Ganz plötzlich im Park
„Tamara Nikolaiewna Tretschkowa, mu dolznu pogovorit!"
Die Stimme war nicht laut, aber eindringlich – irgendwie umheimlich. Der Park schien menschleer zu sein. Ich wollte was sagen, da fühlte ich, wie sich Tamaras Finger in meine Schulter krallten.
„Wir müssen hier weg, sofort! Komm Katjuscha, schnell!!“
Im selben Moment schob sie den Rollstuhl so kräftig an, dass mein Kopf nach hinten geschleudert wurde.
„Was ist denn …" Ich rang nach Luft.
„Später, später, nur schnell weg!“
Tamara jagte mit dem Rollstuhl über alle Hindernisse, keuchte, schien mehr zu stolpern, als zu laufen …
Plötzlich ein Schrei. So grell, so scharf, dass er durch den stillen Park schnitt und in meine schmerzenden Glieder fuhr. Erneut dieser Schrei, ohrenbetäubend und lang anhaltend.
Ich glaubte zu hören, dass Spaziergänger aus den Seitenwegen angelaufen kamen.
Ganz plötzlich stoppte Tamara. Diesmal wurde ich nach vorn geschleudert. Nur mit Mühe konnte ich mich am Sitz festkrallen. Tamara rang hinter mir nach Luft.
„Was ist denn los, Tamara? Haben Sie einen Geist gesehen. Und wer hat da so geschrien? Mir wäre fast das Trommelfell geplatzt.“
„Das war Katjuscha. Ich kann es auch noch gar nicht fassen. Sie hat Spaziergänger angelockt und dadurch die Männer vertrieben.“
„Was reden Sie da, welche Männer und weshalb diese mörderische Jagd mit meinem Rollstuhl?“
„Sie haben bei mir etwas gut. Ich lade Sie in ein schickes Cafe´ ein. Dann werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Ist das nach Ihrem Geschmack, Herr Dr. Werkmann?“
Ja, das war nach dieser Höllenfahrt durchaus nach meinem Geschmack. Wenig später saßen wir in einem Cafe´, das ich sofort erkannte. Wenn man hereinkommt, umfängt einen ein ganz bestimmter Geruch. So stellt man sich das Knusperhaus von innen vor. Hier war ich oft mit Isabel. Wir bestellten immer dasselbe: Erdbeertorte. Ich mit Sahne, sie ohne.
Während Katjuscha ein angeregtes Gespräch mit Tscheburaschka führte, bestellten wir unseren Kaffee mit Apfelschnitte. Auf Sahne verzichteten wir beide.
Meine brennendste Frage aber war nicht, wer diese Männer im Park waren. Ich wollte vielmehr wissen, wie aus einem so kleinen Körper ein derart ins Mark gehender Schrei kommen konnte.
Tamara hatte schnell gelernt, mit meiner Blindheit umzugehen. Sie sagte immer, was sie gerade tat, auch was sie dachte und fühlte. So war ich immer eingebunden in alles, was um mich herum geschah.
„Ich muss gerade schmunzeln, wenn ich sehe, wie Katjuscha auf ihre Puppe einredet. Sie sagte mir einmal, sie habe über Tscheburaschka den König gebeten, ihrer Stimme die Kraft zu geben, böse Menschen zu vertreiben. Es muss die Zeit gewesen sein, als wir in St. Petersburg um unser Leben bangen mussten.
„Das ist unglaublich!“ entfuhr es mir.
Noch bevor der Kuchen kam, begann Tamara zu erzählen.
Sie habe in St. Petersburg Medizin studiert. Durch eine Freundin, es sei dieselbe, be der sie jetzt wohnt, habe sie einen Geschäftsmann kennen und lieben gelernt.
„Wir beschlossen zu heiraten, denn ich war schwanger“, sagte Tamara und machte eine Pause. Ich hatte das Gefühl, sie schaute in diesem Augenblick auf die unaufhörlich brabbelnde Katjuscha.
