Gewidmet meinen lieben
Freundinnen und Freunden in Indien.
Ihr habt mir über Jahre den Stoff geliefert,
aus dem Abenteuer, Herausforderungen
und Spannung entstehen -
aber auch Träume, Faszination, Glaube und Liebe.
Danke.
»Auf einem Friedhof sterben? Nee, bloß das nicht!«
Inspektor Chidambaram verzog das Gesicht, als habe er auf eine Chilischote gebissen.
Es roch nach Gewitter. Die Luft dieses langen Tages schmeckte verbraucht und abgestanden. Der Tote lag zwischen zwei Gräbern. Seine Beine ragten merkwürdig verdreht am Grabstein links empor. Es schien, als ob die Zehen der nackten Füße Richtung Inschrift wiesen. »Ich lebe und ihr sollt auch leben!«
Der Kopf hing wie abgeknickt an der Mauer rechts, direkt unter einem mit einer goldenen Girlande geschmückten Kreuz. Der Körper füllte den knappen Raum zwischen den Grabstellen und lag auf kalt gefliestem Boden. Es schien, als habe ein unbekannter Künstler ein Bild zum Thema Kontraste inszeniert: Dunkle Haut auf mit Kalk getünchtem Mauerwerk. Strahlend weißes Hemd über schwarzer Bundfaltenhose. Im Licht der tief stehenden Sonne leuchtende Gräber vor Unheil verkündenden schwarzen Gewitterwolken über dem tiefer liegenden Flussbett. Perfekt inszeniert.
»Sie nennen es nicht Friedhof!«
Der Mann neben ihm war in Zivil, ein schlanker, konservativ gekleideter Endzwanziger. Seine Stimme klang nicht belehrend oder besserwisserisch, aber sie ließ doch etwas von einer gewissen Vonsichselbstüberzeugtheit spüren.
»Sie nennen es Easter-Garden, Oster-Garten.«
Chidambaram warf Babu einen kurzen Blick zu, so als überraschte ihn inzwischen nichts mehr, was seinen zivilen Assistenten betraf.
»Woher weißt du das?«
»Ich bin eben von der Polizei«, grinste Babu hinter seiner auffallend großen Brille mit schwarzem Rand, »und da achtet man auf jede Kleinigkeit!« Ohne sichtbare Schadenfreude ergänzte er: »Und deine bessere Hälfte hat vorhin bei unserer Ankunft das Schild am Eingang gelesen!«
Der Inspektor wusste nicht, ob er jetzt stolz auf seinen Assistenten sein sollte oder beschämt wegen seiner eigenen Unaufmerksamkeit. Ja, irgendwie war Babu tatsächlich seine ‚bessere Hälfte’. Chidambaram wusste sehr genau, was er an seinem zivilen Mitarbeiter hatte. Offiziell ein für die Verwaltung angestellter Sekretär, der ihn als DSP und Leiter des Präsidiums entlasten sollte, war Babu doch tatsächlich Adjutant, Assistent und unausgesprochen auch Freund des Inspektors. Oft genug kamen wichtige oder sogar entscheidende Hinweise von ihm – mal ganz abgesehen von seiner immer wieder geleisteten enormen Fleißarbeit bei Recherchen aller Art.
Der Inspektor beugte sich ohne etwas zu berühren zum Toten hinunter. Chidambaram war ein großer, athletischer Mann, wenngleich er selbst sich nie so beschreiben würde. Der Tote war vermutlich einen Kopf kleiner und hatte ebenfalls eine schlanke Figur – auch wenn das in dieser Haltung schwer zu beurteilen war. Irgendwie kam ihm der Mann zwischen den Gräbern bekannt vor.
»Ich kenne ihn irgendwo her!«
»Das wundert mich nicht. Du kennst viele Christen.«
Das verschmitzte Grinsen Babus war nicht zu übersehen. Chidambaram wusste sehr genau, worauf sein Assistent anspielte. Er meinte nur vordergründig die vielen Kontakte zu christlichen Gemeinden, die sie inzwischen durch diverse Kriminalfälle bekommen hatten. Er meinte vor allem einen ganz speziellen Kontakt. Er meinte Kumari.
Den Inspektor ärgerte, dass Babu schon wieder in eine seiner empfindlichen Wunden pikste. Kumari war jene Frau, die er immer geliebt hatte, mit der es aber bis heute nicht so richtig klappte. Ein Paar jedenfalls konnte man sie nicht nennen, leider.
»Allerdings. Ich habe diesen Mann bereits getroffen.«
Am Besten, er ging nicht weiter auf Babus Bemerkung und auf dessen Grinsen ein. Hier ging es nicht um ihn, sondern um diesen Fall. Ob es überhaupt ein ‚Fall’ war? Das musste der Gerichtsmediziner entscheiden. Man konnte auf den ersten Blick keine Wunde entdecken, weder einen Einschuss noch sonst etwas. Auch auf den weißen Fliesen und Mauern des Grabes war kein Blut zu sehen. Aber der Inspektor konnte sich nicht vorstellen, wieso jemand ausgerechnet auf einem Friedhof eines natürlichen Todes sterben sollte.
Nein, in einem ‚Easter-Garden’. So viel wusste Chidambaram inzwischen vom christlichen Glauben: Im Zentrum stand die Hoffnung auf Auferstehung. Und damit meinten die Christen nicht die Wiedergeburt im Kreislauf des Seins, wie die Hindus, sondern eine wirkliche Auferstehung in eine neue Existenz hinein. Man blieb auch nach dem Sterben man selbst, aber man lebte in Ewigkeit weiter. Mit Kumari hatte er viel darüber diskutiert. Sie hatte ihm so begeistert von der christlichen Hoffnung erzählt, dass er sich fast hatte anstecken lassen. Ja, es wäre schon großartig, wenn nicht alles immer so weitergehen würde, sondern wenn nach dem Tod ein heiles und ewiges Leben käme ...
Ein guter Platz zum Sterben war so ein Easter-Garden deshalb jedoch noch lange nicht.
»Wenn die Spusi durch ist, soll sich der Mediziner den Mann anschauen und mir schnellstens den Bericht schicken!«
Babu machte sich eine Notiz.
»Und dann will ich, dass hier weiträumiger abgesperrt wird. Nur hier ums Grab herum ist zu wenig!«
»Sollen wir nur den christlichen Bereich absperren oder auch die Hindustätte dort drüben?«
Babu wies in nordwestliche Richtung.
Angrenzend an den riesigen Friedhof, als ‚christlich’ erkennbar an hunderten Gräbern, die allesamt mit gemauerten, hölzernen oder aufgemalten Kreuzen versehen waren, gab es ein ebenso großes Gelände, auf dem die Hindus ihre Beerdigungen zelebrierten. Auch dieses Areal lag direkt am Fluß. Mehrere Verbrennungseinrichtungen, kleine Tempel, aber auch Gräber waren zu sehen. Die Hindus verbrannten ihre Toten. Die Asche wurde entweder dem Fluss überlassen oder in der Erde beigesetzt. Im Kreislauf des Seins würde der Tote dann als anderes Lebewesen wiedergeboren werden, je nachdem, wie er bis dahin seinem Karma, seiner Bestimmung gemäß gelebt hatte.
Der Inspektor war Hindu und hatte nebenan bereits zwei Bestattungen miterlebt. Er kannte das Gelände.
»Nein, nicht nötig, denke ich! Sie sollen sich auf den christlichen Bereich beschränken.«
Irgendwie beeindruckend, dachte er, die so verschiedenen Religionen so nah beieinander – im Leben und im Sterben. Indien ist wirklich ein erstaunliches Land. Allerdings kostet manches auch einen hohen Preis. Der Inspektor musste an seinen letzten großen Fall denken. Im Moment ging er allerdings nicht davon aus, dass es hier um religiöse Auseinandersetzungen ging. Dass dieser Tote ausgerechnet auf einem Friedhof lag, konnte hundert Gründe haben. Welchen, das würde er herausfinden.
Chidambaram überließ Babu die weitere Organisation am Fundort des Toten. Er hatte genug gesehen.
Sein Blick wanderte über den Fluss. Er liebte die Weite der Godavari. Für ihn war dies der schönste Fluss auf Erden. Zwar war er bisher aus Indien nicht herausgekommen, hatte aber sowohl die heilige Ganga als auch die von vielen vergötterte Krishna gesehen und natürlich manch kleinere Flüsse. Über den Yangtsekiang, den Mississippi, die Donau, den Amazonas und den Rio Grande hatte er faszinierende TV-Dokumentationen gesehen. Ja, das waren beeindruckende Bilder und er hätte diese Flüsse gerne einmal besucht. Aber die Godavari, der ‚göttliche Strom’, war eindeutig sein Fluss geworden, ohne Gleichen!
Das dreiflügelige Fenster seines Büros bot einen großartigen Ausblick über den träge dahin fließenden Strom mit seinen Sandbänken, den Inseln und der alten und neuen Eisenbahnbrücke weiter oben. Einige Fischerboote dümpelten in Ufernähe. Am Kai unterhalb des Deiches waren zwei Launches festgemacht, jene Boote, mit denen Touristen in die Bergregion flussaufwärts gebracht wurden. Diese hier waren leer. Um die Strecke bis zum Perentapalli-Ashram zu bewältigen oder gar noch weiter bis Kunavaram, mussten sie noch vor Sonnenaufgang ablegen.
