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"Kikeriki!!! ... Kikeriki"!!! Mit ohrenbetäubendem Lärm werde ich aus dem tiefsten Schlaf gekräht. Nein, ich lebe nicht auf dem Bauernhof, nicht mal auf dem Dorf. Dort würde der Hahn auch nicht neben dem Bett stehen sondern auf dem Misthaufen – und so schlimm sieht es hier denn doch nicht aus. So unbarmherzig weckt mich mein ’Hahnen’-Wecker, dem ich jetzt eins auf seinen roten Kamm gebe. Sofort schlägt er die Augen auf und begrüßt mich mit einem übertrieben freundlichen "guten Morgen"! Was soll daran gut sein, wenn man morgens um sechs Uhr so unsanft aus dem Schlaf gerissen wird. Das alles konnte meinen Göttergatten neben mir allerdings nicht aus seinen Träumen reißen. Schlaftrunken nehme ich meine Brille und taumele noch immer leicht benommen ins Bad. Es hilft alles nichts: Mein täglicher Wahnsinn hat soeben begonnen.
Nach einer eher flüchtigen Reinigung flitze ich - oder wie nennt man das bei den Schnecken meines Alters? - zuerst in die Küche, um Kaffee und Frühstück zuzubereiten. Tisch decken und Kakao machen gehen auch im Halbschlaf. Dann wieder rauf zur Tochter. Jetzt kommt der schwierigere Teil des Morgens. Rollläden hoch, Fenster zu: "Häschen, aufstehen! – Hallo-o! Schule geht bald los!!!" Ich stehe am Hochbett und hoffe auf eindeutige Signale; manchmal schenkt sie mir nur ein heimliches Grinsen, manchmal sprudelt mein Energiebündel direkt los, aber meistens kommt erst mal gar nichts. Null! Also krieche ich mit meiner rechten Hand unter die Decke und fange an die Beine rauf und runter zu krabbeln; dabei lasse ich meinen üblichen Spruch ab: "Oh je, oh je, oh je, die Ameisenarmee..." Da, ein leichtes Grienen. Also fahre ich fort: " ...Krabbelt rauf und runter, macht mein Häschen munter!" Nach weiteren zwei Minuten, in denen die erste Armee sich Verstärkung der anderen Hand geholt hat, werde ich dann energischer. Die Decke kommt weg, das Kind wird in die Senkrechte gebracht. An schlechten Tagen habe ich jetzt schon die erste Brüllattacke provoziert. Heute geht es; offenbar gute Laune.
Das Frühstück selbst geht einigermaßen glimpflich ab. Direkt bei Eintreten in die Küche startet sie durch: "Mama, können wir mal wieder Timmy besuchen fahren? Ich habe ihn schon solange nicht mehr gesehen." "Mal sehen, mein Schatz", ist meine beiläufige Antwort; bloß nicht jetzt schon festlegen, sie erinnert sich an alles. "Mama, Janina will auch mit Geige anfangen, dann können wir später mal zusammen spielen. - la ,la, la, la, la, la, la…" trällerte sie den Anfang ihres letzten Übungsstücks, den ich sogar erkannt habe. Der Kakao wird nicht ausgetrunken aber das wird er nie, damit habe ich mich abgefunden. "Mama, wenn ich mal groß bin, dann werde ich in einem Orchester spielen." "Ja, Süße, sicher, aber dafür musst du leider ein bisschen mehr und regelmäßiger üben", war meine, selbst für meine Ohren, nicht eben prickelnde Antwort. "Ja, das mache ich auch, wenn ich größer bin." Wie ich meine Kleine kenne, hat sie daraufhin heimlich beschlossen, nicht mehr zu wachsen. - Die Haferflocken werden verschmäht. Ich erlaube also heute mal nur Toast mit Marmelade; sehr ungesund für’s Kind aber sehr gut für Mutter’s Nervenkostüm. Die Joghurtauswahl dauert zwar etwas, aber nach dem mehrmaligen Vorbeten der immer selben Sorten, ist sie getroffen - Heidelbeere, wie immer. Da sie den Joghurt am Rand des Bechers nicht mag - er ist dort schon etwas hart geworden - wird er mit dem Löffel unter zu Hilfenahme der Finger weggekratzt und einfach auf das Set geschmiert. Die umfangreichen Kleckse auf dem Set übersehe ich geflissentlich. Vom Betreten der Küche bis zum Verschwinden ins Bad redet sie ununterbrochen. Reden, singen, – das ganze Programm in bester Stimmung mit und ohne Frühstück im Mund.
Richtig nervenaufreibend wird es erst jetzt mit dem Positionswechsel ins Badezimmer. Natürlich kennt mein Mäuschen die Prozedur des Zähneputzens. Das heißt aber nicht, dass sie nicht jeden Tag auf's Neue probieren könnte, drum herum zu kommen. Sie behauptet steif und fest: “Ich habe meine Zähne schon geputzt, Mama.“ Ich kontrolliere die Zahnbürste – trocken! Das lasse ich natürlich nicht durchgehen. Wenn es gut geht, ist das Thema tränenreich in drei Minuten durch; dann Hände, Gesicht, Ohren und Hals waschen. Waschen? Schon wieder? Hat sie doch gestern erst gemacht; und überhaupt: Wozu denn den Hals? Sie könne doch einen Rolli anziehen, schlug sie vor. Ich ändere meinen werbenden Ton und die Worte von "bitte, mein Häschen, wasch dich ordentlich", zu "du wäscht dich jetzt, alles, keine Widerrede"! Autoritäre Mutter, ich. Aber ich habe keine Zeit für Grundsatzfragen. Wir müssen bald los. Na gut, denkt sie offensichtlich, dann aber nur unter Veränderung des Badezimmers zur Schwimmanstalt. Ich weiß nicht, wie sie das immer wieder schafft. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie das extra macht, um morgen vielleicht doch drum herum zu kommen. Aber irgendwie kommen wir auch da hindurch. Schließlich haben wir ja tägliche Übung in Wasserschlachten.
Schließlich kommt der entscheidende Satz: "Was soll ich anziehen?" fragt sie mit liebenswürdigen Piepsstimmchen. Als würde sie das wirklich interessieren. Egal was sie anziehen soll

