Henry Wolff
Der letzte Kampf um die Welt
Dritter Teil
Die Zeit der Wölfe
Part II – Sohn und Stricher
Version 1.00- 1.01
Altersempfehlung: ab 16 Jahren
Belletristik: Jugendliteratur
Genre: Fantasy, Abenteuer
Teil der Reihe: Der letzte Kampf um die Welt
Meta: Fantasy, Roman, Zwerge, Riesen, Elfen, Zauberer, Magie, Kobold, Drachen, Wolf, Werwolf, Götter, Druide, Götterdämmerung, Abenteuer, Odin, Walküre, Walhalla, Asgard, Norne, Fenriswolf, Hel, Thor, Kampf, Schwert, Nibelungen, Wikinger, Alberich, Alben, Midgard, Langschiff, Räuber, Geister, Troll, Burg, Ritter, Rüstung, Gefängnis, Krone, Schicksal, Fischer, Brunnen, Lebensbaum, Heilig, Folterbank, Rache, Sex, Erotik, Missbrauch, Hass
Der letzte Kampf um die Welt, 3. Teil, Version 1.00 – 1.01
Die Zeit der Wölfe, Part 2 – Sohn und Stricher
Angelo befindet sich in der Gewalt von Kogan und wird missbraucht. Walram hat durch einen Spalt in Zeit und Raum eine Verbindung in eine andere Welt entdeckt und erfährt etwas über die Götterdämmerung.
Der Wehrwall zieht in den Krieg Richtung Zwergengebirge. Ragnar überquert die Nordwasser. Velten entkommt den Fluten der Worlag und zwingt seinen Sohn zur Prostitution. Im Donnergebirge geht des Nachts ein Grauen um.
Siska im Süden bindet Marius mehr und mehr an sich, während sie den Untergang des Südreiches vorbereitet. Goram nimmt Leif gefangen und versucht ihm mit Gewalt Informationen abzupressen, ohne zu erkennen, dass er seinen Bruder vor sich hat.
Welf provoziert die Marater und Markaner Fürstengeschlechter, während Stefan fleißig gegen Julian und den Rest seiner Familie integriert. Angus kehrt zurück auf die Burg seiner Eltern und findet Hass und Lügen. Thoralf trifft Odin und sein Leben ändert sich erneut. In Asgard schmachtet Loki in Ketten, genauso wie sein Sohn, der Fenriswolf, auf der Schicksalsebene.
Bücher, die bislang in dieser Reihe erschienen sind:
- Das große Beben
„Los, aufs Auge! Schlag ihm aufs Auge! Nun mach schon, worauf wartest du denn?“, quiekte eine hohe Stimme, gleich einem Schwein.
Egbert, er war der Sohn des reichsten Mannes dieser Siedlung. Und natürlich war sein Vater auch gleichzeitig Häuptling, wen wundert's.
„Ja, so ist gut! Und jetzt in die Eier! Schlag ihm in die Eier! Bis er winselt, der Hund!“, hetzte Egbert erneut und schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel.
Oh ja, hetzen konnte er gut. Und lügen. Und stehlen. Er war ein durch und durch schlechter Mensch. Ohne eigene Verdienste.
Aber er kam damit durch. Ein jeder wollte sein Freund sein, tat zumindest so. Denn wenn man Egbert schmeichelte, so brachte dies Vorteile.
Im Übrigen hatte er es aber auch leicht. Denn seine willigen Helfer hatten durchaus Spaß daran, andere zu quälen oder auszunehmen.
Ganz besonders Brak. Der stämmige Sohn des Müllers, etwa zwei Jahre älter als Egbert. Ein Herz und eine Seele waren die beiden. Zumindest den Tag über. Aber auch in so mancher Nacht, wenn die beiden sich gegenseitig befriedigten.
Oder es sich von einem Dritten zwangsweise besorgen ließen.
Von Linus zum Beispiel. Er war der Sohn der Wäscherin, die alles verloren hatte. Ihren großen Hof, dass viele Land. Und zuletzt ihren Mann, Linus Vater.
So standen die beiden schon seit Jahren allein und ziemlich hilflos in dieser Welt. Ein jeder beschimpfte sie, ein jeder nutzte sie aus. Zumal Linus nicht der Stärkste war. Ein Jahr jünger als Egbert, war er eher schmächtig. Zwar unheimlich clever, aber gegen stetige und meistenteils rohe Gewalt brachte ihm dies nicht viel.
„So meinst du?“, wieherte Brak und hämmerte seine Faust erneut in die Geschlechtsteile seines Opfers. „Pass auf, das geht noch besser!“
Sagte es und griff sich direkt durch den Hosenstall die beiden baumelnden Eier. Und drückte genüsslich zu. Bis Linus quiekte wie ein Ferkel. Denn keinen anderen als diesen hatte Brak im Schwitzkasten.
Wieder und wieder gerieten die Drei aneinander. Fast jeden Tag. Linus war ein williges Opfer. Außerdem war er ihr Lieblingsopfer. Denn er war ziemlich hübsch. Und klug obendrein. Ein rotes Tuch also für eine bestimmte Art von Menschen.
Um Brot ging es heute. Um ein dummes Stück Brot. Klein und vertrocknet war es. Und dennoch von Linus heiß begehrt.
Denn er musste nehmen, was er bekam, um zu überleben. Und heute gab es ein wenig mehr als sonst. Die Dorfoberen hatten ihn nämlich zur Wache eingeteilt, zusammen mit den beiden anderen. Die Männer selbst wachten beim Vieh oder der eingelagerten Saat des Vorjahres. Es erwies sich als notwendig, denn einen Grauen ging um. Und kam sogar immer näher.
Eine wärmende Decke wurde einem jeden für die Stunden der Wacht gestellt. Die hatte Egbert Linus gleich zu Beginn weggenommen. Zusammen mit dem stumpfen Messer, welches Linus zur Verteidigung des Dorfes erhalten hatte.
Eine wärmende Suppe hatte man der kleinen Gruppe für die Nacht mitgegeben. Die plätscherte jetzt aber genüsslich in Braks gewölbten Bauch.
Blieb noch das Stück Brot, was ein jeder erhalten hatte. Und um dieses kämpften sie jetzt. Linus hielt es ganz fest, obwohl Brak ihm die Luft abschnürte und an seinen Geschlechtsorganen schmerzhaft herumspielte.
Er biss sogar ab. Versuchte herunterzuwürgen, was nur möglich war. Denn was man hat, das hat man. Wenn ihn Brak nicht anschließend zum Kotzen brachte. Was nicht das erste Mal wäre.
Ein Hieb, ein Stöhnen! Das saß! Urplötzlich hatte sich Braks Hand aus seiner Hose gelöst und sich zur Faust geballt. Und anschließend zielgenau seinen Magen getroffen. Das trockene Stück Brot schoss aus seinem Mund und Linus selbst rollte in den Matsch, der vom Urin seiner beiden Kameraden noch getränkt war.
Ein trockener Husten durchschüttelte seine magere Brust, während er krampfhaft versuchte, seinem Peiniger kriechend zu entkommen. Es würde nicht gelingen. Es war noch nie gelungen.
Doch heute gelang es. Warum nur? Weil Brak abgelenkt war. Linus ging in die Hocke. Ein kurzer Sprung nur und er war hinter dem großen Holzhaufen. Und erst einmal außer Gefahr. Angstvoll schaute sich Linus nach seinem Verfolger um. Doch der kam ich. Vielmehr stand Brak fast wie gelähmt an der Palisade und starrte dort hinauf, wohin Egberts Finger zeigte.
„Da! Hast du das nicht gehört?“, jammerte Egbert und zeigte nachdrücklich auf eine Stelle, die ihm ziemlich viel Angst einjagte.
„Was denn? Ich höre nichts! Ich sehe nichts! Was soll da sein? Spinnst du?“, schimpfte Brak, der sich langsam entspannte.
Doch nur kurz. Denn irgendetwas war da draußen, auf der anderen Seite der Befestigung. Es schabte, es kratzte. Und es knurrte. Knurrlaute, die näher kamen. Drohend, unausweichlich.
Und dann war ein Schatten auf der Spitze der Palisade. Mit Augen, so glühend wie Kohle. Keiner der Drei vermochte das vereinbarte Alarmzeichen zu geben. Und um ehrlich zu sein, keiner der Jungs dachte auch nur daran.
Obwohl die Zeitspanne lang erschien, so war sie in Wahrheit doch nur ein kurzer Moment. Der Schatten hatte sich orientiert und sprang fast lautlos herab. Und auf Brak zu. Er war riesig, er war gewaltig. Schon fasste er mit klauenbewehrten Pranken nach dem Jungen. Packte seinen Kopf ganz fest. Drehte ihn und zerrte. Riss ihn ab vom Körper. Und schmiss den Kopf mit einem triumphierenden Geheul über die Palisade.
Eine Pranke fing den enthaupteten Körper auf, der gerade zu Boden sank. Und eine wilde Schnauze mit gefletschten Zähnen schlürfte gierig das warme Blut, welches dem Hals entströmte.
Während die andere Pranke mit ihren messerscharfen Krallen Braks toten Leib öffnete. Und fachmännisch die Gedärme herausriss. Für den Hunger. So ging es fort. Ein Stück Magen, ein wenig Blut, damit es besser rutschte. Ein Stück Leber, wieder etwas Blut. Aah, schmeckte das gut!
Der Schatten, der eigentlich ein großer Werwolf war, schmatzte genüsslich. Und kümmerte sich nicht weiter um die anderen Jungs. Während mittlerweile überallher aus dem Dorf Schreie ertönten, schwang sich ein weiterer Wolf über die Palisade. Und griff sich, ohne groß zu überlegen, Egbert.
Tötete diesen aber nicht, riss ihm nicht den Kopf vom Rumpf. Sondern biss ihm gleich mit verdrehten Augen Fleisch aus der Schulter, während des Häuptlings Sohn noch lebte. Selbst als der Wolf Egberts Bauchdecke öffnete und die Gedärme verschlang, schaute der Jungen noch fassungslos zu. Ohne auch nur irgendeinen Ton von sich zu geben.
Der dichte Zaun aus Holz schwankte. Und zerfiel dann nach einer großen Erschütterung in seine Einzelteile. Ein Troll auf der anderen Seite trat beiseite und ließ zwei Menschen durch. Weitere Wölfe im Gefolge.
„Verdammt!“, schrie der eine Mann wütend.
Ohne zu zögern, zog er sein riesiges Schwert und hackte dem Wolf über Braks Leiche mit einem Streich den Kopf ab.
„Wie oft soll ich es noch sagen!“, tobte der Mann weiter. „Ihr sollt nicht alle umbringen! Dummes Wolfspack! Wer soll denn noch für uns arbeiten, wenn alle tot sind? Hä? Begreift ihr das denn nicht, ihr Missgeburten? Ihr kommt schon nicht zu kurz! Immerhin habe ich bisher immer für euch gesorgt, oder nicht?“
„Nun spiel nicht gleich verrückt!“, versuchte ihn der andere Mann zu beruhigen. „Auf die paar kommt es wahrlich nicht an. Denk dran, auch die Zufriedenheit der Truppe ist wichtig!“
„Befehl ist Befehl! Was meinst du, Hauptmann, wie zufrieden die Truppen sind, wenn es keinen mehr gibt, der sie versorgt“, knurrte der Mensch ungehalten. Und zeigte mit dem Finger auf den anderen Wolf, der Egberts Überreste immer noch als Beute fest im Fang hielt. „Du da! Verschwinde jetzt! Und nimm deine Kameraden gleich mit. Und von mir aus auch die Hälfte von dem Fleisch. Ist ohnehin zu spät. Und was Befehle, insbesondere meine Befehle bedeuten, darüber unterhalten wir uns später.“
Die Wölfe gehorchten. Sie durften das Fleisch behalten, mehr schien sie ohnehin nicht zu interessieren.
„Wen haben wir denn da?“, stieß der Mann hervor und hob Linus wie eine Puppe hinter dem Holzstapel hervor. „Hast dich versteckt, was? Sehr clever. Dann wollen wir mal sehen, ob wir nicht eine Aufgabe für dich finden!“
Sagte es und fingerte in seiner Provianttasche herum. Schob Linus schließlich ein mit Zucker übergossenes dickes Stück Kuchen in den Mund.
Gierig schnappte Linus zu, ausgehungert, wie er war. Schnappte sich das unerwartete Geschenk samt Finger, an dem er herumleckte, bis das letzte bisschen Zucker auf seiner Zunge war.
„Du bist hungrig, nicht wahr?“, staunte Welf. „Und Angst hast du offenbar auch nicht. Das Schicksal deiner Freunde scheint dich offenbar nicht zu berühren!“
„Es waren nicht meine Freunde!“, stellte Linus richtig und versuchte noch einmal, an dem Finger zu lecken.
„So, so. Interessant“, sagte Welf und hob den Jungen an, bis sie sich gerade in die Augen sehen konnten. „Dann bist du vielleicht genau der Richtige für mich. Was dir an Stärke mangelt, das scheinen deine Beine mit Geschwindigkeit wettzumachen. Willst du dir ein Stück Silber verdienen?“
Linus nickte schnell und zappelte aufgeregt mit den Beinen in der Luft herum.
„Nun gut“, entschied Welf.
Und stellte den Jungen mit beiden Beinen auf dem Boden zurück. Zog einen zusammengerollten Brief mit Siegel aus seinem Wams und drückte diesen Linus in die Hand. Ein Silberstück wechselte den Besitzer. Und Welf sein eben noch geöffneter Proviantbeutel kam als Zugabe obendrauf.
„Dein Herr ist doch der Fürst von Markan, wenn ich mich nicht irre“, fuhr Welf fort, während der Hauptmann neben ihm ziemlich verständnislos dreinschaute. „Lauf zu ihm, geschwind! Gib ihm diesen Brief und erzählte ihm, was du hier gesehen hast. Erledigst du deine Aufgabe gut, dann gibt es ein Goldstück obendrauf. Und nun los! Lauf! Dreh dich erst wieder um, wenn du in Assenburg angekommen bist.“
Und Linus lief. Lief ohne Furcht durch die Reihen der vielen Werwölfe, die stumm dieser Unterhaltung gefolgt waren. Verschwand durch eine schadhafte Stelle im Zaun und wurde von der Dunkelheit verschluckt.
„Eine Botschaft an den Fürsten von Markan? Wozu?“, wollte der Hauptmann wissen.
„Ja, das interessiert dich, nicht wahr? Kann ich mir denken. Aber gut, ich will mal nicht so sein. Das Ganze war eine Idee von Stefan von Adlerstein, unserem neuen jungen Freund und Verbündeten. Der junge Mann hat ein paar verborgene Talente. Zum Beispiel kann er ziemlich gut Unterschriften fälschen. Die Nachricht, die ich dem Jungen gab, stammt angeblich vom Markgrafen von Marat. Persönlich, versteh sich. Unserem Herrn, wenn du verstehst, was ich meine. Dem wir in Treue dienen. Na, jedenfalls tun wir so. Und in der Botschaft stand, dass wir uns auf Geheiß des Markgrafen im Fürstentum Markan ein wenig austoben. Und jeden, der uns daran hindert, auf die Schlachtbank legen. Genial, nicht wahr? Eine Fälschung zwar, aber genial.“
„Verstehe ich nicht“, grübelte der Hauptmann. „Wir arbeiten doch eigentlich mit dem Adlersteiner zusammen. Oder besser gesagt, die Arbeiten für uns. Natürlich, ohne es zu wissen.“
„Stimmt“, grinste Welf. „Das ist doch das Geniale daran! Der Fürst wird denken, dass der Marater Nachbar sein Fürstentum gerade mit Krieg überzieht. Er wird es glauben, weil es so aussieht. Wir treten doch hier als des Markgrafen Söldner auf. Und stiften jede Menge Unfrieden. Begriffen? Und darüber hinaus wird der Fürst es glauben, weil er es für möglich hält und schon lange erwartet hat. Das Großmaul aus Marat hat den Fürsten doch schon als Kind immer gerne mal verkloppt. Und ausgenommen. Und lächerlich gemacht. Belogen und betrogen, wenn du verstehst, was ich meine. Die beiden hohen Tiere hassen sich also wie die Pest. Und weil die Markaner Räte so clever waren und die Armee auflösten, wird er jetzt Angst bekommen. So richtig Angst, wie ich vermute. Und was wird der Fürst dann machen? Klar doch, er rennt wie ein Straßenköter, so schnell er nur kann, zum Ritter von Adlerstein. Und bettelt um Hilfe. Der Ritter ist der Einzige, der ihm beistehen kann. Und höchstwahrscheinlich beistehen wird. Im Süden herrscht Chaos. Da toben wir uns schon aus. Du weißt, wovon ich rede. Also hat der Fürst gar keine andere Wahl.“
„Und der Ritter wird ihm helfen? Und was dann? Marschieren wir in Marat ein?“
„Ganz genau. Der Ritter wird ihm helfen. Und wir dem Ritter. Das gehört sich doch wohl so“, grinste Welf jetzt noch ein wenig breiter. „Genau das werden wir tun. Und bevor alle begreifen, was wirklich abgeht, gehört der Westen und der Norden des Reiches uns. Sag ich doch, es ist genial!“
„Aber nur, wenn der junge Adlersteiner mitzieht. Keinen Mist baut oder uns verrät! Können wir ihm denn überhaupt trauen?“, gab der Hauptmann zu bedenken.
