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Jemand wachte auf. Sein Name war Robert. Er hatte eine lange Geschichte und viel erlebt. Viel schönes, viel trauriges, viel schreckliches. Nur selten hatte er Zeit sich zu langweilen. Denn er verstand sein Leben nicht mehr so richtig. Irgendwann war er wohl verrückt geworden, einfach durchgedreht oder so was. Denn er lebte, aber nichts kam dabei heraus. Es kam selten vor, dass er sich über irgendetwas sicher war. Zum Beispiel wo er gerade war. Es kam recht selten vor, dass er wusste, wo er war. Er versuchte nur immer, die Situation einzuschätzen, in der er gerade war, um dann richtig zu handeln und zu überleben. Und an viel konnte er sich immer nicht erinnern. Wenn er Glück hatte, hatte er am nächsten Morgen noch ein paar Erinnerungsfetzen vom Vortag. Wie man sie aus der Kindheit kennt. Er konnte sich nicht mal sicher sein, am Morgen aufzuwachen. Manchmal hatte er auch das Gefühl einzuschlafen und gestern wieder aufzuwachen. Vielleicht erlebte er dann Erinnerungen vom Vortag, die ihn schlagartig einholten, vielleicht auch nicht. Oft konnte er Traum nicht von Realität und Erinnerung nicht von Gegenwart unterscheiden. Er wusste nicht, ob er Datumsanzeigen vertrauen konnte, denn vielleicht war das, was er darauf sah auch nur ein Relikt der Vergangenheit, das sich auf die Gegenwart duplizierte.
Wegen solchen Gedanken, war er immer grundverwirrt. Wahrscheinlich hatte er sich schon oft vorgenommen zum Arzt zu gehen. Vielleicht hatte er es getan, vielleicht auch nicht. Er konnte sich nicht erinnern. Es könnte auch sein, das er nur davon träumte verrückt zu sein. Aber vielleicht träumte er das auch nur weil er verrückt war.
Trotz alldem war es ihm nie in den Sinn gekommen, sich selbst umzubringen. Er hatte sogar eine ziemlich feste Bindung ans Leben. Selbst wenn er es versucht hätte, wäre das wahrscheinlich nur ein Traum gewesen und er wäre irgendwo aufgewacht, wo er noch nie zuvor gewesen war. Oder er hätte davon geträumt, irgendwo aufzuwachen, wo er noch nie zuvor gewesen war. Er war nicht der Typ um sich selbst umzubringen, denn für ihn war sein Lebensstil normal, er hatte sich daran gewöhnt, so gut wie möglich.
Manchmal schenkte man ihm eine Woche, manchmal sogar einen Monat, in dem er sich an alle Vortage erinnern konnte und so lebte wie ein normaler Mensch. Darauf hoffte er immer wieder und seine Hoffnung starb nie, weil er sich an Enttäuschungen nicht mehr erinnern konnte. Aber auch während solchen langen Phasen konnte er kaum normal leben, weil er ja kaum Gesellschafts- und Lebenserfahrung hatte.
Er war sehr besonders. Deshalb waren bestimmte Leute hinter ihm her. Was sein Leben noch schwieriger machte.
Er wachte also auf. Die Decke, die über ihn gebreitet lag, war reinweiß und dünn. Sie schien sehr leicht zu sein und klebte an seiner Haut. Er musste wohl geschwitzt haben in der Nacht. Das war schon mal ein brauchbares Indiz. Denn wenn er geschwitzt hatte, bedeutete das wohl, dass es warm war. Aber es kam ihm gar nicht so warm vor. Die Matratze war gemütlich, nicht zu weich und nicht zu fest, irgendwie... dazwischen. Robert überprüfte, was er anhatte: eine Art schwarzes Shirt, er kannte es nicht.
Er ließ sich nach hinten auf die Matratze fallen. Mit solchen Situationen kannte er sich aus. Er würde zuerst warten, ein paar Minuten lang. Während dieser Zeit würde er sich im Zimmer umsehen, vom Bett aus, dann zu Fuß.
Er sah sich das Bett an, es war aus Holz, recht dunkel, schön gemasert. Olivenholz vielleicht. Edel. Es war ein Doppelbett, doch die andere Hälfte sah unbenutzt aus. Das Bett hatte hinten eine Rückenlehne und war etwas über zwei Meter lang. Alles auf dem Bett war sehr weiß: die Matratze, das Kissen und das Tuch, das er anscheinend als Decke benutzt hatte. Das Bett stand etwa 20 Zentimeter über dem Boden, auf vier schlichten Füßen, die sich nach unten verjüngten. Es war in der Mitte der, der Tür gegenüberliegenden Wand und war zur Tür hin ausgerichtet.
