Als die Fahrstuhltür zur Seite glitt, traf mich die subtropische Hitze unvorbereitet. Beinahe so unvorbereitet, wie der herzförmige Pfeil, der mir entgegen geflogen kam und dessen Spitze die Größe eines kleinen Nagels hatte.
Wahrscheinlich würde ein Treffer kaum mehr als ein Pieksen verursachen … zumindest, wenn ich ein Mensch wäre. War ich aber nicht. Mich konnte so etwas zu Froschfrikasse verwandeln.
Ich hopste zur Seite und entkam dem Liebespfeil im letzten Moment, nur um beinahe in den Zwischenraum zwischen Fahrstuhl und Büro zu fallen. Wieder so eine ätzende Todesfalle, mit der sich normale Lebewesen nicht beschäftigen mussten.
Ich sah wie der Schütze, ein kleiner, fliegender Engel mit Windeln und entzückenden goldblonden Locken erneut anlegte und auf mich zielte. Zu meinem Glück achtete die verrückte Putte (das ist die Fachbezeichnung für kleine, fliegende Engel mit Windeln und entzückenden goldblonden Locken) dabei nicht auf seine Umgebung und landete an einem Fliegenfänger an dem schon drei seiner Artgenossen klebten, strampelten und zeterten. Ihre hellen, vollkommen unmusikalischen Stimmchen klangen wie ein verzerrtes Glockenspiel – oder wie Heino auf Crack. Kein Vergleich zu mir oder meinen privaten Chor.
„Entschuldigung!“
Eine freundliche, ältere Dame mit langen, weißen Haaren, strahlte mich über den Empfangstresen hinweg an. Ihr Lächeln hatten denselben Effekt auf mich wie Sonne auf Schnee. Ich schmolz geradezu und meine kurze Wut ob der Ungerechtigkeit des Schicksals verpuffte. Einfach so.
„Die lästigen, kleinen Eroten werden wir einfach nicht los.“
„Ahhhhh!“, machte ich. Die Geschöpfe des Eros. Schlecht erzogen und halfen nur ihm. Behauptete er zumindest. Der Rest der Welt nicht. „Hab von ihnen gehört.“
„Und hören tun die kein bisschen!“
Die Frau schüttelte ihre beeindruckende Mähne und das Funkeln in dem Weiß machte mir klar, dass hier eine Winterholle (Ja, genau. Wie in „Frau Holle“) kurz davor war, den Babyengeln Frostbeulen zu verpassen. Leider war ich eine Amphibie und fand Kälte mindestens genauso blöd wie Babyengel. Dachte ich zumindest, bis sich der schießwütige Erot von dem klebrigen Fliegenfänger losriss – meine Zunge verselbstständigte sich wie von selbst. Gott sei Dank erwischte sie nur die (hier noch einmal einen besonderen Dank an Gott!) leere Windel.
Einen Moment lang hing der kleine Erot in der Luft, dann fiel er zu Boden, weil er damit beschäftigt war, seine Blöße zu bedecken. Schamrot und mit um sich geschlungenen Flügeln hastete er zwischen zwei Blumentöpfe.
„Woah...“, machte die Winterfee und so etwas wie Respekt schlich sich in ihre Mine. „Eine verdammt gute Idee. Ich bin mir sicher, Lilly wird begeistert sein. Wenn Sie mir folgen!“
Die Chefin selbst? Wow, was für eine Ehre!
Ich hüpfte der Fee hinterher und in das Büro. Erst auf dem Gästestuhl angelangt stutzte ich. Und gleich noch einmal. Lilly Valentina war entzückend. Selbst der etwas entgeisterte Gesichtsausdruck, mit dem sie mich musterte, war süß. Wenn ich nicht bereits verliebt wäre, würde ich mich sofort in sie verlieben.
„Schön, dass sie die Matching-Myth für ihre Liebesvermittlung in Betracht ziehen. Verraten Sie mir Ihren Namen und Ihr Anliegen?!“ Nach einem minimalen Zögern fügte sie „Ihre Hoheit“ hinzu.
