger konnten wütend werden. Doch Kaja würde für ihn immer Sein kleiner Engel bleiben. Und genau das war es was Zess beunruhigte. Diese abgöttische Liebe zu Kaja. Für sie würde er alles tun. Doch damit tat er ihnen beiden weh.
Als der Junge nicht antwortete, wirbelte der Engel schnaubend mit den Worten: „Ach, vergiss es!“ herum und wollte zu Max zurückgehen.
„Kaja! Bitte!“ Zess griff erneut nach ihrer Hand. Erneut dieser Stromschlag. „Lass es mich erklären.“
Wieder entriss ihm Kaja ihre Hand, blieb aber abwartend mit verschränkten Armen vor ihm stehen.
Sie war wirklich wütend
, erkannte Zess traurig. Und sie hatte allen Grund dazu.
„Es sind einige Dämonen hier, die nicht so gut auf mich zu sprechen sind. Und jetzt wollen sie sich unter anderem an mir rächen. Wenn du in meiner Nähe bist, weiten sie womöglich ihre Rache auf dich aus. Ich dachte, du bist sicherer, wenn ich nicht in deiner Nähe bin. Deswegen bin ich gegangen. Ich wollte das nicht. Doch es war für deine Sicherheit. Aber ich habe es nicht ohne dich ausgehalten. Es tat weh. Ich wollte dich heute nur noch einmal sehen, aber dann konnte ich nicht mehr gehen. Ich liebe dich, Kaja.“
Kaja sah ihn zweifelnd an.
„Kaja, versprich mir bitte, dass du nie wieder einen Dämon in der Öffentlichkeit bekämpfen willst“, flehentlich sah Zess den Engel an.
„Was wäre gewesen, wenn ich das nicht getan hätte, was wäre gewesen, wenn ich traurig in der Ecke gestanden hätte und in dieser Pause nichts anderes gemacht hätte, wärst du dann auch zurückgekommen?“, fragte der Engel schnippisch.
Mein kleiner Engel
, dachte Zess liebevoll, du hast mich durchschaut.
„Und was ist das überhaupt für eine blöde Geschichte mit den Dämonen? Du weißt, dass ich gegen Dämonen kämpfen kann.“ Kaja verschränkte erneut die Arme.
„Aber nicht gegen die!“, widersprach Zess heftig. „Das sind keine Level E-Dämonen und bereits die haben dich viel Kraft gekostet.“
„Level E? Was heißt Level E?“
Zess seufzte. Er hatte zu viel gesagt.
„Das ist eine lange Geschichte, wenn ich dir alles erklären soll.“
„Ich hab viel Zeit.“
„Nein, hast du nicht. Du hast Unterricht.“
Zess wirbelte herum. Seine Augen sprühten wütende Funkeln.
„Und der Herr beehrt uns auch mal wieder mit seiner Anwesenheit.“ Herr Luzifer stand lächelnd hinter ihnen.
Die Augen des Jungen verengten zu hasserfüllten Schlitzen. Wie viel hat er gehört?, fragte sich der Junge.
„Kaja, geh‘ doch schon mal vor.“, sagte Herr Luzifer ohne den Blick von Zess zu wenden. „Ich muss mit Zess noch einiges, wegen seiner Abwesenheit klären.“
Verwirrt verließ das Mädchen die zwei.
„Du bist ja noch dümmer als ich bis jetzt angenommen hatte. Wieso bist du zurückgekommen?“
„Ein bisschen freundlicher, Herr Lehrer, wenn ich bitten darf. Aber um ihre Frage zu beantworten. Wer sagt, dass ich weg war?“
„Ich!“
„Und ich sage, ich war krank. Ihre Visage und Lillith als lächerliche Zweitbesetzung würden mich nicht dazu bringen, von hier weg zu gehen.“
„Zess, wo bleibt dein Respekt.“
„Hab ich wohl daheim vergessen.“, gab Zess frech zurück.
„Es muss an dem Mädchen liegen. Vielleicht sollte ich mir Kaja doch mal etwas genauer anschauen. Aber erst mal hab ich noch was Wichtigeres zu erledigen. Denn du Zess stehst an allerletzter Stelle meiner to-do-Liste.“
„Wenn Mylord nichts dagegen haben, verabschiede ich mich, denn der Unterricht hat schon längst wieder begonnen.“ Zu diesen Worten verneigte sich Zess, doch diese Geste wirkte eher herausfordernd und spöttisch als respektvoll. Der Junge drehte sich um und ging. Das wütende Zischen seines Lehrers hinter sich, zauberte das Lächeln auf Zess‘ wundervolle Lippen, das Kaja regelmäßig zum Schmelzen brachte.
Nur heute wollte dies nicht gelingen. Kaja saß stumm mit einem starr nach vorne gerichteten Blick auf ihrem Stuhl und strafte Zess durch Verachtung.
Das hab ich wahrscheinlich verdient
, dachte Zess niedergeschlagen. Er konnte noch nicht einmal ärgerlich werden, er wusste, dass Kaja im Recht war.
Aber jemand anderes schenkte Zess deutlich mehr Beachtung als ihm lieb war. Und das war Lillith.
Nach Schulschluss fing ihn Lillith vor dem Verlassen des Klassenzimmers ab. Kaja war längst nach draußen gestürmt.
„Na, Stress im Paradies?“
„Na, Eiszeit in der Hölle?“, entgegnete Zess verärgert. Doch dann seufzte er resignierend und fragte: „Was willst du hier, Lillith?“
„Das geht dich gar nichts an und bild‘ dir bloß nicht ein, es hätte etwas mit dir zu tun.“
„Dann lass mich in Ruhe und verschwinde.“ Zess wollte nicht streiten, nicht jetzt. Er fühlte sich auf einmal schrecklich müde und vor allem furchtbar einsam.
„Ach, lass mir doch die Freude, dich ein bisschen zu quälen.“, sagte Lillith lachend.
Zess drehte sich einfach um und ging. Ihm fiel noch nicht einmal eine schlagfertige Antwort ein, wo er doch sonst nicht auf den Mund gefallen war.
Langsam ging er nach Hause, machte noch einen kurzen Abstecher und stand schließlich mit einer Schachtel Pizza vor Kajas Tür. Er hörte den Fernseher laufen und wusste, dass der Engel dies tat, um die Stille nicht zu hören. Er wusste das, weil er es selbst genauso machte. Diese alles umhüllende Stille war schrecklich deprimierend und hielt einem die eigene Einsamkeit unerbitterlich vor Augen.
Endlich hatte der Junge den Mut zusammen um zu klingeln. Als sich nichts tat, rief er: „Kaja, bitte mach auf! Ich will dir erklären, wieso ich glaube, dass du zu schwach gegen diese … meine Dämonen bist.“ Erst als die Worte über seinen Lippen waren, kam ihm in den Sinn wie schrecklich verletzend seine Worte klingen mussten. „Kaja, bitte“, flehte er.
Kaja saß auf dem Sofa, hatte die Beine angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt und weinte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie liebte Zess, glaubte sie. Doch, was er sagte, was er tat, dass er einfach verschwand … Der Engel stöhnte gequält auf. Das war alles so … seltsam. Sie war wütend, verletzt, traurig, verwirrt, verliebt. Dieses Gefühlschaos in ihrem Inneren machte es ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Plötzlich ließ sich jemand neben ihr aufs Sofa sinken.
Erschrocken schrie der Engel auf, als sie Zess erblickte.
„Zess?! Wie … wie bist du hier reingekommen?“
Sie wich zurück an das äußerste Ende des Sofas. Traurigkeit legte sich in Zess‘ Augen, doch seiner Miene sah man davon nichts an. Er machte auch keine Anstalten Kaja zu folgen.
„Ich wohne nebenan, unsere Balkone berühren sich fast, wenn man von dem gut zwei Meter großen Spalt mal absieht.“„Du … du bist … rübergesprungen?“, stotterte Kaja ungläubig.
„Du hast nicht aufgemacht.“ Zess zuckte mit den Achseln. „Und ich wollte mich doch bei dir entschuldigen, weil ich einfach gegangen bin. Aber ich fand meine Gründe damals richtig gut, ich finde sie auch jetzt noch einleuchtend. Aber ich muss sie dir erzählen. Es tut mir schrecklich weh, dich leiden zu sehen. Ich muss es dir einfach erzählen, auch wenn ich weiß, dass ich es später sicher bereuen werde.“
Kaja saß in der Ecke, die Beine fest umschlungen und sah ihn stumm an.
„Du hast mich gefragt, was Level E-Dämonen sind. Der Dämon in Jessica war einer, der in Max ist auch einer. Erinnerst du dich noch, als ich dir erklärt habe, wie es sich entscheidet, ob du nach dem Tod ein Engel oder ein Dämon wirst? Wenn die Dämonen bei der Jagd nach deiner Seele schneller sind, wirst du ein Level E-Dämon. Ein Dämon in Ausbildung sozusagen. Hast du diese Stufe hinter die, steigst du immer höher auf bis du schließlich ein Level A-Dämon bist. Ein Level C- und A-Dämon sind nun hier.“
„Nein … das kann nicht sein. Es ist nur ein Dämon hier und der ist in Max.“
„Du solltest vielleicht wissen, dass man ab Level D einen eigenen Körper besitzt und nicht mehr einen menschlichen Körper besetzen muss. Und genau aus diesem Grund sind sie nicht mehr so einfach zu besiegen. Deswegen bin ich gegangen. Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen.“
„Wieso sind sie hinter dir her?“, fragte Kaja interessiert. Ihre Wut auf Zess war schon fast vergessen.
„Na ja … also … das ist so …“, druckste Zess eine Weile herum. „Sagen wir mal, ich bin ihnen vor einer Weile kräftig auf die Füße getreten.“
„Was hast du getan?“
„Kaja, ich bin hier. Ich gehe auch nicht mehr so einfach wortlos fort. Aber das werde ich dir nicht erzählen. Ich will dich nicht noch mehr in Gefahr bringen. Das … das war eigentlich alles, was ich dir sagen wollte. Entschuldige, Kaja.“
Als der Engel nicht auf seine Worte reagierte, meinte er schließlich: „Ich sollte jetzt besser gehen.“ Zess stand auf und wandte sich zur Tür.
„Zess.“
Der Junge drehte sich um und sah Kaja ausdruckslos an. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihm bald verzieh.
„Entschuldigung angenommen.“, meinte Kaja.
Ungläubig betrachtete der Junge den Engel.
„Und Zess. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“, erwiderte der Junge.
Keiner der beiden wusste wie, doch plötzlich lagen sie sich in den Armen und küssten sich tief und innig. Keiner der beiden wollte den anderen mehr loslassen.
„Zess, mach das nie wieder!“, flüsterte Kaja an seinem Ohr. Der Junge spürte die Tränen, die ihr übers Gesicht rannen.
„Lass mich nie wieder allein.“

 
Händchenhaltend liefen die beiden durch die Straßen auf dem Weg zu Max‘ Haus. Sie wollten den Dämon austreiben.
Schon als sie sich dem Haus durch den gut gepflegten Garten mit den hübsch arrangierten Blumenensembles näherten, hörten sie wütende Stimmen aus dem weiß getünchten Einfamilienhaus.
„Hol mir ein Bier, du alte Schlampe.“, brüllte Max eine blonde Frau Ende Vierzig an. Die Ähnlichkeit der beiden war unübersehbar. Die Frau war zweifelsohne seine Mutter.
Als diese auf seine Forderung hin, ängstlich stotterte: „Du … du bist noch zu jung für ein Bier.“, holte Max aus und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht.
„Jetzt mach, du kleine Schlampe.“
Die Frau sah nicht so aus, als würde sie gegenüber ihrem Sohn so schnell kleinbeigeben. Normalerweise. Doch ein Veilchen an ihrem rechten Auge zeigte auch, dass Max sich nicht mehr wie ein normaler dreizehnjähriger Sohn verhielt. Ängstlich schlich seine Mutter an ihm vorbei und verschwand schleunigst aus dem Raum.
Max ließ sich in den Sessel fallen und seine Aufmerksamkeit war sofort von dem Fußballspiel gefangen.
Kaja kletterte leise mit Zess‘ Hilfe durchs offene Fenster. Zess folgte ihr ohne große Mühe.
„Wo bleibt mein Bier?“, schrie Max ohne den Blick von den hinter dem Ball herhetzenden Spielern zu wenden.
„Du wirst keins bekommen.“, meinte Kaja.
Zischend sprang Max aus dem Sessel.
„Was willst du hier? Was fällt dir ein in mein Haus einzudringen?“
„Ich will dir helfen“, entgegnete Kaja und ging ohne Furcht auf den zischenden Jungen zu. Ihr Vertrauen zu Gott machte sie in dieser Situation furchtlos.
„Verschwinde!“, knurrte Max. Doch es war nicht mehr seine Stimme, die sprach, sondern die Stimme des Dämons.
„Dein … dein Bier“, kam die Mutter stotternd in den Raum zurück.
Mit wenigen Schritten war Zess bei ihr und hielt sie zurück. Verwirrt sah sich die Frau um.
„Max? Was soll das? Was ist hier los?“
„Ich will dir helfen“, wiederholte Kaja, achtete nicht auf die Frau. All ihre Sinne waren auf Max gerichtet und auf einmal spürte sie wieder den Flügelansatz zwischen ihren Schulterblättern.
Die Frau schrie auf. Eine Flasche zersprang klirrend am Boden. Biergeruch stieg dem Engel in die Nase. All das konnte sie nicht ablenken. Sie achtete nur auf Max, der in diesem Moment wütend und zugleich ungläubig „Ein Engel!“ zischte.
Sie spürte das Glücksgefühl, dass sich mit dem Erscheinen ihrer Flügel in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Es gab ihr Mut weiter auf den Jungen zuzugehen, der zischend vor ihr zurückwich bis er schließlich gegen die Wand stieß.
Kaja wich traumwandlerisch seinen weniger gut gezielten Faustschlägen aus. Später sollte sie sich fragen, wie sie das geschafft hatte.
„Dämon, ich befehle dir diesen Körper zu verlassen!“
Schließlich gelang es dem Engel so nahe an Max heranzukommen dass sie ihre Arme um ihn schließen konnte und auch ihre filigranen neuen Flügel wölbten sich um Max‘ Körper. Noch einmal befahl sie: „Dämon, ich befehle dir diesen Körper zu verlassen!“
Kaja versuchte verzweifelt den zappelnden schreienden Jungen nicht loszulassen. Die Kälte, die von dem Jungen ausging, ließ sie erschaudern.
Plötzlich veränderten sich seine Schreie. Aber es waren nicht nur die Schreie, die sich veränderten, es war das ganze Szenario, dass sich Zess und Max‘ Mutter bot. Auf einmal waren der Engel und der Dämon in blendend weißes Licht eingehüllt.
Zess hielt schützend die Hand vor die Augen, aber auch so konnte er nicht mehr erkennen als das grelle Licht. Was passiert hier nur? Was ist mit Kaja?, fragte er sich entsetzt.
Und plötzlich war es still. Max‘ Schreie erstarben.
Langsam nur löste sich das helle Licht auf. Langsam nur kristallisierten sich Silhouetten heraus.
Entgeistert betrachtete Zess Kaja. Das war nicht mehr das Mädchen, das von dem hellen Licht umschlossen worden war. Sie hatte sich verändert. War sie ihm immer schon wie ein Engel erschienen, war das nichts gegen das was er jetzt sah. Früher wäre seine Begründung für die Aussage, Kaja sei ein Engel, nicht unbedingt ihr Aussehen gewesen. Abgesehen von dem Glitzern ihrer Haut, sah sie aus wie jedes andere menschliche Mädchen auch. Früher hätte er gesagt, es sei ihr Verhalten. Doch jetzt?! Das Mädchen, das nun vor ihm stand, war kein irdisches Mädchen mehr, es war ein Engel. Das seltsame Licht, das von nirgendwo zu kommen schien, verstärkte das Glitzern ihrer Haut, sodass es schien, dass Kaja von Innen heraus leuchtete. Dazu noch ihre Flügel und ihr neues Outfit. Zess konnte seinen Augen kaum trauen. War Kaja mit ihm in Jeans und T-Shirt aufgebrochen, stand sie jetzt in neuem Gewand vor ihm. Sie trug einen weißen Faltenminirock. Dazu eine schwarze Leggins, die ihr knapp bis übers Knie reichte und schwarze Ballerinas. In diesem Schwarz-Weiß-Motto ging es auch weiter. Denn Kaja trug ein schwarzes T-Shirt und darüber ein weißes Top. Ihr braunes Haar fiel von einer leichten Brise bewegt, die Zess nicht spüren konnte, auf ihre Schultern.
Ein ungläubiges „Kaja!“ entwich Zess‘ Mund und brach den Zauber, der über diesem Augenblick gelegen hatte.
Der Engel der bisher den Blick gesenkt hatte, blickte verwirrt lächelnd auf.
Zess war immer noch wie gefangen von Kajas Anblick. Ja, das war sein kleiner Engel. Obwohl ja die weitläufige Meinung war, dass Engel in komplett weiß erscheinen, überlegte Zess. Doch dieses schwarz-weiß war die perfekte Mischung Engel-Dämon für einen Grenzgänger. Nur allzu oft vergaß er, dass Kaja kein wirklicher Engel war, sondern viel mehr. Sie war ein Grenzgänger. Sie war…  Ein schriller Schrei holte Zess aus seinen Gedanken.
„Ein Engel?! Max!“
Schneller als Zess reagieren konnte, entwich die Frau Zess‘ um ihre Schulter gelegten Arm und rannte auf ihren am Boden liegenden Sohn zu.
Kaja trat einen Schritt zurück. Glücklich sah sie zu wie die Frau vor Max auf den Boden sank und behutsam seinen Kopf in ihren Schoss bettete.
„Wenn er aufwacht, wird er wieder normal sein.“
Hoffnungsvoll sah die Frau den Engel an.
Kaja wusste nicht, woher auf einmal die Gewissheit kam, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Doch auf einmal war sie da.
Leise entfernte sich der Engel von den zweien und ging zu Zess, der ihr lächelnd die Hand reichte.
„Engel!“
Kaja wandte sich noch einmal zu Max‘ Mutter um.
„Danke!“
Lächelnd verschwand Kaja in die Nacht, dicht gefolgt von Zess.
Schweigend liefen die zwei nach Hause. Lange schon waren die Flügel und mit ihnen das Engelsgewand verschwunden.
Plötzlich blieb Kaja unter einer Straßenlaterne stehen.
„Zess, ich muss dir etwas zeigen.“ Ihre Stimme klang gequält und unendlich müde.
„Bist du verletzt?“, fragte Zess besorgt. „Wenn er dich verletzt hat, dann…“ Wütend ballte Zess die Faust.
„Nein“, wehrte Kaja ab, und klang jetzt noch müder als zuvor.
Da fiel es Zess wie Schuppen von den Augen. Die Vertreibung des Dämons hat sie viel Kraft gekostet. Wie hatte er das nur vergessen können? Auch bei Jessica war sie fast umgekippt.
„Nein“, wiederholte Kaja noch einmal. „Oder doch? Ich weiß es nicht.“
Kaja klang verzweifelt, was Zess noch mehr Angst machte, als ihre Worte.
„Was ist los?“, fragte Zess, versuchte seine Angst zu verbergen.
Langsam hob Kaja ihr rechtes Handgelenk und hielt es ins Licht. Dasselbe filigrane Muster, das ihre Flügel schmückte, zog sich in einem silbrigen Band um ihr Handgelenk.
Nach dem ersten Schrecken strich Zess vorsichtig die filigranen Muster nach.
„Als Max und ich von diesem Licht umschlossen waren, spürte ich ein seltsames Prickeln auf meinem Handgelenkt und plötzlich war es da.“ Kajas Stimme war deutlich anzuhören, dass sie nicht wusste, was sie von diesem Band halten sollte.
Überwältigt von seinen Gefühlen küsste Zess Kaja.
„Sieh es einfach als Zeichen an, dass du alles richtig machst.“, meinte er schließlich. Kaja war mehr als nur etwas Besonderes. Sie war … Nein! Über die Bedeutung dieses Zeichens wollte er jetzt nicht nachdenken, nicht jetzt. Es würde sich noch früh genug zeigen.