Der Inspektor dachte an Kumari. Irgendwo dort hinter den Bergen im Nordwesten lag Nandipadu, das kleine Dorf aus dem sie kam und wo bis heute ihre Familie lebte. Sie selbst wohnte jetzt in Hyderabad, der Hauptstadt des erst jungen Bundesstaates Telangana. Dort hatte sie eine Stelle in einer NGO, einer Nicht-Regierungs-Organisation, angenommen. Sie setzten sich für Adivasis ein, für Stammesleute. Kumari gehörte selbst dazu. Auch ihre Familie entstammte den Ureinwohnern Indiens, jener Bevölkerung, die über Generationen vor allem durch Angehörige hoher Hindu-Kasten verdrängt, benachteiligt und verachtet wurde.
Ob Kumari gelegentlich auch an ihn dachte? Ob sie bald wieder anrief? Oder sollte ich mich lieber bei ihr melden? Chidambaram war sich unsicher, vielleicht ganz ohne Grund. Kumari hatte bereits mehrfach angerufen und seit der Zusammenarbeit bei jenem Mordfall mit vier Toten im Polavaram-Kanal, schien sich ihr Verhältnis wieder gut zu entwicklen. Ob auch sie ihn noch liebte?
Es klopfte. Der Inspektor hörte bereits am Klang, dass es Babu war. Der würde auch ohne ein »Herein!« das Büro betreten - und stand tatsächlich im nächsten Moment im Raum.
Babu jonglierte ein Tablett mit zwei Teetassen in der einen und einen Aktendeckel in der anderen Hand. Wie immer waren seine schwarzen Haare nach hinten gegelt und glänzten beinahe so intensiv wie seine nagelneuen Lackschuhe. Wie immer, dachte der Inspektor, wie aus dem Ei gepellt.
»Hier endlich eine Stärkung!«
»Meinst du die Ergebnisse deiner Recherche oder den Tee?!« Chidambaram lachte.
»Beides!« grinste Babu.
In der nächsten Stunde gingen sie die Akte durch.
Die Identität des Toten war geklärt. Der Mann hieß Malosh Jacob. Chidambaram kannte den Mann tatsächlich. Er hatte vor Jahren mit ihm zu tun gehabt, als es um die Verstrickung zweier Deutscher in einen Anschlag der Naxaliten ging. Damals hatte sich dieser Jacob für die Verdächtigen eingesetzt.
»Also passt der Ort zu ihm!«
Babu murmelte vor sich hin.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, er heißt Jacob. Also ist er Christ oder Jude.«
Der Inspektor nickte. Wenn jemand Christ wurde, bekam er in der Regel einen biblischen Namen. Die meisten kombinierten dann ihre Familien- und Herkunftsnamen mit dem ihrer Religion. Auch wenn das gesamte Land von überzeugten Hindus dominiert wurde, gab es doch in manchen Gegenden sehr viele Christen. Rajahmundri gehörte dazu.
Juden dagegen waren Chidambaram nur vereinzelt begegnet.
»Was wissen wir bis jetzt?«
Nachdem sie die noch recht dünne Akte durchgearbeitet und sich auch die darin liegenden Fotos intensiv angeschaut hatten, war die Frage des Inspektors Einleitung einer Zusammenfassung. Die überließ er am liebsten Babu, dem Systematiker. Und der begann in bewährter Weise, wohl wissend, dass sein Chef ihn nicht unterbrechen würde.
»Wir kennen seinen Namen. Einer der Friedhofsarbeiter kannte ihn. Der Tote hatte sich offenbar sehr für den Friedhof engagiert. Er hat auch das Schild am Eingang mit der Bezeichnung ‚Easter Garden’ veranlasst. Er war Pastor einer kleinen Gemeinde am Rande von Kovvur. Viel mehr wissen wir noch nicht von ihm. Oder doch: Er lag zwischen den Gräbern seiner Eltern, also auf dem eigenen Familiengrab.«
Babu machte eine Pause, wohl um die Bedeutung seiner letzten Bemerkung zu betonen. Chidambaram hob den Blick, sagte aber nichts.
»Besonders auffällige Spuren wurden nicht gefunden. Neben dem Grab mit dem Kreuz lagen zwei Zigarettenstummel der Marke ‚Gold Flake’. Aber das muss nichts bedeuten. In den letzten Wochen waren viele Kulis auf dem Friedhof tätig. Anlässlich ihrer Osterfeier, also vor erst wenigen Wochen, haben sie im Auftrag der Gemeinden viele der Gräber frisch getüncht und den Unrat zwischen den Grabstellen weggeräumt. Auch nach Ostern wurde noch einmal aufgeräumt. Mehrere christliche Kirchen hatten vor Sonnenaufgang zusammen Gottesdienst gefeiert, übrigens auf Initiative und unter Leitung von Pastor Malosh Jacob. Sie hatten hunderte Lampions und Kerzen aufgestellt, um ihren Glauben an die Auferstehung durch die Lichter zu symbolisieren. Auch den Abfall dieser Veranstaltungen haben die Arbeiter vor kurzem verbrannt. Also: Nichts Verwertbares mehr zu finden, außer den Spuren der Kulis und vielleicht noch von Besuchern des für alle zugänglichen Grundstücks.
Ist der Fundort auch Tatort? Chef, das zu beurteilen ist mir ohne den Befund der Obduktion nicht möglich. Die Haltung des Toten weist eher darauf hin, dass er postmortum so hingelegt oder genauer hingeklemmt wurde. In diese Haltung hinein einfach umzufallen, erscheint mir jedenfalls nicht möglich. Aber er kann sich natürlich auch selbst entsprechend platziert haben. Dann wäre der Fall bei uns, der Mordkommission, wohl falsch einsortiert.«
Babu tippte auf eines der Fotos, das die Lage des Toten gut wiedergab. Dann schwieg er.
Auch Chidambaram sagte für eine Weile nichts.
»Gut,« entschied er dann. »Warten wir also auf den Obduktionsbericht. Bis dahin werden wir bei der Familie dieses Pastors einen traurigen Besuch machen.
*
Knapp dreißig Minuten später standen sie vor der Pforte zu einem von einer Mauer umgebenen Grundstück. Sie waren mit dem Tata-Jeep über die lange Straßenbrücke auf die andere Seite des Flusses gefahren. Dort lag rechts zwischen Straße und Fluss der Friedhof, den sie gestern Abend dienstlich in trauriger Angelegenheit aufgesucht hatten. Sie fuhren links in den Ort Kovvur hinein und durchquerten das Zentrum mit den Geschäftshäusern und Läden, von denen jetzt allerdings erst wenige geöffnet hatten. In Senken neben, aber auch direkt auf der Straße, standen große Pfützen, Überbleibsel vom heftigen Gewitter in der Nacht. Jetzt war der Himmel zwar wieder blau und wolkenlos, die Luft jedoch sehr schwül. Obwohl erst gegen neun, waren ihre Hemden bereits durchgeschwitzt. Zweimal musste Ganesh, ihr junger, drahtiger Fahrer, nach dem Weg fragen. Die Siedlung mit dem gesuchten Haus lag etwas ausserhalb.
Sie machten sich durch einige Hallo-Rufe und Rütteln an der blauen Eisenpforte bemerkbar. Drinnen schlug mit tiefem Bellen ein Hund an. Er musste groß sein. Sie hörten eine Frauenstimme, dann Geräusche, die vermuten ließen, dass der Hund weggesperrt wurde, dann hantierte jemand an der Pforte.
Ein Mädchen öffnete. Sie war auffallend klein, trug einen schlichten Panjabi und trug ihre Haare kurz. Sie sah die beiden Männer fragend an. Zwar trug Chidambaram wegen der Schwüle jetzt nicht seine vollständige Uniform, Hemd und Hose waren jedoch sofort als die typische kakifarbene Polizeikleidung erkennbar.
Sie stellten sich vor, fragten nach den Besitzern des Hauses und ob sie hereinkommen durften.
Kurz darauf saßen sie in einem geräumigen Wohnzimmer unter einem Ventilator, der leise surrend eine angenehme Brise verbreitete. Das Mädchen hatte sie gebeten, einen Moment auf die Frau des Hauses zu warten, die sich noch frisch machte und war dann in der Küche verschwunden.
Hier unten gab es drei angrenzende Räume, oben im ersten Stock wahrscheinlich noch weitere. Es war also ein großes Haus und den Besitzern musste es finanziell recht gut gehen. Die Einrichtung war schlicht. Auch hier gab es, wie vermutlich in allen indischen Familien, einen verglasten Schrank mit Regalen, auf denen Fotos, Pokale, Souvenirs und Erinnerungsstücke abgestellt waren. Der Inspektor stand auf und schaute sich die Fotos an. Sofort erkannte er den Toten vom Friedhof. Ein Bild zeigte ihn mit seiner Frau, ein anderes beide zusammen mit zwei Jungen und einem kleinen Mädchen. Welch einen Schmerz werden wir jetzt verursachen, dachte Chidambaram, wenn wir ihnen die Todesnachricht bringen. Auffällig waren noch drei Fotos, auf denen Weiße zu sehen waren. Es waren schlechte Aufnahmen, aber der Inspektor erkannte doch jenen Maximilian, einen unverwechselbar stämmigen Deutschen, der damals in den Fall verwickelt war.
