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Der Mann im Dunkeln

Eine Torte und fünf Kerzen

 

Obwohl ich nichts sah, starrte ich wie gebannt auf die Eingangstür. Jemand hatte soeben einen Schlüssel oder irgendetwas Anderes ins Schloss gesteckt und stocherte wild darin herum. Wortfetzen drangen zu uns herüber. Unverkennbar, es waren die Russen. Höchstwahrscheinlich jene aus dem Park.

„Was sagen sie?“ Ich rief die Worte in die Richtung, in der ich Tamara vermutete.

„Sie fluchen fürchterlich“, erwiderte sie. Offenbar passte keiner ihrer Schlüssel oder sonstiger Werkzeuge.

„Jemand muss die Polizei anrufen!“ schrie ich.

„Habe ich schon…“ Ludas Stimme klang in ihrer Angst noch höher.

Jemand schob ein flaches Eisen unter die Tür. Tamara raunte mir die Nachricht mit halblauter Stimme zu. Mein Atem stockte. Ich marterte mein Gehirn. Es musste eine Lösung her…

„Tamara, schnell, fahr mich zum Sicherungskasten. Rechts neben der Tür, gleich unter den Kleiderhaken!“ Tamara schob meinen Rollstuhl so heftig an, dass ich an die Höllenfahrt durch den Park erinnert wurde. Zu spät merkte ich, dass ich sie in der Aufregung geduzt hatte.

Tamara hatte mich an der Schulter gepackt.

„Der Sicherungskasten ist offen. Und jetzt?“

„Irgendein Schalter ist die Alarmanlage. Sehen Sie eine besondere Kennzeichnung oder Farbe?“

„Nein, ich …“ Tamara schienen die Kräfte zu versagen.

Ich hörte, wie jemand wütend gegen die Tür trat und immer wieder im Schloss herumstocherte.

„Da ist keine Kennzeichnung“, kreischte Tamara. Das flache Eisen schien die Tür millimeterweise anzuheben …

Plötzlich fing Katjuscha an zu schreien. Nicht so agressiv und laut wie im Park. Es war mehr ein energieloser Schrei, unterbrochen von heftigem Schluchzen.

„Drück einfach alle Schalter runter!“ Ich war nicht sicher, ob mich Tamara bei dem Lärm verstand. Plötzlich schwoll die Sirene für den Bruchteil einer Sekunde an und verstummte gleich wieder. Im selben Augenblick war überall das Licht aus.

„Wieder alles zurück, Tamara“, brüllte ich über Ludas Wimmern und Katjuschas Angstschreie hinweg. „Du hast den Strom ausgeschaltet. Die Alarmanlage braucht Strom!“ Das Licht war wieder an. Ich merkte das an dem helleren Punkt an der Wand.

„Bitte testen Sie jetzt jeden Schalter einzeln, aber schnell!“ Ich hatte das Gefühl, Tamara würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich merkte an ihrer Stimme, dass die Angstschreie von Katjuscha und Luda ihr arg zusetzen mussten.

„Probiere es wieder, Tamara. Nicht aufgeben.“

„Ich kann nicht,“ jammerte sie, „meine Hände zittern so …“

„Du schaffst es. Jetzt der nächste Schalter. Los!“

Ich fuhr meinen Rollstuhl noch näher in Richtung Tamaras Stimme, die kaum noch zu verstehen war.

„Jetzt kommt nur noch ein Schalter, oh Gott, wenn auch der nicht …“ Ich wusste auf Tamaras Verzweiflung nichts zu erwidern. Nach einer kurzen Pause hatte ich mich wieder gefangen.

„Egal. Runter damit!“

Und dann geschah etwas, womit niemand mehr gerechnet hatte. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm ging die Sirene los, lauter als alles, was in den letzten Minuten mein Gehör ertragen musste. Ich presste mir die Hände gegen die Ohren. Katjuscha verstummte. Man hörte schwere Schuhe durch den Hausflur poltern.