„Genau das ist das größte Problem“, seufzte ich und ignorierte das faszinierende Wechseln der Fotos in dem Bilderrahmen auf Lilly Valentinas Schreibtisch. Der Rahmen war wirklich hübsch. „Eben bin ich ein glücklicher Prinz. Ein Mann, dann plötzlich nur noch ein Frosch mit einer Krone.“
„Und welcher Prinz waren Sie vorher?“
Sie fragte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass ein Froschprinz in ihre Vermittlungsagentur gehüpft kam. War es vielleicht auch. Liebesvermitteln musste ein ziemlich aufregender und cooler Job sein. Mein Blick wanderte zu dem Bilderrahmen, wurde aber von dem silber-glänzenden Rahmen abgelenkt und sofort verzauberte mich mein Anblick. Erneut.
Ich war wirklich ein Hübscher. Selbst als Frosch. Ich plusterte meine Brust auf und reckte mein Kopf noch ein wenig höher, damit die Krone gut zur Geltung kam. Ja, wirklich gut aussehend.
Lilly räusperte sich.
Ich quakte empört. Manche Leute hatten wirklich kein Auge für Schönheit – oder Zeit. Wieder wechselte das Foto in dem Rahmen. Irritierend.
„Ich erinnere mich nicht mehr“, antwortete ich trotzdem
„Und alle anderen?“
„Welche anderen?“
„Familie, Freunde, Hofstaat, Medien … alle anderen Wesen eben.“
„Nein, niemand erinnert sich. Ich mich auch nicht.“
„Und die Welt im Großen und Ganzen?“
„Ich bin komplett aus allem getilgt worden.“
„Google? Facebook? Das Internet vergisst nicht.“
„Mich schon.“
Trotz meine Worte griff die Chefin der Matching-Myth zu ihrer Tastatur und machte den Bildschirm des Computers an. „Alter? Aussehen? Geografische Ansiedlung? Irgendwelche Erinnerungsfetzen?“
Ich dachte noch über die vier Fragen nach, als ein leises, wohlklingendes „Ping“ ertönte und sich ein rosa Funkeln aus dem Monitor auf Lilly ergoss.
„Ein Zauber“, quakte ich entsetzt.
„Scheiße“, kommentierte sie, allerdings wütend und kein bisschen entsetzt. Dann erst bemerkte sie meine Panik und schüttelte den Kopf als Antwort auf meine Behauptung. Es beruhigte mich kein bisschen, ich sprang ging hinter dem Bilderrahmen in Deckung.
„Dies ist ihre ...“, ein infernales „Piep“ unterbrach die freundliche Frauenstimme, „... 104 ...“, wieder ein „Piep“, „... Erinnerung an ihren Wunsch. Bitte setzten Sie sich mit Ihrer ... PIEP … guten Fee … PIEP … Sabine in Verbindung.“
„Ist nur Spam“, murmelte Lilly und der Unterton in ihren Worten machte mir beinahe mehr Angst, als Zauber und Gute-Fee geschafft hatten.
„Also, zurück zu Ihrem Anliegen … so wie ich es sehe, kann nur das helfen, was in jedem guten Märchen hilft.“
„Ich bin nichts Besonderes?“ Ich brauche eine andere Vermittlungsagentur. Jetzt.
„Doch, selbstverständlich!“ Lilly lächelte und ich vergaß meinen Gedanken. Natürlich war ich etwas Besonders. Ich war hübsch. Schon immer gewesen und ein Traumprinz. Ein Traum-Froschprinz.
„Sie sind so besonders, dass nur eines Sie erlösen kann: „der wahren Liebe erster Kuss“
„Hatte ich schon.“
„Dann war es nicht die wahre Liebe.“
„Doch, schauen Sie!“ Ich deutete auf den Bilderrahmen. „Ist der eigentlich magisch?“
„Magischer Bilderrahmen? Quatsch – digital!“
„Digiqual?“ Was war das denn? Hörte sich auf jeden Fall schmerzhaft an, dabei war es doch so schön. Vorsichtshalber hüpfte ich mich in Sicherheit, man wusste ja nie, wo Zauber versteckt waren. Einmal hatte eine Hexe meinen Spiegel und meine Waage verzaubert, weil sie meinte, ich wäre zu eitel. Das war der größte Schreck in meinem jungen Leben gewesen, als ich plötzlich überall Warzen hatte, meine wunderbaren, schönen, goldblonden Haare einer Glatze gewichen waren und ich zu allem Überfluss scheinbar auch noch zugenommen hatte. Eine Stunde lang hatte ich mit dem Gewissen gelebt, dass ich abartig hässlich war und das war die reinste Folter gewesen. Jeder meiner Bediensteten hatte mir versichern müssen, dass ich nicht so aussah, wie mein Spiegelbild, bis sich mein Herzschlag wieder beruhigt hatte.