Die Frau kam aus einem der angrenzenden Zimmer, wahrscheinlich dem Schlafraum der Eltern. Sie war in einen rot-blauen Sari gekleidet, lächelte freundlich und schon auf den ersten Blick hin musste man sie gern haben. Die Mutter, die Seele des Hauses, man sah es sofort. Chidambaram und Babu erhoben sich und grüßten.
»Namaste!«
»Vandanalu«, antwortete die Frau und reichte ihnen die Hand. »Ich bin Deepa.«
Wäre ihm dies vor einigen Jahren passiert, er hätte überrascht und verunsichert reagiert, jetzt aber kannte er den Gruß der Christen längst. Seltsam nur, dass er ihm hier in Kovvur begegnete. Bisher hatte er dieses Vandanalu mit Handschlag nur drüben im Stammesgebiet erlebt.
Sie setzten sich. Das Mädchen kam herein und stellte eine Thermoskanne, einen Zuckertopf und zwei Porzellantassen auf den Tisch. Dann verschwand sie wieder. Die Gastgeberin schenkte Tee ein, alles noch schweigend. Sie weiß und sie ahnt noch nichts, dachte der Inspektor. Es wird ein Schock für sie.
Dann sah sie die Besucher an.
»Was kann ich für Sie tun?«
Babu senkte den Blick.
Chidambaram sah ihr ernst und fest in die Augen.
«Wir haben eine schlimme Nachricht für Sie.«
Deepa hielt dem Blick stand. Es war ihr anzusehen, dass sie jetzt innerlich zitterte. Aber sie behielt sich unter Kontrolle.
»Es geht um Ihren Mann.«
Deepa sagte immer noch nichts, stellte auch keine Frage. Also musste der Inspektor es gerade heraus sagen.
»Ihr Mann wurde gestern Abend tot aufgefunden. Es tut mir und uns sehr, sehr Leid!«
Deepa schloss die Augen. Sie zog das Endstück ihres Sari weit über den Kopf und verdeckte damit ihr Gesicht. So verhüllt saß sie eine Weile einfach nur da. Die beiden Männer schauten sich fragend und hilflos an. Was sollten sie sagen? Sie mussten der Frau Zeit lassen.
Nach schier endlos wirkenden Minuten hob Deepa ihren Kopf, schob den Sari etwas zurück und frage aus tränenverhangenen Augen: »Bitte erzählen sie. Was ist passiert?«
Der Inspektor suchte nach Worten und berichtete vorsichtig vom Fund des Toten zwischen den Gräbern.
Die Frau sagte wieder nichts, sondern senkte erneut den Kopf. Wahrscheinlich betet sie, dachte Chidambaram. Sie reagiert erstaunlich gefasst und ich kann mir das nur so erklären, dass sie sich an ihren Glauben klammert.
»Danke. Danke, dass sie gekommen sind und es mir so mitfühlend gesagt haben.«
Deepa sah sie nun beide an.
»Es ist schlimm. Für die Kinder, für die Gemeinde und natürlich für mich. Aber nicht mehr für ihn. Er ist jetzt bei Gott.«
Eine solche Reaktion auf eine Todesnachricht hatte der Inspektor bisher noch nie erlebt. Er war beeindruckt. Als habe ausgerechnet der ungewöhnliche Fundort des Toten der Frau Trost gespendet: ‚Ich lebe und ihr sollt auch leben’. Ob sie von dieser Inschrift auf dem rechten Grabstein wusste? Vielleicht. Laut sagte er:
»Ja, danke, dass Sie das sagen. Es muss wirklich schwer für Sie sein. Ob Sie die Kraft haben, uns ein paar Fragen zu beantworten?«
»Geben Sie mir ein paar Minuten. Ich komme gleich zurück.« Deepa erhob sich und ging langsam in die Küche.
Sie wirkt ein paar Jahre gealtert, dachte Chidambaram.
Von hinter dem Vorhang zu Essbereich und Küche hörte man einen erstickten Schrei, dann ein Wimmern. Es musste das Mädchen sein, von Deepa informiert. Leise Stimmen, wahrscheinlich des Trostes, dann Stille. Es dauerte noch einige Minuten, bis Deepa sich wieder zu ihnen setzte.
»Für Malina ist es besonders schrecklich«, sagte sie und deutete Richtung Küche. »Das Mädchen ist bei uns, seit sie zehn war. Sie ist aus Regulapadu an der Sabari. Mein Mann hat sie aus dem Kinderheim Kukunur hierher geholt und wir haben sie bei uns aufgenommen. Sie hat früher viel Böses erlebt, dies aber könnte das Schlimmste für sie sein.«
Chidambaram nickte, so als ob er verstehe. Allerdings wusste er natürlich nicht, was das Mädchen bisher an Bösem erlebt hatte. Einzig der Hinweis auf das ‚Kinderheim Kukunur’ löste bei ihm eine Welle von Gefühlen aus. Er kannte das Heim, betrieben von der Lutherischen Kirche im Stammesgebiet. Kumari war dort aufgewachsen, war eines jener unzähligen Kinder, die nur durch dieses Heim eine Zukunft bekommen hatten. Versorgt, betreut und erzogen von den christlichen Mitarbeitern dort, hatte sie die Schule bis zur zehnten Klasse besuchen können und so die Grundlage für ihr späteres Studium und den jetzigen Beruf erhalten. Wie andere Heime der Kirche war auch Kukunur durch Christen in Deutschland finanziert worden. Eine wirklich gute Sache!
»Fragen Sie. Ich helfe gerne, soweit ich kann. Und bitte sagen Sie mir, was Sie bereits wissen. Steht denn fest, wie er gestorben ist? Und kann ich ihn noch einmal sehen?«
Die Fragen sprudelten nun aus Deepa heraus und der Inspektor wusste aus Erfahrung, dass immer neue dazu kommen würden. So war es immer, nicht nur bei den Ermittlern, auch bei den Leidtragenden.
»Ja, ich bitte Sie herzlich, Ihren Mann sobald möglich zu identifizieren. Wir können Sie nachher mit in die Gerichtsmedizin nehmen, dort Bescheid geben und mein Fahrer Ganesh bringt sie dann wieder zurück.«
»Oh danke, das wäre gut.«
»Und was all die anderen Fragen angeht, sind wir noch ganz am Anfang. Nicht einmal die Todesursache kennen wir bis jetzt.«
Der Inspektor machte eine kurze Pause, bevor er seine erste Frage stellte.
»Sie haben Ihren Mann noch nicht vermisst. Warum nicht? Und wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Er ist gestern sehr früh aus dem Haus gegangen. Eigentlich hatte er schon vor Ostern nach Odisha gewollt. Aber er war maßgeblich für die Osterfeiern auf dem Friedhof zuständig. Also ist er erst danach gefahren. Gegen fünf Uhr hat er das Haus verlassen und geplant, den Zug zu nehmen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
»Hat er ein Mobiltelefon gehabt? Und hat er sich nicht üblicherweise irgendwann gemeldet?«
»Eher selten«, meinte Deepa. »In Odisha besuchte er völlig abgelegene Stammesdörfer. Dort gibt es kein Telefonnetz. Meistens war er zehn bis vierzehn Tage einfach weg – aber sowohl bei den Christen als auch bei Gott in guten Händen.«
Der Inspektor verstand.
Zwar war Indien und auch Andhra Pradesh, Telangana und Odisha inzwischen weitgehend mit Telekommunikation und sogar LTE vernetzt, man hatte eine flächendeckende Festnetzversorgung praktisch übersprungen, aber es gab doch noch Gegenden, wo man nicht oder nur mit bestimmten Anbietern telefonieren konnte. Vor allem die Stammesgebiete waren noch unterversorgt.
»Was hat Ihr Mann denn in Odisha gemacht? Und können Sie uns seine Kontaktadressen dort geben?«
»Ja, ich suche sie Ihnen gleich heraus. Er hat sich vor allem um fünf Gemeinden gekümmert. Nach den Christenverfolgungen damals war dort alles zerstört. Jacob hat es nicht ausgehalten, tatenlos zuzusehen und Kontakt zuerst mit einem, dann mit weiteren Pastoren dort aufgenommen. Er hat Gelder für den Aufbau zerstörter Kirchen gesammelt. Vor allem durch die Unterstützung einer reichen Familie aus Visak konnten fünf der Kirchen praktisch neu gebaut werden.«
»Wer war diese reiche Familie?«
Warum genau Chidambaram das fragte, wusste er selbst nicht. Aber er wusste, dass jedes Detail bei einer Ermittlung wichtig sein konnte – allemal wenn es ums Geld ging.
Deepa schwieg zunächst. Sie zögerte, so als kämpfe sie mit sich selbst. Dann aber schien sie sich einen Ruck zu geben.