„Mach um Gottes Willen die Anlage wieder aus, Tamara!“

Stattdessen ging das Licht wieder aus. Dann verstummte die Alarmanlage. Es dauerte Sekunden, bis Tamara in der Dunkelheit den Hauptschalter wiederfand.

„Das Licht ist wieder an“, sagte Luda. Es kam mir in dieser plötzlichen Stille übertrieben laut vor.

 

Seit Stunden schon liege ich wach im Bett und lasse die Ereignisse von gestern Abend an mir vorüberziehen. Tamara. Was für eine Frau! Wenn sie mich nicht unterstützt hätte, wer weiß, ob die Russen dann nicht … - einfach nicht auszudenken! Die Polizei kam wieder einmal viel zu spät. Ein Protokoll wurde angefertigt, und dann war es das schon. Ich hatte Luda mein Wohnzimmer zum Übernachten angeboten, aber sie bestand darauf, wieder nach Hause zu fahren. Tamara und Katjuscha schliefen wieder im Gästezimmer. Etwas Anderes wäre für mich auch nicht denkbar gewesen.

Ich war schon fast wieder eingeschlafen, als meine Schlafzimmertür aufgestoßen wurde und Tamara mit Katjuscha hereingestürmt kamen.

„Guten Morgen, Daniel. Darf ich Ihnen eine frisch gebackene Fünfjährige vorstellen? Katjuscha hat heute Geburtstag.“

Ich war noch etwas benommen.

„Geburtstag?“ wiederholte ich deshalb etwas lahm.

Ich spürte die kleine Hand von Katjuscha auf meinem Arm.

„Ja, ich bin heute fünf geworden.“

„Katjuscha“, sagte ich nur. Und ich spürte einen Anflug von Zärtlichkeit in mir. Ich ertastete ihren Kopf und streichelte ihr Haar. Sie ließ es geschehen, zog sich nicht zurück, wie es Kinder oft tun, wenn Fremde ihnen zu nahe kommen. Ich war für Katjuscha schon lange kein Fremder mehr. Es war mir auch egal, wie sie aussieht, wie Tamara aussieht. Mit den beiden war wieder Wärme in mein Haus eingezogen.

„Und was machen wir heute?“ Jetzt war ich ganz wach.

„Natürlich feiern“, sagte Tamara gutgelaunt. „Luda versprach, heute nach Dienstschluss wiederzukommen. Geht das in Ordnung?“

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Für mich ging neuerdings alles in Ordnung, was Tamara vorschlug.

Katjuscha ließ es sich auch heute nicht nehmen, mich auf dem beschwerlichen Weg in den Rollstuhl zu „begleiten“.

Nach dem Frühstück bat ich Katjuscha, mir ihre Puppe für ein paar Minuten zu leihen.

„Willst du damit spielen?“ fragte sie ernst.

„Sowas Ähnliches“, sagte ich nur. Katjuscha legte bereitwillig die Puppe in meinen Schoß und führte sogar meine Hand auf Tscheburaschkas großen Kopf. Mit einem flüchtigen „Danke“ rollte ich davon und steuerte mein Arbeitszimmer an. Hier kannte ich mich bestens aus. Ich schloss sorgfältig die Tür hinter mir und rollte zum Schreibtisch. In der untersten Schublade fand ich, was ich suchte. Ich nahm Tscheburaschka zur Hand und tastete ihn sorgfältig ab: Die riesigen Elefantenohren, die großen Augen und die spindeldürren Beine. Das widerholte ich mehrmals, prägte mir alles genau ein und begann mit der Arbeit.

 

„Sie kommen gerade rechtzeitig, Daniel!“ Tamara kam mir mit schnellen Schritten entgegen. „Wir warten schon auf Sie.“

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich Katjuschas Stimmchen.

„Tante Luda hat eine Geburtstagstorte mitgebracht – mit fünf Kerzen.“

Tamara schob meinen Rollstuhl dicht an den Tisch heran. Das Flackern der Kerzen ahnte ich mehr, als ich es sah. Nach einer kurzen Stille waren Tamara und Luda gemeinsam zu hören: „Achtung, fertig – los!“ Ich hörte, wie Katjuscha aus Leibeskräften pustete. Einmal mehr fiel mir ihre Atemnot auf. Dann Klatschen und Bravorufe. Ich stimmte überschwänglich in den Beifall ein.