 
                                                    *


Engel Petrus, heute habe ich wieder einen Dämon vertrieben.
Ich möchte Ihnen noch so vieles erzählen, doch das tue ich ein anderes Mal. Heute bin ich dafür zu müde. Aber eins will ich Ihnen noch sagen.
Ich bin glücklich!

 
Müde schloss Kaja das smaragdgrüne Buch und schlief augenblicklich auf dem Sofa ein. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, hatte sie die Vertreibung des Dämons mehr geschwächt, als sie sich eingestehen wollte.

 
                                                     *

 
„Ahh“ Mit einen wütenden Schrei wurde ein anderes smaragdgrünes Buch quer durch den Raum geschleudert.
Erbost rief der Besitzer des Buches nach seiner Untergebenen.
„Hast du den Engel gefunden?“
„Noch nicht“, musste sie widerstrebend zugeben.
Unter den bösen Blicken des Meisters schrumpfte die Untergebene ängstlich zusammen.
„Jessica können wir ausschließen. Sie war von einem Dämon besessen. Mira und Elisabeth lästern ohne Punkt und Komma…“ Es folgte noch eine lange Aufzählung von Mädchen und wieso sie nicht der Engel sein konnten.
„Was ist mit Kaja?“, unterbrach der Meister sie barsch.
„Kaja? Sie kann es nicht sein. Sie hat mich angelogen. Aber Meister, wenn sie mir die Frage erlauben, wieso muss es unbedingt ein Mädchen sein und wieso unbedingt in dieser Klasse? Kann der Engel nicht ein Junge sein oder aus einer anderen Klasse oder vielleicht sogar nicht aus dieser Schule?“
„Nein!“, brüllte der Meister wütend, was seine Untergebene erneut ängstlich zusammenzucken ließ. „Der Engel ist ein Mädchen und sie geht in diese Klasse!“
„Aber …“, setzte die Untergebene von Neuem an.
„Geh! Finde den Engel!“ Die Stimme des Meisters klirrte wie das Eis, auf dem sich die Untergebene gerade bewegte.
Widerstrebend verließ sie den Raum.

 
                                                    *

 
An diesem Morgen als Kaja erwachte, galt ihr erster Blick ihrem Handgelenk. Der Engel hoffte, dass sie alles nur geträumt hatte. Doch immer noch zog sich das silbern glänzende Mal um ihr Handgelenk.
Seufzend setzte sie sich auf. Ungelenkig reckte sie sich und wurde sich schmerzhaft jeder Faser ihres Körpers bewusst. Es wäre wohl besser, nicht mehr auf dem Sofa zu schlafen, dachte sie während sie müde ins Bad schlurfte.

 
„Kaja, was ist mit dir? Bist du verletzt?“, fragte Zess außer sich vor Sorge, als ihm der Engel die Tür öffnete.
Verständnislos blickte Kaja ihn an.
„Was ist mit deiner Hand?“, fragte er. Durch all seine Sorge bekam er gar nicht mit wie seltsam diese Situation doch war.
Das Mädchen blickte verständnislos auf ihre Hände, sah den Verband und da fiel es ihr wieder ein.Sie war einfach zu müde, dachte sie kopfschüttelnd.
„Mir geht es gut, Zess. Es ist nur wegen … wegen“ Kaja überlegte. Wie sollte man das bezeichnen?  „… wegen dem Mal.“, beendete sie schließlich ihren Satz.
Man sah Zess sichtlich an, dass ihm ein zentnerschwerer Stein vom Herzen fiel.
„Ich dachte nur, das sollte vielleicht nicht jeder sehen“, schob Kaja entschuldigend nach.
Wortlos nahm Zess seinen Engel in den Arm und hielt sie fest. Er brauchte das jetzt. Er hätte es nicht ertragen, wenn Kaja verletzt gewesen wäre. Das wäre Max nicht bekommen, dachte er. Auch wenn er nichts dafür konnte. Aber der Dämon war weg. Also hätte er sich an Max gehalten, musste er sich eingestehen.
In dieser Umarmung standen sie immer noch, als schließlich Aleyna neben ihnen auftauchte.
„Wo bleibt ihr denn? Wir kommen noch zu spät. Umarmen könnt ihr euch auch später.“
Schweren Herzens lösten die beiden ihre Umarmung. Dabei erhaschte Aleyna einen Blick auf Kajas Arm und fragte sofort mit besorgter Stimme: „Was ist passiert? Was ist mit deinem Arm?“
Mittlerweile war Kaja soweit wach, dass sie die Frage sofort verstand und auch ohne viel zu überlegen, antworten konnte.
„Ich bin auf meine Hand gestürzt. Der Verband ist nur dazu da, um meine Hand zu schonen.“, log Kaja ohne rot zu werden. Im Stillen wunderte sie sich, was für ein schlechter Engel sie doch war.
Der Engel wusste nicht, wie oft sie im Verlauf dieses Tages die Frage nach ihrem Verband hörte und wie oft sie deswegen gelogen hatte.
Als sie sich am Ende dieses Tages müde auf das Sofa sinken ließ, konnte das Mädchen nicht mit Sicherheit sagen, ob sie schon wieder müde oder noch gar nicht richtig wach gewesen war. Während sie über diese Frage nachgrübelte, fiel ihr Blick auf die wertvoll aussehende Holzschatulle auf ihrem Schoss. Langsam öffnete sie das Geschenk, dass Petrus ihr mit auf die Erde gegeben hatte. Ehrfürchtig strich ihr Finger über die kleine weiße Perle an dem filigranen silbernen Kettchen, das auf dem roten Samt in dem Kästchen lag.
Ihre Gedanken schweiften ab, kehrten in den Himmel zurück. Sie schwelgte in Erinnerungen an Layla, an Engel Petrus, an … Ja, dachte Kaja, die Langeweile. Ihre Gedanken schweiften weiter, zurück zur Erde. Lächelnd dachte sie: Keine Langeweile. Nur Zess. Vorsichtig nahm sie die Kette aus der Schatulle und legte sie sich an. Sie spürte die kühle Perle auf ihrer Haut und ein leichtes Prickeln durchzog ihren Körper. Sie erinnerte sich noch genau an Petrus‘ Worte. Die Perle schützt dich. Zwar nicht vor Verletzungen, aber zum größten Teil vor dem Tod. Die Perle nimmt von deiner Energie und gibt sie dir zurück, wann immer du sie brauchst.
Mit dem Gedanken an Petrus kam auch die Erinnerung an ihr Versprechen zurück. Sie wollte Petrus noch so vieles berichten, hatte sie gestern geschrieben und das würde sie jetzt, obwohl sie schon wieder sehr müde wurde – Machte das die Perle? – nachholen.

 
Engel Petrus, heute werde ich Ihnen berichten, was sich in den letzten Tagen/Wochen alles ereignet hat. Es war wirklich einiges los.
Ich glaube, dass ich gestern bereits geschrieben habe, dass ich wieder einen Dämon vertrieben habe und dabei – ich kann es immer noch nicht glauben – habe ich mich verwandelt. Ehrlich! Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich Ihnen schon von meinen neuen Flügeln berichtet habe, aber jetzt hab ich mich noch weiter verwandelt. Ich habe mich – so seltsam das auch klingen mag – in einen Engel (zurück?)verwandelt. Und von dieser Verwandlung hab ich nun ein Mal. Es sieht fast so aus, wie die Verzierungen auf meinen neuen Flügeln. Es ist wunderschön. Ich weiß nicht, ob es für Sie genauso verwirrend klingt, wie es sich für mich anfühlt, doch ich kann es, zurzeit jedenfalls, nicht anders beschreiben.
Weil ich heute viel Zeit habe, will ich Ihnen auch noch ein bisschen von meinem Leben hier auf der Erde erzählen. Ich will nämlich nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen. Mir gefällt es hier sehr gut. Ich habe gute Freunde gefunden. Und ich bin verliebt. Ich bin so glücklich. Ich könnte es in Welt hinausschreien.


                                                     *


Wieder einmal schrie der Besitzer des Buches wütend auf. Wie konnte es nur sein, dass er den Engel nicht ausfindig machen konnte? Doch halt! Das Mal … was wenn ich …, überlegte der Besitzer. Dann huschte ein unheilverkündendes Lächeln über sein Gesicht. Und dieses Lächeln wurde noch breiter, als er daran dachte, wie schnell man die Freude des Engels beendet konnte. Mit diesem Gedanken schlug er eine neue Seite in dem Buch auf und begann zu schreiben.

 
Ich freue mich für dich, dass du auf der Erde glücklich bist.

 
Es fiel dem Besitzer des Buches schwer diese Worte zu schreiben. Aber er war sich sicher, dass Engel Petrus diese Worte wählen würde. Wenn nicht sogar noch schlimmere, dachte er erschaudernd. Doch das was nun folgen sollte, war dafür Entschädigung genug.

 
Und ich bewundere dich dafür, dass du es so einfach erträgst, dass du töten musst.

 
                                                      *

 
Kaja saß stocksteif auf der Couch und sah schockiert auf Engel Petrus‘ Worte. Töten?

 
Engel Petrus, ich verstehe nicht. Töten?

 
                                                      *

Vor Lachen fiel der Besitzer des Buches fast vom Stuhl. Er konnte den Engel fast vor sich sehen, wie er irgendwo schockiert, fragend, ängstlich auf diese Zeilen blickte. Aus mit dem Glück, dachte er zufrieden. Bevor er dem Engel antwortete, überlegte er sich ganz genau, was er schreiben wollte. Eine kleine Übertreibung schadet ja nicht, dachte er lachend. Außer vielleicht diesem Engel. Vielleicht konnte er sie soweit aus der Fassung bringen, dass sie sich durch irgendetwas verriet.

 
Ach, du kleiner unwissender Engel. Was glaubst du, passiert mit den Dämonen, die du vertreibst? Sie sind tot … verloren.

 
Für mich
, fügte er in Gedanken hinzu, schloss das smaragdgrüne Buch und dachte boshaft lachend an den verwirrten Engel, den er jetzt zurückließ.

 
                                                     *

 
Engel Petrus, ich verstehe nicht. Was soll das heißen? Töte ich diese Dämonen?

 
Kaja verstand nicht, oder wollte vielleicht auch nicht verstehen. Unruhig lief sie in der Wohnung auf und ab, während sie auf eine Antwort wartete. Sollte sie wirklich … war sie wirklich … ein Mörder?  Doch Engel Petrus antwortete nicht.
Schließlich hielt sie die Ungewissheit einfach nicht mehr aus.

 
„Kaja? Was ist mit dir?“ Angst durchflutete Zess‘ Körper, als er Kaja die Tür öffnete.
Das Mädchen stand leichenblass mit schreckensgeweiteten Augen davor und plötzlich brach es aus ihr heraus: „Zess! Ich bin ein Mörder!“
Tränen fanden ihren Weg ins Freie und rannen in Strömen über ihr Gesicht. Schmerzerfüllt krallten sich ihre Fingernägel in ihre Oberarme. So wie das Mädchen jetzt vor Zess‘ Tür stand, sah sie einfach nur verloren aus.
Ihr Anblick sprengte Zess fast das Herz vor Trauer, Angst und Schmerz. Langsam tat er einen Schritt auf den Engel zu und nahm sie behutsam in den Arm. Zärtlich strich er über ihr Haar. Er spürte ihre heißen Tränen an seinem Hals, wie sie sich langsam in sein schwarzes T-Shirt sogen.
„Ich bin ein Mörder“, murmelte Kaja erneut.
Das Mädchen immer noch im Arm haltend, ging er langsam in seine Wohnung zurück und ließ sich zusammen mit ihr auf die Couch sinken. Wie ist sie nur darauf gekommen, dass sie ein Mörder ist?, fragte sich Zess erschüttert. Gut, der Gedanke ist gar nicht so abwägig. Aber wieso jetzt? Wieso erst jetzt? Es war schließlich bereits der zweite Dämon, den sie vertrieben hat. Wieso war ihr der Gedanke nicht schon bei Jessica gekommen?
Er hielt sie noch eine Weile einfach wortlos im Arm. Ihr Schluchzen ließ auch ihn erbeben. Es tat ihm in der Seele weh, Kaja so leiden zu sehen.
Schließlich hielt er Kaja so weit von sich weg, dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Leicht hob er mit dem Zeigefinger ihr Kinn an, zwang sie so in seine Augen zu sehen. Zärtlich strich er mit dem Daumen ihre Tränen fort.
„Du bist kein Mörder, Kaja.“
Er sah wie in ihren tränennassen Augen die Hoffnung aufglomm.
„Du tötest die Dämonen.“
Durch diesen einen Satz hatte er all ihre Hoffnung wieder zunichte gemacht. Er fühlte, als er die Trauer in ihren Augen sah, die Gewissheit, die wie ein eisiger Pfahl in sein Herz gebohrt wurde.
„Die Dämonen sind tot, nicht aber die Seelen der Menschen, die sie einmal waren. Die Seelen hast du befreit.“
Der Junge sah tief in Kajas blaue Augen. Doch dort war wenig bis gar keine Veränderung auszumachen. Zess wusste, Kaja gestattete sich nicht zu hoffen. Denn wenn diese Hoffnung wieder zerstört würde, würde es nur noch mehr schmerzen.
„Kaja, verstehst du? Du hast die Seelen gerettet.“
Jetzt endlich sah er ein klein wenig Hoffnung in Kajas Augen aufkeimen.
„Was passiert mit den Seelen?“, fragte der Engel mit tränenschwerer Stimme.
„Nun ja, für die gibt es nun einige Möglichkeiten. Entweder sie werden wieder von Dämonen oder Engeln aufgegriffen – so wie es nach dem Tod eines Menschen auch passiert oder aber sie werden wiedergeboren. Wenn ich mich recht erinnere, erblicken weltweit jede Sekunde 2,6 Kinder das Licht der Welt und diese Kinder brauchen Seelen. Aber egal was der Seele geschieht, sie bekommt auf jeden Fall die Chance auf einen Neuanfang, weil sie sich ja an ihr früheres Leben nicht erinnern können, egal was aus ihnen wird. Dämon, Engel oder Mensch. Aber diese Chance bekommen sie erst durch dich, Kaja.“
„Ist … ist das wahr?“, fragte der Engel. Man hörte ihrer Stimme deutlich an wie gern sie dies glauben würde, doch wie sehr sie sich dagegen wehrte, zu hoffen.
„Kaja, ich würde dich nie anlügen.“ Anlügen nicht, dachte Zess, aber verschweigen würde ich dir einiges. Was er auch jetzt schon tat, dachte er traurig. Aber er konnte es Kaja nicht sagen, nicht jetzt.
„Oh Zess!“ Auf einmal schlang Kaja ihre Arme um seinen Hals und holte ihn so aus seinen düsteren Gedanken. „Ich dachte wirklich, ich bin ein Mörder.“
Wieder spürte Zess ihre Tränen an seinem Hals. Doch dieses Mal waren es Tränen der Freude, der Erleichterung.
„Wer hat dich nur auf die Idee gebracht, dass du ein Mörder sein könntest?“, fragte Zess mehr sich selbst als Kaja.
Doch diese löste sich von ihm und sah ihm ins Gesicht. „Engel Petrus.“
„Was?“, fragte Zess entsetzt.
„Oh.“ Kajas Augen wurden vor Schreck ganz groß, als sie verstand, was sie gerade gesagt hatte, was sie damit ausgelöst hatte.
„Engel Petrus war auf der Erde?“
Kaja wusste, dass es nun zu spät war für einen Rückzieher. Sie musste antworten. Außerdem wollte sie vor Zess keine Geheimnisse haben, nicht vor ihm.
„Ich habe Engel Petrus geschrieben, dass ich wieder einen Dämon vertrieben habe und er hat mich dafür gelobt, dass ich mich so tapfer halte, obwohl ich töten muss.“
Zess atmete innerlich auf. „Dann hat Engel Petrus sich geirrt. Du tötest nicht, du befreist.“
Leicht verwundert registrierte Kaja, dass Zess gar nicht danach fragte, wie man einem Engel schreiben konnte. Denn schließlich gab es im Himmel keine Postzustellung und Internet auch nicht. Doch sie ging nicht weiter darauf ein.
„Hast du schon etwas gegessen?“, fragte Zess unvermittelt.
Kaja musste wegen des abrupten Themenwechsels kurz überlegen, bevor sie den Kopf schüttelte.
„Dann koche ich uns was.“ Zess stand auf und ging in die angrenzende Küche.
Sie aßen gemeinsam zu Abend, redeten und lachten noch eine Weile und bis Zess Kaja schließlich mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn und einem „Gute Nacht, mein Engel“ verabschiedete, hatte Kaja schon fast wieder vergessen, dass sie sich für einen Mörder gehalten hatte.