»Eigentlich wollte die Familie nicht genannt werden. Doch jetzt hat sich die Situation natürlich geändert. Es war der Politiker Madhu Mittal, der meinem Mann das Geld für die Kirchen gab.«
Babu, der sich bereits fleißig Notizen machte, pfiff durch die Zähne. Das war indische Oberliga. Madhu Mittal war der Sohn eines Kricket-Superstars. Sein Vater war in den Neunzigern eine Legende gewesen. Vermutlich jeder Junge in Indien hatte versucht, dessen einzigartigen Abschlag zu kopieren. Madhu Mittal hatte wohl rechtzeitig gemerkt, dass er seinem Vater sportlich niemals würde folgen können. Er hatte seine Chance genutzt und die Verbindungen des Vaters zum Aufbau eines Geschäftes mit Sportartikeln genutzt. Dann, nach dem plötzlichen Unfalltod seines Vaters, war er in die Politik gegangen und hatte wenig später eine eigene Partei gegründet. Allerdings erschien sein Erfolg wegen einer Korruptionsaffäre fast aussichtslos. Madhu hatte für seinen Wahlkampf Geld aus undurchsichtigen Töpfen bezogen. Er war nicht bereit gewesen, seine Quellen offenzulegen. Selbst eine mehrwöchige Beugehaft hatte ihn nicht umstimmen können. Am Ende hatte die Zahlung des Betrages plus einer spürbaren Strafe an ein berühmtes Hindu-College die Sache beendet. Aus Sicht der gegnerischen Parteien war die Politkarriere von Madhu und seiner Partei damit zu Ende. Alle anderen im Wahlbezirk und weit darüber hinaus, sahen das völlig anders. Madhu Mittal war für sie ein Held, der niemanden verriet. Sie liebten ihn als Politiker - so wie sie seinen Vater als Sportler geliebt und verehrt hatten. Blut ist dicker als alles andere ... so war das immer in Indien.
»Na ja«, fuhr Deepa fort, »Madhus Frau ist Christin und sie hat ihn vermutlich dazu überredet. Die Spenden sind auch in ihrem und nicht in seinem Namen getätigt worden. Aber bitte, behalten Sie das für sich. Wenn herauskommt, dass ihr Mann sich für Kirchbauten einsetzt, könnte es mit seiner politischen Karriere wirklich zu Ende sein ...«
In Chidambarams Kopf entstanden verschiedene Szenarien. Ein Politiker mit christlichem Hintergrund hatte es extrem schwer in Indien. Vor allem jetzt, da in Delhi die Modi-Partei BJP, die Hindu-Nationalisten regierten, konnte sich das eigentlich niemand erlauben. Und wenn Pastor Jacob die Kirchspenden hatte publik machen wollen? Aber nein, ein Mordmotiv war das nicht. Oder doch? Menschen wurden schon aus harmloseren Gründen ermordet.
Chidambaram musste sich bremsen. Noch war nicht einmal erwiesen, dass der Tote auf dem Friedhof ermordet worden war!
»Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Mann,« ermutigte er die trotz der erschütternden Nachricht so gefasste Frau.
Deepa erzählte und Babu schrieb mit. Der Inspektor stellte gelegentlich kurze Fragen. Er staunte über diese Frau, die seine Ermittlungen trotz ihrer Trauer so hilfreich unterstützte.
Jacob war in Kovvur geboren und aufgewachsen. Sein Vater war ebenfalls Pastor einer kleinen Gemeinde gewesen. Er und seine Frau hatten die Grabstelle auf dem ‚easter garden’ schon vor vielen Jahren gekauft. Jocob war als junger Mann zu einer neu gegründeten Lutherischen Kirche nach Bhadrachalam gegangen und hatte von dort aus auch seine theologische Ausbildung gemacht. Er hatte damals die Kirchenleitung unterstützt, die Buchführung verantwortet und den Kontakt zu deutschen Spendern gehalten. Es hatte viel Ärger gegeben, vor allem immer wieder ums Geld. Eine Zeit lang hatte Jacob das Kinderheim in Kukunur geleitet und es zu einem der besten Heime der Region entwickelt. Aber dann hatte sich Deepas Mann mit dem inzwischen verstorbenen Gründer der Kirche, einem Dr. Samuel Raj, den sie alle nur ‚Ayyagaru’ nannten, völlig überworfen. Auch dabei war es vor allem um´s Geld gegangen, aber auch um Ehrlichkeit und christlichen Lebensstil.
Jacob und Deepa hatten Bhadrachalam zusammen mit ihren damals kleinen Söhnen bei Nacht und Nebel verlassen. In Kovvur mussten sie mit Null wieder anfangen, unterstützt von den damals noch lebenden Eltern Jacobs und Deepas Familie.
Inzwischen hatten sie eine lebendige Gemeinde aufgebaut, betreuten noch drei andere Gemeinden, darunter eine in einer Blindenkolonie und ihr Mann war zu einem anerkannten Prediger in der Region geworden. Ja, und ihre Tochter war hier in Kovvur geboren worden und absolvierte bereits die zehnte Klasse.
Wann immer Chidambaram nachfragte, erfuhren sie mehr Details und immer größer wurde seine Achtung vor dieser Frau. Offenbar war vor allem sie es, die die Gemeinde betreute und aufbaute. Unermüdlich besuchte sie die Menschen, hielt Gebetstreffen, betete für Kranke. Ihr Mann war eher der theologische Kopf, Prediger und Organisator der Gemeinde. Auch er musste eine eindrucksvolle Person gewesen sein. Er war sehr viel auf Reisen: Nach Odisha wegen der Kirchbauten; in die Umgebung, wo er häufig zu Predigten und Referaten eingeladen wurde, aber auch als Vermittler bei Streitigkeiten fungierte und auch immer wieder in die damals im Streit verlassene lutherische Kirche. Mit dem Tod des Ayyagaru hatten sich die dortige Kirchenleitung und Pastor Jacob wieder angenähert und Jacob hatte die Stammeskirche von Kovvur aus so gut es ging unterstützt. Jahrelang hatte er im Auftrag der deutschen Spender die Kinderheime begleitet und für die Gelder verantwortlich gezeichnet. Inzwischen lief es dort allerdings gänzlich ohne ihn. Na ja, und dann hatte Jacob sich auch noch um ein Kinderheim hier in Kovvur gekümmert, und ...
Chidambaram qualmte der Kopf wegen der vielen Informationen, die sie bis zum Mittag aufgenommen hatten. Der Tee war inzwischen abgekühlt, trotz Thermoskanne. Aus der Küche zogen scharfe Gerüche herüber. Malina hatte offenbar mit dem Kochen begonnen. Vielleicht war ihre gewohnte Arbeit jetzt die beste Art, mit der schrecklichen Nachricht umzugehen.
Der Inspektor spürte, dass Deepa inzwischen müde wurde. Sie hatte sich wirklich gut gehalten, aber sie hatte noch viel zu verarbeiten und so machte er den Vorschlag, dass sie erst einmal eine Pause einlegten und sie sich Ruhe gönnte. Sie würden später noch einmal wiederkommen, um im Haus und in den Unterlagen nach Hinweisen zum Tod des Hausherrn zu suchen. Statt wie vorhin geplant jetzt gleich mitzukommen, könnte Ganesh sie gegen drei abholen, damit sie ihren Ehemann identifiziert und noch einmal sieht. Dann könnten sie auf dem Rückweg ihre Tochter vom Junior College abholen und sie sich intensiv um sie kümmern. Ihr ältester Sohn wurde dann am Abend erwartet, der jüngere war wegen seines Studiums im Ausland.
Deepa war einverstanden. Chidambaram ahnte, dass dieser Tag für sie noch lange nicht vorbei war und einer der schwersten ihres Lebens sein würde.
»Wir haben eine Menge Ansatzpunkte!« meinte Babu auf der Rückfahrt. »Ein bewegtes Leben. Viele Freunde. Und vielleicht auch jede Menge Feinde.«
Der Inspektor stimmte ihm zu.
»Aber jetzt machen auch wir erst einmal eine Pause. Ich werde nachher bei der Identifizierung dabei sein, du kannst dann bis gegen vier die Hinweise auswerten. Ich hoffe, wir haben bis dahin auch den Obduktionsbericht auf dem Tisch. Der Doktor müsste inzwischen fertig sein.«
Der Obduktionsbefund war selten unbestimmt.
»Was soll das?!« Chidambaram war verärgert. »Woran ist er denn nun gestorben? Keine Schussverletzung, keine Stichwunde, keine Hämatome – das ist schon klar. Kein Herzinfarkt, kein Ersticken – aber irgendetwas muss doch passiert sein!«
Er hatte sich zusammen mit Babu aus dem zweiten Stockwerk hinunter in die Kellerräume der medizinischen Abteilung seiner Polizeidienststelle begeben. Der Tote lag vor ihnen, bis zum Hals bedeckt mit einem grünen Laken.
Kurz nach drei war die Witwe gekommen und hatte ihren Ehemann identifiziert. Zuerst war sie gefasst und kontrolliert gewesen, wie Chidambaram sie kannte. Dann, als sie zärtlich das Gesicht ihres ehemaligen Partners streichelte und die Kälte seiner Haut spürte, hatte sie zu Weinen begonnen und war dann schluchzend über dem Leichnam zusammengesunken. Der Arzt hatte ihr noch im Keller ein Beruhigungsmittel gegeben, der Inspektor draußen versucht, sie zu trösten und Ganesh hatte sie dann zurück nach Kovvur gefahren.
»Erkläre du es mir!« bat der Inspektor den Mediziner.
Der war ein schmaler Mann mit struppigem Bart, wenig Haaren und einem leicht aufgedunsenen Gesicht. Er trug einen fleckigen Kittel in grün und sein grauer Mundschutz baumelte unterhalb des Kinns. Warum nur wirkten Menschen, die mit Toten hantierten, oft irgendwie schmuddelig, blaß und leblos? Chidambaram hatte sich das schon oft gefragt. Färbte es ab, wenn man ständig mit totem Fleisch zu tun hatte? Oder musste man sich seiner Umgebung irgendwie anpassen, wollte man sie ertragen?