„Schon richtig, was du sagst. Im Moment haben wir den Bengel aber auf unserer Seite. Ich denke, er ist in mich verliebt. Das werde ich nutzen. Zum anderen will er gerne seinen Bruder aus dem Weg haben. Wie auch immer. Solange er nicht hat, was er will, solange haben wir ihn am Zügel. Noch brauchen wir Marionetten. Die sind gut fürs Volk“, antwortete Welf.
„Dann wollen wir hoffen, dass er noch lange nicht das bekommt, was er will!“
„Richtig!“, stimmte Welf zu. „Aber darum kümmere ich mich selbst. Ich werde mit ihm spielen, was für ein Spaß! Außerdem will ich verhindern, dass er seinen Bruder mit Gewalt entsorgt. Das würde nur Probleme bringen. Jedenfalls im Augenblick. Der Kerl ist nämlich beim Volk beliebt. Julian von Adlerstein muss verschwinden, da sind wir uns einig. Nur muss dies behutsam erfolgen. Aber vertrau mir, ich habe da schon so ein paar Ideen.“
„Und? Willst du mit dem Rittersöhnchen ins Bett kriechen?“
„Wenns was bringt, na klar. Selbst mit dem Tod würde ich rummachen, wenn ich einen Vorteil davon habe. Außerdem mag ich seine roten Säfte.“
Sagte es und tat dann endlich, wonach es ihn verlangte. Welf kniete nieder und labte sich an dem Blut. An dem Blut der beiden Opfer, welches immer noch warm und schmackhaft war.
Angelo hob ganz leicht den Kopf und öffnete die Augen. Neben ihm lag schwer atmend der widerliche Kerl, der sich noch gerade eben auf und in ihm zu schaffen gemacht hatte, bevor er mit einem Quieken von ihm herunterrollte. Nicht, ohne sich vorher auf seinem Rücken zu ergießen.
Kogan hieß diese Ratte, ja richtig. Der Kerl hatte es mehrfach erwähnt. Ganz so, als würde es ihn interessieren.
Jetzt rollte sich der fettige Krämer auf die Seite, zog den Jungen ganz dicht zu sich heran, umarmte und küsste ihn. Und streichelte jeden Flecken Haut, den er mit seinen klebrigen Händen zu erreichen vermochte. Wieder und wieder und stöhnte dabei.
Dies würde er noch eine ganze Zeit lang tun. Angelo wusste es, denn es war immer das Gleiche. Seit nunmehr fast drei Tagen verging der Mann sich an ihm und es war jedes Mal fast genau der gleiche Ablauf.
Zumindest tat ihm der Grobian nicht mehr weh. Denn sein Hintern war schon roh und blutig. Aber das störte Kogan nicht weiter. Im Gegenteil, es schien ihn sogar nur noch mehr anzuspornen.
Nach dem ersten Mal wollte Angelo sterben. Vor Scham und vor Kraftlosigkeit. Nun, die Scham hätte er wohl irgendwann überlebt. Nicht aber den Hunger und den Durst. Denn sein Körper war so ziemlich am Ende. Und es hatte den Anschein, als wolle Kogan ihn, nachdem er sich vergnügt hatte, hier zum Sterben zurücklassen.
Lange hatte der Krämer Angelo noch immer erregt angeschaut und mit dem Kopf gewackelt. Schade sagte er schließlich. Und: Da ist wohl nichts mehr zu machen.
Schließlich hatte er sich entschieden. Seufzend hob der grobe Klotz, der auch durchaus versuchte zärtlich zu sein, seinen Kopf an und säbelte die langen herrlichen Haare mit einem stumpfen Messer ab. Wenn er schon nicht das warme samtige Fleisch retten konnte, dann sollte es zumindest diese Mähne sein. Für zwei einfache Perücken würde das Material reichen. Gutes Geld ließ man doch nicht liegen!
Angelo war es egal. Denn darauf kam es nun auch nicht mehr an. Kogan streichelte ihn noch mal, machte dann seinen Wagen klar und brach auf.
Allerdings kam der Krämer nicht sehr weit. Schon nach etwa fünfzig, sechzig Metern blieb er stehen und schaute lange zurück. Er kämpfte wohl einen Kampf. Und die Seite, die sich in den schlanken Knabenkörper verliebt hatte, gewann letztendlich.
Kogan kehrte zurück. Nachdem er vom Wagen gesprungen war, kroch er auf allen vieren hin zu dem Jungen. Und leckte ihn von oben bis unten sauber. An den Lippen saugte er, die Nase steckte er in die Beuge. Und das Geschlecht nahm er in den Mund und kaute es zärtlich durch. Dann war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung und er drang mit Gewalt in den Knabenkörper ein, ohne auf die halblauten erstickten Schreie zu achten.
Als Kogan fertig war, er brauchte nie lange, spannte der Krämer die beiden Ochsen aus, errichtete ein Lager und machte Feuer. Schnell war ein Tee zubereitet und die Reste einer Suppe aufgewärmt.
Wie eine Mutter trug Kogan Angelo ebenfalls ans Feuer und legte ihn behutsam auf eine Decke. Den schmalen Kopf legte er auf seinen Schoss und begann den Jungen langsam und behutsam zu füttern. Ganz wie ein Baby. Selbst ein Wiegenlied, mit rauer Zunge stockend vorgetragen, erfüllte die Luft.
Dies wiederholte er mehrfach, denn zwischendurch fielen dem Knaben immer wieder die Augen zu. Kogan störte sich nicht daran. Fast schien es so, als wenn der Mann seinen Frieden in dem fand, was er tat.
Und wenn Kogan vermeinte, dass der Junge wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, bestieg er ihn wieder. So oft, wie es seine Manneskraft hergab. Danach war wieder Fütterungszeit. Mit einer anschließenden Ruhephase. In der sich Kogan ganz eng an Angelo kuschelte, an dem kleinen Ohr knapperte und mit spitzer Zunge über den Hals strich.
Und der Junge genoss das kleine bisschen Zärtlichkeit, das ihm zuteil wurde. Das klingt makaber, verrückt sogar, fast schon unmöglich. Aber Angelo war in diesem Moment ein anderer. Man hatte ihn gebrochen und so gierte er nach Schutz und Geborgenheit. Und saugte jedes bisschen Liebe auf, dass er finden konnte.
All die eigenen Interessen waren schon seit Stunden auf verschwunden und die Urinstinkte regierten den schlanken Körper. Nur das Überleben war noch wichtig, so lange und so gut wie möglich. Das Hier und Jetzt zählte, nichts anderes. Und so drückte sich Angelo ebenfalls an Kogan, legte seinen kleinen Arm, soweit es ging, um den dicken Bauch des Krämers, weinte und seufzte in dessen dreckiges Gewand, bis der Schlaf ihn erlöste.
Wenigstens die Träume waren süß. Keine Albträume, nur Licht und Schönheit. Und hierher floh Angelo in jeder freien Minute, in der sich Kogan nicht mit ihm beschäftigte oder ihn fütterte, denn dort konnte er ohne Not verweilen.
Aber dann und wann zerrte ihn der Krämer mit Gewalt wieder heraus aus dieser sanften Welt und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Nicht, dass es Angelo noch groß etwas ausgemacht hätte. Denn trotz seiner Wunden spürte er kaum noch etwas. Und er wusste, dass es sehr schnell vorbeigehen würde. Denn Kogan besaß zum Glück keine Ausdauer. Und schließlich gab es danach wieder eine Mahlzeit, Tränen und Träume.
So auch jetzt. Es war wieder mal so weit. Der Krämer zitterte bereits vor Erregung. Angelo wurde wachgerüttelt. Und als er verschlafen die Augen halb öffnete, stieß ihn der Krämer schon seine schleimige Männlichkeit in den Mund.
Angelo wusste, was er zu tun hatte. Aber bevor er dem Kerl auch nur ein Stöhnen entlocken konnte, hörte er die Schreie einer wohlbekannten Stimme. Das Geräusch von brechendem Holz folgte und Kogan kippte zur Seite. Bewegungslos lag er mit geschlossenen Augen vor ihm und sein Blut lief ihm über die Stirn.
Ohne Worte und ohne sich auch nur umzuschauen, kroch Angelo zu seinem Peiniger. Er hob dessen leblosen Arm an, quetschte sich darunter, drückte sein Gesicht an die warme Brust und schlief sofort ein.
Es war ein heilloses Durcheinander. Ein unglaubliches Chaos, wohin man auch schaute. Trümmer, überall. In jeder Größe und aus unterschiedlichem Material. Dazwischen Menschen, Schrate, Trolle, Werwölfe und noch so manch anderes Wesen aus der magischen Welt. Leblos, stöhnend, zerfetzt. Die Luft war erfüllt mit all den Lauten jener, die suchten oder aber gerade starben. Es stank entsetzlich nach Exkrementen, altem Blut und dem Schleim verwesender Eingeweide. Ein Festmahl für all die unzähligen Fliegen, die wohl jeden ihrer Verwandten herbeigerufen hatten.
Nur Utgris Zwerge fehlten. Wo waren sie nur? Zwerge, das waren nämlich diejenigen, welche sie am dringendsten brauchten. Jetzt und hier! Die besten Baumeister hier in Midgard. Nur sie konnten dieses Chaos an Trümmern wieder in eine Form bringen. Leider waren Utgris Mannen nicht auffindbar. Zumindest nicht lebend. Als wären sie vom Erdboden verschluckt. Ein paar seiner Zwerge hatten sie gefunden, alle erschlagen. Wie es schien, manche von ihnen sogar von scharfer Klinge.
Rigomar hatte schon einen Boten zur Südpforte geschickt, um Riglef um Hilfe zu bitten. Allerdings würde dies dauern. Die mittlere Pforte war eben mal nicht gerade um die Ecke. Hin und zurück, ein paar Tage, gewiss. Zumal sich Zwerge nur ungern auf Pferde setzten. Warum, wusste nur der Fuchs.
Nun ja, so lange mussten sie eben mit dem auskommen, was sie hatten. Zum Glück hatte Lykan die Sache ziemlich gut im Griff. Augenscheinlich. Das Kommando hier auf dem Wehrwall war ihm zugefallen und alle wollten wie selbstverständlich dem neuen Befehlshaber zu Diensten sein. Kaum einer wagte es, seinen Anordnungen zu widersprechen. Oder sich vor der Arbeit zu drücken. Und wenn doch, dann leuchteten die blutigen Augen des weißen Wolfes auf und er aß sich satt. Nicht ohne vorher die Gedärme der Widerspenstigen herausgerissen und sie eigens damit erwürgt zu haben.
Aber so langsam kam Schwung in die Sache. Trotz des Fehlens der kleinen Baumeister! Oder gerade deswegen? Nun ja, irgendwie bildete sich eine Hierarchie heraus und in dem Chaos kam ein wenig Ordnung. Selbst Fosse packte mit an und dies vollkommen uneigennützig. Erstaunlicherweise. Sogar diesen idiotischen Preistreiber hatte er mitgebracht, der sich nun durch die Schuttberge wühlte und nebenher nach Schätzen Ausschau hielt.
Rigomar sollte es recht sein. Denn noch immer war er nicht so richtig bei sich. Dies alles war zu viel für ihn. Wo beginnen, in welcher Reihenfolge und wie viele? Was, wann, wer? All diese Fragen und noch mehr! Nicht mal eine von ihnen konnte er auch nur annähernd zu beantworten, obwohl sie doch so drängend waren.
War etwa alles vorbei? Vorbei, bevor es überhaupt so richtig angefangen hatte? Was war nur geschehen? Noch immer vermochte dies keiner zu sagen.
Und auch Walram war immer noch nicht gefunden. Obwohl doch Xerxes Missgeburt ihnen den Weg gewiesen hatte. Wo war das Vieh eigentlich abgeblieben? Tausende Fragen! Und so wenige Antworten.
Schon immer brauchte Rigomar einen Plan. Bitte schön, immer alles wohlgeordnet und der Reihe nach. Hielten die Dinge sich allerdings nicht an sein Vorhaben, was sie leider hin und wieder tatsächlich wagten, dann verdampfte sein Hirn. So auch jetzt.
Egal, jedenfalls war dies alles hier für Rigomar einfach zu viel. So viele Ecken, zu viele Räume, unglaubliche Mengen an Schutt. So vieles, was gleichzeitig erledigt werden musste. Was zuerst? Was danach?
Immerhin hatte er sich aus der Starre der letzten Stunden befreien können und lief jetzt mit vielen anderen zusammen planlos herum. Zwischen all den Wesen, die schrien und sich gegenseitig schubsten, wo sie sich auch nur begegneten. Angst und Panik in den Gesichtern. Aber auch Unverständnis und Teilnahmslosigkeit.
Ein Kind kam auf ihn zugerannt. Ein kleiner Junge, abgerissen und stinkend. Rotz und Blut im Gesicht. Es war einer von denen, die sich Tag um Tag um die vielen Leichen kümmerten. Er zupfte Rigomar an seinem langen Rock, erst einmal, dann zweimal. Bis der Junge die Aufmerksamkeit fand, die er sich erhoffte.
„Lykan schickt mich. Sie haben ihn gefunden“, flüsterte der Junge mit dünner Stimme.
Rigomar war sofort hellwach. Denn er wusste sofort, was das Kind meinte.
„Und? Lebt er?“, wollte der Zauberer mit belegter Stimme wissen.
„Weiß ich nicht“, antwortete der Junge traurig.
„Natürlich nicht. Logisch. Wer weiß denn hier schon überhaupt irgendetwas“, schniefte Rigomar und stieß den Boten achtlos beiseite.
Der schmächtige Junge taumelte und streckte dem Zauberer Hilfe suchend die Hand entgegen. Was sollte denn das? Was kümmerte ihn ein Knabenkörper, an dem man die Rippen zählen konnte. Rigomar schnaufte aufgebracht. Der Junge stürzte. Und machte sich klein, als Rigomar achtlos über ihn hinwegstieg.
Verzweifelt suchte sich der Zauberer den Weg in das Innere der Festung zu bahnen. Durch die vielen Gänge und zahllosen Treppen hinauf und hinunter. Über Trümmer hinweg und unter Trümmer hindurch. Blut und Eingeweide machten den Boden glitschig. Ein Festmahl für all die vielen Ratten, die sich ungeniert am Fleisch bedienten. Aber nicht nur sie. Auch etliche der Werwölfe machten auf ihre Art reinen Tisch. Selbst ein paar Schrate konnte Rigomar entdecken, auch einen Troll, die ein paar schmackhafte Bissen für die nächste Mahlzeit beiseitelegten.
So ist da eben, dachte Rigomar weise. Leben kommt, Leben geht. Leben nimmt Leben. Und jenes, welches geht, bringt zuvor wieder Neues hervor.
