Geisterschach
Kapitel 1: Ich vertraue mich einem Gespenst an.
Hmmm… wo fange ich an zu erzählen? Ich glaube, es wäre am Sinnvollsten bei unserem ersten Treffen zu beginnen. Also, alles begann am ersten Ferientag.
Ich stand vor der kleinen, unauffälligen Tür in der riesigen Steinmauer, hinter der sich der größte Freizeitpark Amerikas ausbreitete, der, wenn es nach der Geschäftsleitung ging, bald der größte der Welt wäre. Ungeduldig wartete ich auf Nick, damit er mich endlich rein ließ, wippte von einem Fuß auf den anderen und zog mir schließlich mein schwarzes T-Shirt aus. Glücklicherweise hatte ich noch ein Top drunter. Es war brütend heiß, es kam mir vor, als ob wir fünfzig Grad im Schatten hätten. Ich wollte endlich in den klimatisierten Park. Nick hatte schon zehn Minuten Verspätung. Früher, als ich noch mit Hilfe von Elliot und dem spitzen Dietrich in meiner Hosentasche in den Park gekommen war, ohne mich wie die anderen lärmenden, tausend Menschen erst in die endlosen, im Schneckentempo voran kommende Schlange zu stellen, ging es viel schneller. Gerade, als meine Hand schon in meine rechte Hosentasche glitt und das kalte Metall des Dietrichs berührte, wurde die Tür vor mir rückartig aufgerissen, sodass das „Nur für Personal“ Schild gefährlich wackelte. Nick stand schwerkeuchend vor mir und sein Gesicht und sein Hals hatten schon rote Flecken. Fahrig fuhr er sich durchs dunkelblonde Haar und hing das Schild mit zitternden Händen wieder an seinen angestammten Platz. Was hat der denn? Normalerweise war er doch immer die Ruhe in Person. Nachdenklich sah ich ihn an. Dafür, dass er schon über vierzig war, hatte er sich eigentlich ganz gut gehalten. Sein Gesicht zierte noch keine einzige Falte, seine dunkelblauen Augen hatten noch immer so einen lebensfrohen Ausdruck und trotz des roten T-Shirts sah man, dass er nicht schlecht gebaut war. Doch heute hatte sich irgendwie ein nervöser Ausdruck auf sein Gesicht geschlichen. Hektisch guckte er sich nochmal kurz um, ob auch ja keiner kam und winkte mich dann rein. Sobald ich drin war, knallte er die Tür zu und drehte den Schlüssel zehn Mal im Schloss um.
„Meine Güte, was ist denn heute mit dir los, Nick?“ Erschrocken guckte er mich an. „Nichts, was soll den los sein?“ Doch ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, denn er wich meinem Blick aus und schnippte einen imaginären Fussel von seinem tadellos gebügelten Shirt. Bohrend sah ich ihn an, doch er schaute mir noch immer nicht in die Augen. Auf einmal ertönte ein lautes Kichern. Elliot war aufgetaucht, ich hatte mich schon ein wenig gewundert, wo er blieb.
„Nick hat einen neuen Chef“, verriet er mir und zwinkerte mir zu. Seine schelmischen, blassblauen Augen erinnerten mich an unser Treffen, wo sie noch traurig geschimmert hatten.
Es war ein lauer Herbsttag und ich hatte genug von dem ganzen Umzugsstress. Mit der Kapuze tief ins Gesicht gezogen umrundete ich die Mauer, die den Freizeitpark komplett einschloss, auf der Suche nach einem Hintereingang. Ich hatte keine Lust mich anzustellen und da ich mir im Internet schon eine Dauerkarte bestellt hatte, versuchte ich einfach mal mein Glück an einem anderen Eingang. Schließlich mussten die Mitarbeiter ja auch irgendwie rein. In meiner geballten Faust hielt ich den Dietrich, den mir Alex zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte, fest umklammert.