Der weitere Bericht fiel nüchtern aus: Zur Hochzeit kam es nicht mehr. Man hatte ihn auf offener Straße erschossen. Kurz darauf bekam sie seltsame Anrufe. Von wertvollen Ikonen war da die Rede. Sie müsse die Ware sofort herausgeben, sonst könne man keine Garantie für ihr und Katjuschas leben geben.
„Ich erfuhr durch diese Freundin, dass sich mein Verlobter offenbar mit der Mafia eingelassen hatte.“ Tamaras Stimme war der Schmerz nicht anzumerken.
„Als ich eines Morgens merkte, dass drei Männer auf der Straße standen und unentwegt auf die Fenster meiner Wohnung im 4. Stock starrten, packte ich meine Sachen und verschwand noch in derselben Nacht, nahm die nächste Maschine und landete in Deutschland. Glücklicherweise hatte ich die Adresse meiner Freundin, die kurz zuvor St. Petersburg verlassen hatte und in dieser Stadt lebt. Da bin ich übrigens auch untergebracht. Ich habe noch keine Wohnung.“
Kaffee und Kuchen wurden gebracht und Katjuscha machte sich über ihren Eisbecher her.
„Man ist Ihnen offenbar gefolgt. Sind denn Ikonen so viel wert?“ Ich merkte im selben Augenblick, dass diese Frage naiv war.
„Fast täglich werden Ikonen aus unseren Museen und Kathedralen gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. So eine Ikone aus dem 17. Jahrhundert bringt schon mal einen sechsstelligen Betrag ein“, sagte Tamara. In St. Petersburg sei es das berüchtigte Kartell „Tambowskaja“.
„Waren Sie schon bei der Polizei?“
„Ja, natürlich. Aber die kann offenbar erst aktiv werden, wenn eine Straftat vorliegt.“
Plötzlich verstummte Tamara.
„Stimmt was nicht?“ wollte ich wissen.
„Katjuscha ist eingeschlafen“, flüsterte Tamara. „Können Sie das Kind auf den Schoss nehmen?“ Tamara brachte sie zu mir, beglich die Rechnung und fuhr uns schnell in meine Wohnung.
Nun lag ich wieder in meinem Bett und konnte eine gewisse Zufriedenheit nicht abstreiten. Ich war rundum versorgt und satt. Zum Abendbrot gab es noch Rührei mit vielen leckeren Beilagen.
Tamara. Katjuscha. Was war das heute bloß für ein Tag. Aufregend, aber auch schön. Das mit dem Schrei ging mir immer noch nicht aus dem Kopf. Ob ihre Tochter das öfter mache, hatte ich Tamara noch gefragt. Nein, sie sei auch überrascht. Es sei das erste Mal gewesen.
„Sie glauben doch nicht etwa die Geschichte mit der Puppe und dem König.“ Ihre Stimme klang heiter und gelöst. Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen, als ich prompt antwortete: „Aber natürlich, der König hat ihr den Wunsch erfüllt.“
„Wie bitte?“ Der Stimme nach zu urteilen, schien sie an meinen Verstand zu zweifeln. „Sie sind doch Arzt. Wie können Sie an sowas glauben?“
Ich gab mir Mühe, meine Antwort nicht belehrend klingen zu lassen.
„Das geht schon sehr tief ins Psychologische. Katjuschas Glaube an die Macht des Königs gibt ihr Selbstvertrauen und innere Stärke. Sie hat nicht den geringsten Zweifel an ihren Erfolg. Dieses Urvertrauen kann die berühmten Berge versetzen. Bitte nehmen Sie ihr nicht dieses Vertrauen!“
„Aber nein. Ich habe nur große Angst, dass sie eines Tages entführt wird. Diese Gangster schrecken vor nichts zurück.“
Und dann hörte ich, wie sie leise schluchzte. Ich ertastete über den Tisch ihre Hand und nahm diese in meine beiden Hände.
„Sie sollen sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Schlafen Sie diese Nacht mit Katjuscha in meinem Gästezimmer.“
Da schlief jetzt ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter im Nebenzimmer. Und ich war zufrieden wie nie zuvor.
Lesen Sie in der nächsten Folge:
Katjuschas Traum
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner lieben Tochter Europa gewidmet