„Nein. D-i-g-i-t-a-l. Einer der neusten technischen Erfindungen auf dem Markt.“
Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte, aber deswegen war ich ja auch nicht hergekommen.
„Also können sie mir jetzt helfen?“ Lilly lächelte mich selbstbewusst an und in mir machte sich Hoffnung breit. So eine schöne Frau musste mir doch einfach helfen können.
„Ja, also Sie hatten schon einen Kuss aus wahrer Liebe, aber es hat nicht geholfen. Sind Sie sicher, dass es wirklich Ihre wahre Liebe war?“
Eifrig wackelte mein Kopf auf und ab.
„Natürlich, eine andere Frau als meine Amilia von Eichenstrauch kann es nicht sein. Sie ist die schönste Frau weit und breit und von demselben edlen Blut wie ich. Und ihr Haar ist golden, natürlich nicht so schön wie meins, aber das geht ja auch gar nicht. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ihr Lachen ist so glockenklar, dass jeder wie erstarrt ist, wenn er es hört. Und ihre Stimme…Einfach göttlich. Früher hat sie oft für mich gesungen.“
Sehnsüchtig warf ich einen Blick auf den Bilderrahmen und wünschte mir, dass ich mein weiches Haar wieder durch meine gepflegte Hand gleiten lassen könnte und dass ich endlich meine Geliebte wieder sah.
Zustimmend nickte Lilly und meinte: „Hmm…haben Sie sich denn auch schon nach Ihrer Verwandlung geküsst?“
Empört plusterte ich mich auf.
„Natürlich nicht! Denken Sie, ich würde mich diesem Schmach hingeben und in dieser Gestalt vor sie treten?“ Sofort ruderte sie zurück.
„Natürlich nicht, Entschuldigung, wie konnte ich Sie nur so etwas fragen.“
Nachgiebig nickte ich, wenigstens waren sie hier ehrerbietig genug, so wie ich es verdiente.
„Und inwiefern sollen wir Ihnen jetzt helfen? Wir sind eine Partnervermittlungsagentur und wenn sie doch schon jemand gefunden haben…“
Rasch unterbrach ich sie.
„Sie sollen mir helfen, endlich wieder meine normale Gestalt anzunehmen!“
Einen Moment schaute sie etwas verunsichert, doch dann setzte sie wieder ihre professionelle Maske auf.
„Wie gesagt, ich kenn mich damit leider nicht so aus, aber ich würde sagen, dass Sie Ihre Angebetete küssen müssen.“
Langsam wurde ich wütend, verstand sie mein Problem denn nicht?
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich ihr so nicht unter die Augen treten kann!“
„Hmmm… das ist natürlich ein Problem. Passen Sie auf: Ich werde mich über alle Möglichkeiten, die Ihnen noch übrig bleiben, erkunden und Sie dann heute Abend anrufen. Ist das für Sie akzeptabel?“
Ehrwürdig nickte ich mit dem Kopf.
„Ich erwarte Ihren Anruf.“ Mit diesen Worten hüpfte ich von dem Stuhl und machte mich auf den Weg nach draußen. Die Eroten trieben schon wieder ihr Unwesen, doch als sie mich endeckten, rissen sie ihre Augen entsetzt auf, hielten sich mit der einen Hand ihre Windel fest und verdünnisierten sich. Zufrieden strich ich mir mit der Zunge über den Kopf und stolzierte aus der Agentur. Doch ich war noch nicht ganz draußen, als Lilly hinter mir her gestürzt kam.
„Entschuldigung, Hoheit, aber ich hab Ihre Nummer gar nicht.“
Momentan lebte ich in einem Hotel in einer Suite, also gab ich ihr die Nummer des Hotels. Sie bedankte sich mehrmals und verabschiedete sich dann wieder.
