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Dieser Hund liebt die Kälte




Weihnachtswunder im Rentierreich



Es gibt solche und solche. Das gilt für uns Menschen, aber auch für alle anderen Lebewesen. Dies ist die Geschichte von Oluf, einem kleinen temperamentvollen Rentier und sie ist wohl wahr. Zumindest wurde sie mir als wahr erzählt. Oluf lebte in der Gemeinschaft einer großen Herde. Und zwar genau dort, wo eben Rentiere leben, nämlich im hohen Norden, in Lappland. Aber das wisst Ihr ja sicher. Luffe, wie Oluf von den anderen Herdenmitgliedern nur gerufen wurde, war ein etwas außergewöhnliches Exemplar seiner Rasse. Er unterschied sich in der Farbe seines Felles von dem Rest seiner Brüder und Schwestern durch ein weißes und ein schwarzes Bein. Eine Laune der Natur hatte ihn mit dieser Besonderheit versehen. Zunächst waren die Eltern leicht verunsichert, als sie bei Luffes Geburt die Mehrfarbigkeit entdeckten. Doch da das Gemüt der Rentiere bekanntermaßen ein ruhiges ist, wurde der Kleine so akzeptiert, wie er war. Denn die Tiere wissen, dass es nicht auf das Äußere ankommt, sondern was drin steckt im Fell. Nun geschah es eines Tages, dass das Leittier der Herde, der schon etwas betagte Larsen, von einer merkwürdigen Krankheit befallen wurde. Er legte sich nieder und fand nicht die Kraft, wieder aufzustehen. Er verspürte weder Hunger noch Durst und wurde von Tag zu Tag schwächer. Die Alten und Weisen unter den Rentieren waren ratlos. Larsen war ein guter Führer gewesen, bevor ihn diese Krankheit befallen hatte. Es war ein harter Winter in diesem Jahr, wie ihn selbst die Ältesten nicht erinnern konnten. Oluf, der normalerweise übermütig herumsprang und mit den anderen gerne seine Scherze trieb, war es nicht verborgen geblieben, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Immer wieder wurden die Jungen ermahnt, nicht so ungestüm zu sein. Was ihnen nicht gerade leicht viel. Solange Larsen nicht gesund war, konnte man an ein Weiterziehen nicht denken. Doch Futter gab es nur wenig und des Öfteren hörte man ganz deutlich das laute Knurren der Rentiermägen. Wenn Ihr ganz still seid, dann könnt ihr es hören. Grrrrrr, grrrrrrr klang es dann und die Mütter sorgten sich um die Kinder. Oluf, oder besser gesagt Luffe, war zwar ein echter Wildfang, aber das hielt ihn nicht davon ab, intelligent zu sein. Eigentlich dachte er viel nach über die wichtigen Dinge im Leben. Und als er nun die Angst spürte, die sich klammheimlich in der Gruppe ausbreitete, da war ihm klar, er musste handeln. Rentiere, die in Freiheit leben, halten sich möglichst fern von den Menschen. Und das aus gutem Grund. Diese hatten eine Vorliebe für das Rentierfleisch und begehrten das Fell, welches sie zum Schutz gegen die Kälte verarbeiteten. Das Volk der Samen, die in dieser Region leben, fingen und zähmten die Rentiere und nutzten sie als Arbeitstiere. Auch Luffe war dieses Wissen weitergegeben worden und er hütete sich vor einer Begegnung mit diesen seltsamen und für seine Herde so gefährlichen Wesen. Andererseits gab es überlieferte Geschichten, die von Menschen erzählten, die kranken oder verletzten Tieren in Not geholfen hatten. Doch das waren eben nur Erzählungen, ob sie der Wahrheit entsprachen, wusste keiner so genau. Einen solchen gesehen hatte noch keines der Tiere. Doch Luffe wäre nicht Luffe, wenn er gleich am Anfang aufgegeben hätte. Er ging schnurstracks zur klugen Lina. Sie war schon sehr alt und etwas schrullig, doch Oluf wusste, dass sie ein großes Wissen