Cover

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Sie fuhren nach hause. Er blieb wie immer zurück. In zwei Stunden werden sie dort sein, in ihrem gemeinsamen Haus in Hannover, in einem anderen Leben. Ihrem gemeinsamen Haus? Nur noch auf dem Papier.
Er zog kräftig an seiner Zigarette, so dass die Glut orangerot aufleuchtete. In der nächsten Sekunde waren sowohl die aufglimmende Glut als auch die Lichter des Zuges nicht mehr zu sehen. Beides verlor sich im Rauch, den er geräuschvoll ausstieß, er verlor sich in den Gedanken an seine Ehe.
Während er sich langsam umdrehte um zum Ausgang zu schlendern, schnippte er die Kippe im hohen Bogen mit Daumen und Mittelfinger auf die Gleise. Weg ist sie! – Er fühlte sich für einen kurzen Moment merkwürdig leicht, streckte sich und fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand über die Stirn durch die vollen braunen Haare. Schnell aber fiel er wieder in sich zusammen und schaute sich schuldbewusst um. Auch ohne offizielles Rauchverbot fühlte es sich so an, als hätte er gerade gegen das Gesetz verstoßen, jedenfalls gegen ihren

Willen. Hanna hätte ihn jetzt wie einen kleinen Jungen tadelnd angesehen, den Kopf geschüttelt und mit tiefer Stimme und scharfer Betonung der ersten Silbe ein ermahnendes "Robert!" verlauten lassen, das er so gut kannte. Aber Hanna saß im Zug.
Jeden zweiten Sonntagabend verabschiedete er sich von seiner Frau und seiner kleinen Tochter an gleicher Stelle. Wochenendehe! Seine Tochter war jetzt fünf Jahre alt, bald sechs. Seine Tochter... - Isabella. Er nannte sie immer nur "Isi, mein Häschen". Robert lächelte bei dem Gedanken an sie. Das Lächeln wurde gleich darauf von einem wehmütigen Blick in seinen braunen Augen abgelöst. Er vermisste sie oft. Isi war allerdings durch und durch Hanna's Tochter. Sie sah aus wie ihre Mutter, lachte und redete sogar wie diese – jetzt schon.
Hanna war eine blendende Erscheinung, wie man so schön sagt. Sie war mit ihren 39 Jahren nicht nur sehr schlank mit schulterlangen, blonden lockigen Haaren, wachen, intelligenten blauen Augen und einem hellen, ansteckenden Lachen; sie war ebenso erfolgreich in ihrem Beruf als Anwältin, eine gute Mutter und eine sehr gute Gastgeberin. Hanna konnte Beruf, Kind, Haus, zwei Katzen, Sport und einen wundervoll gepflegten Garten mühelos unter einen Hut bringen. Sie meinte immer: "Tja, mein Schatz, alles eine Frage der Organisation." Als sie ihn vor acht Jahren heiratete war er der glücklichste Mann auf der Welt. Nicht, dass es an anderen Möglichkeiten gemangelt hätte; er war schließlich auch durchaus nicht unansehnlich und war als Diplom-Biologe zumindest keine schlechte Partie gewesen. Jedoch hatte er sein Glück kaum fassen können, damals, an jenem Sommertag als Hanna, die von jedermann begehrt war, zu ihm, Robert, "ja" gesagt hatte. Heute konnte er kaum fassen, dass er

"ja" gesagt hatte. Nun ja, wenn man vom Rathaus kommt... Damals waren sie voller Zärtlichkeit miteinander umgegangen. Er liebte, wie sie ihn liebevoll "Rob" nannte; niemals laut, immer sachte und auf einer Woge von Gefühl getragen. Jedesmal verursachte es Grummeln in seinem Bauch. Er genoss ihre Bewunderung, ihren streichelnden Blick. Robert dachte, das sei das Glück auf Erden. - Verloren, das Glück, sie, doch am meisten sich selbst.
Er war nicht verbittert. Er verstand es nur nicht. In allem war Hanna perfekt, nur als Ehefrau hatte sie versagt. Ihn hatte sie im Laufe der Jahre irgendwie auf dem Weg zur Karrierefrau und Mutter 'weg organisiert'. Egal. Er konnte es beim besten Willen nicht mehr ändern, nicht einmal, wenn er zurück nach Hannover ginge, zurück zu Hanna und Isi. Er konnte diese Ehe so oder gar nicht führen - zunächst.
Er verließ das Bahnhofsgebäude und ging zögernd zu seinem Auto. Wohin jetzt? In die Kneipe oder zu Eva? - Eva! Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch nicht zu spät für sie. Ein Lächeln stahl sich in seine Augen. Jawohl! Sie würde ihm jetzt gut tun. Sie wusste, was er brauchte. Eva wusste immer, was er brauchte. Sie liebte es zu geben, ihn zu verwöhnen; bei ihr durfte er endlich einmal nehmen. Sicher, 'geben ist seliger denn nehmen', aber eine Ehe funktioniert mit christlichem Verhalten allein nicht, jedenfalls nicht, wenn nur einer danach handelt.
Plötzlich verlor sich das Zögerliche in seinem Gang. Es drängte ihn geradezu zum Auto, jetzt, wo die Entscheidung gefallen war. Er eilte mit ausgreifenden Schritten über den Parkplatz, schloss sein Auto auf, schwang sich hinein und preschte los. Nach ein paar Minuten durch die Innenstadt fädelte er sich auf der Stadtautobahn ein. Wieder sah er signalrote Lichter. Paarweise zogen sie vor ihm ihre Bahnen, wie an unsichtbaren Fäden gezogen.
Erneut zündete er sich eine Zigarette an. Eigentlich rauchte er nicht. Hanna mochte es nicht. Aus gleichem Grund trank er auch wenig Alkohol und schaute keinen Fußball. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht aber jetzt genoss er das Stück wiedergewonnene Freiheit. Er blies den Rauch wiederum heftig aus und aus den Rauchwolken drang erneut Hanna's hübsches Gesicht hervor. Der Gedanke an sie schmerzte ihn. Er konnte nicht zu ihr zurück, obwohl er vielleicht wollte. Robert liebte sie auf eine völlig irrationale Art noch immer. Vielleicht liebte er aber auch nur das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte. Soviel zu der blendenden