Während ich ein Schaumbad genoss und fasziniert die Blubberblasen um mich herum betrachtete, in denen sich mein wundervolles Antlitz spiegelte, wartete ich sehnsüchtig auf den Anruf.
Ich ließ mir gerade von einer schönen Frau meine Haut pflegen und Creme einmassieren, als ein lautes Schrillen den Anruf ankündigte. Aufgeregt quakte ich und drängte die Frau dazu, den Hörer abzunehmen und mir hinzuhalten.
„Ja?“ Am anderen Ende der Leitung ertönte Lillys Stimme.
„Ich habe einen Plan, Hoheit.“ Ja! Ein prickelndes Gefühl breitete sich auf meiner frisch gepeelten Haut aus.
„Was muss ich tun, um wieder normal zu werden?“ Lilly räusperte sich unbehaglich.
„Ja also, es gibt keinen anderen Weg als der Kuss, aber ich habe eine Idee, wie wir Sie zu Ihrem Kuss bringen können, ohne das Ihre Angebetete Sie sehen wird.“
Skeptisch lauschte ich ihrem Plan und mit jedem Wort hielt ich die Frau mehr für völlig durchgeknallt. Gerade als ich fauchen (oder eben quaken) wollte, dass sie sich mal zum Teufel scheren konnte und die Agentur der letzte Müll war, kam sie mir zuvor: „Hören sie mir zu, es gibt keinen anderen Weg. Wollen Sie wirklich für den Rest ihres Lebens so bleiben? Wollen Sie nie wieder in den Spiegel blicken und von der Pracht geblendet sein? Nie wieder ein richtiger Prinz sein?“ Okay, sie hatte mich überzeugt. Mit einem verhängnisvollen Seufzer gab ich nach und fragte mich im gleichen Moment, ob ich nicht einen riesigen Fehler machte.
Im Schutz der Dunkelheit schlichen wir uns vorsichtig und leise an. Als Lilly ruckartig von einem Baum zum anderen huschte, krallte ich mich erschrocken an ihrer Schulter fest. Was taten wir hier eigentlich? Hinter uns knackte ein Ast und erschrocken drehte ich meinen Kopf um, doch da war nichts. Mein Blick blieb an der unheimlichen Frau, die Lilly mitgebracht hatte, hängen. Sie glitt lautlos wie ein Schatten hinter uns her und hatte schwarze Rastazöpfe unter einem blutroten Tuch. Die Piercings in ihrem Gesicht konnte ich nicht zählen, denn es waren einfach zu viele. Sie hatten ein zerlumpten schwarzen Mantel an, der mehrere Ausbuchtungen hatte und ich wollte nicht wissen, was sie darunter versteckt hatte. Als ich entsetzt gefragt hatte, wer denn diese Frau sei, hatte Lilly geheimnisvoll gelächelt und gemeint, dass ich das schon noch sehen würde. Allzu begeistert war ich ja nicht davon gewesen, aber was blieb mir auch schon anderes übrig? Ich konzentrierte mich wieder auf Lilly, die sich immer weiter an die Villa heranschlich und extra vorsichtig auftrat, damit sie ja kein Geräusch erzeugte. Trotzdem schallte mir noch jedes Knistern als unerträglich laut und malte mir schon die Szenarien aus, wenn die Wachmänner uns erwischen würden. Endlich kamen wir an dem hohen Gitterzaun an und ich sah uns am Ende unserer Mission, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Wie sollten wir da bloß drüber kommen. Selbst durch die hohe Position auf Lillys Schulter kam mir der Zaun noch als unüberwindbares Hindernis vor. Doch Lilly schien sich davon nicht abschrecken zu lassen, behändig griff sie nach den Stäben und zog sich mit einem kräftigen Ruck hoch. Jetzt hingen wir auf halber Höhe und als ich in die schwindelerregende Tiefe unter mir schaute, krallte ich mich noch tiefer in Lillys Pullover. Wenn ich da runter fallen würde, wäre ich Froschmus. Ich wollte noch nicht sterben! Ich fing an zu hyperventilieren, doch auf einmal spürte ich nur noch, wie ein harter Ruck durch Lillys Körper