„Jetzt wird Katjuscha die Torte anschneiden“, hörte ich Tamara sagen.

Am Geruch merkte ich, dass der Kaffee hereingebracht wurde. Wohl auch Kakao für Katjuscha.

Oh, dieser Kaffee von Tamara! Ich hatte nie einen besseren getrunken. Sie benutzte nicht meine Kaffeemaschine, sondern hatte so lange gesucht, bis sie den Kaffeefilter fand. Es dauerte natürlich bei ihr alles etwas länger. Aber es lohnte sich.

Luda hatte ihrem „kleinen Engel“ außer der Torte noch ein Leselernbuch mitgebracht. Was Katjuscha für mich extra laut kommentierte. Von ihrer Mutter bekam sie ein Sommerkleidchen und ein Gedächtnisspiel. Ich konnte mich irren, aber ich spürte, dass jetzt alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ich holte zunächst die Puppe hinter meinem Rücken hervor und hielt sie Katjuscha entgegen. Sofort kam sie angelaufen und nahm mir Tscheburaschka ab.

„Danke, lieber Onkel Daniel“, sagte sie. Es hörte sich so an, als habe sie ihre eigene Puppe für ein Geburtstagsgeschenk gehalten. Dann holte ich ein blaues Kästchen hinter meinem Rücken hervor und gab es Katjuscha. Sie nahm es überaus vorsichtig an sich und schrie plötzlich: „Schau mal, Mama, das ist doch Tscheburaschka!“

Da war ein langgezogenes „Ah“ und „Oh“ und „Toll getroffen“ zu hören.

Tamara berührte wieder zaghaft meine Schulter.

„Sie haben das gemalt? Bei Ihrer Blindheit?“

„Ja, das hat mir Spaß gemacht. Ich wollte einfach noch etwas Persönliches hinzufügen. Zuerst habe ich die Puppe in allen Einzelheiten befühlt: Die übergroßen Ohren, die Augen, die dünnen Beine… Und dann habe ich meine Eindrücke auf das Kästchen übertragen.“

„Tscheburaschka soll den Inhalt bewachen“, sagte ich mit gespieltem Geheimnis in der Stimme.

„Den Inhalt?“ Katjuscha hatte offenbar schon den Decken abgehoben und das Kettchen herausgenommen. Ich hörte nur einen Jubelschrei.

„Eine Halskette! Tante Luda, ich habe meine Kette im Park verloren.“

Jemand drehte meinen Stuhl herum. Ich spürte es sofort. Tamara hockte vor mir und hatte ihre Hände auf meine Unterarme gelegt. Ich atmete ihren Duft.

„Das geht aber nicht, Daniel. Das ist gewiss ein Familienerbstück. Katjuscha ist doch noch ein Kind…“

Und nach einer kurzen Pause nach hinten sprechend.

„Zeigt doch nochmal her das gute Stück… - Das gibt es doch nicht.“

Sie sagte es so gedehnt, dass ich jetzt unruhig wurde.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ wollte ich wissen.

Tamara dachte offensichtlich nicht daran, mich aufzuklären. Sie sagte immer nur:

„Das kann nicht sein, das ist Zauberei!“

„Zauberei??“ Ich nahm Tamaras Hand, die auf meinem Arm verblieben war und schüttelte diese, etwa so, als müsse ich sie aus einem Alptraum herausholen.

„Wo haben Sie das Kettchen her, Daniel?“

Ich versuchte mich zu erinnern.

„Das ist eine Hinterlassenschaft meiner Großmutter.“

„Und wo wohnte diese Großmutter?“ Tamara hörte sich an, als müsse sie einen Kriminalfall aufklären.

„In Moskau“, sagte ich.

„In Moskau??“, riefen Tamara und Luda wie aus einem Mund.

