Ich gab es auf: Keinen weiteren Versuch - die Augen blieben zu. Das Licht war einfach nicht auszuhalten. Wo war Tamara heute Morgen? Auch Katjuscha war nicht zu hören. Wie spät mochte es sein? Habe ich so lange geschlafen?
"Daniel, bist du wach?"
Endlich, Tamara. Fast geräuschlos war sie näher getreten und nahm meine Hand.
Weiche Lippen berührten meinen Mund, flüchtig nur, aber diese kleine Geste genügte schon, mich hellwach zu machen.
"Ich wollte dich nicht wecken, Daniel. Du hast geschlafen, wie ein Stein."
"Und wie sind wir gestern nach Hause gekommen? Mir fehlt ein Stück Erinnerung. Ich weiss nur, dass wir uns geküsst hatten."
"Du hast mich geküsst, Daniel. Wir wären fast ins Meer gerollt. Es war himmlisch!"
"Ja. Es war mehr als das. Dann bekam ich diese Augenschmerzen und sah etwas …"
"Du sahst? Was hast du gesehen, Daniel?"
"Ich sah ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und …"
"Du hast Katjuscha gesehen, Daniel, dein Augenlicht kehrt zurück!!"
Tamara lies meine Hand los und rannte aus dem Schlafzimmer, kam sofort zurück und setzte mir eine Brille auf.
"Mach doch mal ein wenig die Augen auf." Ihre Stimme bebte vor Aufregung.
Ich versuchte es, hob die Lider nur einen winzigen Spalt. Dann schloss ich sie wieder.
"Das Licht ist jetzt etwas matter, aber immer noch schmerzhaft."
"Daniel, du kannst bald wieder sehen. Deine Augen müssen sich noch an das Licht gewöhnen. Wir werden fürs Erste alle Vorhänge zuziehen und du trägst weiter meine Sonnenbrille. Oder hast du eine eigene?"
"Mach mal die Schublade in der Flurvitrine auf. Da liegen mindestens fünf Exemplare. Das kleine Mädchen war also Katjuscha! Und warum hat sie unaufhörlich gelacht?"
"Weil wir mit dem Rollstuhl fast umgekippt wären."
"Wo ist die Kleine jetzt?"
"Luda, die heute Spätdienst hat, war so nett, Katjuscha bei der Vorschule anzumelden. Die Beiden werden zum Frühstück zurück sein."
Ich dachte wieder an den Augenblick am Strand, als Tamara auf meinen Schoss sprang.
"Gib mir doch bitte das Handy. Ich will meinen Kollegen, den Orthopäden von gegenüber, an unseren Untersuchungstermin erinnern. Eigentlich wollte er mir heute all die Bandagen, Schienen usw. abnehmen und mit dem Lauftraining beginnen. Gestern am Strand fiel es mir ein. Als du auf meinen Schoss hüpftest, sagten meine Beckenknochen keinen Piep!"
"Ach Daniel, mein Liebster, das war so unvernünftig von mir, ich hätte …"
"Du hättest was? Wenn du gestern nicht so stürmisch gewesen wärst, dann hätten sich meine Augen wohl nie daran erinnert, dass sie eigentlich zum Sehen da sind."
Ich wählte die Nummer des Freundes. Mein Kollege wollte nicht gestört werden. Verständlich. Er operierte gerade. Aber die Sprechstundenhilfe sagte mir, dass sein Hausbesuch bei mir um 10.30 Uhr vorgesehen war. Ich sollte, wenn möglich, im Bett bleiben. Das würde die Untersuchung erleichtern.
Tamara, die mitgehört hatte, nickte nur.
"Dann werde ich Dir das Frühstück ans Bett bringen." Sagte es und verschwand.
Ich hörte den elektrischen Wasserkocher summen. Bekam mit, wie Schranktüren auf- und zuklappten. War ganz Ohr für das begleitende Trällern von Tamara. Ich wusste immer noch nicht, wie sie aussah, aber ich liebte sie. Es war eine Liebe, die tief aus dem Inneren kam und noch jeden Tag weiter wuchs.
"Rückst du ein Stück?"
Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich sie nicht hatte kommen hören.
Das Klirren der Tassen und Teller verriet mir, dass sie wohl ein Tablett auf meinem Nachttisch abstellte. Ich versuchte, ein wenig wegzurücken. Erst mit ihrer Hilfe gelang es. Dann schlüpfte sie behänd unter meine Decke und verbreitete eine wohltuende Wärme und ihren unvergleichlichen Duft.