, sie will

immer etwas anderes. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie jemals was mit Mode zu tun haben wird oder aber sie wird der Trendsetter schlechthin; kann ja heute nicht verrückt genug sein.
Ich antworte etwas von Jeans und einem passenden Oberteil, während ich mich selbst in Jeans, Pulli und Stiefel schwinge. Sie wählt heute eine sehr konservative Ausstattung. Dreiviertellange Jeans und eine kurzärmelige, rot-weiß karierte Bluse. Sehr hübsch aber ihr Anblick löst bei mir beinahe einen Herzinfarkt aus, da wir im Februar noch im dicksten Winter stecken. Sie ist sichtlich enttäuscht, da sie doch ob ihrer gemäßigten Wahl mit einigem Zuspruch gerechnet hat. Als ich auf den Wechsel zu einer langen Thermojeans nebst Rolli und pinkfarbenen Pullover bestehe, bekomme ich ihre volle Frustration darüber zu spüren. Sie schmeißt sich auf den Boden und schlägt mit den Händen auf denselben ein, während ihr unter lautem Gebrüll dicke Tränen über die Wangen laufen. Was jetzt? Aufgrund eigener Lebenserfahrung ist es mir zutiefst zuwider ihr zu sagen, dass sie das anzuziehen habe, weil ich