besaß. Wenn es eine gab, die ihm von diesem geheimnisvollen Helfer berichten konnte, dann war sie es. Bestimmt habt Ihr es schon bemerkt, auch wenn ich es bisher nicht erwähnt habe, die Rentiere haben eine eigene Sprache, die klingt so ähnlich wie der Hirsche und Rehe. Solltet ihr bei einem Waldspaziergang auf diese Tiere treffen, dann verhaltet Euch ganz still und lauscht ihren Gesprächen. Also Luffe ging eine Weile neben der alten Rentierkuh und wartete ab, ob sie ihn ansprechen würde. Als er schon glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, fragte sie ihn endlich, was er auf dem Herzen hätte. Trotz seiner Ungeduld sprach Oluf langsam und deutlich. Lina konnte nicht mehr so gut hören. Nachdem der Kleine ihr seine Sorgen vorgetragen hatte, legte sie ihr Gesicht in noch mehr Falten, als es ohnehin schon hatte. Oluf spürte, wie sie ihre Gedanken zurückschweifen ließ, bis sie ihre Jugend wieder vor Augen hatte. Ehrfurchtsvoll betrachtete Oluf die Alte, die ganz entrückt schien, fast wie in Trance. Wie lange sie so dagestanden hatten, konnte er nicht sagen, aber es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie schaute erstaunt zu dem Rentierkalb, das seinerseits mit großen Augen zu ihr aufblickte. Dann begann sie zu erzählen, die Geschichte, die schon ihre Vorfahren und auch deren Vorfahren ihren Kindern weitergegeben hatten – von einem langen Marsch, einer großen Herde, ungeahnten Weiten und der unglaublichen Begegnung mit den Menschen. Endlos war die Steppe, die in den kurzen Sommermonaten reichlich Nahrung bot, aber im Winter, der hier oben sehr lange zu Hause ist, war es manchmal schwer, zu überleben. Vor allem die Kranken und Schwachen der Herde mussten furchtbar leiden. Es war wieder einmal so eine unglaublich kalte Zeit, das Wenige, was sie an Essbarem vorfanden, war schnell verbraucht. Doch dann geschah etwas ganz Unerwartetes. Was die Rentiere nicht wussten, es war Weihnachtsabend, die Heilige Nacht, also die Nacht, in der auch heute noch Wunder geschehen. Mitten in der mit Schnee und Eis bedeckten Steppe stand ein großer Holzunterstand mit einem Dach darüber, der bis zu diesem mit Gras, Rinde, Bodenwurzeln und verschiedenen anderen Leckereien gefüllt war. Nicht was ihr jetzt denkt, nein, keine Schokolade und auch keine Plätzchen, die Rentiere bevorzugen Naturkost. Das macht sie so stark. Da stand nun diese Futterkiste und wartete darauf geleert zu werden. Aber, wie das so ist mit Dingen, die man nicht kennt oder die man nicht versteht, trauten sich die hungrigen Tiere nicht heran. Selbst die Jungen und Wagemutigsten der Gruppe hielten gebührenden Abstand. Ihr seht, dass es bei den Tieren und Menschen durchaus Gemeinsamkeiten gibt. Zu leicht erhaltene Geschenke erzeugen gerne ein gewisses Misstrauen. Sie beschlossen daher, noch den nächsten Tag abzuwarten. Wenn nichts geschah während der Nacht, dann wollten sie die Nahrung am andern Morgen annehmen. Obwohl der Hunger in ihren Mägen nagte, legten sie sich zur Ruhe und alle Tiere schliefen nach kurzer Zeit ein. Nun habe ich Euch ja schon gesagt, dass es eine Nacht voller wundersamer Ereignisse war. Deswegen erstaunt es auch nicht, dass vom kleinsten Kalb bis zum ältesten Bullen alle Tiere den gleichen Traum hatten. Aus der Finsternis war ein Licht auferstanden, dass ein Wesen umhüllte, welches noch keines der Rentiere je gesehen hatte. Es bewegte sich auf zwei Beinen und das sogar, ohne zu straucheln, allerdings schien es den Boden nicht wirklich zu berühren. Es ging zu jedem