Sie sagte nichts, nahm nur meinen Kopf in ihre beiden Hände - was mich an den stummen Abschied von Isabel erinnerte - und küsste mich. Dieses Mal nicht flüchtig. Sie ließ mir genügend Zeit, ihren Kuss auf meine Art zu erwidern. Tamara hatte die Sonnenbrille längst abgenommen. Aber ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Oder sollte ich doch? Ich wusste, dass die Vorhänge in meinem Schlafzimmer noch zugezogen waren. Ich öffnete meine Augen einen Spalt. Ganz nahe sah ich volle Lippen und eine zarte Nase. Ich ergriff Tamaras Schultern und drückte sie ein wenig von mir weg. Unwillkürlich riss ich die Augen ganz auf - Tamara.
Das Erste, was ich sah, war diese goldene Spange, die ihr volles rotbraunes Haar bändigte. Ich hatte sie mir immer mit kurzen Haaren vorgestellt. Stattdessen waren es leicht gewellte schulterlange Haare, die ihr ovales Gesicht spielerisch umrahmten. Dieses Gesicht hatte ich gestern am Strand abgetastet. Ja, sie hatte hohe Wangenknochen, was ihrem ganzen Gesicht etwas Zauberhaftes verlieh. Was ich da sah, ließ mich mehr an eine mädchenhafte Studentin als an eine gestandene Pflegerin denken. Und dann dieses Lächeln! Oder war es schon Lachen. Ich musste unwillkürlich an Katjuscha denken.
Das Läuten des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Ich schloss die Augen, Tamara setzte mir die Sonnenbrille wieder auf. Es war Luda. Ich schaltete am Apparat den Lautsprecher ein. Das Erste, was ich hörte, war Katjuschas Schreien. Luda schluchzte in den Apparat, konnte offensichtlich nicht Sprechen. Im Hintergrund waren russischeWortfetzen zu hören.
"Ich muss Russisch sprechen, tut mir Leid, Daniel." Ich gab Tamara den Hörer und war auf alles gefasst. Luda sprach schnell und mit tränenerstickter Stimme. Natürlich verstand ich kein Wort, aber es war unschwer herauszuhören, dass etwas ganz Furchtbares passiert sein musste. Ich wagte nicht mehr, die Augen zu öffnen, nahm nur Tamaras freie Hand und drückte diese unaufhörlich - bis sie mir den Hörer zurückgab.
Was darauf folgte, war langes Schweigen. Tamara weinte nicht. Es war offenbar etwas Schlimmeres - ein Schock, der alles im Keim erstickte. Wie in Zeitlupe bewegte sie sich aus meinem Bett und schien eine Weile nur dazustehen. Ich wartete geduldig. Plötzlich rannte sie aus dem Schlafzimmer und kam gleich darauf wieder zurück.
"Ich gehe zur Polizei. Man hat Katjuscha und Luda von der Straße aufgegriffen und verschleppt. Sie sind in großer Gefahr."
Mehr sagte sie nicht. Ich hörte gleich darauf die Wohnungstür zuschlagen, vernahm etwas gedämpfter, wie auch die Haustür zuklappte, wie ihre schnellen Schritte der Morgenstille draußen einen neuen Takt gaben.
Ich roch den Kaffeeduft, der von meinem Nachttisch herüberkam. Mein Appetit war mir jedoch ganz und gar vergangen. Wieder läutete das Telefon. Es war Luda. Sie erklärte offenbar den Russen, dass sie mit mir Deutsch sprechen müsse.
"Ich hatte in der Aufregung vergessen, dass Tamara meinen roten Koffer aus dem Schlafzimmer holen und ihn am Kriegerdenkmal auf dem Rathausplatz abstellen soll - um Punkt 12 Uhr."
"Wo bist du, Luda, was ist eigentlich …"
"Frag nicht nach Sonnenschein. Ich darf keine Fragen beantworten." Aufgelegt.
Ich wählte 110 und berichtete in knappen Worten den Vorgang. Man werde den Koffer holen und zunächst zu mir kommen. Ich rief meinen Kollegen von Gegenüber an. Glücklicherweise war er diesmal am Telefon. Auch er erfuhr von mir im Telegrammstil die Situation. Ich bat ihn, so schnell wie möglich mit seinem Schlüssel rüberzukommen.
"Ich beende sofort meine Sprechstunde und komme."
Wenige Minuten später hörte ich, wie jemand behutsam die Wohnungstür aufschloss, ablegte und zu mir ins Schlafzimmer kam.