„Ja, meine Vorfahren waren Moskauer. Ich habe also auch russisches Blut in mir.“

„Verzeihen Sie die Aufregung, Daniel. Aber dieses Kettchen gleicht meinem, das ich trage, in allen Einzelheiten. Leider kann ich es Ihnen nicht zeigen. Schade!“

„Aber warum denn nicht? Zeigen Sie mir Ihre Halskette. Ich habe doch Hände.“

Kurz darauf ließ sie etwas in meine Hände fallen. Die Halskette war noch warm von ihrem Körper. Die Kette selbst war sehr zart. Ich ertastete ein Spindelmuster.

„Was fühlen Sie?“ Da war mehr als Zweifel in Tamaras Stimme, ob ich überhaupt was fühlte.

„Vom Gewicht her, glaube ich, ist es eine Silberkette. Mit einem Spindelmuster. Zwei Anhänger: Der eine im Vordergrund – Jesus am Kreuz. Eine sehr feine Arbeit. Hinter dem Kreuz ein flacher Anhänger mit dem eingravierten Bild von Maria und dem Jesuskind. Auf der Rückseite das orthodoxe Kreuz mit einer Inschrift, die ich nicht lesen kann. Ja, diese Kette gleicht meiner – die jetzt Katjuscha gehört – aufs Haar.“

Tamara erinnerte sich.

„Ich war manchmal nach Moskau zum Schoppen gefahren. Da sah ich diese Kette und war sofort in das Stück verliebt. Ich musste die Kette haben. Der Verkäufer legte sie mir für eine Woche zurück. Ich kam wieder mit all meinen Ersparnissen und kaufte das Kettchen. Und so ein teures Stück wollen Sie Katjuscha schenken?“

„Ich würde ihr noch viel mehr schenken, aber ich bin an diesen Rollstuhl gefesselt.“

"Eines verstehe ich nicht." Das war Luda, die bei den letzten Worten näher gekommen war.

"Daniels Großmutter hatte eine identische Kette wie Du, Tamara?"

"Das ist in Russland normal. Hier wird gerade das Kunsthandwerk von Generation zu Generation haargenau weitergegeben", sagte Tamara und zog ihre Hand, während sie offenbar aufstand, zurück.

„Darf ich das Kettchen nicht behalten, Mama?“

Ich fürchtete, Katjuscha würde gleich in Tränen ausbrechen, deshalb antwortete ich an Tamaras Stelle.

„Aber natürlich, meine liebe Katjuscha. Das ist jetzt dein Kettchen und soll es immer bleiben.“

Augenblicklich legten sich kleine Ärmchen um meinen Hals.

„Onkel Daniel, Du bist so gut. Ich hab Dich lieb!“

Als Katjuscha meinen Hals wieder freigab und offenbar mit dem Kettchen zu Luda hinüberlief, flüsterte Tamara mir ins Ohr:

„Sie betet jeden Abend, dass ihr Onkel Daniel wieder gesund werden soll und auch wieder laufen kann. Und das tut sie, ohne dass jemand sie darum gebeten hat.“

Ich wollte etwas erwidern. Wollte sie fragen, ob sie im anderen Fall Katjuscha darum bitten würde. Und ob sie vielleicht selbst für mich gebetet hätte. Zum Glück konnte ich mich noch rechtzeitig bremsen. Regelmäßig löste ihre Nähe eine deutliche Schwäche in mir aus. Wenn sie so auf ihre besondere Art in mein Ohr flüsterte, hielt ich unbewusst den Atem an, genoss schweigend ihren Duft, was ich jedes Mal mit einem Schwindelanfall bezahlen musste. Das ist eine Frau, die ich ein Leben lang um mich haben möchte, dachte ich. Wenn ich nur wüsste, wie sie aussieht? Im selben Augenblick dachte ich an Isabel. Das war doch erst vor wenigen Tagen. Und wie weit lag das jetzt schon zurück!

 

Lesen Sie in der nächsten Folge:

Meeres- und Liebesrauschen

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.01.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner lieben Tochter Europa gewidmet.

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