Katjuschas Traum
Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dieses unwesentlich hellere Viereck blickte. Mein Schlafzimmerfenster sagte mir ziemlich genau, um wieviel Nuancen sich meine Sehkraft verbessert hatte. Von Verbesserung konnte auch heute Morgen nicht die Rede sein. Es hatte sich etwas Anderes verändert. Ich hatte seit dem Unfall zum ersten Mal durchgeschlafen. Keine Alpträume, kein Aufschrei mitten in der Nacht. Ich schloss die Augen, um meine Gedanken zu ordnen. Da war in irgendeiner Ecke meines Gehirns etwas Unvollendetes. War es der gestrige Tag? Ohne zu wissen warum, tastete ich nach dem Bett neben mir. Das war es. Ja, Isabel war gegangen – wohl für immer. Fast gleichzeitig hatte ich einen Geruch in der Nase, von einem Parfüm oder einer Seife. Tamara. Wie musste man sie sich vorstellen. Sie war sicherlich stämmig, kräftig … - wie sie mich gestern Morgen so einfach vom Fußboden aufs Bett hob! Schon hörte ich das schüchterne Stimmchen von Katjuscha. Es dauerte viel zu lange, bis ich begriff, was gestern Abend geschehen war. Tamara hatte geweint und ich hatte sie und Katjuscha im Gästezimmer übernachten lassen.
Noch war alles still. Ich lauschte. Mutter und Kind schliefen wohl noch. Ich ließ die Ereignisse gestern im Park an mir vorüberziehen. Das muss die beiden ganz schön mitgenommen haben. Sollen sie schlafen. Hörte ich da ein Tuscheln, ein Kichern? Jemand drückte die Türklinke nieder. Mit einem Ruck wurde die Tür aufgestoßen und ein zweistimmiges Lachen kam mir entgegen.
„Guten Morgen, Herr Dr. Werkmann. Katjuscha ließ mir keine Ruhe. Sie möchte gerne zuschauen, wenn ich Sie … - fertigmache … äh – versorge. Ich meine, haben Sie etwas dagegen, wenn Katjuscha …“
Ich hatte überhaupt nichts dagegen. Im Gegenteil. Katjuschas Nähe wirkte auf mich von Anfang an auf unerklärliche Weise beruhigend, irgendwie auch tröstend. Nein, auch diese Erklärung erschien mir nicht ausreichend. Katjuscha war ein ganz besonderes Kind.
Plötzlich spürte ich ihre kleine Hand auf meinem Unterarm.
„Sind Sie ein Doktor?“ fragte sie unvermittelt.
„Ja, aber mehr einer für die Seele.“
Sie schien sich umzudrehen, ließ meinen Arm aber nicht los.
„Was ist Seele, Mama?“
„Das kann Dir Dr. Werkmann viel besser erklären“, erwiderte Tamara.
Ich musste jetzt endlich mit diesem „Dr. Werkmann“ Schluss machen.
„Bitte nennen Sie mich beim Vornamen, Tamara. Wie Sie wohl schon wissen, heiße ich Daniel.“
„Aber gern, Herr Daniel …“
„Nur Daniel, bitte. Was machen wir heute?“
„Wenn Sie wieder im Rollstuhl sitzen, können wir vielleicht nach dem Frühstück ein bisschen durch die Stadt fahren oder durch den Park?“
Kutjuscha zog plötzlich ihre Hand weg.
„Oh ja, dann kann ich auch mein Kettchen …“
Sie drehte sich plötzlich weg und verstummte.
„Was ist mit Deinem Kettchen, mein Schatz. Lass mal sehen … - Du hast Dein Kettchen ja nicht mehr um Deinen Hals?“ Aus Tamaras Stimme war mehr Überraschung als Vorwurf herauszuhören.
Plötzlich spürte ich, wie Katjuscha ihr Köpfchen auf meinen Arm legte und weinte.
Ich hob meinen bandagierten Arm und streichelte ihr Haar.
„Weine nicht, Katjuscha, sonst muss ich auch weinen.“
Ihre Reaktion war erstaunlich. Augenblicklich unterdrückte sie das Weinen und sagte unter heftigem Schluchzen: „Ich habe gestern mein Kettchen verloren, als ich so schnell laufen musste. Helfen Sie mir beim Suchen?“
Ich versprach es ihr. Es tropfte etwas Warmes auf meinen Arm. Katjuschas Tränen. Und dann spürte ich, wie sie meinen Unterarm küsste.