»Inspektor, es tut mir ehrlich leid. Ich weiß es nicht genau. Die üblichen Todesursachen bei Fremdverschulden schließe ich aus. Aber auch ein natürlicher Tod, etwa durch Herzinfarkt, war es nicht.«
»Was aber dann!«
»Ich habe nur eine Erklärung«, meinte der Mediziner. »Dieser Mann ist vergiftet worden.«
»Wie, vergiftet? Womit, wie und wann?«
»Wir müssen auf die zweite Blutanalyse warten. Ich habe da so einen Verdacht. Möglicherweise ist der Mann durch Schlangengift gestorben, ich vermute durch das Gift der Sandrasselotter. Ihr Gift wirkt hämotoxisch, das heißt es zerstört das Blut und führt innerhalb von zwei bis drei Stunden zum Tod.«
Babu notierte sich den Namen der Schlange. Er würde später alles wissen, was es darüber zu lesen gab.
»Und wo soll er von dieser Schlange gebissen worden sein? Ich habe noch nie gehört, dass es die hier bei uns gibt. Kobra, ja, auch Kraits oder Kettenviper – und die sind gefährlich genug. Aber eine vielfach giftigere Sandrasselotter?!«
Er schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
»Sie haben Recht«, antwortete der Arzt. »Es gibt diese Art hier in der Gegend nicht. Ihr nächstes Vorkommen ist etwa hundert Kilometer nordwestlich von uns, in den Bergen entlang der Sabari.«
Auch das vermerkte Babu in seinem Notizbuch.
»Und zu Ihrer ersten Frage: Ich habe nicht gesagt, er sei von einer solchen Schlange gebissen worden. Ich habe nur den Verdacht geäußert, es könne deren Gift sein, das ihn umgebracht hat.«
»Aber wie soll er sich infiziert haben, wenn er nicht gebissen wurde?« Chidambaram war irritiert.
»Ein Biss der Sandrasselotter ist nicht zu übersehen. Er hinterlässt garantiert tiefe, auffällige Wunden. Ich habe den Toten sehr sorgfältig untersucht, aber keinerlei Bissverletzungen gefunden. Definitiv, er wurde nicht von einer Schlange gebissen.«
»Was aber dann? Hat er das Gift geschluckt? Dann wäre es vielleicht ein besonders ausgeklügelter Suizid. Aber nach dem, was wir von seiner Frau über Pastor Jacob erfahren haben, ist das so gut wie ausgeschlossen!«
»Richtig. Ich glaube, es wurde ihm verabreicht. Vermutlich wurde er mit Chloroform oder einem ähnlichen Mittel, das später nicht mehr nachweisbar ist, betäubt und dann hat man ihm das Schlangengift injiziert.«
»Und, gibt es darauf hinweisende Spuren?«
»Ja. Aber auch das ist nur eine Vermutung. Das Opfer hat sich in den letzten Monaten offenbar immer wieder Blut abnehmen lassen. So gibt es in beiden Armbeugen diverse Einstiche. Einer davon könnte auch von einer Nadel stammen, mit der nicht Blut gezogen, sondern ihm das Gift gespritzt wurde.«
Chidambaram musste diese Information erst einmal sacken lassen. Das mit der Blutuntersuchung war leicht nachprüfbar. Das mit dem Gift würde hoffentlich noch klar bewiesen, wenn der zweite Bluttest aus dem Labor zurück war.
*
Der starke Tee tat jetzt gut.
Bereits nach einer Stunde im Keller der Toten hatte der Inspektor den Eindruck, das süße Gebräu brachte ihm ein wenig vom Leben zurück. Wie viel Tee mochte der Mediziner dort unten täglich brauchen, um am Leben zu bleiben?
Babu und er saßen wieder im Büro und gingen die Fakten durch. Er hätte auch ein größeres Team einsetzen können, wollte damit jedoch noch warten. Erst einmal mussten die Aufgaben zur Ermittlung klar sein.
An der Wand gegenüber der Fensterfront hatte der Inspektor zwei große Pinnwände anbringen lassen. Daran hefteten sie Fotos, schrieben Namen und Begriffe dazu, verbanden Angaben durch Striche oder Wollfäden.
Er gab es nicht gerne zu, aber die Idee zu dieser Ermittlungsmethode war ihm nicht in der Polizeischule, sondern beim Fernsehen bekommen. In den amerikanischen Kriminalfilmen machten sie es immer so ... und seit er es zusammen mit Babu ausprobiert hatte, erschien es ihm die einzig sinnvolle Weise, seine Gedanken zu sortieren und zu ordnen.
Diesmal hefteten sie ein Foto des Toten in die Mitte, dazu den Namen und die Grabinschrift. »Malosh Jacob – Ich lebe und ihr sollt auch leben! «
»Kann es sein, dass es doch ein Selbstmord war?« meinte Babu. »Vielleicht um die Hoffnung auf Auferstehung zu unterstreichen!? So eine Art religiöses Bekenntnis!«
Chidambaram konnte sich das nicht vorstellen. Was dieser Pastor gemacht und ausgestrahlt hatte, war alles andere als religiöser Extremismus. Er hatte die irdischen Aufgaben und Herausforderungen konkret angepackt und stand ganz offensichtlich mit beiden Füßen auf der Erde.
»Lass uns lieber die anderen Felder beschreiben und markieren!« sagte er deshalb.
Es entstand eine Grafik, die aussah wie ein Stern. In der Mitte Pastor Jacob. Je ein Strahl für ein in seinem Leben wichtiges Lebensfeld.
Ein Strahl bezog sich auf seine Familie. Die Eltern dort begraben, wo er starb oder zumindest gefunden wurde. Eine überaus aktive und starke Ehefrau, drei Kinder, einer der Söhne im Ausland. Ein schönes Haus, ein großer Wachhund.
»Ob man als Pastor viel Geld verdient?«
Chidambaram hatte es eher vor sich hin gemurmelt.
Babu nahm es als Frage an ihn.
»Weiß ich auch nicht genau. Es kommt ja wohl darauf an, wie gut man ist und wie spendenfreudig die Anhänger. Gurus im Hinduismus haben Millionen gescheffelt, warum nicht auch Priester und Pastoren. Religion und Reichtum, das passte schon immer gut zusammen!«
»Du magst Recht haben. Aber ich meine: Drei Kinder in Ausbildung, das kostet! Und einer davon ist sogar im Ausland. Und das Haus, und ein überdimensionierter Wachhund ... wir müssen jedenfalls einen Blick auf die Vermögensverhältnisse dieser Familie werfen.«
Weitere Felder kamen hinzu, verbunden mit dem Opfer durch Strahlen aus Wollfäden:
Die Hilfsaktion in Odisha. Fünf Kirchen mit Spendengeldern eines umstrittenen Unternehmers und Politikers, der selbst bekennender Hindu war. Immerhin wäre der Verrat an diesem Politiker möglicherweise das Ende für dessen Karriere. Madhu Mittal, ihn mussten sie sich unbedingt vornehmen. Allerdings war das ein sensibles Ding!
Und natürlich konnte auch religiöser Fanatismus eine Rolle spielen. Tausende Christen in Odisha waren 2012 von Hindu-Extremisten verfolgt und viele sogar getötet worden. Vielleicht war Pastor Jacob den Rädelsführern dort zum störenden Widersacher geworden und sie hatten ihn beiseite geschafft.
Malina. Das bei Familie Jacob lebende Hausmädchen kam aus jener Gegend, wo es diese Schlangen gab, diese hochgiftigen Sandrasselottern. Regulapadu, ihr Geburtsort, lag direkt an der Sabari. Ob das ein Zufall war? Jedenfalls konnten vermutlich Tribals, die bis heute ihre ursprüngliche Lebensform beibehalten hatten, besonders gut mit Schlangen umgehen. Aber auch mit Spritzen? Wohl eher nicht.
Es bestanden auf jeden Fall bis zuletzt Verbindungen des Toten zu ehemaligen Kollegen in der lutherischen Stammeskirche rund um Kukunur. Ob Jacob dort außer Freunden auch Feinde hatte? Chidambaram meinte, sich an kritische Bemerkungen Kumaris über die Führung der Kirche zu erinnern. Es ging auch da um Geld und den Umgang damit. Und wenn der Tote involviert war, vielleicht gab es auch dort Ansätze für die Ermittlung. Oder war dies eher sein Wunschdenken in der Hoffnung, Kumari einmal wieder zu treffen? Chidambaram traute sich nicht, Babu anzuschauen, als sie den Faden zogen. Womöglich grinste der schon wieder.
Wie war es mit dem Wirken des Toten hier in Rajahmundri und Umgebung? Gab es hier Feinde? Babu behauptete, er habe von Machtkämpfen auch unter Christen hier gehört. Zum Teil waren die Kirchen riesige Bauwerke und noch aus Zeiten der Engländer hatten die Gemeinden in Rajahmundri große Besitztümer. Macht und Einfluss gingen in Indien und wahrscheinlich weltweit immer einher mit Reichtum und Geld. Auch hier konnte ein Pastor, der als Vermittler zwischen den Stühlen saß, sich schnell Feinde machen.
Nach einer Stunde konzentrierter Arbeit legte Chidambaram den dicken Filzstift aus der Hand.