einzelnen Ren und hob die beiden Vorderbeine, an denen das helle Licht zu kleben schien in die Höhe, und streichelte über das raue Fell. Noch nie zuvor hatten die Tiere ein so zartes Gefühl erlebt. Hättest Du dabei sein können, dann hättest Du bemerkt, wie ein jedes glücklich seufzte. Versucht es einfach mal bei den Eltern, Geschwistern oder bei Euren Freunden. Ein Hund oder eine Katze tun es auch. Nachdem alle eine Streicheleinheit bekommen hatten, verschwand die Lichtergestalt genauso plötzlich, wie sie gekommen war. Doch die eigentliche Überraschung stand noch bevor. Am folgenden Morgen, als die Herde langsam erwachte, da gab es ein frohes Brüllen und Röhren. Die kranken Rentiere waren gesund und die Schwachen fühlten neue Kräfte in den müden Gliedern. Die Freude war unbeschreiblich. Und als wäre es das Natürlichste auf der Welt, das mitten im ewigen Eis ein riesiger Futtertrog stand, gingen alle zu dem reichlich gedeckten Tisch und begannen zu fressen. Erst als sie ihren Hunger gestillt hatten, begannen einige von ihrem Traum zu erzählen. Und sie erfuhren, dass sie alle den gleichen Traum gehabt hatten. Der älteste Bulle bestimmte daher, dass sie noch nicht weiterziehen, sondern noch ein wenig an diesem Ort verweilen würden. Dem fügten sich die anderen Tiere, die genau wussten, dass der Leitbulle nur das Beste für die Herde wollte. So, wie Eure Eltern das Beste für Euch wollen. Auch wenn das eine oder andere Ren vielleicht eine eigene Meinung darüber hatte, was das Richtige war, akzeptierte es die Entscheidung des Bullen. Eine Entscheidung, die sich als goldrichtig erweisen sollte. Da die Herde an jenem Morgen die ganze Futtermenge vertilgt hatte, sah es für den kommenden Tag nicht besonders gut aus. Trotzdem blieb die Herde, wo sie war und legte sich am Abend schlafen. In dieser Nacht hatte jedes Tier einen anderen Traum und keines wurde noch einmal gestreichelt. Die Herde schlief tief und fest. Das heißt, ein kleines Kalb erwachte sehr früh am nächsten Morgen und was es sah, verschlug ihm glatt die Stimme. Ohne sich zu regen, beobachtete er, was ganz in seiner Nähe geschah und ihm später zunächst keiner glauben wollte. Erwachsene sind oft der Meinung, dass Kinder eine rege Fantasie besitzen und sich gerne Geschichten ausdenken, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Vielleicht kennt ihr das ja. Also, was der Kleine sah, war Folgendes und ich erzähle es so, wie er es gesagt haben soll. Ein Ungetüm tauchte am Horizont auf, das beim Näherkommen immer unheimlicher wurde. Vorneweg sah ich ein Wesen auf vier Beinen, doch es war kein Rentier. Es hatte ein glattes Fell, einen langen Kopf und sein einziger Schmuck bestand aus zwei spitzen Ohren. Ganz hinten hing sehr langes Fell herab, welches das Tier auf und ab und dann wieder hin und her bewegte. Noch weiter hinten, jedoch irgendwie mit der merkwürdigen Gestalt verbunden, kam ein Koloss zum Vorschein, der unten vier flache, auf dem Schnee liegende Beine hatte. Zum Vorwärtskommen mussten sie nicht angehoben werden. Darauf war ein Trog befestigt, der dem Futtertrog vom Vortag ähnlich war. Dem Kälbchen zitterten die Lippen beim Erzählen, so aufgeregt war es. Ich konnte mich noch immer nicht bewegen, ich war starr vor Staunen. Aber dann, und nun haltet Euch fest, erschien neben diesem großen Ding genau so ein, ein, ein, äh wie soll ich sagen, so was, wie in meinem Traum, also das, was mich und anscheinend ja auch Euch gestreichelt hat. Nur das Licht fehlte. Bei dem Unterstand hielt es an und dann