David
„David, komm zu mir. Es macht unglaublich viel Spaß!“, lachte Maya und winkte mir zu, während sie mit ihren Schlittschuhen auf der Eisbahn herumwirbelte. Verzaubert sah ich ihr zu und wagte mich dann selbst auf die Bahn. Maya stand auf der Mitte der Eisfläche und lächelte mich erwartungsvoll an. Sie hob ihre Arme leicht, sodass ich sie direkt umarmen könnte. Doch ich kam nicht an, ich glitt spielend leicht über das Eis, aber ich näherte mich ihr kein Stücken. Als sie erkannte, dass ich nicht kam, verrutschte ihr Lächeln und ihre Augen nahmen einen matten, trostlosen Glanz an. „David, warum kommst du nicht? Warum bist du nicht bei mir? Daaaavid.“ Ihr gespenstischer Ruf hallte über das Eis und es brach mir das Herz sie so traurig zu sehen. Ich versuchte mit aller Macht zu ihr hinzukommen, doch der Abstand wurde einfach nicht kleiner. Mein Name klang wieder und wieder und stieg zu einem ohrenbetäubenden Lärm in meinem Kopf an. Schmerzerfüllt hielt ich mir die Ohren zu, doch es dröhnte weiter, wie ein Presslufthammer bohrte sich ihr Ruf in meinem Kopf fest. Auf einmal begann sie zu verblassen, ihre Konturen wurden schwächer, faseriger und ich konnte die Bäume hinter ihr durch sie hindurch ausmachen. „Maya!“, brüllte ich verzweifelt, doch sie wurde immer durchscheinender. Ich ruderte mit meinen Armen nach vorne, doch ich kam einfach nicht an sie heran. Sie war kaum noch zu sehen, nur ihr tränenüberströmtes Gesicht konnte ich noch erkennen, aber ihr Ruf pulsierte noch immer in mir. Und dann war sie weg. Einfach verschwunden. Nur ein silberner Tropfen, der auf den Eis glitzerte war von ihr übrig geblieben. Verzweifelt brüllte ich ihren Namen, doch er wurde sofort verschluckt. Doch auf einmal veränderte sich die Szene, alles wurde dunkler, die Bäume und das Eis verschwanden und ich fühlte festen, staubigen Boden unter meinen Füßen. Scheinbar war es Nacht, denn der Mond stand am Himmel und leuchtete schwach. Ich konnte Gestrüpp um mich herum ausmachen und dunkle, menschliche Schemen. Auf einmal hörte ich ein herzerweichendes Wimmern. „Bitte“, flüsterte eine schwache Stimme, doch trotz dem gebrochenen Ton, hätte ich die Stimme unter tausenden wieder erkannt. Maya! „Be quit!“, erklang ein grober Ausruf mit einem starken Akzent. Und dann nur ein schmerzerfülltes Aufkeuchen von Maya. Wo war sie? Ich drehte mich um, doch ich fand sie nicht. Die Schritte entfernten sich und ich versuchte die Richtung auszumachen. „David.“ Ein leiser Hauch, doch es war rechts von mir gekommen. Hastig schlug ich das Gestrüpp zur Seite und versuchte Maya zu erreichen. Doch auf einmal tauchte ein dunkler Schatten vor mir auf. Ich stoppte, doch er kam nicht zu mir, sondern beugte sich zu einem zusammengekrümmten Schatten auf dem Boden. Das musste Maya sein! „Sei still!“ Die, in gebrochenem Deutsch ertönende Aufforderung klang wie auswendig gelernt, aber der Ton machte klar, dass es ihm ernst war. Maya wimmerte und ich wollte zu ihr durch. Ich versuchte den Mann zu schlagen, ihm wehzutun, weil er Maya wehtat, aber ich berührte ihn nicht. „David!“, schrie Maya auf einmal. „David! Hilf mir! Bitte!“ Umso flehender ihre Stimme klang, desto verbissener versuchte ich mich zu ihr durchzukämpfen, doch es gab eigentlich gar nichts zu kämpfen. Aber ich kam trotzdem nicht voran. Die Gestalt trat mit dem Fuß nach Maya und ich brüllte wütend auf. Doch dann löste sich die Szene auch schon wieder auf, doch ich wollte nicht weg. Ich musste Maya helfen.
„David! Werd wach!“
Die männliche Stimme klang durchdringend und ich versuchte sie zuzuordnen. Langsam tauchte ich aus meinem Traum aus und als ich die Augen langsam aufschlug, sah ich in das Gesicht meines besorgten Vaters. Ich schüttelte leicht den Kopf um den Albtraum loszuwerden und blickte dann wieder aus dem kleinen Fenster. Kurz fühlte ich die warme Hand meines Vaters aufmunternd auf meiner Schulter, doch ich schaute nicht zu ihm hin. Ich wollte das Mitleid in seinen Augen nicht sehen. Natürlich mochte er Maya, aber er verstand nicht, warum mich das so sehr mitnahm, dass ich zwei Tage nach der Schocknachricht direkt nach Afrika flog. Er dachte, dass ich übertreiben und falsche Hoffnung machen würde, denn ich konnte seiner Meinung eh nichts ausrichten. Doch ich konnte nicht einfach zu Hause herum sitzen und Däumchen drehen. Ich musste irgendetwas tun und wenn es nur war, um ihr näher zu sein.