 
Am nächsten Tag in der Schule merkte man Kaja nicht mehr an, dass sie am Abend zuvor seelisch zusammengeklappt war.
Während sie sich mit den anderen Mädchen für den Sportunterricht umzog, lachte sie genauso wie die anderen auch.
Als sie schließlich mit ihren schwarzen, langen Sporthose und dem weißen Top die Turnhalle betrat, prüfte sie noch einmal den Sitz des schwarzen Schweißbandes, ob es auch wirklich das silberne Band um ihr Handgelenk verbarg und traute, als sie den Blick hob, kaum ihren Augen. In der Mitte der Turnhallte stand nicht in ihrem schlapprigen Jogging-Anzug die alte Frau Heuberg, eine auf ihre ganz eigene Art und Weise liebenswürdige Person mit einer grauen Aura, sondern Herr Luzifer, in einer schwarzen Sporthose und einem schwarzen, eng anliegendem T-Shirt.
Verwirrt blickte Kaja sich um, als ihr auf einmal ein beständiges Seufzen auffiel, das sie bis jetzt irgendwie ausgeblendet hatte. Die Mädchen, die hinter ihr die Turnhalle betraten, schienen von Herrn Luzifers Anblick geradewegs dahin zu schmelzen. Kaja war immer wieder erstaunt über die Anziehungskraft, die der Lehrer auf seine Schülerinnen hatte. Nur seltsamerweise nicht auf sie. Sie spürte sehr wohl die Anziehungskraft, die von dem Lehrer ausging. Doch dass sie ihm nicht ins Netz ging, lag vielleicht einfach daran, dass sie ihren Lehrer unbewusst mit ihrem Freund verglich. Zess‘ schwarzes Haar war schöner als Herr Luzifers und das lag nicht nur daran, dass es dieses seltsame Glitzern hatte. Zess‘ Lächeln wirkte wärmer, freundlicher. Und wenn Kaja darüber nachdenken würde, würden ihr noch viele andere Dinge einfallen.
„Oh man, schaut euch nur diesen Knackarsch an.“
„Die Muskeln.“
„Sein Haar ist einfach himmlisch.“
Unwillkürlich verdrehte Kaja die Augen, als ihre Mitschülerinnen die Lobeshymne auf Herrn Luzifer anstimmten.
„Mädels, Mädels, ich fühl mich geschmeichelt. Aber jetzt setzt euch mal auf die Langbänke.“, unterbrach der Lehrer das immer lauter werdende Geseufze.
Gehorsam setzte sich die Mädchenschar in Bewegung und steuerte die Langbänke am Rand der Turnhalle an.
„Als erstes muss ich euch die Nachricht überbringen, dass Frau Heuberg der Grippe zum Opfer gefallen ist, dass sie aber hofft, nächste Woche wieder hier zu sein.“
Ein einstimmiges Stöhnen erklang. Kaja zweifelte stark daran, dass dieses Stöhnen der kranken Frau Heuberg galt. Eher schien es so zu sein, als hofften die Schülerinnen darauf, dass Frau Heuberg noch ganz lange krank war, nur damit sie Herrn Luzifer länger anstarren konnten.
„Okay, ich schlage vor, dass wir hier, hier und hier“ Herr Luzifer deutete auf drei verschiedene Stellen in der Halle. „ein Reck aufbauen und den Auf- und Abschwung üben. Damit habt ihr ja bereits bei Frau Heuberg begonnen. Also dann, auf geht’s!“
Die Mädchen schossen wie Raketen von ihren Plätzen und bauten in Rekordgeschwindigkeit die gewünschten Geräte auf.
Herr Luzifer ging langsam durch die Halle, schaute den verschiedenen Mädchen beim Auf- und Abschwung zu und so ging langsam aber sicher die Sportstunde zu Ende.

 
                                                     *

 
An diesem Samstag klopfte Zess früh an Kajas Tür.
Verschlafen öffnete der Engel die Tür.
„Morgen, mein kleiner Engel.“
Zess beugte sich über Kaja und gab ihr einen Guten-Morgen-Kuss.
Erstaunt registrierte Kaja diesen Stromschlag, der sie immer durchfuhr, wenn Zess sie berührt. Sie hatte gedacht, dass sie sich irgendwann daran gewöhnen würde. Doch wie sie jetzt sah, würde es noch lange dauern, wenn dies überhaupt jemals geschehen würde.
„Was willst du jetzt schon hier?“, fragte Kaja verschlafen.
„Ich freu‘ mich auch dich zu sehen, Kaja.“, lachte Zess und schob Kaja zurück in die Wohnung.
„Ich habe frische Semmeln mitgebracht. Jetzt wird Kaffee gemacht und vielleicht wirst du dann ja wach.“
Kaja verschwand ins Bad, während Zess Kaffee kochte.
Beim gemeinsamen Frühstück schließlich schüttelte Kaja den Rest der Müdigkeit ab.
Auf einmal streckte Zess seine Hand aus und begann Kajas Verband, den sie wieder umhatte, um ihr Mal zu verbergen, langsam abzumachen.
„Zess? Was machst du?“, fragte Kaja verwundert. Doch ließ sie es geschehen.
„Dieses Zeichen ist so schön. So etwas darf man nicht verstecken.“ Behutsam fuhr Zess‘ Finger die filigranen Muster nach.
„Aber es darf keiner sehen.“ Kaja klang beinahe traurig.
„Ja, leider.“ Zess griff in seine Tasche und holte ein mit gelbem Geschenkpapier verpacktes Kästchen heraus.
„Aber man muss es nicht mit einem Verband verstecken.“
Langsam, beinahe zögerlich schob er das Päckchen über den Tisch.
Verwirrt betrachtete Kaja erst das Geschenk und dann den Jungen.
Schließlich lachte Zess auf. „Mach es auf, Kaja.“
Behutsam, vorsichtig öffnete der Engel das Päckchen. Das gab ihr Zeit, über diese Geste nachzudenken. So lange hatte sie schon kein Geschenk mehr bekommen. Sie hatte beinahe vergessen, was das für ein Gefühl war. Schließlich hatte sie die Schachtel ausgepackt und sie konnte es nicht mehr weiter hinauszögern, den Deckel zu öffnen. Dennoch öffnete sie den Deckel so langsam, dass es gerade noch nicht seltsam wirkte.
Kurz bevor sie den Deckel geöffnet hatte, sah sie noch einmal zu Zess auf. Dieser forderte sie mit einem aufmunternden Lächeln auf weiter zu machen.
Letztendlich hatte sie den Deckel geöffnet und blickte auf ein schwarzes Band. Vorsichtig nahm sie es heraus und betrachtete es. Was anfangs schien, als wäre es ein langes schwarzes Band, stellte sich als Kette heraus oder doch vielleicht als Armband. Unschlüssig betrachtete Kaja das Band weiter.
Auf einmal nahm Zess ihr das Band aus der Hand und zog gleichzeitig ihren rechten Arm zu sich.
Mit geschickten Fingern wickelte der Junge das Band mehrfach um Kajas Handgelenk und schloss den winzigen Verschluss.
Der Engel drehte in ihrer Betrachtung den Arm. Das Mal war verdeckt.
Zess entwich ein Lachen, als er Kajas verdutztes Gesicht sah. Dieser Lacher holte Kaja aus ihrer Betrachtung und lenkte ihren Blick auf Zess.
„D…Danke“, stotterte sie schließlich. Auf einmal sprang sie von ihre Stuhl auf, lief um den Tisch herum und fiel Zess um den Hals.
„Danke“, hauchte sie, bevor sie ihm einen Kuss gab.
Zess war überrascht von Kajas Gefühlsausbruch – es war schließlich nur ein Armband – aber noch mehr verwundert war Kaja selbst.
„Das … das war aber noch nicht alles.“, meinte der Junge, als er schließlich wieder Luft bekam.
„Noch nicht?“, fragte Kaja in höchstem Maß beunruhigt.
„Keine Angst“, lachte Zess. „Ich will nur mit dir Spazieren gehen.“
Er wollte einfach nur mit seinem Engel zusammen sein. Und hatte noch einen Hintergedanken. Kaja war nun seit mehreren Wochen auf der Erde und hatte von der Stadt, die nun ihre Heimat sein sollte noch nicht mehr gesehen als den Weg von der Wohnung zur Schule und wieder zurück. Selbst Lebensmittel einkaufen, konnte sie auf diesem Weg.

 
Händchenhaltend liefen die zwei durch die Einkaufsstraße. Ein Tag nur mit Kaja., dachte Zess glücklich. Keine gaffenden Mitschüler, keine Freunde, die sich in ihrer Nähe aufhielten und jeden ihrer Schritte beobachteten. Freunde, dachte Zess. Immer hatte er jeden grob abgewiesen, der freundlich zu ihm war. Nie hatte er zugelassen, dass ihm jemand zu nahe kam. Und jetzt war Kaja ihm näher gekommen, als er es je für möglich gehalten hatte. Zess war so in seinem Glück, in seinen Gedanken versunken, dass ihm gar nicht auffiel, dass sich auch hier einige nach dem glücklichen Paar umdrehten.
Auch Kaja blieben diese Blicke verborgen. Sie schwelgte in ihrem Glück. Sie spürte die Stromschläge, die durch ihren Körper schossen, jedes Mal, wenn sich ihre Körper berührten. Zudem war sie fasziniert, von all den Farben, den Menschen, den Gerüchen, den Geräuschen, die auf sie niederprasselten.
Wie sehr hatte sie es vermisst auf der Erde zu wandeln. Wie sehr hatte sie all die Farben vermisst. Jede Person sah anders aus.
Jede Person faszinierte den Engel. Wenn sie an den Himmel zurückdachte, sah sie blonde, fast weiße Engelslöckchen, rehbraune Augen, beinahe weiße Haut und weiße, blaue, lila und rosa Gewänder. Es war eintönig. Doch hier auf der Erde, was jeder Mensch anders. Hier war jeder ein Individuum. Im Himmel war das nie der Fall. Im Himmel war man ein Engel von vielen. Fast kein Unterschied zu sehen.
Kaja sah sich weiter gebannt um, kratzte sich beiläufig am rechten Handgelenk und nahm all das Gesehene in sich auf.
Zess betrachtete glücklich grinsend den Engel. Ihre weit aufgerissenen Augen glitzernden vor Freude, ihr Kopf blieb niemals still. Ständig war er in Bewegung, ständig sah sie von links nach rechts und wieder zurück, damit ihr auch nichts entging.
Sie war wie ein kleines Kind, alles war neu für sie. Vielleicht hätte er sie nicht gleich in eine Einkaufsstraße führen sollen. Eine Straße mit weniger zu sehen, wäre vielleicht für den Anfang besser gewesen
, dachte der Junge. Plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Nie hätte er gedacht, dass er ein Mädchen – freiwillig wohl gemerkt – in eine Einkaufsstraße begleiten würde.
Wieder kratzte sich Kaja am rechten Arm ohne es zu bemerken.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Zess, dem dies nicht entgangen war.
„Was?“, fragte Kaja verwirrt und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Freund zu.
„Habe ich das Armband zu eng gebunden?“, fragte Zess und blieb stehen.
„Was? Nein?“
Dennoch nahm Zess Kajas Hand und prüfte das Armband selbst. Kajas Aufmerksamkeit wurde zwischenzeitlich wieder von den vorbeirauschenden Menschen in Beschlag genommen. Doch irgendwann kam es ihr seltsam vor, dass Zess ihre Hand nicht mehr losließ.
Schließlich wandte der Engel seine Aufmerksamkeit dem Jungen zu, sah ihm ins Gesicht und folgte dann seinem besorgten Blick auf ihr Handgelenk. Zess hatte das Armband auf die Seite geschoben und somit den Blick frei gegeben auf das Mal an ihrem Handgelenk.
Kaja sah erst das Mal und dann ihren Freund entsetzt an.
„Was … was ist das?“ Verwirrt lenkte sie ihren Blick wieder auf ihr Mal. Das Silber schien von innen heraus zu leuchten.
Zess zuckte mit den Schultern und meinte schließlich hilflos: „Ich weiß es nicht.“
Vorsichtig berührte er das Mal. „Es … es ist ganz heiß.“, stammelte er entsetzt und zog seine Hand zurück.
Nun endlich berührte Kaja es selbst. Verwirrt meinte sie schließlich: „Ich spüre nichts. Es … es prickelt nur seltsam.“
Verwirrt sahen sich die zwei an.
„Gehen wir nach Hause!“ Zess hatte Angst. Seine Angst war so groß, sie reichte vermutlich für sie beide. Denn Kaja sah nicht so aus, als hätte sie Angst. Sie sah verwirrt, aber nicht ängstlich aus.
Der Junge griff wieder nach Kajas Hand und ging mit ihr Richtung Sonnenallee. So hatte er sich ihren gemeinsamen Tag nicht vorgestellt., dachte er griesgrämig. Immer wieder lugte er auf Kajas Handgelenk. Das silberne Mal war nun zwar wieder von dem Armband verdeckt, doch er spürte die Hitze, die von Kajas Arm ausging. Auch wenn Kaja sie nicht zu spüren schien., dachte er verwirrt.
Sie waren schon eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen, als Kaja plötzlich stehen blieb.
Erschrocken, ängstlich blickte Zess sich um. Fast hätte er erwartet, dass Kaja zusammenbrach. Aber so sah der Engel gar nicht aus. Ihr Blick drückte verwirrte Entschlossenheit aus.
„W…was ist?“, fragte Zess ängstlich. Er hatte Angst, unheimlich große Angst und er wusste nicht einmal so genau, wieso. Er war nie sonderlich ängstlich gewesen – genau genommen war er eigentlich ziemlich unerschrocken. Aber jetzt hatte er Angst, riesige Angst um Kaja. Was passierte nur mit seinem Engel?
Als das Mädchen auch weiterhin stumm blieb, zog er sanft an ihrem Arm, wollte weiter.
„Nein“, meinte sie entschlossen. „Nicht dort entlang.“
„Aber dort geht es nach Hause.“
„Da entlang“, sagte Kaja, schien seinen Einwand gar nicht gehört zu haben. Der Engel wies nach rechts, obwohl Zess nach links wollte.
„Nein, da geht es nach Hause, Kaja. Ich bin mir ganz sicher.“, widersprach Zess noch einmal.
„Aber ich muss da lang!“, sagte Kaja entschlossen.
Nun war es an Zess, Kaja verwirrt anzustarren.
„A…aber, warum?“
Kaja blieb stumm. Als Zess schon dachte, er würde keine Antwort mehr bekommen, öffnete der Engel schließlich den Mund: „Ich kann es dir nicht erklären. Ich … ich weiß es einfach.“, sagte der Engel und ließ Zess‘ Hand los.
Kaja fehlten die Worte, um das Gefühl, das sie verspürte, in Worte zu fassen.Es war ein Bauchgefühl, Instinkt, eine Eingabe von oben. Kaja wusste es nicht, aber eins wusste der Engel mit Sicherheit. Sie musste diesem Gefühl folgen.
Schließlich ergriff das Mädchen die Initiative und schritt zügig nach links. Zess sah ihr zuerst verwirrt hinterher und rannte ihr schließlich nach.
Wortlos liefen die zwei nach Kajas Gefühl kreuz und quer durch die Stadt. Als Zess schließlich den Mund aufmachte, um Kaja darauf hinzuweisen, dass sie sich verlaufen hatte, ja, dass auch er mit seinem normalerweise hervorragenden Orientierungssinn, keine Ahnung mehr hatte, wo sie sich befanden, blieb Kaja schließlich stehen. Der Engel wusste, was hinter dieser Biegung war. Hinter dieser Biegung war … ja was? Kaja konnte es nicht benennen. Sie wusste nur, dass, was auch immer sie gesucht hatte, da vorne war.
Leise machte Kaja den letzten Schritt und konnte nun in die Sackgasse schauen. Doch bei dem Bild, das sich ihr bot, zweifelte sie stark an ihren Augen. Keine zwei Schritte entfernt stand ein etwa 1,75m großer, muskulöser Mann. Doch vor ihm in die Ecke gedrückt saß zitternd und wimmernd ein dunkelhaariges Mädchen. Schützend hatte sie die Arme um den Kopf gelegt und die Beine angezogen.
„Jetzt gehörst du mir!“ Die Stimme des Mannes war tief und rau. Er machte einen bedrohlichen Schritt auf das Mädchen zu. Ängstlich wimmernd drückte sich das Mädchen noch tiefer in die Ecke.
„Finger weg!“ Bei Kajas Worten zuckten nicht nur der Mann und das Mädchen zusammen, sondern auch Zess.
Der Mann fuhr herum, schneller als es Kaja für möglich gehalten hatte.
„Kaja, nicht, das ist kein …“
„Doch das ist ein Dämon.“, unterbrach der Engel Zess.
Auf einmal schien Kaja von innen heraus zu leuchten und als sich das Licht gelegt hatte, stand das Mädchen in ihrem schwarz-weißen Engelsgewand in der Gasse.
Die tiefe Stimme des Dämons klang leicht verwundert, aber nicht ängstlich wie die letzten Dämonen, als dieser feststellte: „Ein Engel.“
Kaja sah dem Dämon tief in die Augen und ging langsam auf ihn zu. Doch anstatt zurück zu weichen oder zu erstarren, machte auch der Dämon einen Schritt auf den Engel zu.
Leicht irritiert blieb Kaja stehen. Aber dann fühlte sie den Flügelansatz zwischen ihren Schulterblättern und einen Mut, den sich der Engel nicht erklären konnte, den sie aber bereits verspürt hatte. Dieser Mut sagte ihr, dass sie das richtige tat, dass sie von Gott unterstützt wurde.
Entschlossen tat sie einen weiteren Schritt auf den Dämon zu.
Der Dämon grinste von oben herab auf den Engel herunter, was auch nicht schwer war, schließlich war er einen guten Kopf größer als Kaja.
„Was willst du, kleiner Engel?“
„Ich will dich erlösen.“
„Das glaube ich nicht. Mir gefällt es so wie es jetzt ist.“
Kaja ignorierte seine Worte und umarmte den Mann, was diesen einigermaßen erstaunte. Sekundenlang stand er stocksteif.
„Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“, sagte Kaja klar und deutlich, während sich ihre Flüge um den Mann wölbten.
Der Dämon schien irgendetwas zu spüren, denn auf einmal trat Angst in sein teils überraschtes teils selbstgefälliges Gesicht.
Angespannt betrachtete Zess die Szene, bereits jeden Moment einzugreifen und Kaja zur Seite zu stehen. Der Dämon wand sich.
Kurz zuckte Kaja zusammen, bevor sie mit machtvoller Stimme erneut befahl: „Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“
Ob Kaja wohl wusste, wie angsteinflößend und gleichzeitig ehrfurchtgebietend sie aussah, wenn sie einen Dämon vertrieb?
Doch bevor sich Zess weiter dieser Frage widmen konnte, schrie der Dämon auf und Kaja sackte zusammen.
„Kaja!“, rief Zess erschrocken und stürzte zu dem Engel hin.
Stöhnend richtete sich das Mädchen auf. Erschrocken, ängstlich sah sie Zess entgegen.
Wie vom Donner gerührt, blieb der Junge auf einmal stehen.
„K … Kaja“, stotterte er und sank neben dem Engel auf die Knie. „Kaja … oh nein … du bist … aber wie?“
Zögerlich streckte der Junge die Hand nach Kajas Arm aus.
Der Engel spürte zwar den Stromschlag, den sie bei jeder seiner Berührungen verspürte, aber diesmal kam er nicht an gegen ein anderes viel intensiveres Gefühl. Er kam nicht an gegen den Schmerz.
„Was … was ist passiert?“
Der Engel antwortete nicht, war noch viel zu sehr mit der Ursachensuche des Schmerzes beschäftigt. Ihre Gedanken waren wie in Watte gepackt. Später würde sie wissen, dass das die Auswirkungen des Schocks waren. Fragend betrachtete sie ihre rechte Hand, drehte ihn unschlüssig vor ihrem Gesicht. Blut?
Sie bekam nicht mit, wie Zess erschrocken aufkeuchte.
„Kaja … dein Bauch!“
Nun endlich senkte sich ihr Blick auf den wahren Verursacher des Schmerzes. Eine tiefe Wunde klaffte in ihrer linken Seite, besudelte das schwarz-weiße Engelsgewand mit Blut.
„Wie konnte das passieren?“ Wann war das passiert? Er hatte nichts bemerkt. Er hatte den Engel keine Sekunde aus den Augen gelassen.
Und nun endlich löste sich auch die Watte in Kajas Kopf auf, dass sie wieder einigermaßen denken konnte.
„Der Dämon … er hatte ein Messer … als ich ihn umarmte, hatte er ein Messer … aber ich durfte nicht loslassen … ich musste dem Mann helfen … der Mann! … Wie geht es ihm?“
Zess war so sehr von den Vorwürfen geplagt, dass er Kajas Frage und ihren verwirrten Blick anfangs gar nicht bemerkte.
„Zess, wo ist der Mann?“, fragte der Engel noch einmal mit Nachdruck. Sie kümmerte sich nicht länger, um ihre Schmerzen, um ihre Wunde. Ihr ging es nur noch um das Wohlergehen des Mannes.
„Ähm“ Nur langsam kehrte Zess in die Wirklichkeit zurück. „Das wollte ich dir am Anfang sagen. Das war kein Dämon …“
„Doch! Es war ein Dämon!“, unterbrach Kaja Zess entnervt.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Lass mich ausreden, ungeduldiger kleiner Engel.“
Kaja zog trotz Schmerzen eine Schnute und erzeugte ein weiteres Lächeln auf Zess‘ Gesicht.
„Das ist kein Dämon, wie du sie kennst“, sagte Zess schnell, bevor ihm der Engel erneut ins Wort fiel. „Das war ein Level D-Dämon. Level D-Dämonen besetzten nicht mehr menschliche Körper. Sie haben einen eigenen. Ich wollte dich ja vorher warnen, weil ich nicht wusste, ob du solche Dämonen auch bekämpfen kannst. Aber das Problem hat sich im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst.“
„Wo ist der Mann?“, fragte Kaja noch einmal, obwohl man ihrer Stimme deutlich anhörte, dass sie eine Vermutung hatte, die ihr aber nicht gefiel.
„Er hat sich in Luft aufgelöst.“
Diese Worte bestätigten Kajas Vermutung und warfen erneut die Frage auf: War sie jetzt ein Mörder?
Doch bevor sie dieser Frage weiter nachgehen konnte, riss ein Wimmern ihre Aufmerksamkeit an sich.
„Das Mädchen!“ Kaja versuchte aufzustehen, sackte aber stöhnend wieder in sich zusammen.
„Bleib sitzen! Ich schau nach ihr.“
Vorsichtig näherte sich Zess dem Mädchen, war sich dessen bewusst, dass er ein männliches Wesen war und dass dieses Mädchen nun wahrscheinlich alle männlichen Geschlechts über einen Kamm scheren würde. Und wirklich, kaum sah das Mädchen Zess, drückte sie sich ängstlich wimmernd noch tiefer in die Ecke.
„Du brauchst keine Angst zu haben! Ich will dir nichts tun! Ich will dir helfen!“ Die Hände schön sichtbar vor dem Körper, die Handflächen zu dem Mädchen zeigend – also die typische Ich-bin-unbewaffnet-Geste – machte er den nächsten Schritt auf das Mädchen zu. Immer diese drei Sätze sagend, näherte er sich langsam dem Mädchen und ging schließlich vor ihr in die Hocke.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
Das Mädchen antwortete nicht.
„Bist du verletzt?“
Langsam schüttelte das Mädchen den Kopf.
„Findest du allein nach Hause?“ Eigentlich müsste man das Mädchen nach Hause begleiten, aber Kaja war jetzt wichtiger.
Und glücklicherweise nickte das Mädchen, stand auf und ging ein paar Schritte die Gasse entlang, bevor sie noch einmal stehen blieb.
„Ich danke euch, Engel.“ Mit diesen Worten verschwand das Mädchen.
Zess blieb noch kurz stehen, war überrascht über ihre Worte. Engel. Das Mädchen glaubte, dass auch er ein Engel ist. Dann aber schüttelte er seine Überraschung ab und kehrte zu Kaja zurück.
„Kannst du aufstehen?“, fragte Zess, konnte den Blick nicht von Kajas Wunde lösen.
Langsam öffnete Kaja die Augen. Ihr Gesicht war weißer als die Wand. Sie wirkte müde.
Zess streckte ihr die Hand entgegen und half dem Engel hoch.
Stöhnend krümmte sich das Mädchen zusammen. Doch Zess hielt sie auf den Beinen und legte sich ihren linken Arm um seine Schulter.
Kaja presste ihre rechte Hand gegen die schmerzende Wunde und tat langsam einen Schritt nach dem anderen. Jeder Schritt löste eine erneute Schmerzenswelle aus.
So schleppten sie sich durch die Gassen. Lange wusste Zess nicht, wo sie waren. Doch endlich kamen sie an einem Straßenschild vorbei, das dem Jungen bekannt vorkam. Sie waren nicht mehr weit von der Sonnenallee entfernt.
Kajas Engelsgewand war verschwunden, doch auch ihr lila T-Shirt war schon blutgetränkt. Der Engel selbst konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, war kaum mehr bei Bewusstsein.
Zess erschien es wie ein Wunder, als sie vor der Wohnungstür standen und sie auf dem ganzen Weg auf keine Menschenseele getroffen waren.
Vorsichtig legte der Junge Kaja im Bett ab. Nun war der Engel endgültig bewusstlos geworden. Doch dies konnte Zess ihr nicht verdenken. Sie war nach den bisherigen Vertreibungen schon schwach gewesen. Aber diese Vertreibung war heftiger – vermutete er jedenfalls – und dann noch diese Wunde. Zärtlich strich Zess dem Engel eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht.
Dann machte er sich auf die Suche nach einem Verbandskasten. Fündig wurde der Junge schließlich im Badezimmer.
Mit meterweise Verband und einem nassen Tuch kehrte er zu dem Engel zurück.
Vorsichtig entfernte Zess das T-Shirt von der Wunde und tupfte behutsam mit dem Tuch das Blut von Kajas Bauch.
Nachdem Kaja fertig verbunden war, blieb Zess an ihrem Bett sitzen und betrachtete das Mädchen voller Angst und Zweifeln. Sollte er einen Arzt rufen? Aber wie sollte er die Stichwunde erklären? Schlimmer noch, wie sollte er Kajas Heilung begründen? Zess sah auf Kajas schweißgetränktes Gesicht. Die Heilfähigkeit von Grenzgängern übertreffen die von Menschen in gewissem Maß. Doch würden sie ausreichen, um diese Wunde zu heilen, bevor … Nein!, darüber wollte und durfte Zess nicht nachdenken.