Endlich entdeckte ich eine Tür und steuerte auf sie zu. Prüfend untersuchte ich das Schloss und schnaufte leise. Die waren sich ja scheinbar ziemlich sicher, dass hier niemand einbrechen würde, nur um in den Park zu gelangen. Das Schloss war ein Witz, das würde ich in Nullkommanichts knacken. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stocherte ich ein wenig mit dem Dietrich herum und schon hörte ich ein altbekanntes Geräusch. Die Tür war zum Glück nicht abgeschlossen. Vorsichtig öffnete ich sie und steckte zuerst nur den Kopf durch den winzigen Spalt, man konnte ja nie wissen. Schon wieder musste ich lachen, nur eine Kamera hing einsam an einer grauen Wand und filmte auch nur in eine Richtung. Also so einfach hatte es mir selten einer gemacht. Beruhigt zwängte ich auch noch den Rest meines Körpers durch die schmale Öffnung, denn ich hatte festgestellt, dass die Tür, wenn man sie weiter aufmachte, fürchterlich zu quietschen anfing. Und ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit. Also schlich ich durch den Bereich, der wahrscheinlich wirklich nur fürs Personal gedacht war, denn alles war hier trostlos grau und auf den Türschildern standen verschiedene Namen. Gerade als ich um die Ecke biegen wollte, fuhr ich erschrocken zusammen, als auf einmal eine laute Stimme ertönte.
„Oh, siehe da, ein kleiner Eindringling.“
Scheiße, jetzt hatten sie mich erwischt. Langsam drehte ich mich um und suchte schon mal nach einem möglichen Fluchtweg. Doch als ich den Mann, der gesprochen hatte sah, atmete ich erleichtert aus. Von ihm würde mir keine Gefahr drohen, denn er war nicht in der Lage mich anzuschwärzen. Also versuchte ich einfach ihn zu ignorieren. Doch zu spät – er hatte gemerkt, dass ich ihn verstanden hatte. Verdutzt sah er mich an.
„Hast du mich verstanden?“ Hoffnung blitze in seinen moosgrünen Augen auf und ich brachte es einfach nicht über mich, ihm diese zu nehmen.
„Ich befürchte schon.“ Langsam breitet sich ein überglückliches Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Wirklich? Oh mein Gott, ich kann es gar nicht fassen. Es ist schon so lange her, dass mich zuletzt jemand verstanden hat. Wie kann es sein, dass du es kannst?“ Jetzt sah er mich misstrauisch an.
„Sie sind doch nur ein Mensch.“ Darüber musste ich wehmütig lächeln, an manchen Tagen wünschte ich mir mehr als alles andere auf der Welt, dass ich „nur“ ein Mensch wäre.
„Hmm… das bin ich leider nicht. Zumindest kein normaler. Oder seit wann können „normale“ Menschen mit Geistern reden?“ Nachdenklich blickte er mich an.
„Hmm… du bist also kein normaler Mensch, was dann?“
„Ich würde sagen, ein unnormaler Mensch mit einer besonderen Fähigkeit.“ Mir war klar, dass ich seiner Frage ein wenig auswich, doch glücklicherweise bemerkte er, dass das nicht gerade mein Lieblingsthema war. „Naja, auch egal. Hauptsache du kannst mich wahrnehmen. Du musst mir unbedingt erzählen, was da draußen so vor sich geht. Ich war schon seit meinem Tod nicht mehr außerhalb dieser Mauern und hab mir das wenige Wissen über die Welt da draußen nur aus Gesprächen der Besucher zusammengereimt.“ Innerlich stöhnte ich auf, ich hatte überhaupt keine Lust dazu, einem Geist zu erzählen, was in den letzten Jahren passiert war. Manchmal war es wirklich nervig, dass sich Geister nach ihrem Tod nicht allzu weit von dem Ort, an dem sie gestorben sind, entfernen können.
„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte ich, um vom Thema abzulenken.
„Elliot. Und du?“ „Linn“, antwortete ich einsilbig. Er wollte mich gerade noch was fragen, als Schritte ertönten. „Scheiße, ich muss hier weg!“ Rasch lief ich in die entgegengesetzte Richtung des Geräusches. Elliot folgte mir wie selbstverständig. „Was machst du eigentlich hier? Du bist doch nicht etwa durch den Hintereingang eingebrochen?“ Vorwurfsvoll blickte er mich an.
„Jaja, bin ich.“ Als er mich immer noch mit einem bohrenden Blick anstarrte, fügte ich hinzu:
„Aber ich hab ein Ticket.“ Das beruhigte ihn etwas und er lief neben mir her. Als dann auf einmal auch noch vor mir Schritte ertönten, dachte ich schon, dass ich in der Falle saß. Doch Elliot winkte mich zu sich und deutete auf eine Tür, die mir gar nicht aufgefallen war. Er gestikulierte wild mit seinen Händen. Ich vermutete mal, dass das bedeuten sollte, dass ich die Tür benutzen sollte. Er war kein guter Pantomime und scheinbar auch noch nicht lange ein Geist, weil er sich noch nicht ganz daran gewöhnt hatte, dass ihn eh keiner hören könnte, sodass er sich das Rumgehampel auch hätte sparen können. Schnell drückte ich die Klinke hinunter und schlüpfte in den dunkeln Raum. Mit pochendem Herzen lauschte ich an der Tür und wartete, bis die Schritte verklungen waren. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Aufschrei, als plötzlich Elliotts Stimme an meinem Ohr ertönte.
