Berlin bei Nacht
Alles wie immer
Gwen saß in der S-Bahn. Sie war schon lange an ihrer eigentlichen Station vorbeigefahren, doch sie wollte noch nicht zurück. Draußen wurde es langsam dunkler und sie legte den Kopf an die dunkle Scheibe, die ihr Spiegelbild zurück warf. Die Scheibe kühlte angenehm ihre Stirn. Das war das dritte „Ausreißen“ diesen Monat, wie Frau Flet es nannte. Gwen nannte es einfach „Ich-hatte-keinen-Bock-auf-dieses-Drecksloch“. Dann setzte sich die 16jährige auf. Musik dudelte aus ihrem uralten MP3-Player. Zwei Mädchen kicherten und zeigten „unauffällig“ auf sie. „Aus welchem Jahrhundert kommt denn der MP3-Player?“, flüsterte die eine in ihrem perfekt kopierten Outfit, dass wahrscheinlich aus der Bravo stammte. Gwen rollte mit den Augen. Es hatte halt nicht jeder reiche Eltern, die einem die teuren Sachen in den Rachen stopften. „ICH KANN EUCH HÖREN!“, brüllte Gwen leicht genervt. Die beiden kicherten, zogen dann aber ab. Mehr wollte Gwen gar nicht. Sie legte den Kopf wieder an die Scheibe und sah in das nächtliche Berlin. Die Spitze des Fernsehturms leuchtete in der Ferne. Berlin… das Wort hallte durch den braungelockten Kopf der 16-jährigen und vermischte sich mit der Melodie ihres Lieblingsliedes. Eine ruhige Melodie, die sie an zu Hause erinnerte; an Ostseewind und verlassene Strände im Februar. Früher hatte Gwen leidenschaftlich gerne Steine und Donnerkeile gesammelt, doch das konnte man in Berlin schlecht. Graue Klötze; das war das Einzige was man weit und breit sah. Die eintönige Männerstimme erinnerte Gwen daran, dass sie nun aussteigen musste, wenn sie nicht einfach weiter fahren wollte und dann irgendwann wieder an der Station landen würde an der sie zum Heim kam. Sie stand auf und schnappte sich ihren zerrissenen Armeerucksack. Sie ging alleine durch die Nacht, das war das Einzige, was sie in dieser Stadt gerne tat. Nur bei Nacht konnte man Berlin, ihrer Meinung nach, ertragen. Gwen zog ein braunes Haargummi aus ihrer Hosentasche um ihre ungekämmte Lockenpracht zu bändigen. Ihre Schritte lenkten sie wie immer in eine Richtung. Sie hätte schon vor einer Stunde im Heim aufkreuzen müssen und Frau Flet wartete sicher schon an der Tür, doch das war Gwen egal. Nun sah sie schon die Leuchtbuchstaben. Die Besuchszeit war wie immer vorbei, doch sie kam nie früher fort. Nur manchmal hatte Gwen doch ein wenig Glück, so wie heute; Frau Flet war noch nicht da oder hatte die Schnauze voll sie hier aufzusammeln und die nette Schwester hatte heute Nachtdienst. Sie lächelte Gwen durch die Glastür an, wie immer mit dieser Spur Mitleid darin und hielt sich den Zeigefinger vor den Mund. Das Mädchen machte es ihr nach und wartete bis die Schwester die Tür aufmachte. „Irgendwann bekomme ich noch Ärger deswegen…“, flüsterte die Schwester. Sie wollte die „Kleine“ immer aufmuntern. Doch sie schaffte es nur selten. „Wie immer- 2 Stunden.“, murmelte die Schwester, während sie die Tür wieder abschloss. „Dann ist meine Schicht vorbei… Soll ich dich dann …nach… Hause…fahren?“, fragte sie freundlich. Gwen sah in die netten grünen Augen der Frau. Sie lächelte traurig. „Ja, danke schön.“, sagte sie halb im Gehen. „Ich weiß wo es lang geht.“, versuchte auch sie zu scherzen und machte sich auf den Weg zu Zimmer 274. Sie war sicher, dass ihre Mutter sie wieder nicht erkennen würde und doch kam sie immer wieder. Sie setzte sich an das Bett ihrer Mutter, die die Augen aufschlug und sie anlächelte. Doch es lag kein Erkennen in ihren Augen. Ein Stich ging durch Gwens Herz. Alles wie immer, dachte sie traurig. Alles wie immer…
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2011
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