begann Das mit einer Art Stock mit drei Spitzen das Futter von dem einen Trog in den anderen zu werfen. - Rentiere sind sehr höfliche Tiere und was ihre Kinder betrifft, auch sehr geduldig. Das liegt sicher mit daran, dass sie nicht ständig auf die Uhr schauen, was wiederum daran liegt, dass sie keine besitzen. Der Anstand gebot ihnen, dem Kalb zuzuhören, bis es seine Geschichte erzählt hatte. Als sie sicher waren, dass nichts mehr kommen würde, ergriff die Frau des Leitbullen das Wort und erklärte den Anwesenden und dem Rentierkind, dass diese Geschichte den vielen anderen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, hinzugefügt werden solle. - Doch der Kleine, ein aufgeweckter Bursche, so wie auch Du einer bist, Oluf, ließ es nicht dabei bewenden. Er schwor bei allem, was einem Rentier heilig ist, dass er die Wahrheit spräche. Ja, ja dachten die Alten, so sind Kinder nun einmal. Und eines nach dem anderen drehte sich um und wollte sich einen Platz für den Tag suchen, als ein Raunen durch die Menge ging. Die Rentiere, die genau wie unsere Rinder sowieso schon große Augen haben, bekamen nun noch größere. Dort, wo bereits am Vortag das Futter gelegen hatte, war die gleiche Menge noch einmal vorhanden. Die Bullen und Kühe, die noch vor wenigen Minuten an der Wahrheit der Erzählung des kleinen Rens gezweifelt hatten, schauten von dem Unterstand zum Kälbchen, von diesem wieder zu dem Futter. Der Erste, der aus seiner Starre erwachte, war der kleine nächtliche Beobachter. Er rannte so schnell ihn seine Beine trugen zu dem Gabentisch, und begann aufmunternd an dem Gras zu zupfen. Jetzt hielten sich auch die anderen nicht mehr zurück und alsbald wurde die Stille nur durch das laute Schmatzen der Tiere durchbrochen. - An dieser Stelle unterbrach die alte Lina ihre Erzählung und vergewisserte sich der Aufmerksamkeit des Jungtieres. Was eigentlich überflüssig war, da Luffe ihr mit offenem Maul gelauscht hatte. Er war gespannt und fasziniert gleichzeitig. Also stimmte es, was er gehört hatte. Es gab noch andere Wesen außer den Rentieren. Sie gingen auf zwei Beinen, trugen eigenartige Felle, und waren Herr über das Futter. Von einer Gefahr hatte er in dieser Geschichte nichts gehört. Doch sie war ja auch noch nicht zu Ende. Während Lina die Geschichte erzählte, waren sie und Luffe ständig in Bewegung. Jetzt blieb sie stehen und schaute dem kleinen Kerl direkt in die Augen und sprach mit ernster Stimme. Nachdem die Tiere sich erneut satt gefressen hatten, stand fest, dass sie nicht weiterziehen würden, solange dieses Wunder anhielt. Sicherlich würden auch wir uns heute noch an diesem Ort befinden, wäre da nicht etwas Furchtbares passiert. - Hier machte die alte Rentierkuh erneut eine Pause. Sie schauderte bei dem Gedanken an den weiteren Verlauf der Geschichte. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, wendete sie sich in die entgegengesetzte Richtung. Nach zweimaligem Schlucken erzählte sie weiter. Die Herde fühlte sich wohl und geborgen, was dazu führte, dass sie weniger aufmerksam war. In den Zeiten ihrer Wanderschaft waren die Sinne geschärft gewesen, denn auch für so große und starke Tiere, wie es Rentiere sind, lauern Gefahren. Bären und Luchse sind die natürlichen Feinde einer Herde. Naja, das ist Dir wohl nicht neu. Aber wie es meistens geht, wenn man zu bequem wird und man nicht mehr für seinen Lebenserhalt kämpfen muss, dann wird man träge. Das war auch bei unseren Vorfahren damals nicht anders. Sogar die Ältesten und Weisen unter ihnen