Cover

Meeres- und Liebesrauschen

 

 

Von den Gedanken, die mich gestern Abend noch umtrieben, habe ich mich auch heute Morgen nicht entfernen können. In diesem Augenblick musste ich mich aber von keinem Schwächeanfall erholen. Die Gefahr, in ein Sauerstoffdefizit zu geraten, war zurzeit eher gering. Hier am Wasser gab es den Lebensstoff in Hülle und Fülle und Tamara war auch nicht in der Nähe.

Tamara. Sie war der Meinung, man müsse nach all der Aufregung ans Meer, um den Kopf frei zu bekommen. Wer hätte da widersprechen wollen und können? Sie hatte mir ein sehenswertes Exemplar von Rollstuhl besorgt - mit extra hohen Rädern für den Sand. Bei nicht genauem Hinsehen hätte man mein Gefährt auch für einen Liegestuhl der Luxusklasse halten können, das mich immer wieder zum Schlafen einlud.
Auch wenn ich immer noch nichts sah, blickte ich aus alter Gewohnheit nach oben,  malte  mir einen spätsommerlichen blauen Himmel aus, verfolgte ein inneres Bild von unermüdlich heranbrausenden Wellen. Gewahrte schläfrig, wie vermutlich weiße Schaumkronen am Ufer zurückblieben.
Es war etwas windig, was ich als ausgesprochen angenehm empfand.
Ich sah in Gedanken an mir herunter, und innere Heiterkeit bemächtigte sich meiner. Tamara hatte mich wie ein Postpaket zusammengeschnürt. Eine Decke für die Beine, eine andere für die Arme, so dass es mir nicht gelang, meine verrutschte Strandmütze aus dem Gesicht zu schieben. Aber das war keineswegs tragisch. Was hätte ich auch sehen können oder wollen.
Mein inzwischen gut geschultes Gehör filterte aus dem einschläfernden Meeresbrausen und den kreischenden Möwen plötzlich Katjuschas Stimmchen heraus. Das Kind war offenbar noch sehr weit entfernt, aber es gab keinen Zweifel. Die Beiden kamen zurück.
"Ihr seid aber früh wieder da", rief ich ihnen nach einer Weile entgegen.
"Wir haben schöne Sachen eingekauft", erwiderte Tamara. Neben vielen Leckereien für die Mittagszeit packte Tamara ein Spiel aus. Ich nenne es mal: Was ist das? Oder: Wer bin ich? Ein heiteres Tiereraten mit gewissen Auflagen. Tamara verband uns die Augen. Auch mir! Besonders mir. In einem kleinen Korb lagen daumengroße Tiere aus Holz oder Plastik. Jeder durfte sich ein Tier herausnehmen und befühlen. Tamara als Schiedsrichterin war berechtigt, immer kurz die Augenbinde hochschieben, um das erratene Tier zu überprüfen. Wer zuerst die richtige Antwort gab, bekam einen Punkt. Wer zehn Punkte hatte, gewann das Matsch. Tamara war ausgerechnet mit mir so streng. Immer wieder überprüfte sie den Sitz meiner Augenbinde. Und ganz so wie nebenbei erhielt ich zum Abschluss der Prüfung einen unmerklichen Klapps auf die Wange. Das sollte wohl heißen: Alles in Ordnung. Du darfst weiterspielen!
Katjuscha lieferte sich mit mir ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Mal erreichte sie die erforderlichen zehn Punkte, mal war ich es. Doch ganz plötzlich hatte sie keine Lust mehr, zog ihre Sandalen aus und lief ans Wasser, hüpfte in die heranrollenden Wellen, dass es nur so nach allen Seiten platschte.
"Tut mir sehr leid", sagte Tamara und legte ihre kühle Hand auf meinen Arm. "Wollen Sie mit mir weiterspielen?"
"Ja gern, aber vielleicht eine andere Variante. Wir spielen Spiegel!"
"Spiegel? Ist das ein Spiel?"
Tamara zog sich merklich zurück.
"Ja, man könnte auch ein Spiel daraus machen", sagte ich fröhlich. "Sie tasten mein Gesicht ab - natürlich mit geschlossenen Augen - und sagen, ob es einen Unterschied zum Gesehenen gibt. Ich mache es auch bei Ihnen und sage, wie Sie aussehen. Natürlich nur, wenn Sie es auch wollen!"
"Aber das ist doch viel zu schwer", protestierte sie. Oder wollte sie nicht, dass ich ihr Gesicht berühre. Ich wendete meinen Kopf kurz in Richtung der Wellengeräusche, die gelegentlich von Katjuschas spitzen Schreien und fröhlichem
Quietschen durchbrochen wurden.
"Ich bin bereit", sagte ich gutgelaunt in Erwartung dieser ungewöhnlichen Berührung. Doch es kam nichts. Trotz des Meeresrauschens empfand ich eine ungewöhnliche Stille.
"Tamara, sind Sie noch da?"
Plötzlich fühlte ich ihre Hand auf meiner Schulter.
"Erschrecken Sie nicht", hauchte sie. Und schon waren zwei kühle Hände auf meinen Wangen. Ich vergaß, den Atem anzuhalten und versuchte meine Aufregung durch unnützes Gerede im Zaum zu halten.
"Sie schummeln doch nicht etwa, Tamara. Ihre Augen bleiben zu."
Auch ich machte wie automatisch die Augen zu und hielt jetzt auch den Atem an. Ihre Fingerspitzen glitten ganz zart über mein Gesicht, verweilten an manchen Stellen länger, bis sie, wie aufgeschreckt, zu einer anderen Region meines Gesichts flatterten. Nun war ich wirklich auf das Ergebnis gespannt.
Ich öffnete die Augen und atmete hörbar aus.
"Na, was sagen Ihre Finger: Wie sehe ich aus?"
"Was ich sehe, ist zehnmal… - Meine Finger haben mir einen ganz anderen Mann vorgestellt. Das ist ja erschreckend. Da kann ich mich ja auf etwas gefasst machen!"
Was sie da sagte, verwirrte mich. Aber weil sie so aufgewühlt schien, wollte ich nicht weiter vordringen.
Was mich beruhigte, war mein inneres Schmunzeln, das ich nicht abstellen konnte. Ich vermisste nur schmerzlich, dass ihre Hände weg waren.
"Jetzt bin ich dran", erinnerte ich sie. "Kommen Sie näher, Tamara."
"Hier bin ich. Und jetzt?" Jetzt war ich es, der von Zweifeln ausgebremst zu werden drohte. Ich nahm ihre Hand und tastete mich langsam an ihrem Arm hoch, glitt über ihre Schulter, berührte am Hals entlang fahrend schließlich ihr Gesicht. Jetzt noch der andere Arm, der bis zum Handgelenk geschient war, aber zum Vergleich gebraucht wurde. Meine Fingerspitzen ruhten jetzt auf ihren Wangen. Ihr Gesicht war deutlich wärmer als ihre Hände. Sie atmete plötzlich hörbar. Ich begann meinen Kommentar.
"Sie haben hohe Wangenknochen. Ihre Haargrenze ist ungewöhnlich tief. Ihre Wangen sind breitflächig…"
"Oh Gott, das ist ja furchtbar", stöhnte sie, hielt aber still. Ihr Gesicht schien immer wärmer zu werden. Als ich ihre Lippen berührte, öffnete sie leicht den Mund. Mein Herz begann zu rasen. Ich tat so, als könnte ich bestimmte Stellen ihrer Schläfen nicht richtig ertasten und zog ihren Kopf unmerklich näher und näher zu mir heran. Bis irgendetwas in mir explodierte und ich meine Lippen auf ihren Mund drückte. Für Sekunden schien sie wie gelähmt zu sein. Ich glaubte, eine leblose Puppe im Arm zu halten. Urplötzlich aber umschlangen mich zwei kräftige Arme. Tamara sass auf einmal auf meinem Schoss, ihre Küsse beschränkten sich nicht mehr auf meinen Mund. Der Rollstuhl entriegelte sich, rollte auf das Meer zu, schneller, immer schneller - bis Katjuscha sich unserem Gefährt entgegenstemmte.
"Mama, hallo, darf ich auch mal Onkel Daniel küssen?"