                                                      *


Geblendet schloss Kaja die Augen wieder, kaum dass sie diese aufgeschlagen hatte. Vorsichtig und dieses Mal sehr viel langsamer öffnete der Engel die Augen erneut. Was war passiert? Doch als sie ihre Hand hob, um ihre Augen vor dem immer noch ziemlich grellen Licht zu schützen, wurde ihr Körper von einer Lawine des Schmerzes überrollt und zeitgleich fiel ihr alles wieder ein. Der Dämon, das Mädchen, das Messer. Leise stöhnte sie auf und ließ die Hand wieder sinken.
Zess, der bis dahin den Kopf schlafend den Kopf auf ihrem Bett gelegt hatte, fuhr erschrocken hoch. „Kaja!“
Das Mädchen grinste gequält und meinte: „Alles in Ordnung.“ Doch die Schwäche in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen.
Und nach Zess‘ Gesicht zu urteilen, war es nicht nur ihre Stimme, die sie verriet.
Traurig betrachtete der Junge seinen Engel. Kaja war blass, sie hatte einen müden Blick und dunkle Ringe unter den Augen. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.
„Soll ich einen Arzt rufen?“
Kaja wollte sofort entschlossen mit „Nein!“ abwehren, doch dann sah sie die Angst in Zess‘ Augen und dachte über die Frage nach. Aber wie sollte sie ihre Wunde erklären? Ja, es war eine gewalttätige Stadt, da kam es schon einmal vor, dass man niedergestochen wurde. Aber der Verletzte entfernt sich normalerweise nicht vom Ort des Geschehens, lässt sich daheim verbinden und geht erst Stunden später zum Arzt. Nein, sie musste es so schaffen.
„Nein, ich brauche keinen Arzt. Mir geht es gut.“
Zess hob die linke Augenbraue und sah sie abschätzend an. Dieses Gesicht brachte Kaja zum Lachen, was sie besser nicht getan hätte. Denn nun brachte ihre Wunde den Engel zum Weinen.
Und da spürte sie es auf einmal. Sie spürte die Kraft, die durch ihren Körper floss. Sie spürte die Kraft, die aus ihren Fingerspitzen, ihren Zehen zur Körpermitte floss. Nein, nicht zur Körpermitte, stellte Kaja fest, sondern zu ihrem Hals. Und von ihrem Hals floss die Kraft gebündelt zurück in ihren Körper, zu ihrer Wunde. Die Kette! , erkannte der Engel. Die Kraft, die in ihren Körper zurückfloss, war nicht dieselbe Kraft, die zu der Kette kam. Sie war stärker. Und auf einmal erinnerte sie sich an die Worte von Engel Petrus, als würde er neben ihr stehen und sie wiederholen. „Die Perle schützt dich zwar nicht vor Verletzungen, aber zum größten Teil vor dem Tod. Die Perle nimmt von deiner Energie und gibt sie dir zurück, wann immer du sie brauchst. Wenn sie aufgeladen ist, kann sie dich sogar vor dem Tod schützen. Durch die zusätzliche Kraft der Perle können deine Verletzungen schneller heilen.“
„Ich werde dir etwas kochen! Hühnersuppe. Das wird dich wieder zu Kräften bringen.“ Zess sprang auf und verschwand in die Küche.
Traurig sah der Engel ihm hinterher. Man sah ihm seine Gedanken nur allzu deutlich an. Er machte sich schreckliche Vorwürfe. Das Kochen war nur ein Versuch, sich von seinen Vorwürfen abzulenken. Doch das würde nicht gelingen. Kaja wusste es. Es würde ihm genauso wenig gelingen, wie es ihr gelang, sich von dem Gedanken abzulenken, dass sie ein Mörder war. Ihre Schmerzen zeigten ihr zudem, dass – selbst wenn sie die Seele befreit haben sollte, wie die der anderen Dämonen auch – dass sie dafür nicht stark genug war. Sie war zu schwach, um die Dämonen zu befreien. Sie war zu schwach, um ihren Auftrag auszuführen.
Diese Erkenntnis brachte Kaja in tiefe Bedrängnis. Sie war zu schwach. Sie würde alle enttäuschen.
Der Engel lag nun bewegungslos im Bett und doch wurde sie von Schmerzen gequält. Jeder noch so vorsichtige Atemzug bereitete ihr Schmerzen. Alles in ihr schrie – wider jeder Vernunft – sich zusammenzurollen und die Hände gegen den Bauch zu pressen. Doch sie wusste auch, dass würde nur neue Schmerzen verursachen. Am liebsten hätte sie geschrien. Doch in diesem Moment kam Zess mit einem Teller Hühnersuppe zurück und Kaja verkniff sich ihren Schrei.
„Wie geht es dir?“, fragte der Junge besorgt.
Man sah ihr wohl ziemlich deutlich an, dass es ihr schlecht ging.
Und dennoch antwortete Kaja lächelnd: „Mir geht es gut.“
Zess zuliebe aß sie ein paar Löffel Suppe, war aber so tief in Gedanken versunken, dass sie nicht mitbekam, was sie sich in den Mund steckte. Und das blieb auch Zess nicht verborgen.
Als der Junge ihr das Kissen aus dem Rücken nahm, das es ihr ermöglicht hatte ein wenig aufrechter zu sitzen und der Engel nun wieder flach auf dem Rücken lag, kam Kaja nicht mehr umhin in Zess‘ wunderschöne nun von Sorgen und Müdigkeit getrübten dunklen Augen zu blicken.
„Du solltest nach Hause gehen.“ Doch sie konnte bereits in seinen Augen die Antwort lesen.
„Nein, ich lasse dich nicht allein.“
Kaja war zu schwach, um sich mit ihm zu streiten und doch sah sie es ihm an, wie kaputt er war.
„Du siehst müde aus.“, versuchte sie es dennoch halbherzig.
„Ich bleibe hier.“, widersprach Zess stur.
„Dann leg dich eben aufs Sofa. Aber du musst schlafen. Du siehst scheiße aus.“
„Solche Komplimente hört man immer wieder gern.“, gab Zess zickig zurück.
Zess‘ Laune war am absoluten Nullpunkt angelangt. Er sah, wie schlecht es Kaja ging und machte sich schlimme Vorwürfe. Er sah aber auch, dass Kaja irgendetwas bedrückte und sie ihn ausschloss. Und doch war er so schlau, das nicht anzusprechen – nicht jetzt. Das würde bei ihrer beider Verfassung nur in einem Streit enden. Nein, morgen war auch noch ein Tag. Jetzt sollte er wirklich erst einmal schlafen.
„Okay“, gab er sich schließlich geschlagen.

 
Lange lag Kaja nun schon wach in ihrem Bett. Lange quälten sie nun schon diese Gedanken. Sie war zu schwach, zu schwach, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Aber schlimmer noch als diese Gedanken war die Angst, die Angst, die diese Verletzung ausgelöst hatte, die Angst vor den Schmerzen.