Dr. med. Heinrich Holthusen, ehemals Studienfreund und jetzt bekannter Orthopäde und Spezialist für ambulante Schulteroperationen, nahm meine Hand zum Gruß.
"Das tut mir unendlich leid, Daniel. Hoffen wir mal, dass alles gut ausgeht. Bis die Polizei kommt, kann ich dich ja schon mal untersuchen."
Er tastete hier, beklopfte dort, liess Zehen und Finger bewegen und deckte mich dann wieder zu.
"Das sieht alles gut aus," sagte er nur.
Damit war ich keineswegs zufrieden.
"Woran merkst du, dass die Knochen zusammengewachsen sind?"
"Überhaupt nicht. Wir werden in meiner Praxis jede Bruchstelle röntgen. Was ich jetzt feststellen konnte: Es haben sich im Bewegungsapparat keine Beeinträchtigungen eingestellt."
Jemand läutete an der Tür. Holthusen ging schnellen Schrittes aus dem Schlafzimmer und machte auf. Die Männer kamen schweigend zu mir ans Bett. Ein Polizist stellte sich und seinen Kollegen vor.
"Wir haben die Wohnung der Ärztin aufmachen lassen und den Koffer mitgebracht.
Es waren zwei Ikonen in einem doppelten Kofferboden eingenäht."
"Was??" Mehr kam nicht über meine Lippen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Was war das für ein Mensch, diese Luda. Warum hatte sie ihre Freundin so hinters Licht geführt? Warum hatte sie uns alle in Gefahr gebracht?
"Ist Ihnen bei diesem Telefonat irgendetwas aufgefallen? Ein bestimmtes Geräusch, etwas Ungewöhnliches im Hintergrund?"
"Nein, ich hatte nur das Schluchzen der Freundin im Ohr. Sie legte offenbar großen Wert darauf, dass wir auch wirklich den Koffer an diesem Kriegerdenkmal auf dem Rathausplatz abstellen."
"Wir werden uns darum kümmern. Und Ihnen alles Gute und schnelle Besserung. Ich werde Ihnen meine Karte … - ach so, Ihr Augenlicht. Geben Sie mir Ihr Handy, ich werde meine Nummer einspeichern. Drücken Sie nur die Schnellwahltaste 7. Alles klar?"
"Alles klar." Die Beamten verließen meine Wohnung. Heiner Holthusen nahm meine Hand.
"Tschüss Alter. Ich lasse Dich morgen Vormittag so gegen 10 Uhr zum Röntgen abholen. Ist das gut so?"
Ich war mit meinen Gedanken wieder bei Tamara und Katjuscha.
"Ja, gut so. Ich hoffe, es geht alles gut."
"Die Hoffnung ist uns allen ein letzter Rettungsanker. Bis morgen."
Ich wollte noch etwas sagen. Hätte er den Haustürschlüssel hier lassen sollen? Nein lieber nicht. Ich fühlte mich wieder wie entwurzelt. So wie damals, als Isabel mich so Hals über Kopf verlassen hatte. Damals? Das war doch noch nicht einmal eine Woche her … - Mir klang wieder Ludas Stimme im Ohr. Sie durfte keine Fragen von mir zulassen. "Frag nicht … - Frag nicht nach Sonnenschein" hatte sie gesagt. Mein Gott, war das vielleicht ein Hinweis?
Soviel ich wusste, gab es in der Stadt eine Sonnenschein-Apotheke. Und dann erinnerte ich mich an eine betagte Patientin aus der Residenz Sonnenschein. Ich griff nach meinem Handy und drückte die Sieben. Die beiden Polizisten seien gerade zurückgekommen. Ich solle einen Augenblick warten.
"Na, ist Ihnen noch etwas eingefallen?" Ich erkannte sofort die Stimme des Beamten.
"Ja. Die Freundin hatte am Telefon gesagt: Frag nicht nach Sonnenschein. Vielleicht ist das ein Hinweis auf ihren Aufenthaltsort."
"Moment bitte mal." Ich hörte, wie er einen Kollegen bat, den Computer nach dem Begriff "Sonnenschein" in der Stadt zu befragen.
"Da ist eine Apotheke und ein Altenheim. Und… - eine Pension mit Namen "Sunshine". Tolle Arbeit, Herr Dr. Werkmann. Wir machen uns sofort auf den Weg."
Ich hatte nicht einmal Zeit, meine Gedanken zu ordnen, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Tamara kam sofort ins Schlafzimmer und setzte sich stumm auf mein Bett. Sie weinte leise. Ich nahm ihre Hand und versuchte, ihren Schmerz nachzuempfinden.