„Sie sind weg, du kannst wieder rauskommen.“
„Elliot, erschreck mich bloß nie wieder, du Idiot!“ Wütend machte ich die Tür wieder auf und trat auf den Gang. Als mein Blick auf das Schild neben dem Raum fiel, bemerkte ich, dass ich im Besenraum Zuflucht gesucht hatte. Langsam beruhigte mein Herz sich wieder und ich wandte mich an Elliot.
„Hast du Lust mir ein wenig von dem Park zu zeigen?“ Begeistert klatschte er in die Hände.
„Aber sicher! Folg mir.“ Und schon machte er einen Schritt durch die nächste Wand. Frustriert seufzte ich auf, ich hasste, es wenn Geister das machten. Eigentlich war das die Einzige unheimliche Sache an ihnen, mal abgesehen davon, dass ich die einzige war, die mit ihnen sprechen konnte und das sie manchmal echt nervig wurden. Aber sie sahen überhaupt nicht gruselig aus. Außer, wenn sie schon zu ihren Lebzeiten schrecklich aussahen, denn eigentlich hatten sie das gleiche Erscheinungsbild wie vorher als lebende Person. Nur, dass sie etwas durchscheinend wirkten, was man meistens aber erst beim zweiten Blick bemerkte. Elliot zum Beispiel sah stinknormal aus. Er hatte hellbraune Haare, war Mitte vierzig und relativ durchtrainiert. Gerade, als ich beschlossen hatte, mich einfach selbst durch den Park zu führen, tauchte er wieder auf und schaute mich reumütig an.
„Tut mir leid, ich hab ganz vergessen, dass ihr Menschen das ja gar nicht könnt. Aber es ist schon ziemlich geil“, schwärmte er.
„Jaja, kannst du mich jetzt rumführen?“, fragte ich, da ich leider nicht allzu viel Zeit hatte. Heute Abend um neun war alljährliches Umzugsfamilienessen.
„Klar.“ Diesmal lief er durch keine Wand und wir kamen endlich in den Bereich des Parks, der auch für Besucher gedacht war. Der erste Eindruck, denn ich hatte war: WOW!
Der Park war riesig und attraktiv gestaltet. Die Attraktionen waren teilweise alten Gebäuden oder Denkmälern nachempfunden, in der Ferne zum Beispiel sah ich ein alten Mayatempel und direkt vor mir stand eine fast lebensechte Kopie des Eiffelturms, nur nicht ganz so groß, an dem Leute gesichert hochkletterten. Rechts neben mir stand ein riesiger Turm, der mit Efeu zugewachsen war und irgendwie ziemlich gruselig aussah. Als Elliot mein Erstaunen bemerkte, lächelte er stolz.
„Das ist der Free- Fall -Turm, wenn du möchtest zeig ich dir den kürzeren Weg hinein.“ Erst da bemerkte ich die endlos lange Schlange vor der riesigen Attraktion. Selbst aus dieser Entfernung hörte ich die lauten Stimmen herüber schallen und sah die genervten Gesichter mancher Leute. „Aber sicher will ich das“, rief ich rasch. Es war schon manchmal praktisch, Geister zu kennen.
„Aber dafür müssen wir nicht durch eine Wand, oder?“, fragte ich schon im nächsten Moment misstrauisch. Amüsiert blickte er mich an.
„Nein, müssen wir nicht. Komm jetzt.“ Gemächlich schlenderte er zu der hinteren Seite des Gebäudes und ich folgte ihm unauffällig. Wir kamen vor einer zugewachsen Tür zum Stehen und Elliot bückte sich, um einen mittelgroßen Stein zur Seite zu rollen, doch er griff einfach durch den Stein hindurch. Das bestätigte meine Vermutung, er war definitiv noch nicht lange ein Geist. Erst mit der Zeit gewöhnten sich die meisten daran, dass sie nichts mehr berühren konnten.
„Ach man, ich vergesse das immer wieder“, meinte er niedergeschlagen. „Greif einmal bitte unter den Stein, da wird der Schlüssel aufbewahrt.“ Hastig bückte ich mich, zog den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss.