»Babu, es reicht erst einmal! Wir machen mit der Pinnwand morgen weiter!«
»Und heute? Wir haben noch Zeit!«
Der Inspektor freute sich, dass sein Assistent bereit war, sich weit über die Dienstzeit hinaus zu engagieren, wenn es erforderlich war.
»Allerdings. Heute wird es spät. Ganesh müsste aus Kovvur zurück sein. Wir sollten noch einen Beamten mitnehmen und uns wie bereits angekündigt im Haus des Opfers etwas genauer umschauen.«
»Sollen wir Deepa nicht erst Zeit mit Tochter und Sohn geben? Wir brechen mit einer Haussuchung ja ganz schön in ihre Privatsphäre ein.«
Auch das schätzte der Inspektor sehr an seinem Assistenten. Er war mitfühlend und nachsichtig mit Gefühlen anderer. Auch wenn Babu es hinter seiner Coolnes oft verbarg, Chidambaram hatte oft genug erlebt, dass er gerade mit den Opfern von Kriminalität tiefe Solidarität und Mitgefühl empfand – während er den meisten Tätern absolut kein Verständnis entgegenbrachte.
Doch jetzt war es nicht angebracht, zu warten. Noch wussten sie zu wenig, um die Ermittlungen zu beginnen. Außerdem wollte der Inspektor ja keine komplette Haussuchung veranstalten, sondern sich nur in den Unterlagen des Opfers und in seinem Lebensraum etwas mehr umschauen. Wenn die Familienmitglieder nicht dabei sein wollten, konnten sie sich auch gerne in ihre Zimmer zurückziehen.
*
»Warum haben Sie eigentlich einen so riesigen Hund?«
Der Inspektor hatte einen derart großen Hund tatsächlich noch nie gesehen. Er reichte ihm bis zur Hüfte, groß wie ein Kalb! Zum Fürchten!
»Es gab mehrere Einbrüche in der Gegend. Wir hatten zuerst einen kleinen Kläffer. Nach den Einbrüchen meinte mein Vater, wir brauchten einen richtigen Wachhund. Und da haben wir uns diese deutsche Dogge angeschafft.«
Der junge Mann, mit dem Chidambaram sprach und der sie durchs Haus geführt hatte, war der ältere Sohn. Joel Sai war Informatiker, hatte im Moment jedoch keine feste Anstellung. Er verdiente sein Geld mit dem Programmieren von Jingles, erstellte Homepages und gab gelegentlich Fortbildungsseminare an einer Hochschule in Rajahmundri. Er lebte wieder im Elternhaus. » ... und liegt dem Vater vermutlich auf der Tasche«, hatte Babu seinem Chef zugeflüstert, während sie die Außentreppe in den ersten Stock hinaufgestiegen waren.
Oben gab es außer dem flachen Dach, das zum Trocknen der Wäsche genutzt wurde, noch zwei Räume. In einem wohnte Joel Sai. Sein Zimmer war spärlich eingerichtet und unaufgeräumt. Laptop, Fernseher, Schrank und Bett. Das war`s auch schon. Verstreut lagen CDs, USB-Sticks und Kabel zwischen Schuhen, Socken und Kleidung herum. Auf dem Bett lag zwischen Decken und Kissen ein Smartphone von Samsung, ein älteres Model.
Der zweite Raum war als Gästezimmer gedacht. Dort schlief, wenn er zurück war, der jüngere Bruder.
»Hat Ihr Vater eigentlich ebenfalls einen Computer? Und ein Smartphone?«
»Er hat ein Handy zum Telefonieren. Mit Technik hat er`s nicht so. Einen Computer besitzt er nicht. Da geht,« Joel Sai wischte sich eine für den Inspektor unsichtbare Träne aus dem Auge, »nein, da ging er immer in ein Internetcafe drüben in der Stadt. Er hatte jedenfalls einen E-Mail-Account bei GMX.«
Der junge Mann suchte einen Zettel, notierte Adresse und Passwort des Accounts und die Mobilnummer seines Vaters und gab sie dem Inspektor.
»Das muss gecheckt werden!«
Chidambaram reichte die Notiz an Babu weiter.
Im Gästezimmer wies Joel Sai auf einen großen grauen Metallschrank.
»In diesem Schrank sind die Unterlagen meines Vaters. Ich hole den Schlüssel.«
Der junge Mann ging hinunter und sie hörten ihn mit den Frauen sprechen. Chidambaram war froh, dass sie nach einem kurzen Blick in die unteren Räume nun nicht weiter stören mussten. Deepa, Malina und die Tochter, ein hübsches Mädchen und inzwischen viel erwachsener als auf dem Foto unten im Schrank, hatten sie mit verweinten Gesichtern empfangen und waren dann in einem der Schlafräume verschwunden. Dem Inspektor war es vorhin doch unangenehm gewesen, die Trauer dieser Familie so schnell wieder zu stören. Vielleicht hätte er Babus Einwand ernst nehmen sollen. Den mitgenommenen Beamten und Ganesh hatte er losgeschickt, um sich in der Nachbarschaft ein wenig umzuhören. Es würde sich sowieso schnell herumsprechen, dass Malosh Jacob gestern Abend tot auf dem Friedhof aufgefunden wurde, zumal für morgen eine Pressekonferenz angesetzt war.
Joel Sai kam mit einem Sicherheitsschlüssel. Er öffnete den massiven Schrank, der ein bisschen wie ein Tresor aussah. Zur Hälfte war er mit Kleidung vollgestopft. Dicke Pullover, Hosen, ein Anorak, zwei Paar feste Schuhe. Oben auf dem Schrank lag ein Koffer.
»Das sind die Wintersachen, die mein Vater für Auslandsreisen angeschafft oder von dort mitgebracht hat.«
»Wohin reist er denn? In den Himalaja?«
Joel Sai lachte.
»Nein. Da hat er keine Ambitionen! Er wurde gelegentlich von den Deutschen eingeladen. In Deutschland ist es bekanntlich ziemlich kalt. Aber in den letzten vier Jahren war er nicht mehr weg, sondern nur in Indien unterwegs.«
In drei Fächern lagen oder standen Akten.
»Die würden wir uns gerne mal anschauen!«
»Kein Problem. Sie können sie gerne auch mitnehmen.«
»Danke. Das machen wir wahrscheinlich, wollen aber erst einmal schauen, worum es geht.«
Babu hatte die vier festen Ordner bereits herausgezogen und auf´s leere Bett gelegt. Viel war nicht drin. In einem gab es Briefe, ein anderer enthielt Kontoauszüge der hiesigen Bank und im dritten fanden sie so etwas wie Jahresabrechnungen, abgestempelt von einem Buchhaltungsbüro. Der vierte war leer.
»Na, das ist ja schon was, wenn auch nicht gerade viel!«
Babu hatte ganz offensichtlich Witterung aufgenommen und durchblätterte die Akten.
»Na ja, mein Vater mochte Aktenordner nicht so gerne.« Auf Joel Sai hätten sie jetzt zwar gerne verzichtet, aber er blieb einfach stehen und schaute zu. Und sie wollten ihn nicht unfreundlich hinaus bitten.
»Er zog die indische Methode vor«, ergänzte der junge Mann. Was damit gemeint war, lag bald vor ihnen.
In unterschiedlich dicken Mappen, gehalten durch Gummibänder, waren Belege und Abrechnungen gesammelt worden. Sie breiteten diese Akten ebenfalls auf dem Bett aus. Einige legten sie Mangels Platz auf den gefliesten Fußboden. Es waren etwa fünfzehn Bündel mit Belegen und Abrechnungen.
»Ohje, da haben wir aber viel Arbeit vor uns!«
Trotzdem sah Babu nicht verzweifelt aus, sondern machte einen eher glücklichen Eindruck.
*
Den Abend würden sie im Büro des Inspektors verbringen. Falls der Pastor ermordet worden war, durften sie keine Zeit verlieren. Falls. Sie hatten die Akten nun doch vollständig mitgenommen. In der Dienststelle war mehr Ruhe - und es gab dort einen Fotokopierer. So konnten sie wichtige Belege gleich für ihre Ermittlungsunterlagen sichern.
Babu machte sich sofort nach Rückkehr an die Arbeit. Er schien auf Nahrung keinen Wert zu legen.
Chidambaram konnte mit leerem Magen nicht arbeiten und denken. Also hatten sie Babu und den zusätzlichen Polizisten am Revier abgesetzt und er war mit Ganesh ein Stückchen weiter in die Stadt gefahren, um etwas zu essen. Unterwegs bemerkte der Inspektor ein Sportgeschäft, das ihm sonst nie aufgefallen war. »Mittal-cricket&more« stand in dicken Lettern über einem der Schaufenster, an denen sie vorbei kamen.
Das Restaurant ‚Blue River’ lag direkt an der Straße entlang des Flusses im ersten Stock. Das Restaurant warb mit einem unvergesslichen Blick auf den Fluss. Allerdings mussten sie mit einem Platz weiter hinten vorlieb nehmen.
Das vegetarische Menü war hervorragend. Die Rechnung dann auch. Als Chidambaram um eine Quittung bat, fragte ihn der Kellner:
»Was soll ich draufschreiben, Sir?«
»Wie? Natürlich den Betrag der Rechnung.«
Der Kellner zögerte, als sei dies ein ungewöhnliches Anliegen. Der Inspektor schaute ihn scharf an – und so schluckte der Kellner eine weitere Bemerkung hinunter und zog ab.