Nun ja, es hatte wohl alles seine Richtigkeit. Er musste weiter. Hindurch, durch all diese Wut der Götter.
Rigomar wurde beiseitegeschoben, gestoßen, beschimpft und bespuckt. Und dann und wann wieder zurückgedrängt. Keiner hatte Achtung vor ihm, keiner nahm ihn für voll. Heute war er nicht nach Walram der zweite Mann auf dem Wehrwall, sondern nur ein verstörtes Wesen. Ein Teil der Masse, mehr nicht. Wie alle anderen auch.
Doch irgendwie hatte er es irgendwann dann doch geschafft. Erschöpft und ziemlich ramponiert betrat Rigomar den großen Saal und sah sofort Lykan. In einer großen Traube von Wesen stand dieser führende Wolf und trieb seine Untergebenen an, die staubbedeckt und mit blutigen Händen versuchten, etwas freizulegen.
Dahinter und dazwischen überall Leute und Wesen, die irgendetwas säuberten. Irgendetwas beräumten, irgendetwas abstützten. Feiner trockener Staub schwebte in der Luft, hielt das Licht zurück und reizte die Kehle. Wie überall auf seinem Weg hierher.
Er war nicht klein, der Trümmerhaufen, mit dem sich die Helfer gerade beschäftigten. Ganz und gar nicht. Was hofften sie hier zu finden? Doch wohl hoffentlich nichts Lebendes? Nichts hätte diese Unmengen an Gestein unbeschadet überstanden. Wenn etwas sich unter diesem Haufen befand, dann war es nicht mehr als klebriger Brei. Also, was sollte dies hier? Weshalb hatte man ihn rufen lassen?
Rigomar trat näher.
„Was gibt es? Du wolltest mich sehen?“, schnauzte der Zauberer seinen Lieblingsfeind an.
„Warte!“, raunzte Lykan ebenso unfreundlich zurück.
Dann kümmerte er sich nicht weiter um ihn. Gerade wollte Rigomar giftig werden, da durchfuhr ihn ein Schlag, ganz so wie ein Blitz.
Walram! Sie suchen nach Walram! Und glauben, sie hätten ihn gefunden. Hier! Unter all diesen Massen an Schutt.
Rigomar lief es kalt über den Rücken. War dies das Ende? War Walram tot? Diese Mengen an Gestein! Schwer, scharf, tödlich. Stein gegen Fleisch! Dies konnte der Herr auf dem Wehrwall nicht überlebt haben! Keiner konnte das. Was nützte schon die Unsterblichkeit, wenn man zermatscht und zerfetzt wurde.
Fast wie von selbst schob er sich näher an den Haufen. Mit bebendem Herzen und zitternden Knien drängelte Rigomar sich einfach zwischen die schwitzenden Körper hindurch, die mit blutenden Händen Stein um Stein dem Haufen entrissen und emsig beiseite trugen. Wütende Blicke und grimmiges Knurren störten ihn dabei nicht weiter. Er war er und die anderen ein Nichts! Ganz in Walrams Tradition.
Und dann sah er, was sein Unterbewusstsein zu sehen erhoffte, was er aber nicht einmal zu denken gewagt hatte. Der große Haufen war keineswegs ein Ganzes. Vielmehr ein labiles Gebilde, von etlichen Streben und kleinen Säulen und in sich stabilisiert. Sie gehörten zu dem kleinen Wandelgang mit all den verspielten Deckenbögen, der sich einstmals an den Wänden um den ganzen Saal wand. Herabgestürzt waren sie nun. Umgefallen und hatten sich schräg an der Wand verkeilt. Es gab Hohlräume, sogar jede Menge.
Also gab es auch Hoffnung. Lykans Blick traf sich mit dem von Rigomar. Ganz klar, beide dachten das Gleiche. Vielleicht hatte es das Schicksal gut gemeint. Aber nur vielleicht.
Der Zauberer trat wieder zurück. Die Arbeit der Helfer war jetzt um vieles wichtiger. Er selbst war nichts ohne seinen Herrn. Wo war nur Xerxes Ausgeburt? Das Vieh wäre jetzt bestimmt äußerst hilfreich, so klein, wie es war.
Klein! Genau! Rigomar sah sich um. Bückte sich und riss einen der vielen kleinen Wichtel von den Beinen, die hier überall umherwuselten und den Staub zusammenfegten, um ihn anschließend in Minieimern davonzutragen. Er setzte das heftig zappelnde Wesen dort auf den Haufen, wo sich ein etwas größeres Loch befand.
„Such deinen Herrn!“, befahl der Zauberer.
Große Kulleraugen schauten ihn fragend an. Gerade wollte Rigomar seinen Befehl wiederholen und mit etwas Schärfe seiner flachen Hand würzen, als der Kleine verstand. Und schon krabbelte er los. Schniefend, aber flink. Den Trümmerhaufen hinauf, mal nach links, mal nach rechts. Dann wieder ein Stück zurück. Ein weiteres Loch! Versteckt, kaum zu sehen. Ein Eingang? Hm. Vorsichtig drückte der Kleine sich in das enge und scharfkantige Loch und war schon verschwunden.
Lykan runzelte die Brauen. Jetzt hieß es warten. Gewiss, es gab ein Risiko. War der Kleine ungeschickt oder der Schutt instabil, nun ja, nichts ist umsonst. Aber alles besser, als nur herumzustehen und zu warten. Irgendetwas hatte er schließlich tun müssen. Und so schlecht war die Idee nicht. Wie gesagt, jetzt musste sich zeigen, ob er den richtigen Wichtel gegriffen hatte. Alles hing von dem wuseligen Wesen ab.
Rigomar hörte das unwillige Schnaufen des Werwolfs in seinem Rücken wohl. Brachte seine Anweisung den Haufen zum Einsturz, dann würde ihn Lykan gleich an Ort und Stelle zerreißen. Hatte er Erfolg, dann würde der weiße Wolf dies nie zugeben. Aber er selbst würde es wissen. Und sollte Walram Glück haben, dann irgendwann auch er. Das reichte.
Doch halt! Da tat sich etwas! Ein kleiner staubbedeckter Kopf tauchte zwischen all dem Schutt auf. Nicht dort, wo er noch vor Kurzem verschwunden war. Interessant! Und noch besser! Der Kleine winkte aufgeregt seinen Artgenossen zu, die in der Nähe herumzappelten und keinen Augenblick ohne Schnattern auskamen. Sie alle stürzten wie einer heran und vergaßen sogar ihr Wispern. Gleich darauf ließen die Wichtel ihre Eimerchen fallen, schnappten sich Werkzeug unterschiedlichster Art und krabbelten in die verschiedenen Löcher.
Jetzt war auch endlich Rigomar an der Reihe. Nur kurz wisperte sein erwählter Wichtel mit ihm, dann verschwand dieser wieder. Nun ja, so viel gab es ohnehin nicht zu sagen. Das Wie war nicht wichtig, nur das Was!
Zufrieden drehte sich Rigomar zu Lykan um. Und musterte diesen betont langsam und hämisch von unten nach oben.
„Sie haben ihn. Ihn und noch zwei Schrate, die sein Leben womöglich gerettet haben“, ließ er den Werwolf von oben herab wissen. „Die Kleinen holen ihn jetzt. Sie werden den Haufen abstützen und einen anderen Ausgang schaffen. An seinem Fuß, wenn ich es richtig verstanden habe.“
Triumphierend zeigte der Zauberer Lykan seinen Rücken, um irgendwo einen Arzt aufzutreiben. Die roten und wütenden Augen waren ein Hochgenuss. Vielleicht fand der Tag ja doch noch ein gutes Ende.
„Ach so“, rief er noch vom Ausgang her. „Und ja, dein Herr lebt!“
Immer wieder schielte Stefan hin zu Lina, dem Zimmermädchen. Besorgt. Er beäugte sie. Und sie glotzte misstrauisch zurück.
Hübsch sah sie aus. Kräftig, groß und selbstbewusst. Mit Rundungen versehen, welche die meisten Kerle innerhalb der Festung um den Verstand brachten. Wenngleich Stefan eher das knabenhaft Schlanke bevorzugte, so musste er dies doch neidvoll zugeben. Lina war schon eine Rose unter den Rosen. Etwas Besonderes. Von Gestalt und Wesen.
Und in diese Blume verguckte sich sein Bruder Julian. Ein Blick reichte und der Erbe der Adlersteiner stand vom Donner gerührt. Obwohl er die Rose angeblich noch nicht pflückte. So munkelte man. Die Liebe sei bislang nur platonisch, so wurde allgemein behauptet. Dafür aber innig.
Und Stefan stimmte dieser Einschätzung zu. Küsse hatte er gesehen, heiß und feurig, wenn er die beiden dann und wann überraschte. Umarmungen und Streicheleinheiten, voller Sehnsucht und Begierde. Aber niemals auch nur ein bisschen mehr nackte Haut als schicklich. Mehrfach hatte er dies überprüft, in voller Absicht und aus mehreren geheimen Winkeln heraus.
Für ihn unverständlich. Denn er nahm sich, was er wollte und wo er wollte. Mädchen, Jungen und dann und wann sogar ein Schaf. Schon seit seinem zwölften Lebensjahr. Vom Vater begeistert beobachtet, von der Mutter toleriert. Von Julian voller Ekel und abschätzig bedacht.
Lina! Seines Bruders Edelstein! Ja, das war sie.
Die frische Wäsche hatte sie gebracht. Auf dem großen Tisch ausgebreitet, um sie zu falten und zu sortieren. Etwas gebeugt huschte sie hin und her. Und streckte dabei ihren herrlichen wohlgeformten Hintern in die Höh. Und ihm entgegen. Stefan wurde ein wenig schwarz vor Augen. Die Knie wurden ihm weich. Sein Glied füllte schon die Hose und wollte hinaus. Kleine Schweißtropfen tummelten sich auf seiner Stirn. Er konnte nichts dagegen tun. Schon längst hatte sein drittes Hirn das Kommando übernommen.
Warum pflückte sein Bruder nicht diese saftige und reife Frucht? Er würde es tun. Ohne zu zögern. War sein Bruder etwa nicht der Mann, den er vorgab? Schüchtern? Unsicher? Oder gar impotent? Nun, irgendwann würde es sich erweisen. Im Moment aber waren ihre Brüste, die sanft über die Wäsche glitten, fehl am Platz. Lina lenkte ihn nicht nur ab, sie störte geradezu.
Überrascht hatte sie ihn. Allein im Zimmer seines Bruders. Zum Glück war er gerade fertig mit der Durchsuchung. Jetzt stand Stefan am Schreibtisch und tat so, als wolle er seinem Bruder eine Nachricht hinterlassen. Und wartete, dass Lina endlich wieder verschwand. Zum Glück hatte das Mädchen nichts gesehen. Nichts mitbekommen. Oder doch?
Nur mit Mühe löste sich Stefan von seiner Begierde. Und dann husche Lina auch schon wieder hinaus und nahm seine Lust mit. Stefan atmete ganz tief durch. Und machte dort weiter, wo er aufgehört hatte.
Fassungslos drehte sich Stefan von Adlerstein im Zimmer seines Bruders wie ein Kreisel. Wieder und wieder. Überall, wo er hinschaute, nichts als Ordnung. Einfach widerlich! Und seiner Meinung nach unmännlich. War dies tatsächlich sein Bruder? Oder hatten all die anderen recht, die behaupteten, dass sie nur über ihre Mutter verwandt waren. Dann aber war Julian der Bastard. Ganz klar!
Am liebsten hätte er alles durcheinander geworfen. Zertrümmert und zerstört. Die Lust in ihm drängte danach. Nur hätte Julian dann gewusst, dass er hier herumschnüffelte.
Zwar waren die Zimmer der Brüder untereinander nicht tabu, aber diesmal hatte Stefan nichts Gutes im Sinn. Finden wollte er etwas. Irgendetwas, aus dem man seinem Bruder einen Strick drehen konnte. Eine Art Beweis. Für irgendeine Art von Verrat. Ein guter Freund riet ihm zu dieser List. Ein Freund, der zufällig Welf hieß und welcher im Moment der wahre Herr auf Adlerstein war. Welf, der glorreiche Retter! Welf, der den Marater Aufstand blutig niederschlug und dem Lehen die Freiheit bewahrte.
Man müsse einen Verdacht erwecken, so sagte ebendieser neue Freund. Einen Verdacht, um seinen Bruder zu belasten. Dessen Ruf zu schädigen, ihn lächerlich zu machen. Und so zu entmachten. Ein altes Spiel! Ein bewährtes Spiel!
Denn Stefan hatte Pläne. Er wollte hoch hinaus. Der Erste unter vielen sein in diesem Lehen. Bislang stand er nur an dritter Stelle. Sein Vater, immer noch ausnehmend kräftig und voller Leben, führte das Lehen unangefochten. Und in der Erbfolge stand außerdem noch sein Bruder vor ihm. Es wurde Zeit, dies zu ändern.
Schon lange hatte Stefan sich damit beschäftigt, wie er die beiden, ohne Schaden für ihn, aus dem Weg räumen konnte. Und nun kam ihm der Zufall zu Hilfe.
Das Auftauchen der Werwölfe hatte seinen Vater in einen Schockzustand versetzt. Er war nicht mehr der Alte. Lag nur noch stumm in seinem Bett und sabberte vor sich hin. Fast regungslos, mit allzeit geöffneten starren Augen. Man musste ihn füttern und anschließend die Laken wechseln, die mit Urin und Kot beschmutzt waren. Keiner vermochte zu sagen, ob der alte und starke Ritter sich jemals wieder von seinem Lager erheben würde. Und schon gar nicht, ob dieser dann auch noch alle Sinne beisammenhätte.
Während Julian nach außen hin Traurigkeit zeigte und selbst die Mutter verschnupft durch die Gegend rannte, so freute sich Stefan doch umso mehr über dieses Geschenk des Schicksals. Er glaubte nicht an die Wiederauferstehung seines Vaters. Somit war dieser also aus dem Rennen. Und nur noch sein Bruder ein Hindernis auf dem Weg zur Macht.
Doch da kam ihm der Zufall ein weiteres Mal zu Hilfe. Zusammen mit den Wölfen tauchte auch dieser große Krieger auf. Vom ersten Augenblick an war Stefan Wachs in seinen Händen. Sein Hirn folgte begeistert dem anderen Willen. Sein Herz fühlte sich umsorgt und geborgen. Und sein Penis suppte jedes Mal verräterisch und wollte an die frische Luft.
Vom ersten Augenblick an waren die beiden natürliche Verbündete. Voll Vertrauen erzählte Stefan Welf von seinen Plänen. Und stieß auf offene Ohren.
Und wurde seitdem sanft geleitet. Während Stefan nämlich über Stahl oder Gift nachdachte, riet ihm sein neuer Freund zu subtileren Methoden. Für die sich Stefan so nach und nach begeisterte, umso mehr er von ihnen begriff.
Und obwohl Welf eigene und düstere Pläne im Hinblick auf die Nachbarn der Adlersteiner verfolgte, in welche er Stefan nur teilweise einweihte, so fand er doch immer wieder Zeit für ihre Hinterlist.
Tag für Tag hockten die beiden zusammen im großen Palas der Burg. Denn dort hatte sich Welf einquartiert. Gleich nach seiner Ankunft und wie selbstverständlich. Der alte Ritter lag krank darnieder und kein anderer wagte etwas zu sagen. Zudem war Welf der glorreiche Retter, der den Adlersteinern in höchster Not zu Hilfe eilte und den Marater Aufstand blutig niederschlug. Und, na ja, außerdem stand sein kampferprobtes Heer vor den Mauern der Stadt. Und dieses war größer als das der Adlersteiner und der Marater zusammen.
Wer also wollte seine Stimme gegen diesen neuen Gast erheben, der sich aufführte wie ein König. Julian ganz bestimmt nicht. Dieser hatte genug damit zu tun, seine eigene neue Stellung zu festigen. Denn solange der Vater handlungsunfähig war, war er das Gesetz auf Burg Adlerstein und im Lehen.