„Ich geh schon mal vor und gucke, ob die Luft rein ist.“ Elliot wartete nicht, bis ich die Tür aufgeschlossen hatte, sondern schwebte direkt hindurch. Ich wartete noch kurz und öffnete die Tür dann, als Elliot mir zurief, dass niemand da sei. Der Gang wurde nur von einem kleinen Lichtstrahl beleuchtet, der von einem hohen Fenster kam. Elliot hatte schon das Ende des Ganges erreicht und ich beeilte mich, ihm nachzueilen. Als ich um die Ecke bog, hörte ich laute Stimmen herüberschallen.
„Du musst jetzt diesen Gang rechts und dann wieder links und du kommst direkt zu der Schlange. Es wird keinem auffallen, wenn du dich dort unter die Menge mischst. Von dort dauerte es auch nur noch drei Minuten.“ Elliot deutete mit dem Finger auf den rechten Gang. Dankbar nickte ich ihm zu und ging weiter. Doch als ich mich nochmal umdrehte, sah ich, dass Elliot stehen geblieben war.
„Kommst du nicht mit?“ Elliot schüttelte nur den Kopf.
„Naja, ok, ich denke wir werden uns noch sehen. Vermutlich werde ich jeden Tag kommen. Dann kannst du mir ja noch mehr vom Park zeigen, wenn du willst.“
„Klar, gerne. Ich erwarte dich morgen.“ Dankbar lächelte ich ihm zu und ging dann den Gang weiter. Kurz blickte ich nochmal zurück.
„Sag mal Elliot, wie bist du eigentlich gestorben?“ Er kicherte düster.
„Oh, ich bin in diesem Turm gestorben. War ein Unfall. Ein Techniker hatte einen Fehler gemacht. Und ich musste ihn ausbügeln.“
Und mit diesem Worten verschwand er um die Ecke, während er weiter schelmisch lachte und mir nochmal zuzwinkerte. Na toll! Und ich würde gleich mit dem Ding fahren.
Und seit dem Tag hatte Elliot mir jeden Tag immer wieder Abkürzungen oder Tipps für den Park gegeben und im Gegenzug hab ich einfach ein bisschen mit ihm geredet, denn er war vorher ziemlich einsam gewesen. Er half mir auch immer beim „Einbrechen“ und wir waren mittlerweile gute Freunde geworden.
Eine Hand wedelte vor meinem Gesicht herum. Wie hypnotisiert starrte ich sie an.
„Hallo! Erde an Linn! Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“ Nicks Stimme riss mich aus meiner Erstarrung. Verwirrt schüttelte ich meinen Kopf, sodass meine schwarzen Haare wild umherflogen und sammelte mich wieder.
„Aha, du hast also einen neuen Chef“, meinte ich schmunzelnd. „Und warum macht dich das jetzt so paranoid?“ Entrüstet blickte Nick sich suchend um.
„Elliot, du Verräter, ich wette du hast wieder gepetzt!“ Er starrte auf eine bestimmte Stelle, an der er wahrscheinlich Elliot vermutete. Dieser kicherte nur schadenfroh und flog mehrmals um ihn herum, was Nick natürlich nicht bemerkte und fleißig weiter ein Loch in die Wand starrte.
„Also, was ist mit dem neuen Chef?“ Neugierig blickte ich ihn an und er seufzte.
„Na schön, also Harald ist endlich in Rente gegangen und der Neue ist so ein oberkorrekter, von Vorurteilen gegenüber allen die „anders“ sind, geprägter Spießer. Naja, auf jeden Fall hat er von meiner … äh… besonderen Neigung erfahren und war nicht besonders begeistert davon. Er hat mir ziemlich deutlich klar gemacht, dass ich bei dem kleinsten Fehler, meinen Job los bin. Und noch schlimmer ist seine Frau. Ich glaube, sie hat es sich zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht, mich zu überzeugen, dass Ufer wieder zu wechseln. Die ist ständig hinter mir her und berührt mich „unauffällig“.“ Abermals seufzte er abgrundtief, aber ich konnte mir das Lachen einfach nicht verkneifen und als Elliot auch noch miteinstimmte, war es um mich geschehen. Das war einfach zu komisch! Nick hatte Angst vor einer Frau. Beleidigt schnaufte er, wandte sich ab und stampfte den Gang entlang. Manchmal könnte man denken, er wäre ein Kleinkind und kein erwachsener Mann.
Trotzdem beeilte ich mich, ihm hinterher zukommen.
„Ach komm schon, Nick. Du musst zugeben, dass es schon irgendwie lustig ist.“ Er antwortete mir nicht.
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vielen Dank an so.perfekt für das super tolle Cover ;)