ging und als ich mich traute, die Augen, die ich die ganze Zeit panisch zusammengekniffen hatte, wieder zu öffnen, sah ich, dass sich der riesige Vorgarten vor uns erstreckte. Lilly setzte sich wieder in Bewegung und ich wurde kräftig durchgeschüttelt. Da ich wusste, dass auf diesem Teil des Geländes noch keine Kameras installiert waren, mussten wir nur aufpassen, dass sich nicht eine Wache auf ihrer Route hierhin verirrte. Leise deutete ich Lilly den Weg, den ich früher so oft gegangen war, um mich mit Amilia zu treffen. Ihr Zimmer lag auf der Rückseite des Hauses, doch es gab einen alten Geheimgang, den sie mir mal gezeigt hatte. Als wir endlich bei der riesigen Eiche an der Hausrückseite angekommen waren, stand ich schon vor der nächsten Krise. Dieses Abenteuer in Miniaturgröße erleben zu müssen, war eindeutig nichts für mich. Lilly fackelte nicht lange und suchte an der rauen Rinde nach Halt. Stück für Stück kletterte sie hinauf, während ich meine Augen wieder zusammen kniff. Als ich es einmal kurz wagte, sie zu öffnen, hätte ich mich fast übergeben. Schnell schloss ich sie wieder, bis wir endlich da waren. Ich hatte keine Ahnung, wie Lilly das Fenster aufbekam, doch es dauerte nur 54 Sekunden und dann waren wir endlich drin. Hinter uns kletterte diese komische Hexe durch den Fensterrahmen und wischte sich ihre Hände an dem flattrigen Umhang ab. Leider mussten wir erst noch mehrere Räume und den Flur durchqueren, um zum Geheimgang zu kommen. Ich wusste immer noch in und auswendig, wo die Kameras waren, sodass wir uns an den richtigen Ecken in dem Winkel bewegten, den die Kameras nicht umfassten. Als wir an einem riesigen, antiken Spiegel mit goldenem Rahmen vorbei kamen, betrachtete ich Lilly und mich. Wir waren beide komplett schwarz wie die Nacht, sie hatte ihre Haare unter einer Mütze versteckt und mich hatte man schwarz angepinselt, was ganz schön auf der Haut juckte. Wenn das hier alles vorbei war, brauchte ich dringend wieder eine Kosmetikstunde. Ich fand, dass wir komplett lächerlich aussahen, doch Lilly hatte auf diese verrückte Aufmachung bestanden. Lilly öffnete vorsichtig die Tür zum Flur einen Spalt breit und spähte hinaus. Da ich auf ihrer Schulter saß, konnte ich auch nach Menschen Ausschau halten.
„Die Luft ist rein“, flüsterte Lilly und wir schlichen alle leise die paar Meter des Flurs zur nächsten Tür entlang. Der Raum mit dem Geheimgang direkt zu Amilias Zimmer war ein Gästezimmer, das aber nie benutzt wurde. Doch als wir diesmal die Tür öffneten, traf mich der nächste Schock. Amilias Vater war splitterfasernackt und wälzte sich gerade mit einer schwarzhaarigen Schönheit im Bett, die garantiert nicht seine Frau war! Empört wollte ich losstürzen und ihm mal so richtig meine Meinung sagen. Amilia wäre am Boden zerstört, wenn sie das wüsste. Und ich hatte ihn immer für einen ehrbaren Mann gehalten. Lilly zog erschrocken die Tür wieder zu und rannte so leise und schnell sie konnte davon.
„Verdammt! Hoffentlich haben die uns nicht gesehen!“ Dass das das Scheitern unsere Mission bedeuten würde, interessierte mich gerade nicht die Bohne, denn ich kochte immer noch vor Wut über das Verhalten von Amilias Vater. Doch ein unheimliches Krächzen riss mich aus meinen Gedanken, verwirrt schaute ich mich um, in der Annahme, dass hier irgendwie ein Rabe reingekommen war, doch es war keiner zu sehen. Vollkommen verblüfft stellte ich fest, dass die seltsamen Geräusche aus dem Mund der Hexe kamen.