ahnten nichts von der Gefahr, die im Verborgenen lauerte, da es sich nicht um ein gewöhnliches Raubtier handelte, sondern um eines, welches sie noch nie erlebt hatten. Es war der Jäger. Genauer gesagt, der Rentierjäger. Bisher gab es nur einen der Spezies Mensch, welchen die Tiere zu Gesicht bekommen hatten, und das war der alte Einsiedler, der die Herde nun schon seit zwei Wochen mit Futter versorgte. Jeden Tag früh morgens belud er seinen Schlitten mit dem, was er im Sommer zusammengetragen und in einem Verschlag gelagert hatte. Sein Name war Björn, was übersetzt Bär bedeutet. Er liebte die Natur und das raue Leben so hoch im Norden. Seine einzigen Gefährten waren ein Islandpony, das treu und brav den Schlitten zog und ein Schäferhund. Es war alles in Bester Ordnung bis zu dem Tag, an dem die Jäger kamen. Es waren ihrer Drei und sie trugen Waffen bei sich. Sie wussten, es konnte eine lange Zeit vergehen, bis ihnen etwas vor die Flinte kam. Doch sie waren gut gerüstet. Wärmende Pelze schützten ihre Körper vor der Kälte. Das Gesicht hatten sie mit einer dicken Schicht aus Walfett eingerieben, denn die Kälte lässt die Haut sehr schnell austrocknen. Sie ernährten sich von Dörrfleisch, Zwieback und Tee. Bisher hatte es nicht so ausgesehen, als ob die Expedition von Erfolg gekrönt sein sollte. Die Essensration reichte eigentlich nur noch für den Rückweg. Da bescherte ihnen der Zufall die Rentiergruppe, die ihr festes Lager nahe der Futterstelle hatte. Die Jäger trauten ihren Augen nicht, als sie so viele, der von ihnen gesuchten Tiere auf einem Platz versammelt sahen. Doch vom langen Grübeln wird keiner satt, also wurden drei Gruben ausgehoben, die je einem der Männer Platz und Schutz bot. Sie legten sich in die Kuhle, ein jeder in seine, mit dem Gewehr im Anschlag. Der Führer der Gruppe zählte bis drei und dann zeriss ein ohrenbetäubender Lärm die Stille. Aus den Gewehrläufen entlud sich die tödliche Munition und streckte drei Tiere der Herde nieder. Der Angriff kam so plötzlich und unerwartet, dass die unverletzten Rentiere nicht davonstoben, sondern wie hypnotisiert stehen blieben. Die Angst umfing die Herde wie ein bleiernes Tuch und lähmte jede Bewegung. - Da, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ertönte aus der Ferne lautes Gebell, das jedoch schnell näher kam. Es war der Hund des alten Björn, der sich einen Weg durch den Schnee bahnte und mit seinem Gekläffe die Herde aus ihrer Starre erlöste. Als hätte ihnen jemand einen Stromschlag versetzt, hetzten die Tiere von dannen. Die Jäger in ihren Gräben staunten nicht schlecht bei diesem Schauspiel und begannen lauthals zu fluchen. Schon legte einer der Drei auf den Schäferhund an und wollte diesen Störenfried, der die Jagd so abrupt beendet hatte, erlegen. Doch der Älteste unter ihnen hob seine Hand und zog den Arm des jungen Hitzkopfs herunter. Es hätte gegen seine Jägermoral verstoßen, ein Tier zu töten, dass keine Beute war. Das Schicksal hatte ihnen diese Herde zugeführt und das Schicksal hatte es in der Hand, wie hoch ihr Anteil war. Als wieder Ruhe eingekehrt war, begaben sich die Männer zu den Tieren, die durch ihre Waffen niedergestreckt worden waren. Und nachdem sie die verendeten Kreaturen auf einen Schlitten beförderten, verschwanden sie in der Weite der Steppe. - Seht ihr, auch so kann das Leben sein. An dem einen Tag ist alles eitel Sonnenschein, und am nächsten kommt es ganz dicke. Doch keine Angst, eine Geschichte ist erst dann zu Ende, wenn der letzte Satz gesprochen ist.