„Da ist noch etwas Anderes, ihr Turteltäubchen: Heute Nachmittag erwarten wir einen Überraschungsbesuch.“ Tamaras Stimme klang wieder aufgeräumt und fröhlich. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Daniel!“
„Wenn Sie mir sagen, wer das ist?“
Ich spürte plötzlich, wie Haare mein Gesicht kitzelten. Tamaras Mund musste ganz nahe an meinem Ohr sein, als sie flüsterte: „Die Ärztin, bei der ich wohne, kommt uns besuchen. Es soll eine Überraschung für Katjuscha sein. Aber meine Freundin bringt leider eine schlechte Nachricht mit: Die Männer standen vor ihrer Wohnungstür.“
So schnell, wie Tamaras Haare mein Gesicht wieder freigaben, verzog sich auch dieser unvergleichliche Duft. Nun schnappte ich nach Luft. Ich hatte die ganze Zeit den Atem angehalten.
„Mama, du sagst immer, man darf nicht flüstern.“ Es gelang Katjuscha vortrefflich, die Stimme ihrer Mutter nachzuahmen. Tamara und ich lachten ausgelassen.
„Was hast du geflüstert, Mama, sag es mir“, drängte sie.
„Das ist eine Überraschung, auch für dich.“
Das schien das Kind zufriedenzustellen.
Katjuscha legte auch das andere Händchen auf meinen Unterarm und rüttelte diesen vorsichtig.
„Ich muss jetzt Tscheburaschka, guten Morgen´ sagen. Ich glaube, er hat diese Nacht ganz schlecht geschlafen.“
Die Stimme Katjuschas klang so unendlich besorgt, dass ich ungewollt mitfühlte.
„Ja? Warum glaubst du denn das?“
„Mein Schrei gestern hat ihn bestimmt zu Tode erschreckt.“
Ich fühlte Tamaras Blick auf mich ruhen. Und schon waren die Händchen von meinem Arm verschwunden und ich hörte, wie Katjuscha aus dem Schlafzimmer lief.
Tamara machte sich unverzüglich an die Arbeit. Gestern Morgen noch musste ich Minuten voller Peinlichkeiten überstehen, als sie mich ankleidete und in den Rollstuhl half. Da war sie ja auch für mich nicht mehr als eine Pflegerin, die keinen Widerspruch duldete. Bei der jeder Handgriff saß, auch wenn sie manchmal etwas zu robust vorging - wohl auch ohne innere Anteilnahme.
Das war schon gestern Abend völlig anders. Sie war so behutsam, beinahe zärtlich. Ich kam mir vor, wie ein Baby, das ins Bett gebracht wird. Und jetzt? Es war rührend, wie sie immer erst fragte, bevor sie etwas tat.
„Darf ich Ihnen jetzt die Halskrause anlegen, Daniel?“
Ich musste bei jeder neuen Frage die Lippen zusammenpressen, um nicht laut loszulachen. Wie sie meinen Namen aussprach, war einfach köstlich. Mit Betonung auf der letzten Silbe. Das hatte so etwas Französisches.
„Wollte Katjuscha nicht dabei sein?“
Ich musste mich ablenken, Tamara könnte meine innere Belustigung falsch verstehen.
„Sie wird gleich kommen, Daniel, so etwas vergisst sie nicht.“
Und richtig. Kaum hatte Tamara die Worte ausgesprochen, da wurde auch schon die Türe aufgestoßen.
„Ich bin wieder da!“ Das war an mich gerichtet. Und zur Mutter: „Darf ich helfen, Mama?“
„Ja, du kannst den Rollstuhl vom Flur holen.“ In Sekunden war sie wieder im Schlafzimmer.
„Und jetzt, Mama?“
„Du kannst mich unterstützen, Daniel… - ich meine, Onkel Daniel in den Rollstuhl zu helfen.“
Ich erschrak. „Das ist doch zu schwer für Katjuscha!“
„Sie soll ja nicht heben, sondern begleiten“, erwiderte Tamara ernst.
Und dann erlebte ich, was meine etwas rätselhafte Pflegerin damit meinte. Während Tamara mich in ihren nicht nachvollziehbaren Griff nahm und mich zentimeterweise zum fixierten Rollstuhl hinüberschob, hatte Katjuscha nur meine Hand in ihre zarten Händchen genommen. Das genügte schon. Ich war so damit beschäftigt, meine Verblüffung über das Verhalten des Kindes richtig einzuordnen und sie nicht etwa durch Schmerzensschreie zu erschrecken, dass ich gar nicht merkte, dass ich schon im Rollstuhl saß. Oh ha, fuhr es mir durch den Kopf. An Tamara war gewiss so etwas wie eine Psychologin verlorengegangen.
Als es am frühen Nachmittag klingelte, bat ich Tamara, zuerst durch den Türspion zu schauen. Ich hörte sie lachen, die Tür wurde aufgerissen und das Lachen wurde zweistimmig. Das musste die Ärztin sein. Tamara kam zu mir ins Wohnzimmer.