Tamara reagierte nicht. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Meine mir längst vertrauten Schwindelanfälle, die mich regelmäßig in ihrer Nähe heimsuchten, erlebte ich jetzt auf einer immer schneller routierenden Drehbühne. Ich war Akteur und Zuschauer zugleich. Erkannte mich beim Abfühlen kleiner Plastiktierchen, schreckte vor einer ohrenbetäubenden Sirene zurück, der sich russische Flüche anschlossen, erlebte - während die Drehbühne mich ins Nichts zu schleudern drohte - die Höllenfahrt mit dem kleinrädrigen Rollstuhl im Park, fühlte Katjuschas Tränen auf meinem Arm, hörte, wie die Haustür hinter Isabel zuschlug, sah, wie ein mächtiger Betonmast auf mich zu raste - Peng!!!
Ich riss die Augen auf und schloss sie sogleich wieder. Man hatte ein Licht in meinem Kopf angeknipst. Nur durch einen schmalen Spalt ließ ich die Helligkeit herein, gewahrte hauchdünne weiße Schleier, die sich unermüdlich hin- und herbewegten. Und dann sah ich es: Das lachende Gesicht eines kleinen blonden Mädchens.
 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

 

Wer hat Katjuscha zuletzt gesehen?

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.02.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner lieben Tochter Europa gewidmet.

Nächste Seite
Seite 1 /