Was nicht jedem zu Stefans Freude gefiel. Julian hatte nicht die Aura des Vaters. Er war nicht der große Kämpfer, der große Held, dem man voll der Verehrung folgte. Er war eher ein Denker, der alles drei- oder viermal durchkaute, bevor er handelte. Wenn er es denn überhaupt tat. Im Grunde nicht das Schlechteste, aber die meisten schliefen dabei ein. Und Respekt gewann man bei den Leuten auch nicht besonders schnell.
Stefan sollte es recht sein. Und Welf sowieso. Feixend ersannen die beiden jede Menge Fallstricke, die sie dem neuen Burgherrn in den Weg legten. Anweisungen wurden widerrufen, Befehle insgeheim abgeändert. Und Gerüchte ausgestreut. Selbstverständlich.
Der neue Burgherr stehe mit den Feinden in Verbindung, so hieß es. Mit Gift habe Julian nachgeholfen, um seinen Vater aus dem Weg zu schaffen, so wollten etliche wissen. Mit Dämonen hätte er sich verbündet, um Blut und Elend über die Stadt zu bringen.
Klar doch, alles Schwachsinn. Aber Menschen glauben, was sie glauben wollen. Und je hartnäckiger sich ein Gerücht hält, umso mehr Chancen besitzt es, zur Wahrheit zu werden. Steter Tropfen höhlt den Stein. So heißt es doch, oder?
Und so liefen mit der Zeit immer mehr Untergebene durch die Burg und die Stadt, die ihren neuen Ritter argwöhnisch beäugten. Und seine Befehle nur mürrisch und widerwillig befolgten. Welf war ein Meister der Hinterlist. Eine gute Idee von Stefan, ihm bereitwillig zu folgen. Dies zahlte sich mittlerweile aus. Oh ja.
Und genau deswegen stand Stefan heute im Zimmer seines Bruders. Er hatte schon alles durchwühlt, um irgendetwas Belastendes zu finden, um Julians Ansehen weiter zu schädigen. Doch es war nichts da. Selbst mit Fantasie konnte man nichts Belastendes konstruieren. Schade! Nun ja, da musste man eben etwas nachhelfen. Irgendetwas verstecken, was gefunden werden soll. Ein wenig mehr Aufwand, aber genauso effektiv.
Die Tür klappte erneut. Lina war zurück. Überrascht blieb sie einen kurzen Moment stehen, als sie Stefan bemerkte. War sie deshalb vorhin so unvermittelt verschwunden, weil sie seinem gierigen Blick entgehen wollte?
Es schien ganz so, ihrem enttäuschten Gesichtsausdruck nach, indem sich so langsam Misstrauen malte. Warum war er noch hier, so mochte sie denken. Was wollte Julians Bruder hier, was hatte er im Sinn? Lina war angespannt, ihre Körperhaltung verriet dies ganz deutlich.
Aber nicht nur sie. War Stefans Erregung gerade abgeklungen, so meldete diese sich nun mit Macht zurück. Begehrlich strichen seine Augen über diesen jungen Körper voller Leben. Das lose Haar, die vollen Lippen! Die frische rosige Haut! Und der Geruch erst! Der machte ihn wahnsinnig. Leichter Schweiß, der wie ein sanfter Film glänzend auf der entblößten Haut lag. Nicht stechend, nicht aufdringlich. Ein sanfter salziger Geruch, frisch, wie die Brise eines Meeres. Ein Duft, der Verlockung hieß. Und Stefan magisch anzog.
Seines Bruders Perle! Sie war vergeben, aber was wollte sie schon tun! Julian war nicht da. Und so war er der Herr. Und sie zum Dienst verpflichtet.
Ach, was würde sein Bruder vor Wut heulen, wenn er seine Liebste jetzt nahm! Ob sie es ihm sagen würde? Ein interessanter Gedanke! Wenn nicht, dann könnte er wiederkommen. Immer wieder. So oder so, er würde seinem Bruder wehtun. Gab es bislang noch letzte Hemmungen, dieser Gedanke schwemmte sie hinfort.
Und ehe Stefan noch wusste, wie ihm geschah, stand er schon bei Lina. Ganz dicht. Spürte ihren feuchten Atem auf seiner Haut. Getrieben umfasste er ihren Kopf. Und drängte sein steifes Glied an ihre Schenkel. Wie von selbst fing Stefans Unterkörper an, sich zu bewegen. Auf und ab. Sein Penis war begeistert und schrie nach mehr. Diese sanfte Berührung! Dieser sanfte Druck! Dieses wundervolle seidige Haar. Warme rosige Haut! So fest und doch so weich. Augen so groß. Lippen so voll. Und erst dieser Geruch! Betörend. All dies machte ihn wahnsinnig.
Stefan spitzte seinen Mund, bereit zum Küssen. Seine Zunge wollte er in die feuchte Höhle stoßen, ihren Speichel schmecken. Sie wollte es doch auch! So redete es sich Stefan ein. Jeder wollte ihn, so war es doch immer.
Doch Lina wollte nicht. Ihr Gesicht schien ängstlich. Aber die Augen! Die funkelten. Wütend und voller Hass!
Anfangs war Stefan enttäuscht, doch dann freute es ihn umso mehr. Julians Liebste litt! Und wie. Und dies machte die Sache noch viel interessanter. Fremder Schmerz hatte Stefan schon immer angemacht. Und so erwachte seine Geilheit erst so richtig zum Leben. Die Vorhaut rutschte zurück und der erste Lusttropfen erschien auf der Eichel.
Dann eben keine Knutscherei! Wenn sie es anders haben wollte, kein Problem. Stefan riss das Mädchen herum, und legte es bäuchlings über den Tisch mit der Wäsche. Beugte sich über ihren Rücken und drückte seine Wange an die ihre. Was für ein Gefühl! Es knisterte regelrecht, als die Wärme ihrer beiden Körper sich mischte. Keuchend und ungeduldig schob Stefan ihr die Röcke hoch. Schlug sie über den Rücken und den Kopf. Sah das nackte rosige Fleisch, spürte diesen herrlichen Hintern. Muskulös und wohlgeformt.
Schwer ging sein Atem, als er ihr mit Gewalt die Beine spreizte und mit seiner Nase immer wieder abwechselnd in beide Spalten eintauchte. Lina stand ganz still. Vollkommen angespannt. Machtlos und voller Hass. Sie wusste, wozu des Ritters Jüngster fähig war. Selbst zu einem Mord. Mit einem der Messer vielleicht, die Stefan ständig am Gürtel trug.
Mittlerweile nahm Stefan die Zunge zu Hilfe. Hinten, vorne, das war ihm ganz egal. Hauptsache samtiges warmes Fleisch. Linas hilfloses Wimmern störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil, es machte ihn nur noch mehr an. Schon erhöhte sich der Druck in seinen Lenden. Schnell stand Stefan auf und zerrte am verschnürten Latz seiner Hose.
Da klappte erneut die Tür. Nicht Julian, sondern Erwein. Erwein! Linas Bruder und ebenfalls Diener hier auf der Burg. Von Stefans Last befreit, erhob sich Lina ein wenig und stützte die Arme ab. Erblickte ihren Bruder unter Tränen.
„Erwein, bitte!“, bat sie diesen fast flüsternd um Hilfe.
„Lina? Was ...“, brachte Erwein gerade noch heraus, dann begriff er.
Wut verzerrte sein Gesicht. Und er kam näher. Direkt auf Stefan zu, der sich ihm mittlerweile zugewandt hatte. Wie zwei Kampfhähne standen die beiden sich gegenüber. Der eine wollte etwas tun, der andere wartete darauf. Stefan zitterte geradezu vor Begeisterung. Was für eine Dramatik! Bruder und Schwester und alle beide in seiner Hand! Im Zimmer seines Bruders. Sollte der junge Mann doch zuschlagen, dann konnte er sich die nächsten Tage mit Folter vergnügen.
Aber Erwein tat ihm nicht den Gefallen. Die Wut in ihm wich und machte einer grenzenlosen Verzweiflung Platz. Nun gut, auch nicht schlecht.
„Mach mir die Hose auf!“, flüsterte Stefan höhnisch, ohne die Linas Bruder aus den Augen zu lassen.
Und das tat dieser. Nach einigen wenigen Augenblicken und widerstrebend.
„Hol ihn raus!“, forderte Stefan weiter.
Erwein zitterte, als er diesem Verlangen nachkam. Was für eine Schmach!
Das sah Stefan natürlich ganz anders. Diese Fülle an Macht, dafür lebte er. Sie machte ihn wild, sie machte ihn heiß. Und deshalb ergoss er sich schon in Erweins Hand. Aber so schnell sollte es noch nicht enden. Stefan hatte noch nicht genug. Und ob sein Bruder mittlerweile zurückkam oder nicht, dies interessierte Stefan nicht. Sollte Julian doch sehen, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Selbst mit seinem Spielzeug.
„Jetzt hilf mir und führ ihn ein“, herrschte Stefan den Diener an, der von Tränen fast blind war. „Los, mach schon! Zuerst vorne, dann hinten! Zieh dich aus! Streichle mich! Reib dich an mich!“
Die Zeit verging. Es dauerte länger und wurde besser, als Stefan ursprünglich geplant hatte. Umso mehr die beiden jammerten, umso lauter stöhnte er.
Befriedigt verließ Stefan schließlich nach mehr als einer Stunde das Zimmer seines Bruders, ohne sich um die beiden Diener weiter zu kümmern. Das war schon mal nicht schlecht. Und er würde es bei Gelegenheit wiederholen. Noch viele Male, wenn möglich.
Auch eine Art, um seinen Bruder ins Innerste zu treffen. Oder sollte er es ihm sagen? Um anschließend das Entsetzten zu genießen?
Unten in der großen Halle kam ihm Julian entgegen. Staubig und zerzaust. Frech grinste ihn Stefan an, von unten bis oben.
„Was ist?“, wollte sein Bruder wissen. „Hast du den ganzen Tag wieder gefaulenzt? Oder irgendwelche Kinder geschlagen? Wann fängst du endlich an, etwas Vernünftiges mit deiner Zeit anzufangen?“
„Oh, das habe ich!“, entgegnete Stefan und grinste noch breiter. „Das das habe ich wirklich. Du würdest dich wundern.“
Rigomar war erschöpft. Viel mehr Kraft vermochte er nicht mehr aufzubringen. Zum Glück waren es die letzten Stufen. Wenngleich sie genauso wie ihre Brüder und Schwestern feucht und glitschig waren. Mehr als einmal wäre er fast gestürzt und hätte seinen Herrn dabei mit umgerissen, den er hilfreich mit seinem Arm stützte.
Ein Sturz wäre ihm gar nicht gut bekommen. Oh nein! Obwohl Walram noch immer über alle Maßen schwächelte, für eine Bestrafung hätte es allemal gereicht. Zum Glück konnte er immer noch im letzten Moment einen Fall verhindern. War es Glück, Zufall, oder Instinkt? Rigomar wusste es nicht und letztlich war es auch so was von egal. Vollkommen egal, seine Gesundheit jedenfalls sagte Danke.
Blutige Fingerkuppen, ein aufgeschürftes Knie! Klasse! Dazu jede Menge zerfetzte Haut an den Knöcheln und am Handballen. Ganz toll!
Das war der Preis. Ein kleiner Preis für das Wohlbefinden seines Herrn, gewiss. Aber dennoch hätte Rigomar heulen mögen. Er war nun mal nicht der Stärkste. Hätte Lykan den Zauberer begleitet, es wäre ihm lieber gewesen. Weniger blutig und weniger schmerzhaft. Ganz sicher. Aber Walram wollte ihn, warum auch immer.
Obwohl der Herr auf dem Wehrwall dürr war, so war er doch groß und knochig. Seine schwere Robe wog allein soviel wie Rigomars gesamte Kleidung. Es brauchte also gar nicht viel, um Rigomar an die Grenzen seiner Kräfte zu bringen.
Ach, das Leben war schwer! Weichwurst hatten die Menschen ihn schon immer genannt. Jammerlappen. Und dann und wann auch schon mal schlabbriges Wiesel!
Hatten diese Stinker recht? Viel im Kopf, nichts in den Titten! So sagt man ja wohl, oder? Nun ja, wenn man intelligent war, dann war der Neid und die Bosheit nicht weit. Und Rigomar war sehr intelligent! Kaum aus dem Mutterleib gekrochen, klopfte er schon kluge Sprüche. Wenngleich ihn damals kaum einer verstand. Aber seitdem ächzte er in den Diensten Dümmerer, die eigenartigerweise alles besser wussten. Und dazu noch ständig meckerten, wenn sie nicht gerade blaue Flecke verschenkten. Ach ja, das Leben war wahrlich nicht leicht.
Aber nun war es zum Glück gleich geschafft. Fünf Stufen noch, dann vier, jetzt noch zwei. Rigomar streckte sich ein wenig, lehnte sich kurz gegen die schroffe Felswand und verschnaufte. Walram, noch immer gestützt, tat es ihm ächzend gleich. Auch er hatte nicht mehr viel Kraft übrig. Jede Menge Wunden und Quetschungen, von rüdem Stein geschlagen, machten ihm immer noch das Leben schwer. Zwei gebrochene Rippen taten ein Übriges. Bei jedem Schritt kitzelten sie die Lunge und mahnten zur Vorsicht.
Aber der dunkle Zauberer wollte unbedingt hier herunter. Musste hier herunter, sein Seelenfrieden befahl es ihm. Um nach dem Stein zu sehen. Oder besser gesagt, was noch von ihm übrig war.
Schon tagelang hatten fleißige Hände auf Walrams Befehl hin die Gänge und Treppen in die Tiefe wieder gangbar gemacht, während er sich selbst, noch so gut wie tot, auf seinem Lager rekelte. Nun aber war es geschafft und den dunklen Zauberer hielt nichts mehr auf den weichen Fellen.
Wider aller Wahrscheinlichkeit hatte Walram die vielen Stunden, oder besser gesagt, die vielen Tage, in seinem staubigen Gefängnis unter den Trümmern überlebt. Zusammen mit den beiden Schraten, was das Wunder noch größer machte. Eine lange Zeit kämpfte er anschließend noch mit seinem Körper. Und nur eine zarte Feder bewies, dass noch Leben in diesem war.
Doch es wurde wieder mehr. Es wurde wieder besser. Es regte sich, es vermehrte sich. Das Leben kehrte zurück, mit aller Macht und Wut. Sehr schnell sogar. Nicht zuletzt deswegen, weil Rigomar tatkräftig mit dem extrahierten Gebräu aus Welfs Kessel nachhalf. Zum Glück hatte sich Rigomar dies von seinem Sohn noch zeigen lassen, bevor sich ihr Verhältnis, nicht zuletzt durch seine Schuld, massiv verschlechterte. So ging es Walram also besser. Von Tag zu Tag und wie gesagt, weitaus schneller als erwartet.
Von den Wurzeln des Gebirges her, in denen der magische Stein bislang sein Zuhause fand, kamen dagegen schlechte Nachrichten. So ziemlich alles war dort unten zerstört und der Stein offensichtlich nicht mehr da. Ebenso wie die Zwerge, die ihn bewachen sollten. Ein schmaler und beschwerlicher Weg, über viele Trümmer hinweg, führte noch in die Kammer.
Nun ja, aus dem wunderschönen Raum dort unten war ein großer und hässlicher Saal geworden. Dort, wo noch vor Kurzem die Säule aus Licht in einem grandiosen Blau strahlte, befand sich jetzt ein tiefer Spalt, der sich ohne ein sichtbares Ende in den Fels hineinschob und aus dem ein blendend weißes Licht gleißte. Welches all die Neugierigen blendete. Es summte leise und zitterte beständig. Ein jeder vermochte dies zu spüren.
Und es jagte all den Wesen Angst ein, waren sie fern oder auch weniger fern. So fanden sich letztlich nur einige wenige Verzweifelte, die ihren Geldbeutel höher einschätzten als ihre Angst. Um für Walram etwas zu bewachen, was gar nicht mehr da war.