Dann sah Robert sich den Raum an und bemerkte, dass dieser sehr schlicht war: kubisch, weiße wände, einfacher Boden und nur zwei Möbelstücke. Außer dem Bett noch ein Schrank, aus dem gleichen Holz wie das Bett, an der linken Wand. Eine unauffällige Lampe hing in der Mitte der Zimmerdecke. Sie spendete weißes Licht. Hell genug, um alles gut sehen zu können und dunkel genug, um Robert nicht zu blenden. Die Tür war aus weißlackiertem Holz, mit einem unauffälligen Stahlgriff.
Robert hatte sich im Bett aufgerichtet und sah um sich. Das ganze beunruhigte ihn. Diese ganze Einfachheit. Er wusste nicht recht, ob er aufstehen sollte. Er konnte die Situation nur gering einschätzen. Er horchte, doch nichts war zu hören. Der Raum war schalldicht. In der Nacht war es wohl warm gewesen, aber jetzt war die Temperatur normal. Nicht zu heiß und nicht kalt. Wahrscheinlich war der Raum auch noch perfekt wärmeisoliert. Er wusste nichts. Weder ob es Tag oder Nacht war, noch ob er am Nordpol oder im Kongo war. Man hätte ihm doch wenigstens einen Wecker ins Zimmer stellen können. Wer war man?
Robert beschloss aufzustehen und den Schrank zu durchsuchen. Das Aufstehen fiel ihm leicht, er war anscheinend bei bester Gesundheit und ausgeschlafen, gut. Außerdem schien er mittleren Alters zu sein. Einen Spiegel hätte man ihm auch ins Zimmer stellen können. Er fuhr sich durch die Haare, kurz, einigermaßen gepflegt, und über das Gesicht, keine Wunden, kein Bart. Dann sah er endlich im Schrank nach. Er öffnete schwungvoll die Beiden Türen. An einer Stange war ein weißes Hemd und eine schwarze Hose aufgehängt. Auf dem Schrankboden lagen schwarze Socken, schwarze Schuhe und eine Armbanduhr, die er reflexartig aufhob, als er sie sah. Es war eine einfache Zeigeruhr, keine Datumsanzeige. Man konnte noch nicht mal ablesen ob es Tag oder Nacht war. Er seufzte enttäuscht. Wenigstens wusste er jetzt, dass es genau zwölf Uhr war. Er erschrak. Genau zwölf Uhr. Das musste geplant sein, das musste einen Sinn haben! Er guckte verzweifelt um sich, dann wieder auf die Uhr. Aber die tickte gemütlich weiter. War das eine Mitteilung, eine Botschaft? Oder nur Zufall? Schnell drückte er sich in die Ecke und starrte die Tür an, die sich jedoch nicht regte. Sein Herz schlug schneller, er wusste nicht, was in einer solchen Situation zu tun war.
Eine Minute verharrte er so, in die Ecke gepresst, mit weit offenen Augen. Als nach dieser Minute immer noch nichts geschehen war, beruhigte er sich und sah wieder auf die Uhr: 12:01. Es war anscheinend nur ein Zufall gewesen, einer unter vielen. Und er hatte eine Vorsichtsmaßnahme getroffen, keine schlechte Sache. Es lag wahrscheinlich an seiner inneren Uhr, dass er genau um zwölf Uhr den Schrank geöffnet hatte.
Er entschied sich, die Sachen anzuprobieren, die er anscheinend anziehen sollte. Zufälligerweise passten die Sachen perfekt. Robert hatte es sich gedacht, die Schuhe saßen wie angegossen und der Rest fühlte sich auch maßgeschneidert an. Kein Grund zur Beunruhigung, dachte er sich. Die Leute sind einfach gut informiert. Die Leute. Es könnte doch auch sein, das er die Sachen selbst besorgt hatte. Er ging immer gleich vom schlimmsten aus. Aber es sah tatsächlich alles so aus, als ob die Leute es geplant hätten.
Er sah sehr lange die Tür an. Er wusste nicht, ob er sie aufmachen sollte. Immerhin könnte auch von ihm erwartet werden, zu warten, bis sie aufging. Vielleicht ginge sie nie auf. Er könnte auch ganz allein in irgendeiner gottverdammten Wüste sein, in einem isoliertem Kämmerchen, auf einem spitzen Felsen. Er hatte sich auch die Uhr angelegt. Er sah sehr elegant aus. Wofür? Er wartete auf das Öffnen der Tür und sah immer wieder auf die Uhr. Eine Stunde verging, dann noch eine.
Robert wusste noch gar nicht, ob die Tür abgeschlossen war oder nicht. Diesen Umstand nutzte er schließlich, um die Tür zu öffnen.