                                                    *


Am Montagmorgen stand Kaja das erste Mal seit zwei Tagen Bettlägerigkeit wieder auf. Schule hieß das Zauberwort. Wenn es nach Zess gegangen wäre, hätte sie nicht in die Schule gehen dürfen. Aber Kaja wollte es, sie wollte unbedingt.
Das Wochenende hatten die zwei sich größtenteils angeschwiegen oder unverfängliche Themen gewählt. Keiner wollte ansprechen, was beide wussten. Dass Kaja etwas verschwieg.
Doch jetzt war Montag, Montag hieß Schule, Montag hieß Abwechslung. Das Wochenende hatte Kaja zu viel Zeit gegeben, um ihren eigenen trübsinnigen Gedanken nachzuhängen.
Doch jetzt stand sie, jetzt war sie bereit in die Schule zu gehen. Solange sie aufrecht stand und sich nicht bewegte, hatte sie keine Schmerzen. Laufen war eine Herausforderung. Doch die größte Herausforderung war das Sitzen. Der Engel saß zwar als hätte sie einen Besenstiel verschluckt und trotzdem bereitete ihr jeder Atemzug Schmerzen. Doch sie ließ sich nichts anmerken, dachte sie jedenfalls. Zess bemerkte es, weil er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Aber auch die anderen bemerkten es. Viel zu oft wurde Kaja gefragt, wie es ihr ging und jedes Mal lautete die Antwort: „Mir geht es gut.“
In den Gängen und den Pausen wich Zess Kaja nicht von ihrer linken Seite. Er beschützte ihre verwundete Seite, fing alle Ellenbogenhiebe und Taschen ab, die auf diese Seite gerichtet waren.
Am Ende dieses Tages war Kaja froh, diesen Tag endlich überstanden zu haben. Doch sie musste auch zugeben, dass der Tag die erhoffte Abwechslung gebracht hatte. Kein einziges Mal war sie von ihren düsteren Gedanken heimgesucht worden. Ganz anders als jetzt, da sie wieder in ihrem Bett lag.
Die Stimmung zwischen ihr und Zess war noch immer als eher kalt zu beschreiben und so ging Kaja an diesem Abend früh Schlafen. Sie spürte die Blicke, die sie keinen Moment allein ließen. Sie spürte das Verlangen mit Zess zu reden. Doch über was? Sie wusste ja selbst noch nicht so genau, wie es jetzt weitergehen sollte. Wie sollte sie Zess erklären, dass sie verdammt noch mal Angst hatte? Angst vor dem weitermachen, Angst vor weiteren Dämonen. Ja, sie hatte Angst. Aber damit würde sie Zess, Engel Petrus, ja sogar Gott enttäuschen. Aber konnte sie weiter Dämonen jagen?
Zess sah dem Engel allzu deutlich an, dass sie etwas bedrückte. Und so sehr es ihn auch interessierte, er fragte nicht nach. Er kannte Kaja, er wusste, dass sie ihm keine Antwort geben würde, wenn sie noch nicht dazu bereit war.
Den Sportunterricht am nächsten Tag blieb Kaja mit der Ausrede fern, sie habe Bauchschmerzen. Naja, eigentlich war das keine Ausrede. Nur der Bereich der Schmerzen war nicht genau definiert.
Dennoch brachte ihr diese Ausrede einen etwas seltsamen Blick von Herrn Luzifer ein, der noch immer die Vertretung für Frau Heuberg war. Aber da noch weitere Mädchen mit Kaja auf der Bank saßen, tippte der Lehrer schließlich auf eine Epidemie.
An diesem Tag gingen Zess und Kaja händchenhaltend nach Hause. Endlich hatte der Junge den Mut zusammen den Engel auf sein distanziertes Verhalten anzusprechen, als ihm etwas anderes auffiel. Kaja glühte. Doch als er dem Engel ins Gesicht sah, sah er dort weder Schweißperlen noch irgendein anderes Anzeichen für Fieber. Kaja blickte nur stur geradeaus.
Fieber war Zess‘ größte Angst. Denn Fieber würde bedeuten, dass Kajas Wunde nicht so gut verheilte wie er angenommen hatte, Fieber würde Komplikationen bedeuten.
„Kaja, geht es dir gut?“
Das Mädchen wusste nicht, wie oft sie diese Frage in den letzten Tagen gehört hatte und wie oft sie darauf – wie auch jetzt – mit einem Lächeln und einem „Mir geht es gut.“ geantwortet hatte. Doch sie hatte es kein einziges Mal so gemeint.
Nach einem kurzen Lächeln in Zess‘ Richtung, starrte Kaja wieder angestrengt geradeaus.
Resignierend seufzte Zess auf und ließ Kajas Hand los. Er wusste nicht, wie oft er das in den letzten Tagen gehört hatte. „Mir geht es gut.“ Er wusste nur, dass es nie ehrlich gemeint war. Es konnte Kaja nicht gut gehen. Niemanden ging es gut, wenn er ein Messer in der Seite hatte. Und selbst wenn er das nicht gewusst hätte, konnte Kaja ihm nichts vormachen. Er sah es in ihrem Blick. Ihr Blick zeigte die Schmerzen, die sie vor ihm verbarg. Doch jetzt reicht es, beschloss der Junge. Kaja hatte lange genug die Starke gemimt. Er packte Kaja am Handgelenk und wollte ihr ins Gesicht sagen, was er wusste, wollte sagen: „Ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Ich weiß, dass du Schmerzen hast.“ Doch letzten Endes kam nur ein gestottertes „Kaja … dein … Arm …“ dabei heraus.
Der Engel wollte sich losreisen. Doch Zess hielt sie fest. Und auf einmal wusste er, was los war, erinnerte sich. Wie hatte er das nicht bemerken können? Er hatte diese Hitze, die von Kaja ausging, die sie selbst nicht spürte, schon einmal gespürt. Es war kurz vor dem letzten Dämon gewesen. Zess strich entschlossen die Bänder ihres Armbandes auseinander und brachte so Kajas Mal zum Vorschein, das nun wieder silbern leuchtete.
„Kaja? Spürst du einen Dämon?“
„Nein … ich will nicht“, stieß der Engel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Zess verstand nicht. Doch dann brach der Engel in Tränen aus und wurde von heftigem Zittern geschüttelt.
„Kaja!“ Erschrocken zog Zess sie in eine Umarmung, hielt sie wortlos einfach nur fest, bis das Zittern aufhörte. Und auch dann hielt er sie weiter fest. Er musste an sich halten, um sie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln bis sie ihm sagte, was los war. Doch er übte sich in Geduld und hielt sie einfach nur fest, bis sie von selbst zu sprechen anfing.
„Ich will nicht, Zess.“ Wieder wurde sie von heftigem Zittern geschüttelt. „Zess, ich habe Angst.“, weinte Kaja.
Und da verstand Zess auf einmal, verstand, was Kaja die ganze Zeit vor ihm verborgen hatte, was sie so bedrückt hatte.
„Ich weiß, dass du es kannst.“
„Nein, du verstehst nicht. Ich bin zu schwach. Ich kann die Dämonen nicht besiegen.“
„Das stimmt nicht und das weißt du. Du hast bis jetzt alle Dämonen besiegt. Sogar Level D-Dämonen.“
„Ja“, gab Kaja widerwillig zu. „Nein … ach Zess. Ich weiß es nicht. Ich habe Angst.“ Der Engel schmiegte sich noch enger in die Umarmung.
„Das macht doch nichts.“, sagte Zess. „Jeder hat Angst. Und das ist gut so. Denn Angst bewahrt uns vor Dummheiten.“
Kaja blieb stumm. Doch Zess sah das Zweifeln in ihrem Blick.
„Erst durch Angst können wir mutig sein. Denn Mut heißt die Angst zu überwinden und das macht uns zu Helden.“
Kajas Blick wurde trüb, schweifte ab.
„Aber ich bin kein Held. Ich bin zu schwach.“
„Ein Held wirst du nicht durch deine Kraft. Ein Held wirst du erst durch deine Taten. Und auch wenn du es noch nicht weißt, bist du durch deine Taten in dieser Stadt bereits zu einem Helden geworden. Ich weiß nicht, ob du einen Nachrichtenbeitrag gesehen hast von den Menschen, die von einem Tag zum anderen ihren Charakter verändern, die Böse werden.“
Kaja nickte.
„Wahrscheinlich weißt du auch, dass sie von Dämonen besessen sind.“
Wieder nickte der Engel.
„Jetzt berichten sie in den Nachrichten von einem Engel, der eben diese Menschen befreit.“
Kajas zweifelnder Blick ließ Zess auflachen.
„Das stimmt. Aber du kannst es noch nicht gesehen haben, du hast ja das Wochenende zum größten Teil verschlafen. Die Menschen verehren den Engel, der diese Stadt befreit. Kaja, sie verehren dich!“
„Aber ich kann das nicht mehr. Ich wurde … was, wenn ich wieder ...?“
„Du hast Angst, dass du wieder verletzt wirst. Du hast Angst vor den Schmerzen.“, erkannte Zess.
„Ich bin so egoistisch.“, weinte Kaja.
„Nein, Kaja, du bist nicht egoistisch. Das ist Selbstschutz. Aber denk einmal nach, wie vielen Menschen du schon geholfen hast.“ Zess ließ Kaja Zeit an all diese Gelegenheiten zu denken. „Und jetzt überleg einmal, wer außer dir dies vollbringen kann?“
Doch bevor Zess eine Antwort auf diese Frage bekam, sackte der Engel zusammen. Erschrocken verstärkte er die Umarmung und hielt Kaja auf den Beinen.
„Kaja“, rief er erschrocken. „Was ist mit dir?“
Das Mädchen krümmte sich vor Schmerzen.
„Zess, es zerreißt mich!“
„Was?“, fragte Zess verwirrt und ließ sich mit Kaja auf den Boden sinken.
„Alles in mir zieht zu dem Dämon. Aber … ich will nicht. Zess, hilf mir!“
Hilflos saß Zess mit Kaja am Boden. Er wollte so gern helfen, doch er verstand nicht einmal, was mit Kaja passierte.
Er spürte Kajas heiße Tränen an seiner Wange.
„Ich verstehe nicht.“
„Alles in mir zieht zu dem Dämon. Aber ich will nicht. Ich will keine Dämonen mehr bekämpfen.“
Und da verstand Zess auf einmal. Kaja hatte schon beim letzten Dämon genau gewusst, wo dieser war und war zielstrebig hingegangen.
Bis jetzt hatte er wegen Kajas Wunde und ihrem abweisenden Verhalten noch keine Gelegenheit gefunden, sie auf das Leuchten ihres Mals und das seltsame Auffinden des Dämons anzusprechen. Doch jetzt war es anders. Jetzt kämpfte sie dagegen an.
Wieder verkrampfte sich Kaja in Zess‘ Armen und sein Herz zog sich zusammen. Es tat weh, Kaja so leiden zu sehen und deshalb sagte Zess das einzige, was dieses Leiden beenden konnte: „Kämpfe nicht dagegen an, Kaja! Es wird erst aufhören, wenn du zu dem Dämon gegangen bist. Kaja, bitte!“
Das Mädchen blieb stumm. Doch dann krümmte sie sich erneut schmerzvoll zusammen – Was sicher auch für ihre Wunde nicht vorteilhaft war, erkannte Zess.
„Ich kann nicht mehr.“, keuchte Kaja. „Es wird immer schlimmer.“
„Geh doch einfach zu dem Dämon. Du hast bis jetzt jeden erlöst, wieso solltest du diesen nicht schaffen?“
Statt einer Antwort krümmte Kaja sich erneut vor Schmerzen.
„Sagtest du nicht, dass du Angst vor Schmerzen hast. Aber sag mir eins. Kaja, was tut mehr weh, die Wunde von dem Dämon oder das hier?“
Als Zess schon meinte, dass seine Worte nicht zu Kaja durchgedrungen waren, griff sie seine Hand und sagte entschlossen: „Hilf mir hoch!“
Kaja wusste, dass die Schmerzen nicht aufhören würden, wusste, dass die Schmerzen sie umbringen würden. Der Engel kannte die Wahrheit. Kaja war klar, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte, ihr war klar, dass sie zu dem Dämon gehen musste. Aber sie hatte Angst vor den Folgen dieser Wahrheit. Sie würde nicht nur zu dem Dämon gehen müssen. Sie würde ihn auch vertreiben müssen. Und davor hatte sie riesige Angst.
Mit jedem Schritt, den sie nun auf den Dämon zutaten, entzerrte sich Kajas schmerzverzerrtes Gesicht. Mit jedem Schritt, den sie auf den Dämon zutaten, steigerte sich ihre Angst.
Zess ließ den ganzen Weg über Kajas Hand nicht los. Auch wenn sie die Hitze ihm die Hand zu verglühen schien. Er wusste, Kaja brauchte seine Nähe. Er wusste, diese Nähe würde dem Engel helfen, dies durchzustehen.
Und dann war es so weit. Kaja wusste, was sie am Ende dieser düsteren Gasse erwarten würde.
Zess spürte, dass sie dem Dämon nicht mehr fern sein konnten. Wieder durchlief Kajas Körper ein Zittern. Hatte das Zittern wegen der Schmerzen schon vor langer Zeit aufgehört, war dieses neue Zittern für Zess umso beängstlicher. Es war ein Zittern aus Angst. Würde Kaja den Mut finden, den Dämon zu vertreiben? Er könnte ihr diesen nicht geben. Was machte er da?, fragte er sich wütend. Wieso drängte er Kaja dazu, Dämonen zu vertreiben? Das sollte er nicht tun. Das sollte er ganz und gar nicht tun. Doch schnell verdrängte er den Gedanken wieder, der ihm in letzter Zeit immer öfter kam.
Dann blieb Kaja auf einmal stehen und holte Zess‘ Aufmerksamkeit in die Wirklichkeit zurück.
Sein erster Blick galt Kaja. Doch diese sah ängstlich in die Gasse und so folgte Zess ihrem Blick in die finstere Gasse. Und da entdeckte er ihn – den Dämon – und hätte vor Freude beinahe aufgeschrien. Level E. Es war nur ein Level E-Dämon. Besser noch. Der Wirt des Dämons war eine junge Frau Anfang zwanzig. Es würde Kaja leichter fallen auf ein Kind zuzugehen und es zu umarmen, als auf einen erwachsenen Mann., war sich Zess sicher. Na ja, genau genommen war das da vorne kein Kind, sondern eine erwachsene Frau. Aber immer noch besser als ein Mann. Zess war sich dessen nur zu schmerzhaft bewusst, dass es eigentlich ziemlich egal war, ob der Wirt des Dämons erwachsen oder nicht, Frau oder Mann war. Der Dämon war immer stark. Der Junge konnte nur hoffen, dass sich Kaja von dem Anblick täuschen ließ.
Während Zess seine Gedanken über Dämonen, ihren Wirt und ihrer Stärke nachhing, war Kaja damit beschäftig sich zu überzeugen, dass nichts dabei war, diese Frau da vorne zu umarmen.
Kaja stand weiterhin nur da und starrte die Frau an und diese starrte mit finsterem Blick zurück. Die Frau lehnte lässig in einem Hauseingang. Sie war eigentlich recht hübsch. Ihr leuchtend rotes Haar strahlte mit ihren glitzernden grünen Augen um die Wette. Wäre da nicht ihr Blick gewesen, der dieses Glitzern überdeckte. Ihr Blick gab die Sicht frei auf ihr Inneres, frei auf das Böse, das in ihr hauste.
„Verschwindet, ihr Rotzbengel. So was wie euch verspeise ich zum Frühstück.“
Zess raunte Kaja zu ohne den Blick von der Frau zu wenden: „Es ist nur Level E. Kein Problem. In der Frau ist nur ein Level E-Dämon.“
Kein Problem, nur Level E.
, sagte sich Kaja immer wieder vor, versuchte sich Mut zuzusprechen. Doch ein Problem! Auch Level E können Messer führen. Und mit diesem einen Gedanken war all ihr neu angesammelter Mut verpufft.
Zess spürte Kajas Angst. Er konnte sie beinahe körperlich fühlen.
Immer noch wurden sie von den beinahe unheimlich grünen Augen der Frau angestarrt. Doch Zess versuchte diesen Umstand zu ignorieren und wandte sich Kaja zu.
„Kaja?“ Doch der Engel reagierte nicht, konnte den Blick nicht von dem Dämon wenden.
„Kaja!“ Beinahe gewaltsam zwang Zess das Mädchen ihn anzublicken.
„Weißt du, was man auf der Erde sagt? Wenn ein Reiter vom Pferd fällt, muss er sofort wieder aufsteigen. Und weißt du auch, wieso? Weil sonst die Angst Überhand gewinnt. Er würde nie wieder reiten. Dasselbe gilt für dich. Du musst diesen Dämon vertreiben, sonst wird deine Angst zu groß, sonst wirst du deinen Auftrag nicht ausführen können. Du wirst deinen Gott enttäuschen.“
Zess glaubte nicht daran, dass es einen Gott gab. Doch das war für den Moment nicht weiter wichtig, wichtig war nur, dass Kaja den Mut fand, den Dämon zu vertreiben. Wieso war es ihm nur so wichtig, dass sie das tat? Klar, die Schmerzen würden nicht aufhören, wenn sie sich weigerte. Aber das war es nicht. Nicht nur. Da war noch mehr. Zess wusste es. Doch er wusste nicht, was dieses mehr war.
Gott enttäuschen? Nein, schlimmer noch. Sie würde auch Engel Petrus und … Layla enttäuschen.
, erkannte Kaja. Sie würde alle enttäuschen, die Hoffnung auf sie, auf ihren Auftrag gesetzt haben … Sie würde sich selbst enttäuschen. Endlich hatte sie nach so langer Zeit wieder zu hoffen gewagt, ihren Auftrag ausführen zu können. Und jetzt? Jetzt hinderte sie ein einziges Gefühl daran, jetzt hinderte sie das irrationale Gefühl der Angst vor etwas, was vielleicht passieren könnte, daran, zu tun für was sie auf die Erde gekommen war. Nein, das durfte sie nicht. Aber sie hatte Angst.
Wieder wurde ihr Blick wie magnetisch von dem Dämon, der Frau – ja, was? – angezogen.
Die Frau!
, erkannte der Engel erschrocken. Level E! Die Frau war in dem Inneren ihres Körpers gefangen. Sie durfte die Frau nicht alleine lassen. Was wäre sie für ein Engel, wenn sie den Menschen nicht half? War sie nicht deswegen auf die Erde gekommen? Um den Menschen zu helfen?
Tief in ihrem Inneren hatte Kaja bereits unbewusst den Entschluss gefasst, den Dämon zu vertreiben. Doch in ihren Gedanken war immer noch die Erinnerung an die Schmerzen, die immer noch da waren, die sie immer noch spürte. Aber auch dieser unbewusste Entschluss reichte, um sich zu verwandeln. Wieder durchströmte sie dieser Mut. Doch würde er reichen, um die Angst zu überwinden? Nein. Er reichte nicht.
Und dennoch tat sie einen Schritt auf den Dämon zu. Immer und immer weiter.
Zess hätte beinahe laut gejubelt vor Stolz auf seinen Engel. Und doch ließ er Kaja keine Sekunde aus den Augen. Ihr durfte nichts passieren. Immer und immer wieder glitt sein Blick über die Frau. Doch er konnte keine Waffe erkennen.
Wieder tat Kaja einen Schritt auf den Dämon, die Frau zu. Jeder einzelne Schritt bedeutet die Angst in ihrem Körper zu bekämpfen und doch tat sie ihn. Nur noch einen Schritt und sie kann den Dämon umarmen., erkannte Zess. Angespannt hielt er die Luft an. Er konnte Kajas Kampf in ihrem Inneren nicht sehen und doch ahnte er, was in ihr vorging.
Der Engel blieb stehen, sah zuerst dem Dämon unschlüssig ins Gesicht, bevor sie ihren Blick auf ihre eigenen Hände senkte.
Dann tat sie etwas, was Zess mehr schockierte, als wenn sie sich umgedreht hätte und weggelaufen wäre. Kaja griff nach den Handgelenken der Frau und hielt diese mit schraubstockartigem Griff fest. Zess sah ihre Knöchel weiß hervortreten. Was tat sie da?, fragte sich der Junge verwirrt.
Doch da öffnete Kaja den Mund und befahl mit machtvoller Stimme: „Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“ Ihre Flügel wölbten sich nach vorne. Der Dämon lachte auf und Kajas Augen weiteten sich irritiert. Aber dann schloss Kaja die Augen. Falten traten auf ihre Stirn, Schweißperlen glänzten.
Was war da los?
Schnell vergewisserte sich Zess, dass der Dämon wirklich Level E war. Aber egal wie oft er hinsah, der Dämon blieb Level E.
Langsam veränderte sich das Lachen des Dämons, bis es schließlich einem spitzen Schrei glich.
„Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“, befahl Kaja keuchend.
Und dann war es still.
Kaja torkelte kurz und sackte dann zusammen. Die Frau ging neben ihr zu Boden.
„Kaja!“ In panischer Angst rannte er auf den Engel zu, zog ihren Kopf in seinem Schoß und strich ihr das braune Haar aus dem Gesicht.
„Kaja?“, fragte Zess ängstlich, strich ihr sanft über die Wange.
„Mir geht es gut.“ Mühsam öffnete sie die Augen und verzog ihre Lippen zu einem Lächeln. Sie sah den Vorwurf in Zess‘ Augen und meinte schnell: „Ich bin nur müde, Zess.“
Neben Kaja regte sich langsam, stöhnend die Frau, doch der Junge bemerkte sie nicht. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein Kaja, seinem kleinen Engel, der leichenblass zu seinen Füßen lag. Liebevoll strich Zess Kaja über die Wange.
Plötzlich fuhr die Frau mit schreckensgeweiteten Augen in eine sitzende Position hoch. Verwirrt, ängstlich huschte ihr Blick umher, blieb an den zweien hängen, huschte weiter und kehrte zurück. Lange sagte sie kein Wort.
„Du … du bist der Engel, von dem alle erzählen“, kam es schließlich über ihre Lippen.
Kaja lächelte nur. Sie fühlte sich viel zu schwach, um zu reden. Es war als wären ihre Gedanken in einem zähen Fluss gefangen. Doch Kaja war klar, dass dieser zähe Fluss von ihrer Müdigkeit herrührte.
„Du hast mich gerettet.“, kam die Erkenntnis bei der Frau. „Danke.“
Wieder lächelte Kaja nur und die Frau lächelte unsicher zurück. Schwankend stand die Rothaarige auf, ging ein paar Schritte und sah sich noch einmal nach dem Engel und ihre Begleiter um.
„Danke“, sagte sie noch einmal und verschwand.
Langsam kehrte Kajas Blick zurück auf Zess, blieb an seinem verliebt, ängstlichen Blick hängen. Doch sie konnte nichts tun, um diese Angst zu mindern.
Wieder strich er ihr zärtlich über die Wange.
„Ich will nach Hause, Zess.“
Wortlos hob Zess den Engel hoch, hielt sie in seinem starken Armen, reagierte nicht auf Kajas Protest, der aber auch nur schwach ausfiel. Denn auch der Engel wusste, dass ihre Beine nicht allzu lange tragen würden, wenn überhaupt. Schließlich kuschelte sie sich in Zess‘ Armen.
Traurig betrachtete der Junge seinen Engel. Er war geplagt von Vorwürfen. Wieso hatte er sie gedrängt, den Dämon zu vertreiben? Obwohl Zess wusste, dass er es nicht hätte verhindern können, fühlte er sich für Kajas Zustand verantwortlich.