Der Moment der Ruhe war zu Ende. Zu kurz war er, wie immer. Aber besser als nichts! Ungeduldig und schwer legte Walram seinen Arm um Rigomars Schulter und schob ihn fast vor sich her. Noch eine kleine Anstrengung, hoffentlich. Noch ein kleines Stück Weg, dann war es geschafft.
Rigomar schluckte. Seitdem er Gar befreit hatte, war er nicht mehr hier unten gewesen. Hatte seine Aktion etwa etwas mit diesem Chaos zu tun? War er schuld? Oder Gar?
Nein, das konnte nicht sein! Schließlich war der Stein verschwunden. Und damit hatte er wahrlich nichts zu tun.
Und wenn doch? Warum war er auch immer nur so gierig? Warum war er nur so hinter diesem Wesen her? War es dieser unbändige Wunsch seit alters her nach Rache! Dieser Wunsch, der ihn zu keiner Zeit losließ? Oder der nach Macht? Brauchte er ein Geheimnis nur für sich allein? Um Walram eine lange Nase zu drehen? Was war das nur, mit ihm und dem Leben? Konnte er sich nicht einfach nur den Tag so angenehm wie möglich machen, wie andere auch? Hätte er die Mutter aller Krankheiten dort gelassen, wo sie war, vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen. Walram hätte noch seinen Stein und die Festung würde nicht im Chaos versinken. Alles hätte seine Ordnung und sie lägen im Plan.
Rigomar seufzte. Wenn, ja wenn er sich doch nur aus allem heraushalten könnte! Vielleicht sollte er sich eine kleine Auszeit nehmen. Da waren ja noch die dunklen Höhlen in diesem tiefen Tal, die er erforschen wollte. Er hatte es nicht vergessen. In seinen Träumen war er schon längst dort gewesen.
Hm, und dann? Ja dann würde er bestimmt schon wieder in anderen Angelegenheiten herumstochern. Und zu welchem Zweck? Um was zu tun?
Walrams Faust landete unsanft auf seinem Arm. Hatte er etwa laut gesprochen? Wenn ja, schien es dem Herrn auf den Wehrwall nicht weiter zu interessieren. Denn seine grimmigen Augen starrten geradeaus und Rigomar war nicht mehr als eine Stütze für ihn. Der Zauberer folgte dem Blick seines Herrn und erstarrte. Sie waren angekommen. Nichts war hier unten mehr wie vordem. Keine Gänge, keine Kammern. Keine Säulen, keine Stufen. Die Wachstube war hinweggefegt, als hätte sie nie existiert. Türen gab es nicht mehr. Stattdessen nur ein riesengroßes Loch im Fels. Und dahinter noch ein viel größeres Loch. Und mittendrin ein Spalt ins Nichts, so groß wie ein kleines Kind.
Rigomar wusste natürlich Bescheid, er hatte ganz genau zugehört. Und dennoch war er beeindruckt. Denn das, was er sah, ließ sich nicht in Worte fassen. Schönheit sah er, Größe sah er. Chaos, wohin man auch blickte. Und dennoch einer höheren Ordnung unterworfen. Es war etwas, das naheging, das einen berührte. Er hörte das sanfte und einschläfernde Summen und das angenehme Kribbeln auf der Haut. Und fand Ruhe und Schrecken zugleich.
Rigomar spürte, wie Walram sich von ihm löste, auf den er in den letzten Momenten gar nicht mehr geachtet hatte. Gramgebeugt schleppte sich der dunkle Zauberer voran.
Wie in Zeitlupe, immer einen Schritt vor den anderen. Tränen rannen über sein zerfurchtes Gesicht, während er die Arme flehend zum Kopf erhob. Das Zittern aus dem Spalt ergriff ihn und schüttelte ihn durch, je näher er ihm kam. Aber dadurch ließ der dunkle Zauberer sich nicht aufhalten, nicht dadurch! Schon hatte er den Riss im Fels erreicht und sank vor ihm auf die Knie, während das helle Licht sein Flehen erhörte und seine Hände sanft umspielte. Klagende Laute entrangen sich der wunden Kehle. Sie wurden lauter und schriller. Mehr und mehr, wie die Verzweiflung es befahl.
Schon lange hatte sich Rigomar die Ohren zugehalten, als dem dunklen Zauberer endlich die Kraft verließ und er ohnmächtig und ohne Stimme in sich zusammensank.
Walram kam langsam wieder zu sich. Wieder einmal. Denn dies war mittlerweile sein Tagesablauf.
Schlafen. Manchmal gleich einer Ohnmacht.
Aufwachen. Sich sammeln und ein wenig nachdenken.
Und dann schreien. Stundenlang.
Er wusste nicht, wie lange er schon hier unten war. Lange, jedenfalls. Und noch immer konnte er nicht fassen, was man ihn angetan hatte. Seine Mannen waren verstört, seine Feste lag teilweise in Trümmern. Und das Schlimmste: Der Stein war weg.
Sein Stein! Sein ein und alles! Verschwunden war er, einfach so. Spurlos. Nicht leise, nein. Vielmehr mit einem lauten Knall. Alle konnten es hören und so manche auch fühlen.
Hinweg, einfach so. Ohne irgendein Zeichen zu hinterlassen oder das sich irgendetwas angekündigt hätte. Hinfort! Und mit ihm all seine Hoffnungen, seine Träume, seine Pläne. Sein Herzblut hatte er in diese rote Herrlichkeit investiert!
Was war nur geschehen? Walram war ratlos. Und wütend. Wütend wie nur irgendetwas.
Seine Schreie ohne Unterlass zeugten davon. So laut und schrill und stundenlang. Es war der Wahnsinn, der sich langsam in ihm breitmachte. Wut, Enttäuschung und Wahnsinn, eine sehr explosive Kombination.
Und dazwischen Tränen. Ach, so viele Tränen. Die Felle unter seinem Kopf waren schon regelrecht durchnässt. Man hatte sie ihm untergeschoben, dazu Wein und Fleisch herunter gebracht, damit er es halbwegs bequem hatte und nicht verhungerte.
Aber erst, nachdem man stundenlang versucht hatte, ihn wieder zurück in seine Gemächer zu schaffen. Nur, gute Worte waren vergebens. Psychologische Tricks schon mal gleich. Auch ein sanftes Schieben und Schubsen für die Katz. Und als sich Rigomar und Lykan entgegen besseren Wissens für Gewalt entschieden, gab es als Lohn und Dank dafür jede Menge Brandwunden. So verlegten die beiden sich schlussendlich auf ein unwilliges Schnaufen und beließen den Herrn auf dem Wehrwall dort unten im Grab seiner Hoffnungen. Und genau dort wollte er sein.
Verzweifelt schob Walram eines der Felle über seinen Kopf. In der tröstenden Dunkelheit wollte er seine bitteren Tränen vergießen. Das gleißende Licht, welches aus dem Spalt drang, war wie der reinste Hohn.
Apropos Spalt. Ruckartig setzte sich Walram auf. Der Spalt! Warum hatte er über dieses Teil eigentlich noch nicht nachgedacht? Ernüchtert wischte sich Walram die Tränen aus den Augen. Brachte aber nicht viel. Denn anschließend starrte er wie vergessen in das helle Licht. Und natürlich zauberte dies im Nu wieder neue Perlen aus Wasser und Salz hervor.
Aber egal, davon ließ Walram sich nicht ablenken. Sollte der wässrige Film doch bleiben, wo er meinte, sein zu müssen!
Der Zauberer schloss kurz die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Der Spalt, genau! Eigentlich hatte er bislang nur festgestellt, dass der magische Stein und die damit verbundene Macht verschwunden waren. Und hatte sich daraufhin sofort seinem Trübsal überlassen. Er war hinübergewechselt in eine andere Welt, welche nicht die Seine war. Eine Welt, die ihm Schutz und Glückseligkeit vorgaukelte. Wer wollte es ihm verdenken? Und seitdem hatte er nichts mehr wahrgenommen, über nichts mehr nachgedacht.
Warum eigentlich? Dabei gab es doch hier so viele Rätsel! Und Rätsel waren doch sein Ding! Das Buch! Walram seufzte. Er hätte es mitnehmen sollen. Nun ja, dafür wäre nachher noch Zeit.
Walram rutschte ein wenig auf den Fellen umher, bis seine Knochen es etwas bequemer hatten. Also, der Spalt, ja. Wie war er entstanden? Und was sollte er bedeuten? Waren dies vielleicht die Reste des Rubins? Hatte der sich gewandelt oder irgendetwas geöffnet? Oder war es das, was schon immer hinter ihm war, was er verschließen sollte?
Und wenn es tatsächlich Letzteres war, warum? Wohin führte der Spalt und woher kam das Licht, welches ihm entwich? Utgris Ausführungen in der Vergangenheit waren doch etwas mehr als nur dürftig! Wo steckte der Zwerg überhaupt? Ein schöner König! Jedes Mal, wenn man ihn brauchte, war er nicht da!
Also, was befand sich hinter dem Spalt? Lauerte dort eine Gefahr? Oder eher das Gegenteil? Konnte man ihn durchqueren? Oder konnte ihm etwas entweichen, außer dem Licht? Wartete hinter dem Stein die eigentlich wahre Macht und der Rubin war immer nur ein Siegel? Und er selbst hatte dies bislang nur nicht erkannt?
Jetzt war der dunkle Zauberer hellwach. Fragen über Fragen! Und anstatt ein paar von ihnen zu beantworten, hatte er sich die ganze Zeit wie ein kleines Kind seiner Trauer hingegeben.
All die vielen Tage lang! Verlorene Zeit! Doch damit war jetzt Schluss. Er würde endlich nach oben gehen und sein geliebtes Buch holen. Und danach war eine Rätselstunde angesagt.
So schnell, wie Walram in Trauer versunken war, so schnell löste er sich nun wieder von ihr. Ehe er noch einmal nach Luft japsen konnte, stand er auch schon auf den Beinen und bewegte sich hin zu dem Ort, wo sich ehemals die Tür mit den beiden Zwergen davor befunden hatte.
Doch was war das? Ruckartig verhielt der Zauberer und lauschte. Da war etwas! Undefinierbar und hinter seinem Rücken. Es war ein Schaben, es war ein Kratzen. Hörte er dort gleichfalls ein leises Stöhnen, ein kurzes Jammern? Etwa Laute aus dem Licht, die ihren Weg zu ihm fanden? Alles nur Täuschung? Walrams aufgestellte Nackenhaare sagten etwas anderes. Und wenn sie meinten, dass dort etwas sei, dann hatten sie recht. Immer! Denn sie waren Ausdruck seiner versteckten Sinne, seiner Urinstinkte. Und immer konnte er sich auf sie verlassen.
Ruckartig riss Walram den Kopf herum, dicht gefolgt von dem Rest seines Körpers. Und starrte erneut in das Licht. Oder vielmehr auf das, was in dem Schein war. Was sich in der Lichtfülle bewegte und sich langsam, aber bestimmt, den Weg heraussuchte. War das etwa Haut? Waren das etwa Fingernägel? Ein ganzer Finger sogar? Nein, oh ha, es war sogar ein ganzer Arm. Groß, sogar richtig groß. Viel, viel größer als der größte Arm eines Menschen, den Walram jemals gesehen hatte. Dicht behaart und muskulös. Die neugierigen Finger tasteten hierhin und fühlten dort. Ganz so, als suchten sie etwas.
Oder war es nur reine Neugierde, die sie trieb, nicht mehr? All dies wirkte ein wenig ungelenk, denn da der nackte Oberarm nun fast vollständig den Spalt ausfüllte, hatte er letztlich nur wenig Bewegungsfreiheit.
Zögernd, wirklich zögernd, trat Walram Schritt für Schritt näher. In einer gespannten Körperhaltung, die ihn jederzeit die Flucht ermöglichen würde. Doch noch war seine Neugierde größer. Nur nicht zu nahe! Aber ein kleines Stück ging noch!
Sollte er diese Hand ergreifen? Groß war sie, stark gerötet und mit reichlich Hornhaut bedeckt. Nein, lieber nicht. Das wäre dumm. Denn das fremde Fleisch konnte sein Patscherhändchen ohne große Probleme zerquetschen. Auch strahlte sie eine eigenartige Hitze aus, je mehr er sich ihr näherte. Geistesgegenwärtig zog Walram den Rest einer abgebrannten Fackel aus den Trümmern und legte diese auf die offene Handfläche. Nur ein kurzes Zucken, dann einen Moment der Überraschung. Und endlich schloss sich die Hand zur Faust und die Fackel entflammte.
„Aaargh!“, ertönte ein tiefer und brummender Ton aus dem Spalt. „Wer ist da?“
„Ich!“, antwortete Walram nach anfänglichem Zögern.
Die Neugierde war letztlich stärker als die Vorsicht. Und was wollte ihm das hässliche Wesen schon tun? Jedenfalls nicht viel, solange der Spalt so klein war. Und von der von ihm ausgehenden Hitze war der Zauberer ja gewarnt. Wieder hatten ihn seine Instinkte beschützt. Es war doch eben immer gut, auf sie zu hören.
„Ich? Wer ist ich?“, wollte die Stimme aus dem Licht genervt wissen.
Ja, richtig. Da war doch was. Walram musste grinsen. Aber warum gleich alle Karten offenlegen? Dies hier war seine Welt und seine Festung. Da stellte er die Forderungen und gab die Befehle! Und nicht irgendein Blarrlappen hinter dem Stein!
„Nun ja, ich eben“, gab Walram noch stärker grinsend zurück. „Vielleicht verrätst du mir ja zuerst deinen Namen und dann werde ich sehen, was ich tun kann.“
„Was du tun kannst?“, grollte die tiefe Stimme. „Sag, wie heißt deine Welt? Ist dies Midgard? Bist du derjenige, der den Schlüssel für die Tore von Muspelheim besitzt? Auf dass die Prophezeiung wahr werde?“
Jetzt war Walram doch ratlos, fast schon ein wenig verstört. Was sollte das? Wovon, um alles in der Welt, sprach diese Stimme, die zu dem Arm gehörte. Die Rätsel mehrten sich. Ja, natürlich war er in Midgard! Wo denn sonst? Und was für Tore bitteschön? Muspelheim? Da war doch was! Am besten, er fragte weiter. Reden und zuhören! Ohne dabei selber etwas zu sagen. Das Buch, wenn nur sein geliebtes Buch hier wäre! Später!
„Nun ja, die Prophezeiung. Richtig. Ja, ja. Schönes Wetter heute! Ich tue natürlich, was ich kann.“
Gut so. Ein bisschen gelabert. Nichts ausgeplaudert, nichts versprochen und gleichzeitig unterschwellig nachgebohrt.
„Dann öffne die Tore und lass die Macht des Feuers hinaus. Auf dass wir gemeinsam die Himmelsburg erstürmen und die Welt der Götter ihr Ende findet!“
Jetzt war Walram so richtig baff. So ein starker Tobak war selbst ihm noch nicht untergekommen. Götter, Himmelsbrücke, Feuer! Um was, verdammt noch mal, ging es hier überhaupt? War das Wesen, zu dem der Arm gehörte, etwa irre? Oder war er hier durch Zufall in etwas hineingeraten, von dem er bislang noch nichts wusste. Und welches um so vieles größer war, als alles, was bis dahin sein Leben ausmachte. Gab es noch etwas anderes als die Macht des Rubins? Was wäre, wenn er irgendwann beides hätte? Eröffneten sich hier ungeahnte neue Möglichkeiten?
Urplötzlich zuckte Walram zusammen. Der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder und machte seinen Körper steif. Er konnte sich nicht bewegen, kaum noch atmen. Etwas hatte ihn gestreift und berührte ihn immer noch. Von hinten war es gekommen. Die Hand aus dem Spalt konnte es also nicht sein. Die lag gerade regungslos auf dem Boden und zitterte leicht. Hatte sie etwa auch etwas wahrgenommen?