Damit auch die Ängstlichen unter Euch sich wieder beruhigen, kann ich Euch versichern, dass die drei erlegten Tiere einen anständigen Platz im Rentierhimmel bekommen haben. Oluf trabte neben Lina durch den Schnee. Er spürte nicht die Eiseskälte, seine ganze Konzentration galt der Rentierkuh und der Geschichte. Er hätte gerne tausend Fragen gestellt, aber die musste er sich aufheben bis zum Schluss. Es verging eine geraume Zeit, ehe sich die Tiere dort wieder zusammenfanden. Die Köpfe hielten sie gesenkt, sie waren natürlich sehr traurig. Der Leitbulle ließ die Reihen durchzählen, um die Anzahl der Lebenden festzustellen. Dabei fiel ihm ein Jungbulle auf, der am Hals verletzt war. Die Kühe der Herde machten sich sofort daran, die Stelle mit ihren Zungen abzulecken. In der großen Aufregung bemerkten sie nicht, dass der Schäferhund des Einsiedlers noch bei ihnen war. Auch er lief zu dem angschossenen Ren und begann an der Wunde zu schnüffeln. Dann drehte er sich um und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf das Junge, und daher bemerkten die Tiere den Mann mit dem Schlitten nicht sofort. Zuerst wurde er von dem Kalb erkannt, das ihn zuallererst gesehen hatte, in jener Nacht, in der er das Futter gebracht hatte. - Ihr Kinder habt ja auch noch gute Augen und seid wachsam, was um Euch herum passiert. Dieser Mensch ging mit festen Schritten direkt zu der Herde und legte seine Hand auf den Rücken des angeschossenen Tieres und strich vorsichtig über die Verletzung. Mit der anderen griff er in seine Jacke und beförderte eine Salbe hervor. Dabei strahlte er eine solche Ruhe aus, die sich auf die ganze Herde übertrug. Er öffnete die Dose und entnahm ihr mit zwei Fingern eine kleine Menge, die er auf die Wunde auftrug. Noch einmal streichelte er den Rücken sanft, wandte sich um und verließ den Ort des Geschehens. - An dieser Stelle der Erzählung wurde es Lina immer ganz warm ums Herz. Vor lauter Rührung rollten ein paar Tropfen aus ihren großen Kulleraugen. Auch Luffe musste tief durchatmen, verkniff sich allerdings die Träne, die sich schon im Augenwinkel zum Herauslaufen bereit gemacht hatte. Statt dessen hustete er verlegen. - Wir wissen natürlich, dass auch Jungen weinen dürfen, wenn ihnen danach zumute ist. Oder wie ist das bei Euch? Einige Runden drehten sie dann schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Oluf versuchte, das bis dahin gehörte zu sortieren und zu verstehen. Wenn er es richtig mitbekommen hatte, dann gab es also zwei Sorten von diesen Wesen. Die Einen brachten Futter und halfen verletzten Tieren, die anderen jagten die Herden und schossen auf sie. Auf jeden Fall wurde seine Neugier mit jedem Satz, den er gehört hatte, größer. Und noch etwas wurde ihm klar. Es gab keine Zeit zu verlieren, wenn das Leben des alten Larsen gerettet werden sollte. Doch wo sollte er mit der Suche beginnen? Schließlich war es eine alte Geschichte und keiner wusste mehr, wo sie sich abgespielt hatte. Selbst Lina konnte da nicht helfen. Luffe suchte sich einen Platz abseits der Herde und begann zu grübeln. - Ihr dürft gerne mitmachen. Vielleicht weiß einer von Euch ja, wo Oluf mit der Suche beginnen sollte. Jede Einzelheit der Erzählung holte er in sein Gedächtnis zurück. Da fiel es wie Schuppen von seinen Augen. Natürlich - nach Norden musste er gehen. Dort wo es nicht mehr weit zum Pol war. Dort musste er den Schlüssel finden, der die Tür zur Rettung öffnete. Und noch eines wusste der kleine mutige Luffe, er musste es heimlich machen, denn er hätte niemals die Erlaubnis der Eltern bekommen. Am Abend, bevor er sich auf