„Selbst wenn er euch erwischt, kann er nichts tun, denn ihr habt ihn auch bei etwas erwischt, was sicherlich nicht jeder erfahren soll.“ Was für eine grauenhafte Stimme, automatisch verglich ich ihre mit Amilias lieblichen und dazwischen lagen einfach Welten! Aber ich musste doch anerkennend feststellen, dass sie schon etwas gerissen war. Darauf hätte ich auch kommen können.
Lilly nickte etwas beruhigt und meinte: „Außerdem waren die, glaub ich, eh zu beschäftigt.“ Ja, leider!
Noch vorsichtiger als vorher mussten wir jetzt den Weg direkt über den Hauptflur nehmen und einfach hoffen, dass hier nachts nicht mehr zu viel los war.
Der rote, flauschige Teppich der im gesamten Flur ausgelegt war, verschluckte glücklicherweise unsere Schritte. Jeder Zeit in der Bereitschaft wegzurennen, spähten wir um die Ecken und liefen erst weiter, wenn wir niemanden sahen. Doch einmal war das schon zu spät, genau in dem Moment kam ein Wachmann um die Ecke. Er blieb erstarrt stehen, da er nicht mit uns gerechnet hatte. Normalerweise liefen sie einfach nur jeden Abend den gleichen Weg, sodass sie schon Spuren im Teppich hinterlassen hatten und warteten darauf, dass endlich was passierte, was es aber nie tat. Dieser hier war sogar so überrascht, dass er komplett vergaß, was er eigentlich in so einem Fall zu tun hatte. Die Zeit reichte der Hexe scheinbar, denn sie trat vor und hob ihre Hand vor das Gesicht des Mannes. Dieser riss verwirrt die Augen auf, doch sie wedelte damit hin und her und flüsterte irgendwas. Der angespannte Ausdruck des Wachmanns wurde schlaffer und ihm fielen langsam die Augen zu, sodass er auf dem Teppich zusammenbrach und friedlich vor sich hinträumte.
Die Hexe wurde mir immer unheimlicher, doch sie winkte uns weiter und nach Stunden, so kam es mir zumindest vor, in denen uns keiner mehr entdeckt hatte, standen wir endlich vor Amilias Zimmertür. In diesem Moment hasste ich die Hexe, die mir das alles angetan hatte, nur weil ich sie abgewiesen hatte, noch abgrundtiefer als sonst. Manchmal merkte ich, dass ich sogar vergaß, dass über mich ein Zauber gewirkt worden war. Diese Hexe hatte mich nicht nur mit der Verwandlung bestraft, sondern auch mit Vergessen.
Denn Amilia würde sich nicht mehr an mich erinnern können, keiner tat das. Mir selbst fiel es ja schon schwer, mich nicht völlig in einen Frosch zu verwandeln und zu vergessen, dass ich mal ein Prinz war. Jeden Tag merkte ich mehr, wie die Instinkte des Frosches meine übernahmen, irgendwann würde ich wahrscheinlich nur noch ein quakender Trottel mit Krone sein. Na gut, ein gutaussehender, quakender Trottel mit Krone. Ich musste jetzt dringend zurück verwandelt werden!
Leise öffneten wir die Tür, denn es war wichtig, dass Amilia nicht wach wurde. Auf den Zehenspitzen schlichen wir ins Zimmer und schlossen die Tür hinter uns ab.