Die Berührung endete nicht, ganz im Gegenteil. Vielmehr nahm der Druck noch zu. Langsam, immer an seiner Seite entlang, vom Hintern hin zu seinem Oberschenkel. Zart hob es Walrams Hand an und kroch schnurrend darunter. Ein wohliges Zittern übertrug sich auf den dunklen Zauberer. Es kroch seinen Arm hinauf, drang in den Oberkörper ein und streifte das Herz. Aber nur kurz verweilte es dort, bevor es sich seinen Weg weiter hin zu Walrams Verstand suchte und schlussendlich mit ihm verschmolz.
„Du? Mein allerliebstes Buch? Mein Freund, mein Herz? Wie ist das möglich?“, schluckte Walram gerührt.
Erst dann wagte er hinzusehen. Es war nicht das Buch. Eher etwas Hässliches. Kindsgroß, mit spitzen Zähnen. Und vor allem, es lebte. Nein, dies war ganz und gar nicht sein geliebtes Buch. Und dennoch! Es fühlte sich so vertraut an!
Und schließlich sprach das Ding mit ihm. Ohne Stimme und in seinem Kopf. Es dauerte ein wenig, bis Walram verstand. Konnte eigentlich eine Stimme in seinem Kopf nuscheln? Hm, er schaute ganz so aus.
Und nachdem Walram sich wieder rühren konnte und seinen Verstand wieder auf die Reihe bekam, verstand er auch, wessen Kind das Wesen war und was es ihm sagen wollte. Sein Staunen wuchs. Und danach die Wut.
„Mein Buch! Xerxes also, hm. Was sagst du? Die Zwerge? Utgri? Sindri? Nein, das kann nicht sein! Das würde er nicht wagen! Niemand würde dies wagen! Ich würde mit Feuer und Schwert über ihn kommen. Über ihn und alle seines Blutes. Es gibt keinen Ort in diesem Universum, wo er sich verstecken könnte. Selbst die Götter würden ihn nicht beschützen!“
Angelo fror. Sie war weg, diese schützende Wärme, die ihm Sicherheit vorgaukelte. Unwillig verließ der Junge seine Traumwelt auf der Suche nach ihr. Und als der Schleier in dieser sich Welt lichtete, da schaute er den hellen Tag und hörte die Vögel singen.
Und fand sich allein auf einer Decke wieder. Am Feuer saß fast nackt sein Vater und summte halblaut vor sich hin. Seine wohl feuchten Kleider hatte er auf dem Gras zum Trocknen ausgebreitet. Aus einem kupfernen Kessel stiegen Dämpfe empor, welche jede Nase in ihren Bann zog. Daneben brutzelt an einem Stock ein knusprig braunes Kaninchen. Ein paar Meter abseits lag gefesselt und geknebelt Kogan und schmorte halb entblößt in der Sonne.
Instinktiv wollte Angelo zu ihm krabbeln und Schutz suchen. Aber Halt! Was konnte ein Mann schon für einen Schutz bieten, der in Fesseln um sein eigenes Leben fürchten musste.
So zog Angelo lieber die zweite Decke über seine Schulter, mit der sein Vater seine Nacktheit bedeckt hatte.
„Wach bist du also! Wurde aber auch Zeit!“, stellte Velten fest.
„Du bist zurückgekommen?“, fragte Angelo leise.
„Bin ich. Die Götter wollten es so. Sie hatten nichts dagegen, dass ich dich hart angefasst habe. Aber als ich dich verlassen wollte, haben sie mir das wütende Wasser geschickt. Es hat mich fortgetragen, ziemlich weit den Fluss hinunter. Irgendwann hat mich ein am Ufer verkeilter Baumstamm aufgehalten und so konnte ich mich retten. Hat ein bisschen gedauert, bis ich wieder hier war und gesehen habe, was das Schwein so mit dir trieb. Hab ihm gleich eins über die Rübe gegeben, keine Frage. Also, hier bin ich.“
„Ja, hier bist du“, weinte Angelo. „Und, bleibst du?“
Der Junge zitterte bei dem Gedanken, erneut hier allein zurückzubleiben.
„Tue ich. Jedenfalls so lange, bis ich weiß, was die Götter von mir wollen. Im Augenblick sieht es nämlich so aus, dass sie meinen Tod wollen, wenn ich dich verlasse. Also bleibe ich. Vorerst jedenfalls. Vielleicht finde ich ja einen Weg, mich von dir zu trennen, ohne den Zorn der Götter einzufordern.“
„Was werden wir nun tun?“, wollte Angelo zaghaft wissen.
„Erst einmal bleiben wie hier“, knurrte sein Vater. „Der Kerl hat uns gut versorgt.“
„Kogan.“
„Was?“
„Kogan heißt er.“
„Hm, wie auch immer. Jedenfalls haben wir hier alles, was wir brauchen. Du wirst dich ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Auch ich werde mich heute noch schonen, aber schon morgen auf die Jagd gehen.“
„Und dann? Ziehen wir weiter zum Wehrwall und führen unseren Auftrag aus?“
„Nicht so schnell, Bürschchen. Nicht so schnell! Das muss ich mir noch gründlich überlegen. Ich will dir auch verraten, warum. Schon lange, besser gesagt, von Anfang an, habe ich nämlich das Gefühl gehabt, als wenn ich bei dieser Sache draufgehen sollte.“
„Wir könnten aber dann zurück in unser Dorf!“
„Willst wohl wieder zu deinem Ragnar, was?“, höhnte Velten. „Nichts da. Jetzt bist du hier mit mir und machst, was ich dir sage. Du hast doch gerade noch selbst erlebt, was passiert, wenn ich dich nicht beschütze.“
Angelo schlug die Augen nieder und nickte.
„Hat es eigentlich sehr weh getan? Ich meine, was der Kerl mit dir so angestellt hat“, wollte sein Vater interessiert wissen.
Angelo sah nicht das hinterhältige Glitzern in seinen Augen und antwortete arglos: „Anfangs. Nachher nicht mehr.“
„Gut, gut. Nachher also nicht mehr“, erwiderte Velten und verzog dabei höhnisch seine Mundwinkel.
Und wieder erkannte sein Sohn nicht die Zeichen.
„Aber, sag Vater, wohin werden wir denn nun gehen? Was werden wir tun?“
Der alte Räuber zog die Stirn kraus und zerrte schnaufend zwei Holzteller und zwei Becher aus dem Jutesack, der dicht bei ihm lag. Schweigend schenkte er minderwertigen Wein aus Kogans Vorrat ein und schaufelte Suppe auf die Teller, bevor er seinem Sohn die Hälfte reichte.
„Erstmal werden wir in den nächsten Ort ziehen“, verkündete Velten schließlich, als er sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte. „Und dort wirst du arbeiten. Denk dran, du hast unser ganzes Geld in den Fluss geschmissen. Du hast also noch eine Schuld zu begleichen.“
Zufrieden und erleichtert sah er, wie sein Sohn matt und ohne Widerwort nickte. Der Trotz und die Wut waren verschwunden. Gut so. Geblieben war Ergebenheit. Wie weit würde diese gehen und wie lange würde sie andauern?
Mit großen Augen ohne Glanz sah Angelo seinen Vater forschend an. Sein Essen hatte er immer noch nicht angerührt.
„Und du wirst mich ganz sicher nicht alleine lassen?“
„Solange du tust, was ich sage, nein. Solange du willig bist, mich nicht nervst und deine Schulden begleichst, solange gewähre ich dir Schutz.“
Angelo nickte mehrfach. Dann rollte er sich aus seiner Decke und versuchte aufzustehen. Noch immer zitterten seine Knie, noch immer war er schwach und ängstlich.
Und während sein Vater interessiert zuschaute, wie er mehrfach wieder zu Boden sank, gelang es schließlich. Der Junge schleppte sich um das Feuer herum. Und ergriff das lange stumpfe Messer, das Kogan benutzt hatte, um ihm die Haare abzuschneiden. Bei seinem Vater lag es, zum Zerteilen des Fleisches gedacht.
Velten ließ ihn gewähren, war aber aufs Höchste angespannt. Vielleicht rechnete er mit einem erneuten Angriff seines Sohnes, es wäre ja nicht der erste gewesen.
Aber Angelo hatte anderes im Sinn. Langsam humpelte er weiter, immer vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Hin zu Kogan wollte er, das Messer drohend in der Hand.
„Was hast du vor?“, wollte sein Vater mit scharfer Stimme wissen.
„Ich werde das Vieh töten! Ich brauche ihn ja nun nicht mehr. Jetzt passt du auf mich auf“, ächzte Angelo, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
„Nichts wirst du tun!“, brüllte sein Vater laut.
„Doch, werde ich! Ich habe mit ihm noch eine Rechnung offen. Ich werde ihm dort hineinstechen, wo er sein Ding in mich hineingestochen hat. Und dann werde ich in ihm herumrühren, bis ich aus seinem Hals wieder herauskomme!“
„Nichts wirst du tun!“, kreischte sein Vater entsetzt. „Ist mir egal, ob du noch eine Rechnung offen hast! Ich habe dem Kerl die Rübe aufgeschlagen, hörst du. Ich habe das Miststück gefesselt. Ich habe das Schwein von dir runtergezerrt. Wo wärst du denn, wenn ich nicht gekommen wäre? Also werde ich bestimmen, was mit ihm geschieht. Hörst du? Wenn du ihn abstichst, dann lasse ich dich allein.“
„In Ordnung. Also werde ich ihn nicht töten“, erwiderte Angelo zögerlich und ging dennoch weiter.
Noch während sich sein Vater nicht zu rühren vermochte, kniete sich Angelo vor dem hilflosen Bündel im Dreck hin. Und unter den unruhigen Augen seines Vaters löste er den Knebel.
Der Krämer hustete und röchelte. Aber Angelo wartete nicht, bis dessen Zunge die ersten Worte fand. Ohne weiter zu zögern, ergriff er Kogans immer noch freiliegendes Gehänge und schnitt es mit stumpfer Klinge in einem Zug auf. Der Krämer brüllte wie in einem Feuer, während Velten nahezu erstarrte. Doch schon hatte Angelo die beiden Hoden ergriffen, herausgerissen und abgetrennt. Bevor sein Vater reagieren konnte, hatte er dieses noch lebende männliche Fleisch in den schreienden Rachen seines Peiniger gestopft. Und solange mit dem Messergriff nachgestoßen, bis das Zeug den Schlund des Mannes herunterrutschte und den Weg in den Magen fand.
Und als würde ihn dies nichts weiter angehen, kehrte der Junge mit verschlossener Miene zu seinem Vater zurück, der immer noch reglos mit dem Wein und der Suppe in den Händen da saß. Ohne ein weiteres Wort legte Angelo das Messer zurück und setzte sich zwischen die geöffneten Beine seines Vaters. Seine Arme umfingen den Oberkörper und sein Kopf legte sich ganz wie von selbst auf dessen Brust. Ein klein wenig weinte der Junge noch, bevor ihm die Augen zufielen und er in sein geliebtes Traumland reiste.
Es dauerte noch eine geraume Zeit, bevor Kogan von einem Brüllen zu einem Wimmern überging und Velten seine Fassung wiederfand.
Laut und drohend röhrte das große Horn auf der Bergspitze. Wieder und wieder. So groß wie fünf ausgewachsene Männer war es. Es reicht, schien es zu sagen. Es reicht jetzt wirklich, schien es zu verkünden.
Ihr habt es übertrieben und müsst nun dafür büßen, röhrte es in die Welt. Wieder und wieder, schon viele Tage lang. Und von überall her, aus den angrenzenden Tälern und über den großen See, antworteten ihm die kleinen Brüder. Verstummte der eine, so machte sich der andere wichtig. Es reichte jetzt wirklich. Die Zeit war gekommen. Egal, ob günstig oder nicht.
Wütend und dennoch zufrieden saß Walram auf der Brüstung der großen Terrasse und ließ seine Beine in den Abgrund baumeln. Eine Hand als Stütze, die andere streichelte sanft Xerxes Ausgeburt, welche sich wohlig zitternd an ihn schmiegte. Hinter ihm hatten sich all seine Ratgeber versammelt, die meistenteils dummes Zeug quatschten, sich wichtig gaben oder um irgendeinen idiotischen Posten schacherten.
Und natürlich die beiden Schrate, seine Lebensretter. Wieder genesen, hatte Walram sie zu seiner persönlichen Wache ernannt. War es Dankbarkeit? Oder Aberglaube? Na ja, eher wohl Letzteres. Vielleicht aber auch etwas ganz anderes.
Jedenfalls, die beiden Schrate waren seitdem wie die Kletten. Wo der dunkle Zauberer hinging, da waren auch sie. Jedenfalls meistens. Wenn sie nicht gerade in einer von Walrams zahlreichen Vorratskammern ihr Überleben und ihren ach so dankbaren Herrn feierten.
Aber das war ihr Geheimnis. Natürlich wusste Walram davon. Aber es war ihm egal. Jedes Wesen braucht seine Geheimnisse, so seine Auffassung. Und wenn das ohnehin kleine Hirn der beiden sich nur mit der Planung von Mundraub beschäftigte, um so besser. Dann würden Gedanken an Verrat und Mord wohl keinen Platz mehr finden.
Außerdem machte es seine neuen Wächter stolz und zufrieden, wenn sie sich schlauer dünkten als ihr Herr. Zufriedene Lakaien dienten besser, gar keine Frage.
Haha, gerade jetzt, in diesem Augenblick! Beide waren nämlich aufs Äußerste angespannt. Und sprungbereit! Abel und Berad scharwenzelten um ihn herum, um auch ja zugreifen zu können, sollte er in den Abgrund stürzen. Lustig! Hin und wieder zuckte Walram verdächtig und die Schrate streckten ihre behaarten Arme aus. Haha, ein bisschen Spaß, jeden Tag wieder!
Selbst der eine oder andere seiner überflüssigen Ratgeber beäugte ihn misstrauisch.
Sollen sie doch, dachte Walram hämisch bei sich. Ihr alle habt genug gesabbert! Jetzt treffe ich die Entscheidungen! Was ihr in all den Monaten und Jahren nicht hinbekommen habt, schaffe ich in wenigen Tagen. Und wenn ich mich in den Abgrund stürzen will, selbst dann kann mich keiner von euch aufhalten!
Utgri war also tot. Verkrüppelt, verbrannt und bei lebendigem Leibe aufgefressen. Wahrhaft, ein angemessener Tod! Nur zu schnell! Viel zu schnell. In seinem Kerker hätte Walram dem Zwergenkönig viele Jahre der liebevollen Folter geschenkt. Oh ja, gesorgt hätte er sich um diesen Schweinehund, auf dass er so lange wie möglich leide!
Blieb noch Sindri, des Verräters Vater. Der war entkommen. Und mit ihm der Rest der Zwerge, die überlebt hatten. Stammten sie nun aus seinem Volk oder hatten Utgri den Eid geleistet. Diese Ratte! Dieses widerliche Geschmeiß! Ein Feind, der sich nun aus der Deckung gewagt hatte. Wie dumm waren sie eigentlich? Glaubten sie nicht an den Sturm, der auf diesen Verrat folgte?
Schon bald, nachdem ihm Xerxes Ausgeburt Bericht erstattet hatte, konnten sie das Geschehen rekonstruieren. Auch die Höhle wurde schnell gefunden, in der Sindri mit seinen Mannen über viele Tage hinweg Unterschlupf gefunden hatte. Direkt unter seinen Augen! Unglaublich! Wo waren nur all seine Spione? Was hatten seine Wachen bewacht? Sich selbst?
Nun ja, da würden noch einige Köpfe rollen. Zusätzlich zu denen, die schon die Zinnen verzierten. Walram glaubte nicht an Überzeugung. Alles Quatsch, was Rigomar da erzählte, praktizierte und ihm immer wieder einzureden versuchte. Seine Erfahrungen waren ganz andere! Menschen taten nichts aus Überzeugung. Jedenfalls hatte er noch keinen gefunden. Vielmehr taten sie es aus Berechnung, aus Gier und Rache und hauptsächlich aus Angst. Naja, ein paar andere Dinge gab es darüber hinaus auch noch. Aber nichts hatte irgendetwas mit Idealismus zu tun, selbst wenn dies immer wieder lautstark verkündet wurde.