Sie war nicht abgeschlossen. Er wollte die Tür schon wieder schließen, doch dann zögerte er und öffnete sie einen Spalt breit. Die Freiheit erwartete ihn, oder der Tod. Aber die Ungewissheit war ebenso schlimm. Er sah durch den Spalt, in einen nichtssagenden weiß gestrichenen Flur, nichts außergewöhnliches bis jetzt, keine Geräusche, keine Möbel. Er öffnete sie weiter. Nichtsagender Flur, genauso hell beleuchtet wie das Zimmer. Er legte immer mehr frei, bis die Tür ganz geöffnet war. Er horchte noch einmal und beugte sich dann nach vorn, um mehr sehen zu können. Flur. Der Korridor bog sich an beiden Enden nach hinten, also an den anderen Wänden des Zimmers entlang.
Keine unmittelbare Gefahr, ein Grund einen Schritt ins Freie zu wagen. Er versuchte in den Gang zu treten, ohne ein Geräusch zu machen. Immerhin konnte das Böse überall lauern.
Der erste Schritt war getan. Robert stand im Flur. Die Decke war halb so hoch wie im Zimmer. Außer des sehr leisen elektrischen Summens war nichts zu hören. Unbewusst war Robert in eine Art Schleichhaltung gegangen. Die Situation beunruhigte ihn immer mehr. Was würde nach den beiden Abbiegungen kommen? Noch mehr Flure? Und danach noch mehr? Das potenzierte sich, das war unmöglich, aber wer weiß? Vielleicht wäre es auch nur etwas Neues. Er wagte einen Schritt in die linke Richtung. Dann dachte er sich, dass es besser gewesen wäre, hätte er sich für rechts entschieden. Er kämpfte mit sich. Minutenlang war er unentschlossen. Er sah sich manchmal hektisch um oder horchte.
Schließlich war er doch für links. Langsam schlich er auf die Ecke zum linken Korridor zu. Abrupt blieb er an der Ecke stehen und quetschte sich an die Wand. Schon wieder horchte er, doch nichts geschah. Dann, ganz langsam, schob er seinen Kopf über die Kante und spähte den Gang entlang: Er war genauso lang wie der erste, gleich gestrichen, gleicher Boden, gleich Höhe. Wäre an der Wand ebenfalls eine Tür gewesen, hätte man ihn nicht unterscheiden können. Und am Ende des Ganges, eine Ecke und ein nächster Gang. Man führte ihn im Quadrat herum! Jetzt konnte er sich aber gut den Gesamtbau vorstellen. Im nächsten Gang müsste demnach rechts eine Tür nach draußen führen. Das war gut vorstellbar. Jetzt hatte er einen Gedanken im Kopf, er konnte sich etwas entspannen. Er horchte zwar immer noch und ging langsam und leise, war aber nicht mehr so sehr in der Hocke. So kam er etwas schneller zur nächsten Ecke und spähte in den nächsten Gang.
Seine Vorstellung war falsch gewesen. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Alles hier schien so perfekt quadratisch. Das war unmöglich! Die Tür, die er nun auf der rechten Seite vermutet hatte war auf der linken. Dort musste doch aber das Schlafzimmer liegen!
Nein, demnach konnte es nicht quadratisch sein, zwischen den Gang und das Zimmer musste also Platz für ein Kämmerchen sein! Oder? Roberts Mund stand offen. Er hatte sich Vorstellungen gemacht, sinnvolle Vorstellungen. Warum konnten die nicht richtig sein? Das wäre doch das einfachste gewesen. Seine Erfahrung, sein Gefühl, seine Augen, alle erzählten ihm etwas von Quadraten und Kubismus. Das Zimmer war quadratisch und die Gänge waren gleichlang. Sein Gehirn suchte nach einer Erklärung, während es die Ausschüttung von Adrenalin befahl. Die Tür war auf der linken Seite. Eine Erklärung musste her. „Erkläre mir das“, murmelte er, während er wie hypnotisiert auf die Tür zuwankte. Er ging einfach den Gang entlang, bis zu Tür. Er zögerte nicht, er machte sie auf. Das Schlafzimmer lag vor ihm: Das Bett am Ende des Raumes und der schlichte Schrank auf der rechten Seite.
Zuerst gaben Roberts Beine nach. Er sackte auf die Knie. Dann gaben die Bauch- und Rückenmuskeln nach. Er fiel um. Doch seine Hand umklammerte die Tür noch sehr fest, als seine Sinne nachgaben.
Ein letzter Befehl wurde vom Gehirn an den Mund gesendet. Und als die Leute ihn da so liegen sahen, hatten sie alle nicht damit gerechnet, dass er plötzlich wie am Spieß „Unmöglich“ brüllte.

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Tag der Veröffentlichung: 17.04.2009

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