- Mutter und Autoritätsperson, die keinen Widerspruch duldet - es sage. Das spare ich mir für eine eventuelle nächste Runde auf. Ich erkläre ihr, dass sie sich in ihrem Aufzug eine dicke Erkältung einfinge und dann übermorgen nicht zu Janina’s Geburtstagsparty gehen könne. Meine Maus hält inne, dreht sich um zu mir und sagt, noch mit Tränen zwischen den Augenwimpern: "Aber ich möchte lieber den blauen Pullover anziehen." Ich lasse ein inneres Stoßgebet ab und danke dem lieben Gott und Janina. Wären da doch immer irgendwelche Geburtstagsfeiern, die solche und andere Probleme lösen helfen. "Okay, mein Schatz, dann nehmen wir den blauen." Ich drückte sie an mich und hauchte ihr einen Kuss auf ihr Haar. "Ich hab’ dich lieb, mein Häschen!" "Ich dich auch, Mama", erwiderte sie nun schon wieder lächelnd. Diesen kleinen Sieg - den blauen Pulli - muss ich ihr lassen, damit sie das Gesicht wahren kann aber ich meinen Willen bekomme. Kinderpsychologie – Basiswissen. Sie zieht sich also bestimmungsgemäß an, während ich nochmal schnell ins Bad enteile. Viel Zeit bleibt mir nicht; größere Restaurationsarbeiten oberhalb des Halses müssen leider bis später warten, aber etwas braune Paste benötige ich doch, um den blutleeren, völlig übermüdeten Eindruck zu kaschieren. Dann gehe ich mit Bürste und Haarband bewaffnet wieder zu meiner Süßen. Es gibt ein letztes "aua, du tust mir weh, autsch, ah" beim Haare kämmen, aber schließlich sind sie zum Pferdeschwanz gebunden. Stiefel, Anorak, Schal, Mütze und Handschuhe an, Schulzranzen unter dem Arm verlassen wir um 7 Uhr das Haus. Oh, nein, die Autoscheiben sind zugefroren. Auch noch kratzen! Kind hinein, Auto an, wieder raus, Eis kratzen, hinein ins Auto und los. "Mama, mir ist kalt!" kam es von hinten. "Ja, Schatz, es wird bald wärmer" erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass das noch so lange dauern würde, bis wir die Schule erreicht hätten. Nach durch gequatschter Fahrt - sie redet ohnehin immer und ich wollte von der Kälte ablenken - liefere ich sie dennoch pünktlich in der Schule ab und habe sogar noch einen kleinen "small talk" mit der Lehrerin, die mir versichert, was für ein bezauberndes Kind ich habe, so clever, nur ein wenig zu ruhig im Unterricht. Für einen Moment glaube ich an eine Verwechselung, aber sie meint tatsächlich meine Maus.
Ich fahre zurück nach hause, mache mir noch einen Kaffee und greife mir die Tageszeitung um ein wenig abzuschalten und durch zu schnaufen. Gedankenverloren ließ ich die Zeitung wieder sinken und dachte zurück an die letzten sechs Jahre. Sie hat von Geburt an nie viel geschlafen – nicht in der Nacht und schon gar nicht tagsüber - , dafür aber umso mehr geschrieen. Sie hatte selbst als kleinstes Kind schon einen sehr stark ausgeprägten Willen, den sie versucht hat, durch zu setzen, wann immer sie konnte und wenn sie dafür ihren Kopf gegen die Wand hauen musste bis er wund wurde. Sie fing sehr früh an zu sprechen und hat das seit dem ununterbrochen praktiziert. Übung macht den Meister. Schrei- und Unmutsanfälle sind an der Tagesordnung gewesen. Dafür ist sie ein ausgesprochen intelligentes, unterhaltsames und bisweilen humorvolles Kind, das ich über alles liebe und mit dem ich mich ununterbrochen beschäftigt habe. Ich habe sie so gut wie nie vor dem Fernseher 'geparkt'. Ich lasse einen tiefen Seufzer ab in Erinnerung an so manch harte Stunde, die wir bereits hatten, als meine ‚bessere’ Hälfte ausnahmsweise mal um acht Uhr statt um neun aus dem Schlafzimmer schlurft. Er sieht mich etwas erschöpft da sitzen und meint mit einem Ton, der totales Unverständnis ausdrückt oder vielleicht sogar Verachtung: "Na, du bist ja morgens um 8 Uhr bereits das erste mal erledigt. Mein Gott, wie würdest du denn mit zwei Kindern klar kommen? Du schaffst ja nicht mal eines!"
Ich bin doch einigermaßen verletzt, verkneife es mir aber zu antworten. Was hätte ich auch sagen sollen? Hätte ich ihm schildern sollen, was bereits alles geschehen war, während er noch süß in Morpheus Armen schlummerte? Dass andere Väter zusammen mit Frau und Kind aufstehen und vielleicht hilfreich unter die Arme greifen? Dass sie dafür auch nicht erst abends um 10 nach hause kommen, wenn das Kind nach einem Nachmittags- und Abendprogramm, das das Theater vom Morgen oft noch in den Schatten stellt, bereits schläft? So sage ich nur: „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen? Lang genug war es ja, oder? – Kaffee?“
Aber es bleibt von jeder kleinen Stichelei immer etwas hängen, bei mir jedenfalls. Bin ich denn wirklich so eine schlechte Mutter? Sind eigentlich alle Kinder so anstrengend wie meines? Bin ich einfach nur unfähig und mache alles falsch? – Mein Selbstwertgefühl ist schwer angeknackst, da mich die Erziehung dieses einen Kindes so sehr an die Grenzen meiner Belastbarkeit bringt. Dabei wollte ich so gerne eine gute Mutter sein...

Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass meine Tochter stark ausgeprägtes ADS hat, der feststellende Spezialist mir zu meiner großartigen Erziehungsarbeit angesichts dieser Umstände gratulieren würde und Gott sei dank auch nicht, was mich noch alles erwarten würde, insbesondere sobald sie erst einmal in die Pubertät käme. Heulen und Zähneklappern werden dann zu den kleineren Problemen gehören. Aber genauso wenig weiß ich, wie gut sie sich einmal trotz ADS in vielen Belangen - insbesondere schulisch - entwickeln würde und dass die meisten Sorgen, die ich mir mache, unberechtigt sein würden und das alles, obwohl ich mich von ihrem Vater trennen würde, wenn sie acht Jahre alt ist. – Oder ist es gerade deshalb?

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2009

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