                                                     *


Mitten in der Nacht erwachte Kaja. Sie lag in ihrem Bett. Zess saß auf einem Stuhl daneben, war aber eingeschlafen. Sein Kopf war auf die Matratze gesunken. Lange betrachtete Kaja Zess. Doch ihre Gedanken kehrten immer und immer wieder zu dem Dämon zurück. Was war passiert? Sie hatte die Frau nicht umarmt. Beschämt musste Kaja sich eingestehen, dass sie zu große Angst gehabt hatte, zu große Angst vor einer Waffe, um sie zu umarmen. Aber sie hatte den Dämon vertrieben. Nur war es diesmal anders. Sie hatte etwas gespürt. Etwas, was vorher nicht dagewesen war. Oder hatte sie es vorher einfach nicht wahrgenommen? Sie wusste es nicht. Dieses Gefühl ließ sich auch nur schwer in Worte fassen. Es war als wäre Kraft in ihre Hände geflossen. Keine körperliche Kraft, sondern … etwas anderes. Aber diese seltsame Kraft war nicht nur in ihre Hände geflossen, sie schien aus ihrem gesamten Körper, aus ihrem Inneren herauszutreten. Sie hatte gespürt, wie diese Kraft den Dämon berührte, wie sie von ihren Händen weiterfloss, wie sie durch die Luft flog. Sobald die Kraft den Dämon berührt hatte, hatte er zum Lachen angefangen. Er musste sie auch gespürt haben. Und je mehr sie sich konzentriert hatte, desto mehr veränderte sich das Lachen, wurde zum Schreien. Und da erkannte Kaja auf einmal: Diese Kraft war es, die den Dämon vertrieb. Doch was war es? Wie hieß es?
Auf einmal war Kaja zurück im Himmel. Es war ganz kurz nachdem sie ein weißer Engel geworden war. Sie saß mit ein paar anderen Weißen bei Engel Petrus und lernte Latein. Kaja musste lächeln. Dieses Fach hatte sie in der Schule schon gehasst und es hatte sie in den Himmel verfolgt. Aber es war Engel Petrus‘ Steckenpferd. Er liebte es. Und so hatte sie sich täglich zu Engel Petrus begeben, Latein gelernt und sich gefragt, ob der Himmel nicht in Wirklichkeit die Hölle war.
Aber diese Erinnerung brachte den Engel auf eine Idee, wie sie diese seltsame Kraft bezeichnen könnte. Engel Petrus hatte oft von spiritus gesprochen. Kaja nannte es Geist. Es war irgendwie alles und nichts. Diese Kraft, das könnte Geist sein, ihr Geist. Engel Petrus nannte es spiritus. Zess würde es wohl Willensstärke nennen. Doch das ist es!, war sich Kaja sicher. Diese Kraft war Geist, spiritus, Willensstärke.
Lange noch kreisten Kajas Gedanken um den Geist und als die Müdigkeit schließlich siegte, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde nicht nur Dämon vertreiben, die ihr zufällig über den Weg laufen. Sie würde die Dämonen suchen. Zess hatte Recht. Sie war die Einzige, die das konnte. Sie hatte die Kraft.
Doch der nächste Tag wurde noch langsam angegangen. Kaja war noch sehr schwach.
Mühsam schleppte Kaja sich in die Schule, bekam aber kein Wort mit.
„Kaja? Was ist heute nur mit dir los?“, riss Herr Luzifer das Mädchen mit bösem Blick aus ihrem Dämmerzustand.
„Oh“, schreckte Kaja auf. „Entschuldigung. Ich … ich habe … ich bin so müde. Ich habe schlecht geschlafen.“
Missbilligend aber wortlos wandte Herr Luzifer sich ab, was auf Zess Lippen ein Lächeln zauberte.
Irgendwie überstand Kaja diesen Schultag ohne Einzuschlafen. Aber sie war froh endlich wieder in ihren eigenen vier Wänden zu sein. Zess war nicht mit nach Hause gekommen. Er war noch einkaufen gefangen und er wusste genau, dass dies die Kräfte seines Engels übersteigen würde. Widerstandslos war Kaja nach Hause gegangen. Denn auch sie wusste, dass sie nicht durchhalten würde.
Jetzt saß der Engel vor dem smaragdgrünen Buch, überlegte, was sie Engel Petrus schreiben konnte und hörte mit halben Ohr auf die Nachrichten. Wie konnte sie ihre wirren Gedanken in Sätze fassen, die halbwegs verständlich waren?

Engel Petrus, ich weiß nicht, ob Sie verstehen werden, was ich Ihnen jetzt schreibe. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich es verstehe.

 
Doch dann horchte Kaja auf.
„Und nun das neuste über unseren Engel.“
Das Bild der Nachrichtensprecherin verschwand und es wurde die rothaarige Frau mit diesen erschreckend grünen Augen eingeblendet.
„Frau Huber war ein Opfer der Charakterveränderung von der wir bereits berichtet haben. Diese Veränderung bewirkt, dass aus einem liebenden Vater ein bösartiger Tyrann, aus einem Tierfreund ein Tierquäler wird. Frau Huber war nun auch ein Opfer dieser Krankheit. Aber ein Mädchen, laut Frau Hubers Aussage und auch der anderen Geretteten, ein Engel hatte sie befreit.“
„Ich war besessen. Doch der Engel hat den Dämon … die Krankheit vertrieben.“, sagte Frau Huber. „Ich hatte schon davon gehört, dass in unserer Stadt ein Engel sein soll. Aber ich habe es nicht geglaubt, bis ich sie mit eigenen Augen gesehen habe. Engel, wenn du das hier siehst. Ich weiß, dass ich nach der Rettung nicht ganz bei mir war und du warst ja auch nicht mehr ganz fit. Deswegen möchte ich es noch einmal sagen. Ich danke dir aus tiefstem Herzen und deinem Begleiter auch.“
Frau Huber verschwand und die Nachrichtensprecherin wurde eingeblendet.

Der Engel. Ist sie wirklich ein Engel? Und wer ist ihr Begleiter? Ist er auch ein Engel, wie einige behaupten, oder ist er ein ganz normaler Junge? Es gibt noch so viele unbeantwortete Fragen. Doch eins ist sicher. Der Engel hat schon viele Menschen gerettet.“
Fassungslos saß Kaja auf der Couch und starrte auf den Bildschirm. Es war eine Sache von Zess zu hören, dass über sie berichtet wird, aber es mit eigenen Augen zu sehen war überwältigend. Kaja vergaß was sie hatte Engel Petrus schreiben wollen und schrieb stattdessen, was ihr nun durch den Kopf ging.

 
                                                     *

Nicht nur Kaja hatte den Nachrichtenbeitrag gesehen. Auch der Besitzer des Buches war vor dem Fernseher gesessen, als der Beitrag lief. Jetzt war der Fernseher kaputt, hatte dem wütenden Tritt des Besitzers nicht standgehalten. Verärgert lief der Mann auf und ab. Das wirst du mir büßen, Engel. Ich werde dich vernichten wie du meine Lakaien vernichtet hast. Ja, ich werde dich vernichten. Aber zuerst werde ich dich quälen, bis du um deinen Tod bettelst und dann werde ich dich weiter quälen. Du wirst Qualen erleiden, wie du sie nie zuvor verspürt hast. Ich werde mich an deinem Leid laben. Ich werde dich immer und immer wieder an den Rande des Todes bringen. Doch nie werde ich dich diese eine erlösende Schwelle übertreten lassen.
Ein bösartiges Lachen erklang aus seinem Mund, als er an all das Leid dachte, an all die Qual, die er dem Engel antun würde.
Doch dann stahl sich die Realität in seine Gedanken. Er wusste nicht, wer der Engel war. Wütend stapfte er wieder auf und ab und seine Laune verbesserte sich nicht, als ihm ein Diener das Büchlein brachte und er die Zeilen darin las.

 
                                                     *


Engel Petrus, ich kann es kaum glauben. Ich bin gerade in den Nachrichten gekommen. Die Menschen wissen, dass ich auf der Erde bin und sie haben keine Angst vor mir. Sie sind dankbar, dass ich sie von den Dämonen befreie. Jetzt, Engel Petrus, jetzt glaube ich wirklich daran, dass ich den Menschen die Hoffnung zurückgeben kann. Jetzt glaube ich daran, dass ich den Teufel besiegen kann. Ich kann es schaffen.

 
                                                     *

 
Beim Essen war Kaja sehr still.
„Was ist los, Kaja?“, fragte Zess schließlich, als er das Schweigen nicht mehr ertrug.
Doch Kaja senkte den Blick, schien ganz fasziniert von den Spaghetti auf ihrem Teller und Zess bekam Angst, Angst, dass sie sich nun wieder abkapseln würde. Er hatte zu hoffen begonnen, als der Engel ihm erklärt hatte, dass er Angst vor der Dämonenjagd hatte. Doch jetzt? Jetzt schien alles wieder beim Alten. Aber das würde er nicht zulassen! Das würde er nicht weiter durchstehen.
„Kaja, schließ mich nicht schon wieder aus! Wie soll ich dir helfen, wenn du mich nicht lässt?“
Aber der Engel schwieg.
Zess wurde wütend, so wütend wie schon lange nicht mehr. Doch unter die Wut mischte sich noch etwas anderes. Verzweiflung. Und das machte alles nur noch schlimmer.
Er war wütend auf Kaja, weil sie sich ihm verschloss. Er war verzweifelt, weil Kaja litt. Sein Verstand sagte ihm, dass er seine Wut an Kaja auslassen sollte. Dann würde es ihm besser gehen. Doch die Verzweiflung hinderte ihn daran. Dann würde Kaja noch mehr leiden und Schuld an ihrem Leid wäre er.
Er tat das Einzige, wozu er in dieser Lage fähig war. Er griff Kajas Hand, spürte den geliebten Stromschlag und flehte: „Bitte!“
Wieder schwieg Kaja endlose Sekunden.
Aber Zess war nicht bereit, die Hoffnung auf eine Antwort aufzugeben und er wurde nicht enttäuscht.
Langsam hob Kaja den Blick. Dieser verwirrt-ängstliche Blick traf Zess schmerzhafter als es ein Schlag ins Gesicht gekonnt hätte. Doch er widerstand der Versuchung aufzuspringen, Kaja zu umarmen und sie zu trösten. So schwer es ihm auch fiel, er blieb sitzen und wartete, wartete darauf, dass Kaja zu sprechen begann. Es dauerte noch einmal endlose Sekunden bis sie die auch tat.
„Ich will dich nicht ausschließen, Zess. Wirklich nicht. Ich bin nur …“ Kaja suchte nach dem richtigen Wort, doch fand es nicht. „Ich muss nachdenken.“
So sehr es Zess auch widerstrebte, er schwieg, wartete darauf, dass Kaja von sich aus sprach.
„Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich kann … ich hatte zu viel Angst, den Dämon … die Frau zu umarmen. Ich hatte Angst.“ Kaja stockte. Sie hatte es gewusst, doch es war etwas anderes, diese Schwäche auszusprechen. Es machte sie real, unverrückbar.
Liebevoll drückte Zess ihre Hand.
Das gab Kaja die Kraft weiterzusprechen. Stotternd versuchte Kaja zu erklären, was sie gespürt hatte, versuchte zu erklären, was sie selbst nicht verstand.
Schon lange war sie still geworden und starrte auf die Hand, die nicht von Zess berührt wurde, als könne sie es nicht glauben, was sie mit dieser Hand gespürt hatte. Auch Zess schwieg. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was in Kaja vorging. Doch er wollte ihr Zeit geben, es zu verarbeiten, zu verstehen, es vielleicht auch nur zu akzeptieren.
Irgendwann begann er schließlich das Armband von Kajas Handgelenk zu lösen. Verwundert blickte der Engel auf, doch Zess ließ sich nicht beirren. Als er das Band endlich entfernt hatte, sah er seine Vermutung bestätigt. Kajas Zeichen hatte sie verändert.
Erschrocken keuchte der Engel auf. „Was?“
War ihr Zeichen vorher ein verschnörkeltes Band um ihr Handgelenk gewesen, zweigte nun ein Ast ab und es sah aus, als wäre eine Blume erblüht.
„Wunderschön!“ Zess fuhr liebevoll mit seinem Finger über diese neu entstandene Blume.
„Ja“, hauchte Kaja, auch wenn ihr Blick noch allzu deutlich die Verwirrung widerspiegelte, die in ihr tobte.
Der Junge lachte auf. „Kaja, wenn dieses Band hier wirklich Zeichen dafür ist, dass du alles richtig gemacht hast, dann ist es diese Veränderung auch.“
„Ich habe alles richtig gemacht?“, überlegte der Engel. Dann veränderte sich ihr Ausdruck auf einmal und sie strahlte übers ganze Gesicht. Es schien so, als wolle sie tanzen vor Freude. Doch Zess wusste ziemlich genau, was sie daran hinderte. Die Schmerzen ihrer Wunde.
In dieser Hochstimmung weihte das Mädchen Zess in ihren Plan ein. Jetzt wusste sie nicht nur, dass sie es tun musste, jetzt war sie sich sicher, dass sie es schaffen konnte.
„Langsam, kleiner Beschützer der Stadt“, lachte Zess, glücklich darüber, dass Kaja glücklich war. „Erst einmal musst du wieder zu Kräften kommen und gesund werden und dann können wir auf Dämonenjagd gehen.“ Doch mit diesem Vorschlag war Zess nicht glücklich. Aber er wusste auch, dass er Kaja nicht aufhalten konnte. Er hatte es versucht und versagt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Engel zu begleiten. Wer sollte sie sonst beschützen, wenn etwas schiefging? Und dennoch, auch wenn er es nicht guthieß, irgendetwas tief in ihm drin, sagte ihm, dass es das Richtige war.
Aber es machte es nicht einfacher, Kaja die Wahrheit zu sagen und so verschob er es erneut. Irgendwann – ja irgendwann – wäre der richtige Moment gekommen. Nur nicht jetzt.