"Ich habe im Polizeikommissariat gehört, was Du inzwischen unternommen hast. Danke."
"Das ist doch selbstverständlich, Tamara. Auch ich habe große Angst um Katjuscha und Luda."
"Luda hatte die Ikonen. Ich fasse es nicht. Was für eine Freundin ist sie?? Wie kann sie mir und Katjuscha das antun?"
Das Handy klingelte. Tamara stellte auf Lautsprecher.
"Alles ist gut gegangen. Wir haben die drei Russen festgenommen. Das Kind mussten wir ins Krankenhaus fahren. Es hat einen Schock erlitten. Ihre Freundin wird in diesen Minuten verhört."
"Kann ich meine Tochter gleich mal besuchen?"
"Nein, vielleicht morgen. Die psychiatrische Abteilung kümmert sich um sie."
"Welches Kranken …??" Aufgelegt.
Tamara legte sich kraftlos auf die Seite und nahm mich in die Arme. Sie liess ihren Tränen freien Lauf. Sie sagte nichts, aber jeder Schluchzer fragte mich: "Was ist mit Katjuscha geschehen?"
Der Tag ging zu Ende, ohne dass der tief sitzende Schmerz sich von der Stelle bewegt hätte. Wir sprachen wenig, aßen und tranken nichts. Ich blieb in meinem Bett, sie zog sich nach einem kaum hörbaren "gute Nacht" in ihr Gästezimmer zurück. Ohne Katjuscha. Wie musste ihr zumute sein.
Am anderen Morgen war Tamara schon früh auf den Beinen. Ich roch den Kaffeeduft. Als ich Tamaras Schritte hörte, rückte ich erwartungsvoll ein Stück zur Seite.
Wieder stellte sie das Tablett auf dem Nachttischchen ab und schlüpfte unter meine Decke. Sie küsste mich wie gestern, flüchtig, aber herzlich.
"Ich habe etwas im Briefkasten gefunden", sagte sie.
"Die Post ist doch noch gar nicht da."
"Nein, den Brief hat Luda persönlich vorbeigebracht. Sie schreibt: "Meine liebe Freundin Tamara, lieber Freund Daniel. Ich bin zu feige, Euch unter die Augen zu treten. Ich habe große Schuld auf mich geladen. Immer noch kann ich nicht begreifen, dass ich den liebsten Menschen, die mir geblieben sind, so etwas antuen konnte. Aber ihr habt auch das Recht, den ganzen Hintergrund zu kennen. Du hast, liebe Tamara, Deinen Mann durch mich kennengelernt. Auch ich habe damals halbwegs der Mafia angehört. Jedenfalls hatte ich meine Wohnung den Männern für nächtliche Treffen zur Verfügung gestellt. Einmal besuchte mich Dein Mann allein und brachte diese zwei Ikonen mit. Ich sollte sie für ihn aufbewahren und mir ein gutes Versteck ausdenken. Für den Fall, dass ihm etwas zustoße, sollte ich mit den Ikonen nach Deutschland flüchten. Auf dem Schwarzmarkt würde ich genug Geld bekommen, um mich einige Zeit über Wasser zu halten. Als ich merkte, dass meine Wohnung überwacht wurde, flüchtete ich unter dramatischen Umstanden nach Deutschland. Du kamst kurze Zeit später auch hierher. Ich war glücklich, nicht mehr so allein zu sein. Die Ikonen hatte ich verdrängt, schon fast ganz vergessen. Erst als ein Mafiosi ein Rasiermesser an das Gesicht von der schreienden Katjuscha hielt und damit drohte, er werde ihr das Gesicht verunstalten, wenn ich nicht auspacken würde … Tamara, liebste Freundin, glaube mir: Erst da kamen mir die längst verstaubten Ikonen wieder in den Sinn. Niemand durfte meinem kleinen Engel etwas antun. Ich bot mein Gesicht an, es zu zerschneiden, schrie und tobte, bis man von Katjuscha abließ, bis man mir glaubte, dass ich die Ikonen wiederbeschaffen konnte. Den Rest kennt ihr. Ich hoffe, dass mein Engelchen Katjuscha bald ganz gesund sein wird. Ich weiss, dass Ihr nicht vergessen könnt, geschweige denn vergeben. Nur eines bitte ich, mir zu glauben: Ich liebe Euch. Eure ganz verzweifelte Luda."
Lesen Sie in der nächsten und letzten Folge:
Unverhofft kommt Rischik
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner lieben Tochter Europa gewindet.