„Komm doch näher Luda. Das ist Dr. Werkmann“, stellte sie mich vor. Und wieder registrierte ich, dass sie dabei fast zärtlich meine Schulter berührte.
„Oh, ein Kollege? Ich bin Ludmilla Kastfort. Sie können Luda zu mir sagen.“
„Aber gern, Luda. Ich bin der Daniel. Kastfort klingt aber ziemlich deutsch.“
„Das ist richtig. Ich bin mit einem deutschen Mann verheiratet… - Katjuscha!!“
„Katjuscha, mein kleiner Engel…“ Ich hörte, wie sich ihre Stimme entfernte, wie sich lauter knallende Küsse mit „mein kleiner Engel“ ablösten.
Dann war auch mal Katjuscha zu vernehmen.
„Tante Luda, du bist endlich gekommen.“
Ganz am Anfang konnte ich die Stimmen von Tamara und Luda schwer unterscheiden. Beide hatten den ganz typischen russischen Akzent. Als Tamara in die Küche ging, um Tee und Kekse zu holen, war ich mit Luda eine Weile allein. Wir unterhielten uns über die Männer, die gestern Abend so plötzlich vor ihrer Tür standen.
„Da ich um diese Zeit keinen Besuch erwartete, schaute ich vorsichtshalber durch den Türgucker. Das war mein Glück“, berichtete Luda und atmete hörbar aus.
Natürlich habe sie die Männer nicht hereingelassen, sondern mit der Polizei gedroht.
„Schauen Sie mal, was ich gefunden habe.“
Sie legte mir einen Zettel in den Schoß.
„Das wird noch nichts“, hörte ich Tamaras Stimme näher kommen, „Daniel braucht noch Zeit, bis er wieder lesen kann.“
„Oh, entschuldigen Sie, Daniel, das hatte ich ganz vergessen.“ Ich nickte nur freundlich in Ludas Richtung. Nun merkte ich doch den recht klaren Unterschied zwischen den beiden Stimmen. Tamara hörte sich tiefer und weicher an, während Ludas Stimme etwas höher und immer ein wenig zu laut klang. Tamara hatte den Zettel schon an sich genommen und las:
„Das Deutsch ist unmöglich, soll aber wohl heißen: Geben Sie die Ikonen heraus, sonst passiert etwas ganz Schlimmes!“ Die Worte „ganz Schlimmes“ seien dreimal unterstrichen worden.
Luda wollte wohl in Anwesenheit des Kindes schnell das Thema wechseln.
„Na, mein kleiner Engel, was hast du denn diese Nacht geträumt?“
„Was man die erste Nacht in einem fremden Bett träumt, soll in Erfüllung gehen.“
Das war Tamaras angenehme, warme Stimme.
Plötzlich fühlte ich erneut Katjuschas Händchen auf meinem Arm.
„Stimmt das, Onkel Daniel?“
„Aber natürlich“, erwiderte ich. „Wenn deine Mama das sagt, stimmt es!“
„Ich träumte von Rischik.“
„Das ist ihre Katze“, ergänzte Tamara. „Wir mussten sie bei unseren Nachbarn zurücklassen. Rischik heisst die Rote.“
„Rischik war im Traum zu mir gekommen.“ Für mich hörte sich das keineswegs vergnügt an. Mit einer fast weinerlichen Stimme setzte sie den Bericht fort.
„Sie lief von den Nachbarn weg, dann durch den Autoverkehr – sie wurde fast überfahren. Ich sah, wie sie sich durch Schnee und Eis quälte, durch Flüsse, durch Wälder. Böse Menschen liefen mit Gewehren hinter ihr her… - und dann miaute sie vor dieser Tür.“ Katjuscha zeigte durch das offene Wohnzimmer auf die Eingangstür. Sie sei ganz schwach und halb verhungert gewesen.
Ich hatte den Eindruck, dass jetzt alle auf die Tür blickten, hinter der diese Rischik miaut haben soll. Plötzlich klopfte es. Dreimal sehr laut. Wieder Klopfen, so gewaltig, als wollte jemand die Tür zertrümmern. Katjuscha fing an zu weinen und flüchtete zu mir. Luda schrie fast hysterisch: „Gehen Sie weg, sonst kommt die Polizei.“
„Aufmachen. Sofort. Wir wissen Sie hier! Sofort. Sonst Türe Bruch.“ Ich hörte es sofort. Auch wenn er jetzt Deutsch sprach: Es war der Mann aus dem Park. Alle waren ganz still. Auch Katjuscha. Nur ihr Atmen war zu hören. Plötzlich steckte jemand einen Schlüssel ins Schloss.
Lesen Sie in der nächsten Folge:
Eine Torte und fünf Kerzen
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner lieben Tochter Europa gewidmet.
Cover: Bär mit Tscheburaschka
Foto: Felix H. Bendig