Als ich meinen Blick über die anderen Fluggäste streifen ließ und ich Jannis entdeckte, der in sich zusammengesackt dasaß und trübselig vor sich hinstarrte, verfluchte ich das grausame Schicksal. Manchmal war die Welt echt ungerecht sein, Maya war das einzige was er noch hatte und nun sollte ihm das auch noch geraubt werden? Auf ähnliche Weise, wie seine Eltern. Das konnte doch gar nicht wahr sein. Leider war es wahr, egal wie sehr ich mir in den letzten beiden Tagen auch das Gegenteil gewünscht hatte. Ich wusste, dass Jannis sich schreckliche Vorwürfe machte, doch mir war klar, dass niemand Maya davon abhalten hätte können, zu gehen – auch ich nicht.
Seufzend massierte ich meine Stirn und lehnte meinen Kopf zurück. Vielleicht konnte ich noch ein wenig schlafen ohne dass ich erneut einen Albtraum bekam.
Als wir fünf Stunden später endlich in Ghana landeten, war ich noch immer vollkommen übermüdet, doch ich gab mir Mühe die Augen aufzuhalten umso viel zu möglich von dem Land zu sehen, das Maya so sehr faszinierte, dass sie sich sogar in Lebensgefahr dafür gab. Es war schön und exotisch und ich merkte, so albern es auch war, dass ich sogar ein bisschen eifersüchtig war. Immerhin liebte Maya dieses Land scheinbar mehr als alles anderes, sonst hätte sie mich nicht für es verlassen.
Konnte man wirklich so tief sinken um auf ein Land neidisch zu sein?
Was hätte ich nur dafür gegeben, mit Maya zusammen hier zu sein. Nur wir beiden allein, weiter entfernt von irgendwelchen Rebellen, die sie entführen, schlagen oder sogar noch schlimmeres könnten. Aber das hatte sie nicht gewollt, sie war lieber ohne mich gegangen.
Schnell verscheuchte ich die verbitterten Gedanken, jetzt war es eh egal. Erst mal war es nur wichtig, dass Maya wohlbehalten wieder zurückkam. Jannis hatte für morgen früh ein Termin mit der besten Freundin seiner Mutter, die hier das Camp leitete und das Glück gehabt hatte, während des Überfalls unterwegs gewesen zu sein. Sie würde uns über den aktuellen Stand aufklären und ich hoffte, dass sie uns wirklich irgendeine Aufgaben geben könnte, womit wir uns nützlich machen könnten.
Als wir aus dem Taxi ausstiegen und vor dem großen Luxushotel standen, dass mein Vater für uns besorgt hatte, musste ich unwillkürlich daran denken, dass es Maya momentan nicht so gemütlich haben konnte. Wütend und verzweifelt ballte ich meine Hände zu Fäusten, bei dem Gedanken daran, dass wie vielleicht irgendwo im Dreck lag und irgendwelche Bastarde sie traten oder berührten. Wie in Trance folgte ich dem breiten Rücken meines Vaters durch die Hotellobby und in den Aufzug. In dem verspiegelten Aufzug konnte ich mich und Jannis, der neben mir stand tausendmal sehen, was echt gruselig aussah, denn wir wirkten beiden wie Zombies. Mayas Bruder hatte sogar noch schlimmere Augenringe als ich und er war leichenblass.
Wir hielten vor einer Suite und mein Vater zog die Karte durch den Scanner. Müde schlurften wir hinter ihm her und ich ignorierte die edle Einrichtung. Maya lag sicherlich nicht in einem Bett, das einen feinen Überzug hatte und auf dem jede Menge Kissen thronten. Ich ließ die Tasche einfach aus meinen Händen gleiten und ging aufs Bad, als mein Vater mir hinterher rief: „David, ich lege ich mich schon mal ins Bett, morgen wird es sicherlich anstrengend. Du solltest auch schlafen, kannst dir ein Bett aussuchen. Gute Nacht.“ Ich antwortete nicht, sondern drückte nur die Klinke zum Badezimmer runter. Eine überdimensionale Dusche sprang mir ins Auge, doch ich ignorierte sie. Schnell ging ich aufs Klo und stürmte dann wieder ins Zimmer. Jannis hatte sich auf einer Couch niedergelassen, wo man wegen der gläsernen Fensterfront einen super Ausblick auf Ghana hatte. Er starrte geistesabwesend hinaus und ich wollte ihn nicht stören. Also schnappte ich mir eine Decke und ein Kissen, bevor ich leise hinausging. Da ich wusste, dass ich so oder so nicht schlafen könnte, beschloss ich, das Hoteldach zu suchen. Bis zur Etage 14 konnte ich mit dem Aufzug fahren, ab dann gab es nur noch eine Feuertreppe, die ich benutzte. Eine schlichte, unbeschriftete Tür führte nach draußen. Einfacher Stein säumte die riesige Fläche und am Rand war nur ein kleiner Wall errichtet. Rasch näherte ich mich dem Rand und breitete die Decke so aus, dass ich meinen Kopf daran anlehnen konnte und gleichzeitig die Landschaft betrachten konnte. Dann ließ ich mich auf die Decke fallen, was zwar nicht sonderlich bequem war, aber als ich so die kahle Landschaft und den dunkeln Himmel sah, fühlte ich mich Maya näher. Vielleicht schaute sie auch gerade in den gleichen Sternenhimmel und dachte ebenfalls an mich. Möglicherweise träumte sie auch, es hieß, dass man, wenn man nicht schlafen konnte, vermutlich in den Träumen von anderen Personen wach war. Irgendwie tröstete mich der Gedanken, dass Maya von mir träumte und ich spürte endlich wie der Schlaf mich fand.
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013
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