                                                     *


Noch knapp eine Woche gelang es Zess, Kaja zur Untätigkeit zu zwingen. Er brachte das Mädchen nach der Schule direkt nach Hause, immer von der Angst geplagt, Kaja könnte einen Dämon spüren. Denn er wusste, dass sie sich dann nicht widersetzten konnte, durfte, wollte.
Doch jetzt war ihre Wunde verheilt und sie sprühte wieder vor Lebensenergie. Egal was Zess sagen würde, jetzt konnte Kaja nichts mehr von der Dämonenjagd abhalten. Widerstrebend ergab er sich in sein Schicksal und begleitete das Mädchen an diesem Tag.
Wieder gingen sie durch die Einkaufsstraße und Kaja war immer noch ganz fasziniert von all den Farben und Verschiedenheiten. Doch nicht einmal Kajas kindliche Freude an dem Alltäglichen konnte Zess‘ Laune heben. Während sie verzückt durch die Straßen schlenderte, hoffte er inständig, dass sie keinen Dämon spürte.
Doch seine Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase, als Kaja plötzlich sehen blieb.
Mit widerstreitenden Gefühlen drehte er sich um. Er war sich immer noch nicht klar darüber, was er wirklich wollte. Kaja Dämonen jagen zu lassen und ihr dabei zu helfen, wäre so, als würde ein Verdurstender in der Wüste sein letztes Wasser wegschütten. Aber, wenn er Kaja nicht half und ihr etwas passierte …
Doch der Engel unterbrach seine Gedanken, als sie in die entgegengesetzte Richtung weiterlief und Zess einfach mit sich zog.
Sie entfernten sich etwas von der belebten Straße, aber nicht weit. Denn schon blieb Kaja wieder stehen.
Ihnen kam ein Kind entgegen, vielleicht sechs Jahre alt, das genüsslich an einem Lutscher leckte. Doch Zess achtete nicht auf den kleinen Jungen. Er sah sich weiter suchend in der kleinen Gasse um. Und auch Kaja achtete nicht auf den Jungen, sah stattdessen ihren Freund erwartungsvoll an.
„Und?“, fragte sie schließlich, als er nicht reagierte, nur weiter den Blick schweifen ließ.
„Und?“, fragte Zess verständnislos. Er war noch mit der Suche nach dem Dämon beschäftigt. Er spürte ihn ganz deutlich und Kaja war stehen geblieben. Hier musste ein Dämon sein. Nur wo?
„Und?“, fragte Kaja erneut. Sie runzelte die Stirn.
„Und was?“ Zess verstand immer noch nicht.
„Was ist mit dem Dämon?“ Kajas Stirnrunzeln wurde immer tiefer. Nicht aus Verärgerung, nein, sie begann sich Sorgen um Zess zu machen.
„Wo?“, fragte dieser nun, was ihre Sorge nur verstärkte.
Dennoch konnte sie ein entnervtes Stöhnen nicht verhindern. „Na da, in dem Jungen. Zess, ist alles in Ordnung mit dir?“
Zess ignorierte Kajas Frage und konzentrierte sich auf das Kind.  Das konnte nicht sein! Welcher Dämon würde sich so einen Körper aussuchen? Ein Kind, noch dazu so ein kleines. Es hatte kein Mitspracherecht, keine Macht, nichts. Wer würde schon auf so einen kleinen Knirps hören? Doch Kaja hatte Recht. Jetzt, da er sich auf den Jungen konzentrierte, konnte er den Dämon deutlich in ihm spüren.
Immer noch sah Kaja ihn erwartungsvoll an. Da erinnerte sich der Junge endlich an ihre Frage.
„Level E“, sagte er zerstreut.
Seine Antwort ließ ein erleichtertes Lächeln über Kajas Gesicht huschen, bevor sie wieder ganz ernst wurde. Langsam löste sie ihre Hand aus Zess‘. Sie straffte die Schultern, atmete noch einmal tief durch, bevor sie festen Schrittes auf den Jungen zuging.
„Hallo, Kleiner.“, lächelte sie. „Was hast du denn da?“
„Das geht dich gar nichts an, Oma.“ Kaja war mittlerweile auf zwei Schritte an den Jungen heran.
„Puh, du stinkst. Hau ab!“ Das Kind zog die Nase kraus. Er sah so normal aus, wie ein unschuldiges Kind. Nur war er das nicht – unschuldig. Ein Dämon war in ihm. Aber Kaja hatte die Macht ihn zu befreien und sie würde es tun. Sie würde diesem Jungen sein Leben zurückgeben. Auch wenn sie Angst hatte, streckte sie nun die Hand nach dem Jungen aus.
Das Kind schreckte zurück. „Fass mich nicht an! Du stinkst!“
Doch Kaja ließ sich nicht beirren. Sie sah dem Kleinen fest in die Augen und fixierte ihn. Panik breitete sich in seinem Blick aus. Doch er floh nicht, konnte nicht.
„Wer bist du? … Was bist du?“, keuchte der Junge.
Ein unsicheres Lächeln stahl sich in Kajas ernstes Gesicht. „Ich bin ein Engel und ich werde dich jetzt befreien.“
„Nein!“, kreischte der Junge.
„Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“
In dem Moment, in dem Kaja den Jungen berührte, seine Kälte spürte, verwandelte sie sich. Sie spürte den Flügelansatz zwischen ihren Schulterblättern, was ihr Vertrauen stärkte.
Fest umfasste sie die Handgelenke des Kindes, das panisch kreischte. Doch es war nicht der Junge, der schrie, sondern der Dämon in seinem Inneren. Die Schreie wurden immer schriller.
„Dämon, ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen!“
Wieder spürte Kaja dieses Kribbeln, das durch ihren Körper ging und schließlich von ihren Händen auf den Körper des Jungen überging.
Wieder veränderten sich die Schreie des Dämons, wurden immer höher.
Es fiel Kaja immer schwerer die Konzentration aufrechtzuerhalten, die sie brauchte, um den Dämon zu vertreiben. Sie wurde stark von dem sich windenden Jungen abgelenkt.
Doch irgendwie gelang es ihr dennoch den Dämon zu vertreiben. Aber es kostete sie alle Kraft, die sie hatte.
Als die Schreie des Jungen verstummten und er zusammensackte, ging auch Kaja in die Knie. Sie kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit. Doch sie stand auf verlorenem Posten. Und schließlich hüllte die Dunkelheit sie ein.

 
Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Doch als sie wieder zu sich kam, spürte sie den sanften Stromschlag, den Zess Berührung an ihrer Stirn auslöste. Sie fühlte, wie er ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht strich. Sie lag so geborgen, so warm und beschützt in seinen Armen, dass sie überlegte, ob sie die Augen wirklich öffnen sollte. Doch etwas fehlte noch zu ihrem Glück. Zess‘ Anblick.
Und sie wurde nicht enttäuscht. Als sie die Augen öffnete, verzog sich Zess‘ wunderschöner Mund zu einem sorgenvollen Grinsen. „Hallo, kleiner Engel.“, flüsterte er.
Diese Worte, sein Lächeln, sein Gesicht überfluteten Kajas Herz mit Liebe, gaben ihr Kraft.
„Du bist schon wieder bewusstlos geworden. Vielleicht solltest du …“
„Ich muss mehr üben.“, unterbrach ihn Kaja.
Traurigkeit mischte sich in Zess‘ Blick. Das war nicht das, was er hatte sagen wollen, das war nicht einmal ansatzweise, was er im Sinn gehabt hatte. Eigentlich hatte er Kaja vorschlagen wollen, mit der Dämonenjagd aufzuhören.
Doch Kaja sah die Traurigkeit nicht. Sie war gerade dabei, sich mühsam auf die Beine zu kämpfen. Doch es war gar nicht so leicht, wenn die Knie sich wie Wackelpudding anfühlten.
Hilfsbereit reichte Zess ihr die Hand.
„Soll ich dich tragen?“
„Nein!“, widersprach Kaja entsetzt, was Zess zu einem Lächeln brachte. Er hatte nichts anderes erwartet. Sein stolzer kleiner Engel.
Am nächsten Tag dann hatte Kaja ihre Schwäche überwunden oder sie tat jedenfalls so. Zess konnte nicht mit Sicherheit sagen, was nun der Fall war. Aber sie hätte auch nicht auf ihn gehört. Also begleitete er sie wortlos auf die Jagd. Kajas Glück ließ sie an keinem der folgenden Tage im Stich. Immer fand sie einen Dämon. Und sie wurde immer besser, stärker. Bald schon waren Level E-Dämonen fast kein Problem mehr.
Auch heute waren Zess und Kaja unterwegs, so wie an jedem anderen Tag auch, auf der Suche nach Dämonen. Gerade schlenderten sie Arm in Arm durch den Stadtpark, als plötzlich jemand Kajas Namen rief.
Der Engel wandte sich mit einem fragend-verunsicherten Blick um und auch Zess drehte sich langsam zu der Ruferin um.
Hinter ihnen stand ein braunhaariges Mädchen, das sie aus schreckensgeweiteten, rehbraunen Augen irritiert ansah.
„Kann ich dir helfen?“, fragte Kaja zögernd. Das Mädchen schien sie zu kennen und auch den Engel beschlich so ein seltsames Gefühl, dass sie das Mädchen kennen sollte. Doch mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen. Sie konnte sich an ihr Leben erinnern, das stand außer Frage. Aber mit ihrer Erinnerung gab es auch ein Problem. Sie erinnerte sich zwar an Begebenheiten und auch an Namen von Personen. Doch über das Aussehen der Personen konnte sie nichts sagen. Die waren in ihrer Erinnerung wie schwarze Flecken. Seltsamerweise wusste sie immer welche Gefühle sie mit den Personen verband und hatte auch nie das Gefühl, nur schwarze Flecken zu sehen. Doch wenn sie versuchte, sich eine dieser Personen aus ihrer Vergangenheit vor ihrem inneren Auge vorzustellen, war da nichts, nur ein großer schwarzer Fleck.
Erschrocken schrie das etwa gleichaltrige Mädchen auf und taumelte leichenblass ein paar Schritte zurück. „Das kann nicht sein … das ist nicht möglich … du … nein … du bist … aber …“
Immer weiter wich das Mädchen kopfschüttelnd zurück, direkt auf eine Rabatte zu, eine kleine vielleicht knöchelhohe Mauer um ein Blumenbeet.
Kaja hatte die Hand schon erhoben, wollte ihr eine Warnung zurufen. Doch da war es bereits zu spät. Das Mädchen stolperte, fiel und schlug hart mit dem Kopf auf einem Stein im Blumenbeet auf. Benommen blieb sie liegen.
Irritiert hatte Zess die Szene verfolgt. Jetzt rannte er mit Kaja zu dem braunhaarigen Mädchen.
Gerade als die zwei sie erreichten, hatte sie die Benommenheit abgeschüttelt und setzte sich den schmerzenden Kopf betastend auf. Kaum hatte das Mädchen Kaja erblickt, kreischte sie angsterfüllt auf. „Nein … das kann nicht … das bist nicht … ich bilde mir das alles nur ein … du …“
Die Situation überforderte das Mädchen sichtlich und sie sank besinnungslos zu Boden, wobei sie erneut auf dem Stein landete.
Erschrocken blieb Kaja wie angewurzelt stehen. Auch sie war nun leichenblass und ihre Augen zuckten unruhig durch die Gegend, kehrten aber immer wieder zu dem bewusstlosen Mädchen zurück. Auch ihre Gedanken drehten sich wild um das Mädchen. „Ich … woher .. wer … Zess!“
Kaja war in ihrer Verwirrung nicht in der Lage einen vernünftigen Satz hervorzubringen. Tröstend nahm Zess sie in die Arme. Er spürte das Zittern, das durch Kajas Körper lief, spürte die verzweifelt geballten Fäuste auf seiner Brust.
„Ruhig, Kaja“, flüsterte er beruhigend. „Es wird sich bestimmt alles aufklären. Nur …“ Zess zögerte. Es widerstrebte dem Jungen, das zu sagen. Er wollte Kaja nicht in dieser Verfassung alleine lassen. Aber er wusste auch, dass es das Beste wäre. „Kaja, vielleicht solltest du nach Hause gehen.“
Kaja sah ihn mit ihren blauen Augen an, in deren Tiefe er immer zu versinken drohte. Doch er durfte es nicht zulassen. Nicht jetzt.
„Wieso hat sie solche Angst vor mir?“, fragte der Engel mit tränenerstickter Stimme. Ihre Augen glitzerten verdächtig.
„Ich weiß es nicht. Aber du solltest jetzt gehen.“
Kaja sah zu dem bewusstlosen Mädchen.
„Ich kümmere mich um sie und komme dann nach.“, versprach Zess und löste, auch wenn es ihm schwerfiel, die Umarmung.
Auch Kaja wusste, dass es das Beste war und dennoch ging sie nur zögerlich.
Lange stand Zess noch da und blickte ihr hinterher. Sein kleiner Engel, so stark und doch so zerbrechlich.
Mit einer bewussten Willensanstrengung löste er seinen Blick von Kaja und ging auf das im Blumenbeet liegende Mädchen zu. Behutsam hob der Junge das bewusstlose Mädchen hoch, trug sie zu einer nahegelegenen Parkbank und setzte sich neben sie.
Nach einer Weile, in der Zess gedankenverloren Löcher in die Luft gestarrt hatte, regte sich das Mädchen stöhnend. Langsam kam es zu sich.
„Kaja?“, fragte es benommen und blickte sich um. Ihr Blick blieb an Zess hängen und sie betrachtete ihn eine Zeit lang. Zess starrte gefühlslos zurück. Auch wenn er nun Gefühle zeigte, tat er dies fast nur in Kajas Gegenwart. Denn sie war es, die sein Leben in den leuchtendsten Farben schillern ließ. Nur sie brachte es fertig, seinen Panzer der Stärke zu knacken. War sie nicht da, war sein Panzer wieder vollständig zurück.
Schwerfällig setzte sich das Mädchen auf.
„Wo ist …“ Sie stockte.
„Meine Freundin ist nach Hause gegangen. Sie dachte, sie macht dir Angst.“
„Oh“, meinte das Mädchen mit einer Mischung aus Freude und Trauer in ihrer Stimme.
„Wie heißt du?“, fragte Zess. „Woher kennst du … meine Freundin?“ Der Junge vermied es Kajas Namen zu nennen.
„Tanja … Ich dachte, sie wäre meine Freundin. Aber das kann ja gar nicht sein.“ Tanja lachte gekünstelt auf.
„Wieso nicht?“, wollte Zess wissen, obwohl er sicher war, die Antwort bereits zu kennen.
„Kaja, meine Freundin, liegt seit einem Jahr im Krankenhaus.“
„Was?“, fragte Zess nun ehrlich entsetzt. Er hatte damit gerechnet, dass Tanja nun von ihrer verstorbenen Freundin berichten würde, die Kaja ähnlich sah. Denn das könnte sein. Kaja hatte sterben müssen, um als Engel wieder auf die Erde zu kommen. Doch Krankenhaus? Krankenhaus bedeutete, dass Tanjas Freundin noch lebte. Es konnte also nicht Kaja sein, denn sie war gestorben, irgendwann. Oder doch? Der Name war gleich und sie sahen sich auch noch ähnlich. Das konnte doch kein Zufall sein.
„Ja, Kaja liegt seit einem Jahr im Krankenhaus. Es war ein Autounfall. Der Fahrer hat sie einfach übersehen. Sie war lebensgefährlich verletzt und jetzt“, Tanja stockte, „jetzt liegt sie im Koma und wacht einfach nicht mehr auf.“ Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. „Es tut mir Leid, dass ich diene Freundin erschreckt habe. Sie kann es gar nicht sein. Kaja ist im Krankenhaus.“ Tanja sprang auf und lächelte gekünstelt. „Ich geh gleich mal hin und erzähle ihr, was mir heute passiert ist.“
Ohne ein weiteres Wort drehte Tanja sich um und verließ den Park. Sie lief so schnell, dass es eine Flucht gleichkam.
Verwirrt machte sich Zess auf den Heimweg.


                                                     *

 
An diesem Tag lief Kaja allein durch die Straßen, hatte die Schule früher verlassen. Sie hatte keinen Blick für all die Farben und Verschiedenheiten, die sie umgaben. Heute nicht. Sie war aufgewühlt, verwirrt, verängstigt. Das Zusammentreffen mit Tanja und Zess‘ Bericht hatten all diese Gefühle in ihr ausgelöst. Irgendwie kam dem Engel das Mädchen bekannt vor.Oder bildete sie sich das nur ein? Sie wusste es nicht.
Tief in Gedanken versunken lief sie durch die Straßen, ließ sich treiben. Sie wollte allein sein und doch hatte sie Angst davor, allein in ihrer Wohnung zu sitzen. So suchte sie jetzt die Anonymität der Straße.
Plötzlich blieb sie stehen. Erstaunt betrachtete das Mädchen wohin ihre Füße sie getragen hatten. Sie stand vor dem Krankenhaus und vor dem Problem, was sie nun tun sollte. Sollte sie Tanjas Freundin besuchen? Sich Gewissheit verschaffen? Aber sie hatte Angst, Angst vor dem, was sie sehen würde.
Zögerlich entfernte sich Kaja von dem Krankenhaus. Sie floh. Diese Erkenntnis ließ sie erstarren. Ein Mann rannte fast in sie hinein. Doch Kaja kümmerte sich nicht um die Blicke der anderen, die sie teils irritiert, teils verärgert betrachteten. Sie floh, weil sie Angst hatte. Sie tat es schon wieder. Schwungvoll drehte sie sich um. Doch mit jedem Schritt auf das Krankenhaus zu, schrumpfte ihre Entschlossenheit.
Letztendlich gewann ihre Angst und Kaja rannte davon. Sie schämte sich dafür und dennoch hatte sie nicht den Mut aufbringen können, ins Krankenhaus zu gehen.
In ihrer Wohnung angekommen, war die Scham so groß, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, zum Krankenhaus zurückzukehren. Doch stattdessen schlug sie das smaragdgrüne Büchlein auf und begann ihre Zweifel aufzuschreiben.

Engel Petrus, ich muss Ihnen etwas berichten, etwas, was mich sehr beunruhigt. Ich bin auf der Straße von einem Mädchen erkannt worden. Das ist es nicht, was mich beunruhigt, nicht nur jedenfalls. Ich habe schließlich irgendwann einmal auf der Erde gelebt. Aber das Mädchen hat mich mit ihrer Freundin verwechselt. Ihrer lebenden Freundin! Sie liegt im Krankenhaus und heißt auch noch so wie ich. Das kann doch nicht sein.
Ich wollte diese Freundin heute besuchen, aber ich habe mich nicht getraut. Ich hatte Angst.

 
                                                     *


Der Besitzer des Buches lachte erfreut auf.
Endlich hatte er Gewissheit. Endlich wusste er sicher, dass ein weiblicher Engel auf der Erde war. Und endlich hatte er ein Druckmittel. Wenn er dieses Mädchen im Krankenhaus finden könnte …
Seine Phantasie ging mit ihm durch.
Doch die Realität holte ihn ein.
Er musste wissen, ob das Mädchen im Krankenhaus der Engel war.


Engelchen, du wirst dich doch wohl nicht etwa von deiner Angst abhalten lassen. Wieso bist du auf die Erde gekommen, wenn deine Angst dich hindert, deine Aufgaben zu erledigen?

 
                                                     *

 
Erstaunt las Kaja die Nachricht. Doch sie wusste auch, dass Engel Petrus Recht hatte. Angst durfte sie nicht daran hindern, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Sie haben Recht, Engel Petrus. Ich darf mich nicht von meiner Angst beeinflussen lassen. Doch ich werde das ändern. Morgen werde ich in das Krankenhaus gehen.