Angst war Walrams Meinung nach das Beste und sicherste Mittel, um Lebewesen dazu zu bringen, etwas zu tun. Auch gegen ihren Willen. Und die Wut, die sich dabei bei ihnen aufbaute, war gut für die Schlacht. Sie gebar zusätzliche Kräfte und setzte Energien frei, die sonst nicht zu finden waren. Man musste diese nur lenken, dann hatte man den perfekten Krieger. Und irgendwann vergaßen dann diese Wesen, auf wen sie eigentlich wütend waren. Der Blutrausch stahl ihre Wut und verschaffte ihnen Befriedigung.
Das große Horn auf dem Gipfel beendete seinen Gesang und lauschte jetzt erneut den Rufen all der vielen kleinen Brüder und Schwestern. Selbst die Südpforte trug ihren Gruß über das Land. Riglef stand auf der Wacht. Jetzt mehr denn je. Der große Krieg hatte begonnen! Und sollten die Südvölker sich regen, dann waren er und seine Krieger das erste Bollwerk.
Nicht wenige in seinem Stab hatten dem König im Gebirge das Misstrauen ausgesprochen. Zwerg war eben Zwerg und Zwerge hatten sie verraten. Allein Walram wollte und mochte nicht daran glauben. Nicht zuletzt, weil Goram mit Riglefs Sohn befreundet war und beide gemeinsam nun im Elfenreich umherschlichen. Für Goram würde er sein Misstrauen zu Grabe tragen. Jedenfalls vorerst.
Goram! Zärtliche Züge durchzogen Walrams faltiges Gesicht. Wo mochte der Junge jetzt sein? War ihm Erfolg beschieden? Oder war er schon tot?
Bei allen Göttern, was für widerliche Gedanken! Sein Junge und tot! Niemals! Es war alles gut! Es musste gut sein, er fühlte es. Wollte es fühlen.
Und dennoch wünschte der alte Zauberer, der Junge wäre jetzt hier bei ihm. Auf dass er seine Stimme hörte, die Wärme seiner Haut spürte, dass glockenhelle Lachen vernahm.
Noch nie hatte Walram eine solch enge Bindung zu einem anderen Wesen aufgebaut. Und somit nie all diese Gefühle erfahren, die damit einhergingen. Schöne Gefühle, wie Stolz und die Ruhe im Beisammensein. Schlechte Gefühle, wie Angst und Sorge um das Wohlergehen des Anderen.
Anstatt ihre Zweisamkeit zu genießen, hatte er den Jungen auf eine gefährliche Mission geschickt. Der Tod war niemals weit entfernt. Und wofür? Allein zu seinem Eigennutz. Drachen wollte er haben. Den großen Krieg endlich gewinnen! Nur, hätte man dieses Problem nicht auch anders lösen können?
Sicher, Goram wollte gehen. Schon viele Monde lag er ihm damit in den Ohren. In einer schwachen Sekunde stimmte er zu. Und später konnte bzw. wollte er sein gegebenes Wort nicht mehr zurücknehmen. Stolz und Ehre. Was für ein Schwachsinn! Er doch nicht!
Außerdem wäre es vielleicht gar nicht nötig gewesen! Die Stimme aus dem Spalt hatte Walram ins Grübeln gebracht. Antworten erhielt er keine mehr. Nachdem Xerxes Ausgeburt Bericht erstattet hatte, verschwand der Arm genauso, wie er gekommen war. Und mit ihm die Stimme. Lautes Rufen war genauso zwecklos wie ein paar billige Zaubereien.
Und dennoch hatte Walram so ein Gefühl, auf etwas Großes gestoßen zu sein. Leider wusste er nicht im Ansatz, worum es dabei ging. Muspelheim, das Reich der Feuerriesen. Soviel war bekannt. Ein jeder wusste dies noch aus den alten Tagen. Es gab Geschichten, mehr nicht. War der Spalt eine Verbindung in eine andere Welt? Wieso dann die Frage nach dem Schlüssel und dem Hinweis auf irgendwelche Tore?
Goram hatte einen Schlüssel. Angeblich einen aus Odins Truhen. Für die Tore Asgards, so die Vermutung. Vielleicht auch für die Tore nach Muspelheim? Wo lagen diese überhaupt? Wäre Goram samt Schlüssel jetzt hier, sie könnten so einiges versuchen.
Himmelsburg, Prophezeiung, Götter! Das klang so richtig gewaltig! Viel gewaltiger als alles, was er je getan hatte! Dabei war dies nicht gerade wenig. Nun ja, er brauchte Informationen. Jede Menge davon. Die Stimme konnte er nicht fragen, sie hatte sich nie wieder gemeldet. Obwohl ein Gefühl ihm immer wieder flüsterte, dass da auf der anderen Seite des Spalts einer lauschte.
Aber er würde schon noch dahinterkommen. Jede Menge kluger Köpfe hatte Walram in alle Himmelsrichtungen gesandt. Fragen sollten sie. Lesen, was ihnen unter die Finger kam. Den Liedern der Barden lauschen, den Wind um Rat bitten. Irgendwie käme des Rätsels Lösung schon zutage. Denn da war etwas. Muspelheim und Götter, ganz gewiss.
Nun ja, Geduld! Die Schlauberger würden schon etwas ausgraben. Gebrauchen konnte er sie hier ohnehin nicht. Hier waren jetzt Kraft, Schweiß und Wut gefragt. Scharfe Klingen und spitze Pfeile. Endlich ging es los! Ein schönes Spiel. Er würde es gut spielen. Walram hatte aus seinen Fehlern gelernt. Und Übung hatte er ohnehin.
Kaum konnte Walram die Stimmen seiner Ratgeber in seinem Rücken wahrnehmen. Denn es war laut, so richtig laut. Nicht nur der Hörnerklang erfüllte die Luft, sondern auch die Geräusche der vielen Krieger. Rüstungen schepperten, Waffen klirrten, Füße stampften. Nicht Hunderte, nicht Tausende. Ein Vielfaches von ihnen. Hunderttausende mochten es sein, die jetzt mittlerweile über mehrere Tage hinweg aus den umliegenden Tälern herabgestiegen waren, über den großen See ruderten und in einer Reihe die vielen geheimen Pfade entlang durch die dunklen Wälder zum Wehrwall pilgerten. Von überall kamen sie her, denn überall hatte er in der Vergangenheit geheime Lager angelegt und mit der Ausbildung begonnen.
Walram musste grinsen. Nicht satt sehen konnte er sich an Rigomars Gesicht, der immer noch glaubte, dass ihr stehendes Heer nicht mehr als dreitausend, vielleicht viertausend Köpfe zählte. Aber das, was hier in endlosen Kolonnen an ihnen vorbeimarschierte, übertraf die Vorstellung des Möchtegernzauberers um ein Vielfaches. Sein erster Ratgeber war ruhig geworden. Sehr ruhig sogar.
Von Anfang an hatte Rigomar gegen diesen Krieg gesprochen. Wir sind noch nicht bereit, so hatte er gesagt. Wir haben zu wenig Leute, zu wenig Waffen, so hatte er getönt. Woher die Nahrungsmittel nehmen und all die Waffen? Und so weiter, und so weiter. Walram hatte ihn nur angegrinst und sagte nichts. Und grinsen tat er noch immer. Rigomar dagegen war es vergangen.
Unterdessen verschwand gerade eine Kompanie durch das gewaltige Tor hindurch aus dem Festungshof. Während sich schon eine neue durch den klagenden Klang eines Muschelhornes ankündigte. Und wieder stampften schwere Stiefel über den Hof. Es würden nicht die Letzten sein.
Ins Zwergengebirge würde es gehen, um Sindri den Tod durch Feuer und Stahl zu bringen. Und bei der Gelegenheit seinem ganzen Volk. Keiner sollte überleben, so hatte sich der dunkle Zauberer geschworen. Und keiner würde überleben, dafür stand er mit all seiner Macht. Egal, wie viele es auch waren, der Tod würde eine reiche Ernte einfahren. Ob Mann, Frau, Kind, ein jeder würde die Wut seiner Rache spüren. Mit Eingeweiden wollte er das Zwergengebirge bedecken und in Flüssen aus Blut baden.
Es wurde Zeit. Viel zu lange hatten sie gewartet. Viel zu lange hatte er auf schlechte und minderwertige Ratgeber gehört. Doch damit war jetzt Schluss. Er tat, was er tun musste. Was er immer schon getan hatte. Und was er gut konnte. Er würde den Krieg in das Land tragen. Mit Schmerz und Leid als Geschenk. Er würde Midgard mit Feuer überziehen und die Götter würden weinen.
Fünf Tage gingen ins Land. Es waren friedvolle Tage, auch wenn die gesuchte Vaterliebe nicht zu greifen war. Es gab keinen Streit und es gab keine bösen Worte. Angelo fühlte sich beschützt. Selbst der ewig wimmernde Kogan, den der Vater nur mit Wasser am Leben hielt, konnte dies nicht ändern.
Schon am zweiten Tag stieg der Junge aus seinen Decken und wankte hinunter an das Ufer der Worlag. Er hatte in Kogans Vorräten, die jetzt die Ihrigen waren, gestöbert und Schnur und Haken gefunden. Würmer gab es am feuchten Flussufer genug. Und da der Strom an dieser Stelle mit Fischen übervoll war, die sich zudem noch alle herrlich langweilten, war bald mehr als nur eine Mahlzeit gefangen.
Angelo wankte zurück, kniete vor seinem Vater nieder und bot ihm die Fische mit ausgestreckten Armen dar.
Nach langem Zögern bekam er schließlich das, was er sich erhoffte. Nämlich die Streicheleinheiten einer rauen und rissigen Räuberhand auf dem Gestrüpp, was bis vor Kurzem noch eine herrliche Haarpracht gewesen war. Angelo genoss es mit feuchten Augen.
Von seiner Tat ermutigt, kochte Angelo die tägliche Suppe mit so viel Mühe, wie er nur aufzubringen vermochte. Und holte sich jenes ab, was er für Liebe hielt, die aber eigentlich keine war. Und schluchzte ein jedes Mal.
Aber mehr noch. Des Weiteren räumte der Knabe freiwillig das Lager auf, putzte und wusch die Kleider, versorgte die Tiere, alles unter den Augen und zum Gefallen seines Vaters. Und sollte man meinen, dass er irgendwann des Lobes überdrüssig wurde, dann sah man sich getäuscht. Umgekehrt war es. Ein Lob verlangte nach einem weiterem. Ganz wie eine Sucht, er bekam nie genug davon.
Schon in der zweiten Nacht versuchte Angelo unter die wärmende Decke seines Vaters zu kriechen, um sich von ihm umarmen zu lassen. Doch Velten stieß ihn weg. Denn sein eigener Sohn war ihm nicht mehr geheuer. Bislang war er eigentlich davon ausgegangen, dass er aufgrund seines Alters und seiner Stärke überlegen war. Doch hatte Velten bis jetzt nie gesehen, was Ragnar nur allzu oft erblickte. Diese maßlose Fratze nämlich, wenn der Knabe mit dem Messer in der Hand in lebendes Fleisch stieß.
Doch dies hatte sich nun geändert. Und Velten war dabei ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen. Und der war seitdem dort verblieben und hatte sich eingenistet. Nie wieder würde der alte Räuber den Anblick seines Sohnes vergessen, wie dieser sich einen Teil der Rache an Kogan einfach nahm. Und wie der Knabe es tat. Ohne zu zögernd, ohne zu zittern. Nie wieder würde Velten die Frage aus dem Sinn bekommen, wozu der Junge vielleicht noch fähig wäre.
Nun, seitdem jedenfalls hatte Velten alle Waffen versteckt und mied die allzu große Nähe zu seinem Sohn.
Aber Angelo gab nicht auf. Wie ein geprügelter Hund kroch er immer wieder hin zu seinem Vater und wartete dort geduldig auf eine freundliche Geste.
Und der Junge versuchte erneut, zwischen den starken Armen Schutz zu finden. Wieder wurde er verjagt, mit Schimpfworten und jeder Menge kleiner Kiesel. Wieder, und wieder. Bis Velten dann irgendwann dermaßen müde war, dass er aufgab. Einladend hob er seine Decke an und Angelo krabbelte geschwind darunter. Er schmiegte sich an den warmen Körper, weinte kurz und schlief dann zufrieden ein.
Das einzige, was Velten zu seinem eigenem Schutz tat, war, dass er dem Knaben erneut seinen Gürtel stramm um den Hals legte. Um ihn vollends und beizeiten zuzuziehen, sollte der Knabe ihm nicht wohlwollen.
Angus ließ es sich wie selbstverständlich gefallen. Schon zur dritten Nacht legte er sich selbst das Leder um und zog es stramm. Er atmete jetzt zwar schwerer, aber das war ihm offensichtlich egal.
Dabei blieb es seitdem. Auch wenn Veltens Misstrauen blieb.
Am fünften Tag endlich waren Angelos Wunden einigermaßen verheilt und sein Körper halbwegs bei Kräften. Die beiden brachen das Lager ab, spannten die beiden Ochsen vor dem Wagen und zogen weiter in Richtung Süden. Kogan ließen sie gefesselt als Fraß für die Krähen zurück.
Der Landweg war gut und sie kamen in einem vernünftigen Ochsentempo voran. Vorbei ging es an murmelnden Bächen und wispernden Birkenwäldchen. Das frühe Korn reifte goldgelb auf den Feldern, bewacht von einer Unmenge roter Mohnblumen. Die Vögel zwitscherten und scheue Rehe kreuzten die Straße.
Nur, und das fiel auf, waren sie weit und breit die einzigen Menschen. Man hätte es Zufall nennen können, gewiss. Aber nicht mehr nach der dritten Siedlung.
Und genau wie in den beiden zuvor war auch hier noch immer keine Menschenseele zu finden. Die Häuser waren heruntergebrannt, das Hab und Gut der ehemaligen Einwohner auf allen Wegen weit verstreut. Die Tiere tot oder verschwunden.
Velten wurde es langsam mulmig, während Angelo sich damit begnügte, die Hand seines Vaters emotionslos zu halten und nicht loszulassen.
Erst in der vierten Siedlung, viele Meilen weiter südwärts den Fluss entlang, stieg Rauch empor. Irgendwo wurde Brot gebacken und ein Schwein über dem Feuer geröstet. Solche Düfte roch und erkannte man schon von Weitem.
Es war eine armselige Siedlung. Die wackligen Häuser aus miteinander verflochtenen Zweigen waren nur mit dünnem Stroh bedeckt. Moos war in die Ritzen gestopft, bot aber nur selten Schutz vor dem Wind.
Manche Hütten waren gar ganz in sich zusammengefallen, genauso wie die Zäune davor. Die einzige Straße war staubig und schlammig. Mit Unrat übersät, wohin man auch schaute. Die Siedlung war regelrecht voll davon. Und genauso roch sie auch.
Ein verkniffenes Gesicht schaute kurz aus einer der Hütten vor ihnen hervor, grunzte und goss abschätzig einen Nachttopf voller Urin vor ihren Augen auf die Straße. Wohl um die stehenden Düfte noch ein wenig nachzuwürzen.
Vor einer alten verlassenen Schmiede hielt der Vater an. Die beiden spannten die Ochsen aus, tränkten sie und führten die Tiere dann auf eine Wiese direkt hinter dem Haus.
Dann waren sie selbst dran. Vater und Sohn setzten sich auf die reparaturbedürftige hölzerne Terrasse vor dem Haus, plünderten ihren Proviant und sättigten sich.
Bislang hatte sich noch keine Menschenseele um sie gekümmert. Überhaupt schien es ausnehmend ruhig in dieser Siedlung zuzugehen.
Naja, bis auf eine Ausnahme. Ein Haus, verschachtelt und mit einer zerfallenen Veranda umgeben, war es, aus dem sich viel Lärm und mannigfaltiges Gepolter herausdrängten. Es war das größte Gebäude hier am Platze und lag fast genau in der Ortsmitte.