Die Hexe machte sich sofort ans Werk und kramte etwas aus ihren riesigen Taschen. Sie zog eine schlichte Kette hervor, vorne dran war nur ein kleiner Herzanhänger, noch nicht mal aus Gold, sondern nur aus Silber! Still flüsterte sie etwas vor sich und pendelte die Kette vor Amilias Augen herum. Als sie näher trat, quakte ich wütend. Diese Hexe sollte nicht zu nah bei Amila sein! Doch die Frau ignorierte mich einfach und sang vor sich hin, wobei man das eigentlich nicht singen nennen konnte. Amilia schlug die Augen auf und starrte glasig vor sich hin. Die Hexe murmelte etwas von Küssen und Geliebten und den Rest verstand ich nicht, doch ich wusste ja worum es ging. Lilly meinte, dass selbst der stärkste Zauber nicht bis ins tiefste Unterbewusstsein kam, deswegen wollte sie mithilfe eines anderen Zaubers Amilias Erinnerung wieder an die Oberfläche holen, beziehungsweise ihre Liebe. Doch durch dieses Pendel oder Kette oder wie auch immer, wollte die Hexe ihr einreden, dass ich so aussähe wie immer und sie mich küssen sollte. Keine Ahnung was das überhaupt war, irgendeine Art Beschwörung, Hauptsache, sie funktionierte! Und tatsächlich, Amilia murmelte meinen Namen immer lauter vor sich her und auf einmal winkte die Hexe mich zu sich. Vorsichtig setzte Lilly mich auf dem Bett ab und ich hüpfte zu Amilias Gesicht hoch. Ich wollte nicht auf ihr wunderschönes Gesicht springen und es beschmieren, doch es blieb mir wohl nichts anderes übrig. Als ich zögerte, hob mich Lilly einfach schlichtweg hoch und hielt mich so nah an Amilia heran, dass ich nur meine Lippen ein bisschen spitzen müsste und dann würden wir uns endlich küssen. Ich schloss die Augen, betete, dass es funktionierte und dann presste ich meine winzig kleinen Lippen auf ihre. Das Erste was ich bemerkte war, dass ihre Lippen sich immer noch so weich und voll anfühlten, das Zweite war weit weniger angenehm. Ich war immer noch ein Frosch! Vollkommen am Boden zerstört wollte ich mich schon zurückziehen, doch auf einmal ging ein seltsames Kribbeln von unseren Lippen aus und es breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Es kitzelte wie verrückt und ich musste niesen, doch auf einmal setzten unmenschliche und unfroschliche Schmerzen ein und lösten das Kribbeln ab. Ich machte ein Geräusch, dass eine Mischung aus einem Quaken und einem Schrei war, als meine Haut mit Gewalt riss, meine Knochen rasendschnell wuchsen und alles in die Länge gezogen wurde. Mein Schrei wurde immer lauter und das Quaken immer weniger und in noch nicht mal einer Minute war es nur noch ein schmerzerfüllter Schrei. Doch auf einmal setzte der Schmerz aus und der Schrei verklang. Alles war noch ein bisschen wund, doch ich fühlte mich wie neugeboren. Bevor ich vorsichtig die Augen öffnete, fühlte ich meinen Körper zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig intensiv. Ich hatte wieder vernünftige Hände und Füße und Augen und ….! Ungläubig fuhr ich mir durch meine wunderbaren Haare, ich konnte es immer noch nicht fassen! Es hatte tatsächlich geklappt.
Lilly lächelte mich begeistert und erleichtert an. Immer wieder fuhr ich mit meinen Händen über meinen gesamten Körper, hoch und runter. Runter und hoch. Unendliche Erleichterung breitete sich in mir aus und ich stand wacklig auf. Glücklicherweise gaben meine Beine nicht nach und ich torkelte auf Lilly zu und umarmte sie fest. Es fühlte sich wunderbar an, jemanden wieder so zu fühlen!
„Danke, Danke, Danke!“, flüsterte ich immer wieder. Nach langer Zeit hatte ich mich endlich wieder gefasst und drehte mich nach der Hexe um, da ich mich auch bei ihr bedanken wollte, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Seltsam.
Als ich Amilia anblickte, sah ich, wie sie friedlich wie ein Engel vor sich hinschlummerte. Ihre schönen, goldenen Haare lagen wie ein Kranz um sie herum. Reflexartig fuhr ich nochmal durch meine Haare, nur um nochmal sicher zu gehen.
Ich kniete mich neben sie und streichelte ihr Gesicht. Als ich hörte, wie Lilly gehen wollte, drehte ich mich nochmal zu ihr um und meinte, dass ich das Geld bald überweisen würde. Dankend lächelte sie mich an und verschwand dann.
Ich saß einfach nur stundenlang neben Amilia und betrachtete sie und mich in dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Ja, wir waren schon ein Traumpaar. Ein Traumpaar mit wunderbaren Haaren.
Texte: Der Anfang gehört zu dem Wettbewerb, aber der Rest mir!
Bildmaterialien: Vielen, vielen Dank an die großartige Covergestalterin so.perfekt Das Cover ist wirklich super ;)
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2012
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