»Ganesh, wehe ich erwische dich mit einer frisierten Abrechnung!«
Chidambaram gab seiner Stimme einen humorvollen Anstrich, meinte es jedoch ernst. Und Ganesh wusste das. Als der Inspektor vor Jahren die Leitung der Mordkommission Rajahmundri übernommen hatte, war es ziemlich schnell um das Thema Korruption gegangen. Polizisten verdienten wenig, sehr wenig. Deshalb waren viele von ihnen schnell bereit, ein paar Rupien zusätzlich zu verdienen und wo es ging, frisierten sie ihre Abrechnungen über dienstliche Ausgaben zu ihren Gunsten. Chidambaram hatte da von Beginn an einen Riegel vorgezogen und dafür gesorgt, dass nicht nur in ihrer Abteilung, sondern auf dem gesamten Revier genau hingeschaut wurde, wenn es um`s Geld ging. Ein paar Polizisten waren entlassen worden, drei davon, weil sie systematisch Strafgelder für Verkehrsdelikte in die eigene Tasche steckten. Zwei Angestellten der Verwaltung war sogar der Prozess gemacht worden. Sie hatten für ein beachtliches Schmiergeld Akten verschwinden lassen. Der Inspektor hätte es seinem Fahrer wohl nicht noch einmal sagen müssen – aber der grinste und meinte nur:
»Na ja, ich weiß. Wehret den Anfängen!«
Es war gegen sechs Uhr morgens.
Die Fenster seines Büros wiesen nach Westen, also war es im Raum noch dämmrig und das Deckenlicht brannte. Der Blick über den Fluss war umso schöner. Die Morgensonne beleuchtete mit zarten Strahlen Sandbänke und Wasseroberfläche. Manchmal reflektierte irgendetwas und schickte kleine Blitze zum Fenster hinauf. Schlanke Fischerboote waren unterwegs. Dunkle, drahtige Männer standen darin und hantierten mit Netzen und Rudern. Von irgendwoher hörte man den Dieselaggregat einer Pumpe. Sowohl die Ufer als auch die größeren Inseln, wurden landwirtschaftlich genutzt und Wasser war das eigentliche Gold des Landes – fast immer knapp und deshalb extrem begehrt.
Sie hatten gestern bis Mitternacht gearbeitet. Als der Inspektor vom Essen gekommen war, hatte Babu bereits die in den dicken Ordnern abgehefteten Papiere durchgesehen. In einem dafür vorgesehenen Raum mit Waschbecken und separater Toilette hatten beide einige Stunden geschlafen. Es war, besonders zu Beginn einer Ermittlung, nicht das erste Mal. Zum Frühstück hatten sie sich zwei Doshai Masalla kommen lassen. Babu hatte wieder Tee gekocht.
»Also, die drei wichtigsten Ergebnisse!«
Babu stellte sich an die Pinnwand und heftete dort drei Begriffe an: ‚Abrechnungen’, ‚FCRA’ und ‚Streit.’
»Okay«, begann er und hielt einen der Ordner hoch.
»Die Ordit-Reports, also die Unterlagen der Buchprüfer, sind völlig schlüssig. Dort gibt es nicht einmal Rechenfehler – was man von den Abrechnungen und Aufstellungen hier nicht behaupten kann.«
Er wies pauschal auf die anderen Unterlagen, dann wieder auf den Ordner in seiner Hand.
»Die beim Staat zur Steuerbefreiung und gleichzeitig als Nachweis der satzungsgemäßen Arbeit eingereichten Reports entsprechen den gesetzlichen Vorgaben. Das Innenministerium hat ihm seine FCRA-Nummer wieder erteilt. So konnte er seine soziale NGO weiter betreiben und ausländisches Geld empfangen. Wir haben hier die Dienststelle, den Namen des Beamten und das Datum der Genehmigung!«
Chidambaram fand diese Bemerkung sehr aufschlussreich. Gerade ging durch die Medien, dass die Regierung massiv gegen Organisationen vorging, die ausländisches Geld empfingen. Tausenden NGOs, darunter so große wie Greenpeace, hatte man die Lizenz entzogen oder eine Verlängerung der FCRA-Nummer verweigert. Die Nationalisten fürchteten den Einfluss ausländischer Interessen und religiöser Missionsversuche. So holten sie die zwar nicht mehr zeitgemäßen, aber rechtlich noch gültigen Ausnahmegesetze aus der Schublade, um ausländische Einflüsse und oppositionelle Gruppierungen auszubremsen. Die 1976 durch Indira Gandhi verhängten Gesetze verlangten zum Beispiel, dass bei jeweils neuen Vorständen der NGOs auch ein neuer Antrag auf das Recht, Devisen zu empfangen, also die FCRA zu verlängern, gestellt werden musste. Man schaute sich die NGOs an, wusste natürlich vorher, dass Vorstände gemäß den Satzungen nur für eine begrenzte Zeit gewählt waren und bewilligte dann nur Lizenzen an Organisationen, die indische Interessen vertraten – für die jetzige Regierung waren das vor allem Hindu-Interessen. Folglich war von der Zäsur nicht eine einzige Hindu-NGO betroffen, aber knapp zwanzigtausend andere. Gerade kleine Initiativen, die mit Spenden aus dem Ausland viel Gutes in Indien bewirkten, waren kaltgestellt worden.
Immerhin hatte Pastor Jacob es geschafft, seine FCRA zu erhalten – wie auch immer. Der Inspektor wusste, dass es dazu durchaus Wege gab, allerdings waren diese meistens nur halb legal und immer sehr, sehr teuer ...
»Auf das Thema der Nicht-Regierungs-Organisationen komme ich später noch einmal«, meinte Babu jetzt. »Zunächst zu den Abrechnungen.«
Er wies auf die Sammelmappen mit den Belegen und Listen.
»Das alles sind einzelne Projekte und die dazu gehörigen Quittungen, Rechnungen und Aufstellungen. Leider herrscht in diesen Mappen nicht nur Chaos, wie etwa das Durcheinander von Projektunterlagen, sondern es stimmt auch kein bisschen mit den offiziellen Ordit-Reports überein. Da ist viel gemauschelt worden. Und mehr: Manche Belege sind einfach handschriftlich ausgestellt, enthalten weder Unterschrift noch Datum, sind nicht durch eine offizielle Marke beglaubigt worden oder fehlen völlig. Einige Leistungen wurden sogar doppelt abgerechnet.«
Babu schenkte dem Inspektor und sich selbst einen Tee ein. Chidambaram musste an den Vorfall von gestern im Restaurant denken. Er ahnte, was gleich kommen würde: Pastor Jacob hatte aus dem Ausland viel Geld bekommen, die Abrechnung darüber jedoch war fragwürdig. Warum, das musste man herausfinden. Entweder M.Jacob hatte in die eigene Tasche gewirtschaftet – sein tolles Haus und dass Auslandsstudium seines Sohnes wären so erklärbar – oder er hatte durch eine entsprechende Buch- und Belegführung die Beträge hin- und hergeschoben, um seine vielen Projekte zu realisieren und letztlich Gutes zu bewegen. Oder Beides. Vielleicht waren auch andere beteiligt, die dem Pastor als Verantwortlichem nicht ordentlich zuarbeiteten, ihn betrogen und falsche Belege ablieferten. Oh je, das war ein komplexer Fall.
Wenn es denn überhaupt einer war.
Als ob Gedanken die Wirklichkeit beeinflussen konnten, klopfte es an der Tür. Herein kam der Gerichtsmediziner. Diesmal trug er nicht seinen fleckigen Kittel, sondern Uniform und sah deshalb sofort vertrauenswürdiger aus, zumal er sich sogar den Bart gestutzt hatte. Er reichte dem Inspektor einen Bogen eng beschriebenes Papier.
»Ich komme lieber gleich selbst, das erspart Ihnen den Weg in meinen Keller!« sagte er. »Ich hatte recht!«
»Es war also Schlangengift.«
»Ja, und da der Biss der Sandrasselotter mit Sicherheit sichtbar wäre, aber nicht zu finden war, hat man dem Toten das Gift injiziert und wie schon vermutet wohl die bereits für Blutentnahme genutzte Armbeuge genutzt, um dies zu verdecken.«
»Oder er hat es sich selbst gespritzt!« meinte Babu und legte die Akten mit den Abrechnungen auf den Boden.
»Und wo hat er dann die Spritze gelassen?«
»Stimmt Chef, diesmal habe ich nicht mitgedacht.«
Babu holte sein Notizbuch hervor. Der Mediziner entschuldigte sich und wollte gehen.
»Warten Sie noch!« Chidambaram hielt ihn auf. »Wie lange dauert es, bis jemand nach der Injektion des Giftes stirbt?«
»Es kommt drauf an. Je nach Menge, längstens aber zwei Stunden.«
»Furchtbar!« Der Inspektor wusste, dass viele indische Schlangen giftig sind. Aber nur zwei Stunden? Da hatte jemand, der fern von einem Krankenhaus gebissen wurde, nicht die geringste Chance.
»Und das Gegengift?« fragte er.
»Das gibt es, wenn auch nicht speziell für die Sandrasselotter. Da man oft nicht weiß, von welcher Schlange der Patient gebissen wurde, hat man in aufwendigen Verfahren ein universelles Gegenmittel entwickelt, das auch beim Biss der ‚big four’ wirkt. Natürlich muss man rechtzeitig ein Krankenhaus oder zumindest eine Krankenstation erreichen, wo es vorrätig ist.«
»Big four? Bisher habe ich nur von den ‚big five’ gehört, bezogen auf Afrika.«
Der Mediziner lachte.