den Weg machen wollte, würde er sich noch einmal richtig satt fressen. Wie die anderen Tiere legte er sich nieder und wartete, bis sie eingeschlafen waren. Dann stand er auf, blickte noch einmal auf die Herde und marschierte los. Woher er wusste, welche die richtige Richtung war? Tja, das ist den Rentieren angeboren. So wie bei den Babys der Sauginstinkt. Wie lange würde seine Reise dauern, und würde sie von Erfolg gekrönt sein? Das waren Dinge, über die das junge Tier nicht nachdachte. Es lief und lief und lief, Tag um Tag. Rentiere kennen nicht die Uhrzeit und besitzen auch keinen Kalender, jedenfalls nicht so einen, wie wir Menschen. So kam es, dass Oluf keine Ahnung hatte, dass es kurz vor Weihnachten war, genau wie damals, als das Wunder geschehen war. Die Sterne am Himmel, die ihm den Weg zeigten, leuchteten so klar und hell wie immer. Noch deutete nichts auf das Ereignis hin, welches dem Rentierkalb bevorstand. Am Mittag des 12. Dezembers hatte Luffe kaum noch Kraft in den Beinen, weshalb er sich schon nach einer kurzen Wegstrecke hinlegen musste. Zum ersten Mal seit Anbeginn seiner Wanderung musste er sich eingestehen, dass die Hoffnung auf Hilfe immer mehr dahinschwand. Die Augen fielen ihm zu, er war sooo müde, wollte nur noch schlafen. Ich sage Euch, Ihr hättet nicht bis drei zählen können, so schnell ging das. Wer von Euch hat das nicht auch schon mal mitgemacht? Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Es dauerte es nicht lange und die Traumfee, die überall auf der Welt zu Hause ist, erschien und schüttete ein Säckchen mit Träumen über Oluf aus. Das war schön und gefährlich zugleich. Wenn die Traumwelt einen gefangen nimmt, dann kann es passieren, dass man nicht mehr aufwachen möchte. Jetzt wisst Ihr auch, wozu der Wecker erfunden wurde. Luffe schlief und träumte und wäre sicher erfroren, wäre da nicht ein Mann gekommen, der das Rentier dort liegen sah. Er bückte sich herab und begann mit seinen dicken Handschuhen den Körper des Tieres abzureiben. Mit kreisenden Bewegungen wollte er die Blutzirkulation wieder in Gang bringen. Unermüdlich machte er weiter und weiter und tatsächlich gelang es ihm, den kleinen Oluf ins Leben zurückzuholen. Dieser war so schwach, dass er nicht einmal erschrak beim Anblick des Alten, der noch immer über ihn gebeugt stand. Stets an der Seite des Mannes war sein Polarhund, ein waschechter Husky. Der Hund spürte die Nervosität, die Luffe in sich trug, seit er aufgebrochen war, um Hilfe zu holen. Der Husky bellte und tänzelte wie wild um Mensch und Rentier herum, er lief nach Süden und wieder zurück. Der Besitzer kannte sein Tier und wusste, dies war eine Botschaft und sie war eindeutig. Also wurde der Schlitten geholt, denn im Moment war Oluf noch nicht in der Lage selber zu laufen. Wäre ein Beobachter in der Nähe gewesen, er hätte sicherlich laut gelacht. Ein Hund, der einen Schlitten zog, auf dem sich gemütlich ein Rentierkalb rekelte, mit einem Mann dahinter, der das Gefährt von hinten anschob. Tag für Tag bewegte sich dieser Treck weiter südlich. Und obwohl ihnen unterwegs das eine oder andere Raubtier begegnete, wurden sie von keinem der wilden Tiere angegriffen. Mittlerweile schrieb man den 23. Dezember. Also, wer von Euch wüsste nicht, welcher Tag das ist. Natürlich, es ist der Tag vor dem Heiligen Abend. Und an diesem 23.12. geschah es, dass sich der Schlittenhund wieder ganz ungewöhnlich benahm. Er stapfte so heftig mit seinen Pfoten im Schnee und wollte sich nicht das Geschirr abnehmen lassen. Doch es half alles nichts, sie mussten eine Rast einlegen, damit sie am nächsten