Kaja stockte. Tief holte sie Luft, bevor sie den Stift erneut ansetzte und die Frage zu Papier brachte, die sie am meisten beschäftigte.

Ich bin doch tot, oder?

 
                                                    *


Ja, du solltest tot sein. Mausetot. Aber ich werde dafür sorgen, dass du tot bist, egal wie oft es dich gibt.

 
Gehe ins Krankenhaus. Danach werde ich sehen, wie sich dieses Problem lösen lässt.

Bald wäre sein Engelproblem beseitigt.


                                                     *


In diesem Moment trat Zess ein. Sein Blick zeigte deutlich, welche Angst er verspürte und auch die Erleichterung, als er Kaja auf dem Sofa sitzen sah.
„Wo warst du?“ Ich habe mir Sorgen gemacht., hing unausgesprochen im Raum. Doch das brauchte er nicht zu sagen. Kaja sah es ihm an.
Schuldbewusst klappte Kaja das Buch zu.
„Mir war nicht gut. Ich bin früher heimgegangen.“, log Kaja, war unfähig Zess in die Augen zu sehen.
Der Junge durchschaute die Lüge sofort. Sein kleiner Engel war einfach ein miserabler Lügner, dachte er lächelnd. Doch er sagte nichts. Er hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, was Kaja getan hatte, was sie bedrückte.

Auch am nächsten Tag war Kaja wieder allein unterwegs, hatte den Unterricht erneut früher verlassen.
Wieder stand sie von dem Krankenhaus. Wieder wollte sie einfach gehen. Doch das durfte sie nicht. Sie hatte es Engel Petrus zugesagt.
Tief holte das Mädchen noch einmal Luft, zog sich die Mütze ins Gesicht und betrat das Krankenhaus. Sofort schlug ihr das sterile klimatisierte Zeug entgegen, was in solchen Gebäuden beschönigend als Luft bezeichnet wurde.
Kaja zog die Nase kraus und ging tapfer weiter in das Innere. Es war gar nicht schwer, sich bis zu Tanjas Freundin durchzufragen. Es war sogar erstaunlich leicht. Kaja wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Aber sie war sich sicher, dass sie beim ersten Problem auf das sie getroffen wäre, kehrtgemacht und das Krankenhaus verlassen hätte.
Doch so stand sie jetzt hier, in einem Zimmer mit Tanjas Freundin. Blind tastete sie haltsuchend um sich und klammerte sich an das Fußende des Bettes wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz.
Das war sie.
Das Mädchen in dem Bett sah ihr ähnlich, sah ihr sogar mehr als ähnlich. Sie sah aus wie der Engel. Ja, selbst das Glitzern ihrer Haut war da, nicht so stark wie jetzt, aber es war da.
Kajas Knie wurden weich, unkontrolliert begann sie zu zittern. Das Mädchen in dem Bett war sie.
Es war als hätte diese Erkenntnis alle Kraft aus ihr gesogen. Sie sackte zusammen. Doch bevor sie auf dem Boden aufschlug, wurde sie von zwei starken Armen aufgefangen. Aus tränennassen Augen erblickte sie Zess, der sie auf den Beinen hielt. Ohne darüber nachzudenken, wieso der Junge hier war, warf sie sich ihm um den Hals und weinte. Das Mädchen in dem Bett war sie. Sie war nicht tot. Aber wieso war sie dann ein Engel?  Die Tatsache, dass sie lebte und doch tot war, nahm den Engel sehr mit.
Sanft strich ihr Zess über den Kopf und murmelte beruhigende Worte in ihr Haar, die der Engel aber nicht verstand. Sie hörte nur den sanften Klang seiner Stimme, die ihr half zur Ruhe zu kommen.
„Wieso bist du hier? Woher wusstest du …?“ Das Mädchen wandte den Kopf und sah ihrem Freund aus verwirrt-ängstlichen Augen an.
„Dachtest du, ich lasse dich in dieser schweren Zeit allein?“, fragte er liebevoll.
Kaja schmiegte sich noch enger in Zess‘ Umarmung. Seine Nähe, seine Wärme, sein Geruch, all das half ihr, nicht zusammenzubrechen.
Zess betrachtete zwischenzeitlich das Mädchen in dem Krankenhausbett. Es glich Kaja bis aufs Haar. Die braunen Haare, die Hautfarbe, das Glitzern, die Perlenkette. Der Junge war sich sicher, würde dieses Mädchen aufwachen, würde es die gleichen blauen Augen offenbaren, in denen er jedes Mal zu versinken drohte. Er war sich sicher: In dem Bett lag Kaja, die Kaja, die er nun in den Armen hielt.
Nun hatte auch der Engel wieder den Mut zusammen, den Blick dem Mädchen zuzuwenden.
Traurig betrachtete sie das Mädchen. Sie sah so friedlich aus, obwohl sie im Koma lag. Man sah an ihr keine Verletzungen, nicht mehr. Doch etwas störte den Engel an diesem Bild. Etwas schien nicht zu passen. Aber Kaja kam nicht darauf, was sie störte. Und diese Frage wurde verdrängt von einer, die sie noch mehr beschäftigte.
„Warum bin ich nicht tot?“ Die Verzweiflung in Kajas Stimme schmerzte Zess. Doch es gab nichts, was er dagegen hätte tun können, verspürte er doch die gleiche Verzweiflung.
„Ich weiß es nicht.“, sagte Zess tonlos.
Behutsam zog er Kaja aus dem Krankenhaus. Sie hatten gesehen, was sie sehen wollten. Sie wussten, dass Kaja nicht tot war.
Schweigend gingen sie in die Wohnung zurück. Jeder hing seinen Gedanken nach. Aber keiner fand eine Antwort auf die Frage, die sie beide beschäftigte. Wieso war Kaja ein Engel, obwohl ihr Körper noch lebte?
Zess ließ Kaja schweren Herzens allein. Aber er wollte ihr Zeit zum Nachdenken geben, brauchte er selbst diese Zeit doch auch.
Zunächst stand Kaja etwas verlassen neben der Wohnungstür, wusste nicht, was sie tun, was sie denken sollte. Doch dann raffte sie sich auf und ging ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte aus diesem Alptraum zu erwachen.
Verzweifelt suchte sie in ihrem Gesicht nach etwas, irgendetwas, was sie nicht in dem Gesicht des Mädchens gesehen hatte.
Plötzlich keuchte sie erschrocken auf. Jetzt wusste sie, was sie an dem Mädchen gestört hatte. Das Mädchen hatte etwas, was sie nicht haben durfte, was sie selbst erst hatte, seit sie im Himmel war. Wie konnte das sein?
Tief in Gedanken versunken spielte sie mit der Perlenkette. Wie konnte das Mädchen … ihr Körper die Kette haben, wenn sie die doch erst von Engel Petrus im Himmel bekommen hatte?
Etwas polterte. Kaja fuhr herum. Zess!  Ein Lächeln huschte über Kajas sorgenvolles Gesicht, als sie an den Jungen dachte. Schnell verließ sie das Badezimmer und schrie auf.
„Engel Petrus!“, rief sie über das Klopfen ihres Herzens hinweg. „Was …? Wie …?“
Kaja stockte, schloss die Augen, holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Dann begann sie erneut, auch wenn sie nicht wirklich ruhiger geworden war. Aber nun gelang es ihr zumindest vollständige Sätze hervorzubringen. „Sie haben mich erschreckt. Was machen Sie hier? Wieso sind Sie auf der Erde?“
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Kaja.“ Engel Petrus klang erleichtert. Doch seinem Gesicht sah man das nicht an. Es zeigte wie immer das gleiche Alles-ist-gut-Lächeln, das Kaja so hasste.
„Aber wieso?“ Das Mädchen war verwirrt. Es fiel ihr schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Engel Petrus? Auf der Erde?
„Kaja?“ Zess stürzte panisch in die Wohnung. „Was ist passiert?“
Abrupt blieb er stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.
„Ein Engel!“, entfuhr es ihm ungläubig.
„Ein …“, setzte Engel Petrus an, doch Kaja unterbrach ihn.
„Engel Petrus, das ist Zess … mein Freund.“ Ganz von allein suchten und fanden sich ihre Hände.
Ungläubig starrte Engel Petrus auf die verschränkten Hände.
„Vertraust du ihm?“
„Ja.“, antwortete Kaja aus tiefster Überzeugung.
Zess zuckte zusammen, als er Kajas Vertrauen spürte. Das hatte er nicht verdient.
Lange blieb Engel Petrus still. „Ich vertraue dir, Kaja. Also werde ich auch ihm vertrauen.“, sagte er schließlich und warf Zess einen warnenden Blick zu, unter dem der Junge zusammenschrumpfte.
Es bestand kein Zweifel. Engel Petrus wusste, wer er war.
„Wie ist es dir ergangen? Was hast du auf der Erde erlebt? Konntest du den Mensch helfen?“
Zweifelnd sah Kaja den Engel an. „Aber das habe ich Ihnen doch geschrieben.“
„Geschrieben? Aber ich habe seit du auf der Erde bist nichts mehr von dir gehört.“ Jetzt sah man Engel Petrus seine Verwirrung an. Nun endlich war dieses Alles-ist-gut-Lächeln verschwunden.
„Nicht? Aber Sie haben mir doch geantwortet.“ Nun war auch Kaja verwirrt.
„Dir hat jemand geantwortet?“ Engel Petrus war entsetzt. „Wer?“
„Ich dachte, dass wären Sie.“, meinte Kaja hilflos.
„Ich habe dir nicht geantwortet. Aber wer könnte es dann gewesen sein? Das Buch liegt in meinem Schreibtisch.“ Engel Petrus überlegte lange.
Zess blieb stumm. Er hatte eine Vermutung, wer Kaja geantwortet hatte und das gefiel ihm gar nicht. Aber wie sonst hätte er von dem Engel erfahren können?
„Du darfst nichts mehr in dieses Buch schreiben! Hörst du, Kaja? Nicht bis wir nicht erfahren haben, wer die antwortet.“
Kaja nickte stumm.
„Gut!“, meinte Engel Petrus. „Aber weshalb ich eigentlich auf die Erde gekommen bin. Erzähl mir, Kaja, was ist passiert, seit du den Himmel verlassen hast?“
Kurz fasste Kaja zusammen, was sie alles erlebt hatte, vergaß in der Eile ein wenig und dennoch dauerte es knapp eine Stunde bis Kaja zu dem Punkt kam, der sie derzeit beschäftigte.
„Ich war heute in dem Krankenhaus und in dem Bett lag ich. Engel Petrus, ich bin nicht tot.“
Engel Petrus schien das nicht so zu erschrecken wie Kaja. Sein Alles-ist-gut-Lächeln blieb wie festgemeißelt in seinem Gesicht. Doch das Mädchen bemerkte es nicht.
„Und da war noch etwas. Ich hatte die Kette um.“ Kajas Finger fanden die Perle um ihren Hals und umschlossen sie. „Aber die die habe ich doch erst von Ihnen bekommen. Ich verstehe das alles nicht.“
Hilfesuchend sah sie den Engel an.
„Kaja, weißt du, wie du gestorben bist? Hast du eine Erinnerung daran?“
„Aber ich bin doch nicht tot.“ Kaja war den Tränen nahe.
„Hast du eine Erinnerung daran?“
„Nein, aber Tanja hat erzählt, es wäre ein Autounfall gewesen.“, gab Kaja letztendlich die geforderte Antwort.
„Habe ich dir je erzählt, wie seltsam dein Tod war?“
„Aber ich bin doch nicht tot“, schrie Kaja wütend. Wieso gab ihr keiner eine befriedigende Antwort?
Engel Petrus ignorierte Kajas Ausbruch und sprach ungerührt weiter: „Normalerweise erfahren die Seelensammler durch die Schutzengel vom Tod eines ihrer Schützlinge. Dann erst können sie auf die Erde gehen und die Seele einsammeln. Doch bei dir war das anders. Dein Schutzengel wusste nichts von deinem Tod. Du wurdest nur durch Zufall von einem Seelensammler-Engel gefunden. Er war in dem Krankenhaus, um die Seele eines alten Mannes zu holen, der an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben war und dann sah er dich. Du … deine Seele ist durch das Krankenhaus gewandelt, also hat er dich mitgenommen, bevor dich der Teufel holen konnte.“
„Wieso haben Sie mich nicht da gelassen? Mein Körper war noch nicht tot.“
„Wir wussten nicht, dass dein Körper noch lebte. Damals noch nicht. Außerdem hätte das nichts gebracht, Kaja. Wenn eine Seele den Körper verlässt, kann sie nicht mehr zurück. Dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten. Wenn dich die Engel nicht geholt hätten, wären die dämonischen Seelenjäger gekommen. Du wärst entweder Engel oder Dämon geworden. Auf jeden Fall hättest du nie in deinen Körper zurückkehren können.“
Lange blieb Kaja stumm. Zess ließ sie dabei nicht aus den Augen, bereit sie jederzeit in die Arme zu schließen, wenn ihr das alles zu viel wurde.
„Engel Petrus, ich hätte eine Bitte.“
Langsam hob Kaja den Blick. Entschlossenheit blitzte darin.
Auffordernd sah der Engel das Mädchen an.
„Können Sie bitte dafür sorgen, dass mein Körper eine neue Seele bekommt. Ich kann meine Eltern, Freunde nicht so leiden lassen. Ich weiß, dass mein Körper nicht mehr aufwachen wird. Doch sie wissen es nicht. Ich kann sie nicht mit dieser Hoffnung leben lassen, die sich nie erfüllen wird.
„Deine Bitte ehrt dich, Kaja. Doch so leid es mir tut, ich kann es nicht. Engel können nur Ungeborenen eine Seele geben.“ Traurig senkte Engel Petrus den Blick.
„Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“, fragte Kaja den Tränen nahe.
„Gibt es da nicht…“, fing Zess an, obwohl er sich fest vorgenommen hatte in Engel Petrus‘ Anwesenheit nicht zu sprechen, um den Engel nicht zu erzürnen, nicht, dass er sein Geheimnis verriet, bevor er es Kaja selbst sagen konnte. Aber er konnte Kaja nicht so leiden sehen und so griff er nach dem einzigen Strohhalm, der ihm noch einfiel. Zess stockte. Hätte der Engel es dann nicht von selbst angesprochen?
Aber Engel Petrus verstand, was dem Jungen durch den Kopf ging. „Früher einmal gab es einen Seelenführer. Dieser hatte die Macht, Seelen aus jedem Körper herauszuholen und auch in jeden Körper einzusetzen.“
„Dann suchen wir ihn.“ Kajas Stimme war voller Hoffnung. Ihre Augen glitzerten unternehmungslustig.
Es tat Engel Petrus in der Seele weh, diese Hoffnung zu zerstören. Aber er musste ihr die Wahrheit sagen.
„Niemand weiß, wo der Seelenführer ist.“
„Dann suchen wir ihn.“ Kaja ließ sich nicht beirren.
„Du verstehst nicht. Der Seelenführer war ein Engel. Er konnte frei zwischen Himmel und Erde wandeln. Doch auf einmal war er verschwunden. Niemand weiß, wo er ist, ob er noch lebt.“
„Dann suchen wir einen anderen Seelenführer.“
„Das geht nicht. Es gibt immer nur einen Seelenführer.“ Engel Petrus‘ trauriger Blick hing an Kaja.
Diese stand wie erstarrt, bewegte sich auch nicht, als Zess sie in die Arme schloss. Lange blieben sie still.
Zess spürte Kajas heiße Tränen an seinem Hals.
„Kaja“, unterbrauch Engel Petrus schließlich das Schweigen, „ich muss gehen.“
„Aber … aber wieso?“, stotterte das Mädchen.
„Mein Auftrag ist ausgeführt. Ich muss zurück.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen löste sich der Engel in Licht auf.
Lange noch standen die beiden Grenzgänger Arm in Arm und starrten auf die Stelle an der vor kurzen noch der Engel gestanden hatte.
Jeder hing seinen Gedanken nach. Kaja dachte daran, dass ihr Körper ohne die Möglichkeit einen neue Seele zu bekommen, nie mehr aufwachen wird. Und Zess dachte an die verpasste Gelegenheit seinen Befehl auszuführen und fragte sich, ob er das überhaupt gewollt hätte.
Kajas Tränen waren versiegt. Vorsichtig löste der Junge sich von dem Mädchen und sah ihr ins Gesicht. Diese aber starrte ohne irgendetwas zu sehen an einen Punkt hinter ihm an der Wand. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung verschiedenster Gefühle. Angst, Verwirrung, Trauer, Wut. Auch wenn all diese Gefühle ihr wunderhübsches Gesicht verzerrten, konnte Zess den Blick nicht von ihr lassen. Sein kleiner Engel! So stark und doch so verwundbar. Wie tapfer sie sich gab. Doch er wusste, dass das nicht so war. Er wusste, wie es um seinen Engel stand. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch. Keiner konnte so einen Tag, so viele Hiobsbotschaften einfach wegstecken.
Und tatsächlich ließ der Zusammenbruch nicht mehr lange auf sich warten. Auf einmal sank Kaja zu Boden, weinend, zitternd.
Wortlos ließ sich Zess neben ihr nieder und hielt sie fest, hielt sie einfach nur fest.
Kaja schmiegte sich an ihn und er fuhr ihr liebevoll durchs Haar.

 
                                                      *


Lautes Hämmern an der Tür ließ Zess aufschrecken.
„Hey, Kaja. Wo bleibst du? Wir kommen zu spät. Kaja!“, rief Aleyna.
Liebevoll und immer noch reichlich verschlafen, betrachtete er das schlafende Mädchen in seinen Armen, das sich nun wegen des Lärms langsam zu rühren begann.

 

Impressum

Texte: Alle Rechte an der Geschichte liegen bei mir. Das Cover wurde von mishi.s gestaltet
Bildmaterialien: Model (Frau): ^Elandria (dA) Model (Mann):Rubyfire14-Stock (dA) See: =Swordexpert-stock (dA) Balkon:~stormsorceress (dA) Nacht mit Mond:~Fune-Stock (dA) Flügel:ChaosFay (dA)
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2010

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