Manchmal erklang so etwas wie Musik aus den weit geöffneten Fenstern. Immer durchsetzt von menschlichem Geschrei. Dann und wann öffnete sich die Tür zur Straße und ein Mensch torkelte heraus. Manchmal ein Mann, manchmal auch eine Frau. Selbst Kinder und Halbwüchsige spuckte dieses Haus aus.
Und waren sie erst einmal draußen, dann setzten sie all ihr Bestreben darein, so schnell als möglich wieder hineinzukommen. Manch einer urinierte noch fix an der Ecke, aber die meisten taten es im Gehen und auf ihrem Weg hin zurück zur Tür.
Schon die ganze Zeit über hatte Velten das Geschehen grübelnd beobachtet, Angelo hatte es wohl bemerkt. Und es dauerte nicht lange, da fasste der alte Räuber seinen Entschluss.
„Ich werde mal ins Wirtshaus rübergehen“, ließ er seinen Sohn wissen. „Wir müssen etwas Geld verdienen. Du bleibst hier und rührst ich nicht vom Fleck! Verstanden?“
Angelo nickte wie abwesend. Öffnete aber dennoch den Gürtel seines Vaters, nahm ihn ab und hielt ihm diesen wortlos hin.
Velten schnaufte kurz und packte dann seinen Sohn aber doch am Kragen. Er schleppte ihn hin zu dem kleinen Vorbau mit dem Schleppdach an der Eingangstür der Schmiede. Zwei starke Balken stützten diese Konstruktion. Und an einen von ihnen stellte Velten seinen Sohn mit dem Rücken. Er legte den Gürtel um Hals und Balken und zog ihn von hinten zu, sodass der Junge gerade noch, wenn auch mühsam, atmen konnte. Dann kümmerte er sich nicht weiter um ihn, sondern schritt schnurstracks hin zu dem Wirtshaus, durch dessen Tür er schon bald verschwand.
Angelo wartete geduldig. Es war nicht einfach, denn er stand in vollem Licht. Die Sonne war stark, brannte auf der Haut und dörrte die Kehle aus. Aber es könnte schlimmer sein. Denn immerhin fühlte er sich sicher. Der starke Balken in seinem Rücken würde ihn beschützen und sein Bruder, gleich nebenan, ihm dabei helfen. Das raue Holz konnte nicht einfach verschwinden, denn durch den Gürtel des Vaters waren sie untrennbar miteinander verbunden. Sicherheit! Was war dagegen schon ein bisschen Durst!
Die Zeit verging. Stunde um Stunde. Die Sonne sank hernieder und die Schatten wurden länger. Das Brennen auf der Haut nahm ab. Aber der Durst, der blieb.
Geduldiger als das Wort es jemals beschreiben könnte, stand Angelo dort und träumte gleichsam vor sich hin. Nur selten bewegte er sich ein klein wenig. Nämlich dann, wenn er das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte.
Er hätte sich befreien können, so war es nicht. Seine beiden Hände waren nicht gefesselt. Und mit ein wenig Mühe hätte er den Gürtel lösen können.
Aber er wollte es nicht. Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle hier bleiben, also blieb er hier.
Außerdem war es nicht mehr annähernd so schlimm, wie noch vor Wochen. Der Schmerz konnte Angelo kaum noch etwas anhaben. Ja, manchmal liebte er ihn geradezu. Man könnte fast meinen, dass sie so etwas wie Freunde geworden waren. Er und der Schmerz.
Und manchmal brauchte man einen Freund. Angelo war da nicht anders, als all die vielen Menschen in diesem Land. Nur, dass sein Freund ein ganz spezieller war. Er kam überraschend und war intensiv. Blieb nie lange, aber man konnte sich auf ihn verlassen.
Der Lärm im Wirtshaus schwoll an. Etwas krachte. Und etwas klirrte. Dann wurde es wieder leiser.
Ein stolzer Rabe kam daher und machte Rast auf dem Wassertrog vor der Schmiede. Er legte den Kopf schief und musterte den Jungen. Und dieser tat es ihm gleich. Stumm leisteten sich die beiden Gesellschaft und die Zeit verging.
Es war nicht mehr lange hin bis zum ersten Abendrot, als sich endlich die Tür zum Wirtshaus öffnete und sein Vater heraustorkelte. Und mit ihm ein kleines schmieriges Männchen, ebenfalls nicht ganz fest auf den Beinen. Sie hatten sich gegenseitig die Arme über die Schulter gelegt und stützen sich bei so manchem Ausfallschritt. Auch wenn die Trunkenheit den Weg verlängerte, so waren sie doch irgendwann heran.
„Hier, das ist er“, prahlte Velten. „Habe ich zu viel versprochen? Jung und knackig. Willig und ausdauernd. Na, was ist, bleibt es bei dem vereinbarten Preis?“
Das Männchen schnaufte abschätzig. Die Ware war wohl nicht ganz so wie erwartet. Mit seinen glitschigen Fingern betatschte er den Jungen ausgiebig, nachdem er fahrig den Gürtel gelöst hatte. Prüfte seine Muskeln, fühlte seine Magerkeit, strich über das Haar und schaute ihm tief in die Augen. Auch die Stellen, die ihn besonders interessierten, massierte und knetete er mit verklärtem Blick ausgiebig durch, bevor er unwirsch von Velten gestoppt worden.
„He, nur prüfen! Nicht anfassen! Erst das Geld her, dann kannst du ihn für die Nacht mitnehmen!“
„Nicht so schnell, nicht so schnell. An dem Bengel ist weniger dran, als du behauptet hast. Außerdem ist er hinten ziemlich wund. Entschuldige, aber warum pflegst du deine Ware eigentlich nicht? Du willst doch mit dem jungen Fleisch Geld verdienen, oder nicht? Und ausdauernd, he? Das glaubst du doch wohl selber nicht! Ziemlich kraftlos ist der Bengel. Und erzähl mir nicht, er hätte Erfahrung. Er ist steif wie ein Brett. Wäre er erfahren, hätte er auf meine Berührungen ganz anders reagiert. Ich sag dir was. Nur damit ich mich heute nicht langweilen muss, nehme ich dieses Skelett für diese Nacht mit. Zum halben Preis.“
„Zum halben Preis?“, keuchte Velten.
„Genau. Zum halben Preis. Und damit tue ich dir noch was Gutes. Und ich sage dir noch etwas. Ich zahle es dir im Voraus. Und mit einem Teil von diesem Geld gehst du ins Wirtshaus zurück. Und besorgst ein wenig Schmiermittel. Frag den Wirt. Etwas Schmalz oder Öl wird er schon haben.“
„Was?“, brüllte jetzt Velten voller Wut. „Das Bürschchen auch noch einölen? Was bleibt mir dann noch? Zum halben Preis?“
„Einölen? Nicht überall. Du bist wohl nicht der Klügste, richtig? Wenn du deine Ware nicht schützt, dann kannst du den Bengel morgen auf den Mist schmeißen. Dann wirst du vielleicht nie wieder Geld mit ihm verdienen. Die meisten, die etwas verdienen wollen, müssen erst investieren. Aber mir soll es egal sein. Dann quiekt der Bursche eben wie ein Wiesel. Das mag ich auch. Dann und wann jedenfalls. Bringt mich so richtig in Fahrt.“
Und das Männchen meinte wohl, was es sagte, denn die Beule unter seinem Gewand wurde zunehmend größer.
„Dann suche ich mir eben jemand anders“, versuchte Velten noch zu retten, was zu retten war.
„Vergiss es“, grinste das Männchen und fasste Angelo genüsslich in den Schritt. „Auf dieser Seite des Flusses wirst du keinen anderen finden außer mir, der für solch eine Ware etwas bezahlt. Du brauchst nur die Wege in Richtung Süden absuchen. Dort wirst du mehr finden, als du schaffen kannst. Junge und Alte. Männer, Frauen, Kinder. Egal welches Alter, ob Jungs oder Mädchen. Du brauchst nur zuzugreifen. Hungrig sind sie und erschöpft. Viele liegen schon kraftlos am Wegesrand. Und viele von ihnen haben auch schon den letzten Seufzer getan.“
„Wirklich? Wie das?“, fragte Velten interessiert, während das Männchen Angelo küsste.
„Oh ho, da wittert wohl einer ein Geschäft! Würde ich dir nicht raten. Von Süden her kommt das Grauen, schon seit Monaten. All die Dörfer und Städte sind entvölkert. Und die, die du da draußen auf den Wegen findest, sind meistens mit schrecklichen Krankheiten geschlagen. Wenn du so willst, sind wir hier der letzte Außenposten. Sagen wir mal so, wir sind eine Handvoll Abenteurer, die sich nehmen, was andere nicht mehr brauchen.“
„He, finde ich gut“, strahlte Velten. „Sich nehmen, was andere nicht mehr brauchen.“
„Vergiss es. Du kannst bei uns nicht einsteigen. Heute Nacht werden wir dich hier dulden. Aber spätestens morgen solltest du zusehen, dass du weiter kommst. Ihr solltet über den Fluss, am besten hier. Etwas weiter draußen, gleich hinter dem Ort, gibt es eine Furt. Wechselt über auf die andere Flussseite, dies rate ich euch. Vier Tage sind es bis Herwegen. Sieben bis nach Bärenburg. Dort findet ihr Menschen und reichlich Kundschaft. Dieser Rat ist kostenlos. Also, was ist jetzt? Zum halben Preis? Ja, gut, gut. Das Fett bezahle ich. Ausnahmsweise. Also?“
Velten knurrte, dann nickte er zustimmend und hielt seine Hand auf. Das Männchen zählte ihm ein paar kleine Münzen darauf, viel war es nicht. Angelo war wohl weniger wert, als er es selber für möglich gehalten hätte.
„Gut, ich gehe dann mal. Bin gleich zurück“, schniefte Velten und schlich davon.
„Lass dir Zeit! Von mir aus brauchst du auch gar nicht wiederkommen. Stell mir das Zeug einfach ans Fenster, ich nehme es mir dann mit.“
„Wieso?“, fragte Velten ein wenig verständnislos. „Du warst doch so wild darauf!“
„Schon, schon. Hat noch ein wenig Zeit. Der Kleine braucht erst mal was zwischen die Zähne. Und das gebe ich ihm gleich hier. Etwas besonders Leckeres! Richtig, mein Junge? Komm, knie dich nieder.“
Angelo hatte seinen ersten Kunden. Sein Gesicht verriet keine Überraschung, keinen Unmut. Das Beste wollte er geben, um seinem Vater zu gefallen.
Versonnen schaute der Junge hoch zu den Wolken und sah einen schwarzen Punkt, der schnell größer wurde. Schon war er heran und überflog diesen Ort in geringer Höhe.
Es war ein Drache und Angelo kannte ihn. Der Weg des Lindwurms würde wohl nach Norden führen, hin zum Adlerstein. Dort, wo Angelo Ragnar und sein bisheriges Leben zurückgelassen hatte.
Da war also doch noch so etwas wie ein Gefühl in ihm. Ganz tief drinnen. Es wagte sich kaum zu rühren, aber es war noch da.
Ein Stich zerriss die schmale Brust, bevor der Junge sich in sein Schicksal fügte.
Agradon – Vampir, Uguriels Diener
Akne - Spion aus Albenheim
Alben - verwandte Lichtwesen der Elben und Elfen (auch Zwerge)
Alberich - Zauberer, König der Alben, Schmied, Zwerg
Albrecht – Burgvogt im Dienste des Ritters von Adlerstein
Andwari – Zwerg, Schmied
Angelo - Veltens Sohn, Begleiter Ragnars
Angus - Ritter aus Burgund, Leifs Gefährte
Asgard - Himmelswelt
Bea - Wolf, Tochter von Geri
Bifröst - Regenbogenbrücke durch das Sternenzelt
Drago - Nordmann aus Thorsfelsen, Ragnars Freund
Ella – Tochter des Ritters von Adlerstein
Emilia - Walrams Tante
Fabri - Zwerg, Riglefs Sohn, Gorams Freund
Falk - Alb, Sohn von Folke, Leifs Begleiter
Fay - Hexe, Ragnars Begleiterin
Fenrir - Wolf, Dämon
Finn - Luftgeist
Fiona - Fee, Tochter von Sigrun
Florian – Markgraf von Markant
Folke - Alb, Falks Vater, berühmter Handwerker
Fosse - Wasserfalltroll, Diener Walrams
Freki - Wolf, Odins Begleiter
Gabriel - Angehöriger der Südvölker, Walrams Gefangener
Galbor – Elfenprinz aus dem Hause Dorean, Nadirs Bruder
Gar - Wesen in den Felsen
Geri - Wolf, Odins Begleiter
Gernot - Ritter von Adlerstein
Goram - Sohn des Lichts, Leifs Bruder, Ase
Götterdämmerung - Ragnarök, Weltuntergang
Hafnar - Nordmann, Dorfhäuptling, Ragnars Vater
Harm - Irrwicht
Hati - Himmelswolf, jagt den Mondwagen, Fenrirs Sohn
Heimdall - Riese, Wächter der Regenbogenbrücke Bifröst
Hel - Göttin der Unterwelt, Schwester vom Fenriswolf
Helgi – Sindris Adjudant, Zwerg
Hödur – Ase, Sohn des Odin und der Frigg
Hugin - Odins Rabe, Götterbote
Julian – erster Sohn des Ritters von Adlerstein
Kai – Ase, Kadett auf der Himmelsburg, Odins Page
Karl – Sohn des Markgrafen von Markant
Knurr - Flugdrache
Leif - Sohn des Lichts, Gorams Bruder, Ase
Ljossalfheim – eine der neun Welten, Lichtelfen, Lichtalben
Loki - Gott, Trickser
Maike - Hafnars Frau, Leifs Pflegemutter, Heilerin
Mani - Mondgott
Mantur - Flugdrache
Marcus - Sklave, Angehöriger des Westvolkes, Leifs Gefährte
Martin – Erster Kundschafter im Dienste des Ritters von Adlerstein
Mugin - Odins Rabe, Götterbote, (auch Munin)
Muspelheim - Heimat der Feuerriesen
Nadir – Elfenprinz aus dem Hause Dorean, Galbors Bruder
Narruks - Geschöpfe der Unterwelt
Norne - Schicksalsgöttin
Odin - Gott, Allvater
Ortwin – Anführer der Kadetten auf der Himmelsburg
Ragnar - Nordmann aus Thorsfelsen, Sohn von Hafnar
Riglef - Zwerg, berühmter Schmied
Rigomar - Zauberer, Diener Walrams
Schrat – Waldgeist
Senta – Frau des Ritters von Adlerstein, geb. Markan
Sigrun - Fee, Druidin, Fionas Mutter
Sindri - Zwerg, berühmter Schmied, Vater von Utgri
Siska - Rigomars Tochter
Skalli - Himmelswolf, jagt den Sonnenwagen, Fenrirs Sohn
Skuld – Schicksalsnorne (Spinnerin der Zukunft)
Sleipnir - Odins Zauberpferd
Sol – Sonnengöttin
Stefan – zweiter Sohn des Ritters von Adlerstein
Thor - Donnergott, Odins Sohn
Thoralf - Nordmann aus Thorsfelsen, Leifs Freund
Uguriel - Vampirfürst
Urd - Schicksalsnorne (Spinnerin der Vergangenheit)
Utgri – Zwerg, Sohn von Sindri, König auf dem Wehrwall
Vali - Wolf, Sohn Lokis
Vanaheim – eine der neun Welten, bewohnt durch ältere Götter
Velten - Räuber, Angelos Vater
Verdandi – Schicksalsnorne (Spinnerin der Gegenwart)
Vran - Zwerg, Heiler, Lehrer von Fabri
Walhalla - Wohnsitz Odins, Halle der Helden
Walküre - Odins Kriegerin, geleitet die Helden gen Walhalla
Walram - Zauberer, Führer der dunklen Seite, Gorams Pflegevater
Welf - Rigomars Sohn
Xerxes – Walrams Zauberbuch
Texte: Henry Wolff
Bildmaterialien: Henry Wolff
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2014
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