Tag wieder frisch waren. Dann musste der Husky eben in seinem Zaumzeug schlafen. Als dann endlich Ruhe eingekehrt war und die drei Wanderer, Luffe lief inzwischen schon wieder selber, eingeschlafen waren, kamen die guten Geister, die vor Weihnachten die süßen Träume brachten. Getarnt als kleine und große Nebelschwaden umhüllten sie die Schlafenden, wobei sie leise die alten Lieder sangen. In dieser verzauberten Nacht hatten verschiedene Kreaturen seltsame Träume. Einer von ihnen war der alte, kranke Larsen. Ihm erschien im Traume ein eigenartiges Gespann, von dem ihm nur ein Wesen bekannt war, nämlich der tapfere Luffe. Alles drum herum war ihm fremd, erinnerte ihn aber in irgendeiner Weise an eine Geschichte, die er einmal in seiner Jugend gehört hatte. Die Zweite, die in der Nacht von genau demselben Traum Besuch hatte, war die gute Lina. Vor lauter Freude wachte sie auf und machte einen Spaziergang, damit die anderen schlafenden Tiere nicht durch ihr frohes Lachen geweckt würden. Sie wusste, jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis Hilfe kam. Ihre Augen glänzten, wie in jungen Jahren. Der dritte Träumer war der Mann. Doch er besaß schon die Weisheit des Alters, die ihn gelehrt hatte, gut Ding braucht Weile. Sie würden am nächsten Tag ihr Ziel erreichen, wozu also den kostbaren Schlaf unterbrechen. Um diese Stunde konnten sie eh nicht weiterziehen. Der Hund hatte es schon vor den beiden anderen gefühlt, vielmehr war es seiner außergewöhnlichen Nase zu verdanken, dass er die Herde bereits so frühzeitig erschnüffeln konnte. Am Ende dieser mystischen Nacht erwachten die drei Gesellen und zogen nach einem kräftigen Frühstück weiter. Es war gegen Mittag, als der Husky nicht mehr zu bremsen war. Mit aller Kraft warf er sich in die Riemen, die beiden Weggefährten konnten kaum folgen. Das laute Gebell war nicht zu überhören. Auch nicht für die Herde, in der die Tiere nach und nach aus dem Schlaf erwachten. Lina, die ja wusste, was es zu bedeuten hatte, lief dem Gebell entgegen und nach einigen Metern, ließ sie ihre Stimme erklingen. In diesen Krach fiel nun auch Luffe mit ein und alsbald auch die restlichen Rentiere. Der Alte hielt sich die Ohren zu, denn trotz seiner eigenen Freude, war er doch nur ein Mensch. Olufs Beine flogen über den Boden, so schnell rannte er zu seiner Lina. Nachdem sich die ersten Wogen des Glückes gelegt hatten, machten die Tiere den Weg frei, sodass der Retter zum kranken Larsen kommen konnte. Der Helfer, der große Erfahrung in der Naturmedizin besaß und auch den eigenen Hund schon behandelt hatte, erkannte gleich, dass Larsen giftige Pflanzen gefressen haben musste. Er verabreichte ihm ein selbst hergestelltes Tonikum, welches das Gift im Körper bekämpfen würde. Klugerweise hatten die Kühe unter den Rentieren dafür gesorgt, dass der Patient stets genug trank. In ein bis zwei Tagen sollte er gerne wieder auf den Beinen sein. Bis dahin würde auch das karge Futter noch reichen. Der Heiler würde noch bleiben und dann die Herde noch etwas weiter nach Süden führen, wo es genügend Nahrung gab, um den Winter zu überstehen. Ihr seht, mit Liebe und gutem Willen können auch die größten Hindernisse überwunden werden.





Fröhliche Weihnachten vom kleinen Eisbären


Impressum

Texte: Quelle Bilderhttp://www.gbpics.eu/Alle Rechte am Text beihenriettej.
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2009

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Widmung:
Zitat Johann W. von Goethe: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut

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