»Ja, das stimmt! Man hat es hier bei uns auf die giftigsten Schlangen übertragen, auf Kobra, Kraith, Kettenviper und eben Sandrasselotter. Dabei gibt es viel mehr gefährliche Giftschlangen als diese – wie es ja auch viel mehr große Tiere gibt als die ‚big five’ in Afrika!«
Lachend verabschiedete sich der Arzt und verließ den Raum. In der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Ach ja, wir können den Leichnam jetzt freigeben.«
Babu machte sich eine Notiz. Er würde die Familie anrufen, damit diese die Beerdigung vorbereiten konnte. Verwandte und Freunde sollte man informieren, bevor sie es aus der Presse erfuhren.
Dann ging er an die Pinnwand, nahm einen Filzstift und verband die Stichworte ‚Abrechnung’, ‚Streit’ und ‚Regulapadu’ mit einem Strich.
»Es gibt eine Mappe mit Belegen«, erklärte er dann seinem Chef, »in denen es um eine Fluthilfe geht. Da hat es enormen Streit gegeben. Große Summen wurden aus Deutschland geschickt, sehr wenig ist offenbar angekommen und für die Opfer der Überschwemmung eingesetzt worden.«
»Und wieso Regulapadu?«
»Betroffen waren nicht nur die Dörfer an der Godavari, sondern auch die an der Sabari.«
Babu blätterte in dem Ordner mit den Briefen und nahm ein Blatt heraus.
»Aus Regulapadu gibt es einen ganz besonders heftigen Drohbrief gegen Pastor Jacob.«
Chidambaram musste seinem cleveren Assistenten Recht geben und freute sich wieder einmal über die Zusammenarbeit mit ihm. Es war ein erster Ansatz für Ermittlungen. Der Ortspastor von Regulapadu, ein gewisser Lucas Bathia, hatte sich vehement beschwert, dass von der Hilfe nichts angekommen war. Er drohte mit Austritt seiner gesamten Gemeinde aus der Kirche, Anzeige und »schmerzlichen Konsequenzen« für Pastor Jacob als dem Verantwortlichen.
»Ja, dann müssen wir uns diesen Pastor wohl mal anschauen!« meinte der Inspektor. »Gut gemacht, Babu! Was haben wir noch?!«
»Na ja, wo wir schon beim Stichwort ‚Streit’ sind. Pastor Jacob hatte so manchen Streit, was aus den Briefen hervorgeht. Die Überschwemmungshilfe damals war offenbar in dunklen Kanälen verschwunden. Da beschwerten sich diverse Leute.
Dann gibt es eine ausgedruckte E-Mail, in der es um den Vater dieses aufgenommenen Mädchens geht – und also auch um jemanden aus der Region an der Sabari mit ihren grässlichen Sandrasselottern.«
»Malina«
»Genau. Die E-Mail ist eine Warnung an Jacob. Er soll sich in Acht nehmen und am besten immer jemanden bei sich haben. Das Stammesgebiet solle er am Besten ganz meiden. Der Vater von Malina habe es auf ihn abgesehen.«
Der Inspektor pfiff durch die Zähne.
»Das ist ja interessant! Von wem ist die E-Mail?«
»Die kommt von einem Marco. Ob das der ist ...?«
Babu führte den Satz nicht zu Ende. Chidambaram wusste auch so, wer gemeint war. Sie kannten beide einen Pastor Marco aus dem Dorf Koyda, das direkt an der Godavari lag und der wie jener Beschwerdeführer aus Regulapadu der Lutherischen Kirche im Stammesgebiet angehörte. Der konnte durchaus gemeint sein.
»Schon wieder jemand, den wir treffen müssen!«
»Ja. Chef, ich ahne bereits, wir werden uns auch diesmal wieder mit den Christen dieser Gegend befassen müssen! Vielleicht treffen wir ja sogar ...«
Babu schluckte herunter, was Chidambaram bereits selbst gedacht hatte. Er glaubte allerdings nicht daran, Kumari wirklich zu treffen. Hyderabad war weit.
»Chef, es gab noch mehr Streit!« Babu nahm einen anderen Brief aus der Mappe. »Hier schreibt ein Mann aus Hamburg in Deutschland an Malosh Jacob. Dieser Mann hat einen indischen Namen, ist also vermutlich von hier, arbeitet und lebt aber in Europa.«
»Worum geht es?«
»Es geht um ein Kinderheim hier in Kovvur.«
»Stimmt, Deepa hat so nebenbei gesagt, dass ihr Mann sich um ein Kinderheim hier gekümmert hat. Und dort gab es Streit?«
»Offensichtlich ja. Dieser Rajashekar bittet darum, endlich einen Bericht mit der Wahrheit zu bekommen. Er will wissen, was im Kinderheim wirklich passiert ist!«
»Und es gibt keine Andeutung?«
»Nein. Das Heim taucht weder in anderen Briefen noch bei den Belegen oder Reports irgendwo auf.«
»Okay. Wir können uns dieses Kinderheim ja leicht anschauen. Was gibt es noch?«
»Es gibt noch einige Belege, die offenbar die fünf Kirchbauten in Odisha betreffen. Jedenfalls sind sie in Odisha quittiert worden. Dabei liegt eine Aufstellung, die allerdings sehr viel höher ist, als die Belege hergeben. Oben ist der Name P.Mittal vermerkt.«
»P wie Prayaga. So heißt doch wohl die Ehefrau des berühmten Politikers mit den Cricket-Shops – oder?«
»Stimmt.«
Diesmal hatte Chidambaram seinen Assistenten mit seiner ‚who is who’ - Kenntnis überrascht, das sah er Babu an.
»Chef, genau! Dann müsste auch Frau Mittal diese Listen kennen. Das Problem ist nur: Die Belege passen nicht. Es geht dabei um Millionen, nicht nur um peanuts!«
»Langsam summieren sich die Ansätze zu Ermittlungen. Regulapadu mit Pastor Lucas Bathia, der Vater des Mädchens, Pastor Marco und seine Warnung, das Kinderheim hier in Kovvur, Frau Prayaga Mittal ... es warten einige Gesprächspartner auf uns!«
»Die Frage ist nur: Wo anfangen?«
Während er das fragte, pinnte Babu bereits Karten mit den Namen derer, die sie befragen mussten, an die Pinnwand.
»Ich denke, wir fangen erst einmal hier an und besuchen das Kinderheim. Dann müssten wir nach Visak fahren, zum Domizil der Familie Mittal, und zuletzt an die Sabari.«
»Ich muss mich noch um die Freigabe des Leichnams kümmern, damit er zeitnah beerdigt werden kann.«
»Stimmt. Und bis zum frühen Abend will ich, wenn möglich, ein Bewegungsprofil des Opfers anhand der Handyortung und eine Übersicht der E-Mails von seinem GMX-Account vorliegen haben.«
»Okay,« nickte Babu, »das habe ich bereits veranlasst. Ab jetzt sollten wir allerdings mindesten zwei zusätzliche Ermittler einsetzen.«
Chidambaram hätte genau das entschieden und bat seinen Assistenten, sowohl die Freigabe des Toten zu veranlassen und die Ergebnisse der technischen Recherche im Blick zu behalten als auch zwei zuverlässige Kollegen in die Ermittlung einzubeziehen – am besten Sita und Vijay, die zwei waren zwar recht jung, aber sie hatten schon oft erfolgreich mit ihnen zusammengearbeitet.
Sie beschlossen, das Kinderheim in Kovvur noch vor einer von beiden benötigten Mittagspause zu besuchen. Danach war die Pressekonferenz angesetzt und dann konnte Babu die Reise für Morgen nach Visak organisieren. Mit dem Zug wäre es bequemer und schneller als mit dem Auto. Vermutlich wäre dann übermorgen die Beerdigung, an der sie bei Gewaltopfern prinzipiell teilnahmen, und anschließend konnten sie an die Sabari fahren. Dazu würden sie Ganesh brauchen und den Tata-Jeep.
*
Das Kinderheim lag an der Uferstraße hinter der langen Brücke zwischen Rajahmundri und Kovvur in Richtung Süden.
In zwanzig Minuten waren sie dort. Es hatte sich nicht gelohnt, die Klimaanlage einzuschalten. Über dem Fluss flimmerte die Hitze. Es war schwül und man spürte und roch den Monsun bereits, auf den alle so sehnsuchtsvoll warteten. Die Bauern hier konnten zwar wegen des Wassers aus dem Fluss mehrere Reisernten jährlich einfahren, dennoch erhofften sie nach langer Trockenheit endlich Regen. An der Straße lagen Reisfelder, Bananen- und Zuckerrohrplantagen. Obwohl sie heiße und extrem trockene Monate hinter sich hatten, erfrischte hier der Anblick saftigen Grüns entlang der schmalen Landstraße. Kulifrauen in bunten Saris standen gebückt in Reihen und pflanzten Reis. Bananenstauden waren an Stangen befestigt, damit sie in der Trockenheit und bei Wind nicht brachen. Der Inspektor wäre am liebsten noch weiter gefahren, hätte sich an den Feldern, den Kokospalmen und vor allem
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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2020
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