Erscheinung. Sie hatte vor allem ihn geblendet. Er fühlte sich verraten, konnte aber nicht mit ihr darüber reden. Sie war immer so...so beschäftigt in dem Versuch alles perfekt zu meistern. Wer will schon eine 'perfekte' Frau? Ein verwildeter Garten aber dafür ein wenig mehr Zeit für ihn, wäre ihm lieber gewesen. Reden. Wozu? Hannah hätte ihm ohnehin nur geantwortet, dass sie schließlich keine Teenager mehr seien und sie das doch alles auch für ihn täte, für ihre gemeinsame Familie und ihrer beider beruflichen Karrieren.
Die Freunde beneideten ihn um sie, meinten, sie wäre ein Traum. Vielleicht war er ja undankbar. Aber er mochte nicht mehr träumen; er wollte ganz real geliebt werden.
Er hatte vor einem viertel Jahr das Angebot einer befristeten Stelle für ein Jahr am Klinikum Hamburg angenommen. Die räumliche Trennung war letztlich nur der Vollzug des inneren Rückzugs. Er versprach sich Klarheit davon. Obwohl... Eine endgültige Entscheidung würde er nicht treffen; jetzt noch nicht. Wie hätte er das Hanna an tun können. Ihre heile Welt würde zusammen brechen. Auf diese Weise würde er wenigstens die Kleine nicht völlig verlieren und na ja,… es war schon schwierig genug sich selbst sein persönliches Scheitern einzugestehen aber nach außen …? Es war doch viel besser so - für alle Beteiligten, vorerst. -'Feigling!' dachte er.
Es kam die Autobahnabfahrt. In fünf Minuten würde er bei Eva sein. Sie würde ihn in ihre Arme schließen, ihn durch eine Kopf- und Nackenmassage genauso verwöhnen wie mit einem Scotch auf Eis, einer guten Zigarette 'danach' und einem anschließenden kleinen Imbiss. Jedenfalls auf das meiste davon musste er zu hause fast immer verzichten und was das andere anbelangt… Auch das war anders, ruhiger, ohne Turbulenzen aber sehr, sehr angenehm. Er durfte sich endlich mal fallen lassen. Der Sex mit Hanna war vielleicht besser gewesen, jedenfalls erregender, leidenschaftlicher aber seit Isi's Geburt war Weihnachten öfter.
Hanna hatte eigentlich alles, nur keine Wärme, jedenfalls nicht für ihn. Nie verwöhnte sie ihn, bewunderte ihn gelegentlich auch mal, suchte seinen Rat. Sie brauchte ihn nicht wirklich; er gehörte wohl einfach dazu, machte das Puppenhaus komplett. Er liebte sie, aber sie liebte die Ehe. Hanna würde diese Ehe nie auf's Spiel setzen. Da war er sich ganz sicher. Er hatte also Zeit, konnte seinen weiteren Rückzug planen. Das war es doch, was er wollte, oder nicht?
Seine Ehe, das, was davon noch übrig geblieben war, war leichter geworden durch den getrennten Alltag ohne die täglichen Enttäuschungen; leichter, nicht besser! Tatsächlich gab es an den Wochenenden nach langer Zeit wieder Gemeinsamkeiten - im Handeln, aber wohl nicht im Denken. So gern hätte er noch Hoffnung gehabt, aber die Erfahrungen der letzten Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. "Hoffen und harren..." Robert wollte kein Narr mehr sein.
Schon bog er um die letzte Ecke. Ein kleiner Stich im Herzen, ein sekundenlanger, trauriger Blick ins NIchts, bevor er vor dem gelben Jugendstilhaus hielt, heraus sprang und zur Haustür hastete. Jetzt war nicht die Stunde für Entscheidungen. Später!
Alle Gedanken an seine Ehe hatten sich beim Anblick des linken Fensters im 2. Stock in Luft aufgelöst. Das Licht warf einen warmen, gelblichen Schein. - Genießen, wenigstens den Moment.

Im Zug saß seine Frau mit der schlafenden Tochter neben sich im Arm. Sie ahnte, dass Robert jetzt bei einer anderen war. Das machte nichts. Sie würde doch deshalb nicht ihre Ehe auf's Spiel setzen, den Status, den sie mühsam über Jahre aufgebaut hatte. Er würde sie gewiss nicht verlassen. Warum auch? Robert hatte sich nie beschwert. Er hatte doch auch alles und was ihm fehlte, holte er sich woanders. So war es gut für alle, vor allem für Isabella – aber auch für sie, dachte sie und lächelte bei dem Gedanken an morgen - dem Gedanken an Tom. Sie würde ein, zwei Stunden mit ihm irgendwie in den Arbeitstag einflechten, unbedingt. Alles eine Frage der Organisation.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen allein bei Annette Henning
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für alle Sprachlosen

Nächste Seite
Seite 1 /