Tamara kommt
Es dauerte eine Weile bis ich merkte, dass ich die Augen offen hatte und auf dieses konturlose Gebilde starrte, was sich als Schlafzimmerlampe entpuppte. Ich konnte kaum zu Ende denken, was alles wehtat, als es klingelte. Nein, es war nicht das Telefon. Jemand war an der Wohnungstür. Erneutes Klingeln.
"Wer ist da?"
Ich rief es durch die geöffnete Schlafzimmertür. Jetzt steckte jemand zaghaft einen Schlüssel ins Schloss. Isabel. War sie zurückgekommen? War sie wirklich… -
"Sind Sie da, Herr Dr. Werkmann?" Das war eine Frauenstimme, die ich nicht kannte. Schritte kamen näher. Jetzt musste sie direkt vor mir stehen.
"Oh Gott, was ist passiert? Sie sind doch Dr. Werkmann oder?"
"Ja, ich bin es. Und mit wem habe ich die Ehre?"
Mir war im selben Moment klar, dass ich halb nackt sein musste. Sie versuchte, mir aufzuhelfen. Augenblicklich schrie ich auf vor Schmerzen, sodass sie erschrocken zurückwich.
"Ich heiße Tamara Tretschkowa. Ich bin Ihnen als Krankenschwester zugeteilt worden."
"Haben alle Krankenschwestern so einen harten Griff? Und woher haben Sie überhaupt einen Schlüssel?"
"Entschuldigen Sie. Eine schwarzhaarige Frau war in unserem Büro… Ich habe leider den Namen vergessen."
Ja. Jetzt erinnerte ich mich. Isabel hatte da etwas in die Wege geleitet. Und Isabel machte auch keine halben Sachen. Aber hatte sie schon vor Tagen den Plan, sich von mir zu trennen?
Die Frau, die sich Tamara Tretschkowa nannte, schwieg. Es war ein Schweigen, das von oben kam. Sie musste etwa in der Nähe der Schlafzimmertür stehen. Ich zog meine Schlafhose etwas hoch und richtete mich unter Schmerzen auf.
"Hören Sie", ich versuchte einen geschäftsmäßigen Ton, "vielleicht wissen Sie es noch nicht: Ich bin fast blind. Was ich zuerst brauche, ist mein Rollstuhl. Er muss irgendwo in der Wohnung stehen."
Ich hatte kein gutes Gefühl. Die Art, wie sie durch die Wohnung hetzte und den Rollstuhl suchte, wie sie dann plötzlich hinter mir stand und mich aufforderte, die Arme entspannt sinken zu lassen. Und das alles in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Nein, das flößte mir wenig Vertrauen ein. Würde sie mir – wie vorhin - Schmerzen zufügen? Ich schloss die Augen und ließ alles über mich ergehen.
Zu meiner maßlosen Verblüffung saß ich wenig später im Rollstuhl. Mit einem Kunstgriff, den ich nicht nachzuvollziehen vermochte, hockte ich zunächst wieder auf der Bettkante. Den Rollstuhl hatte sie ganz nahe herangeschoben und blockiert, sodass ich mit ihrer Unterstützung nur noch hinüberrutschen musste. Die wenigen Schmerzen waren schnell vergessen. Geschafft. Der Rollstuhl hatte mich wieder.
So ganz nebenbei hatte sie mit fliegenden Fingern all die Verrichtungen vollzogen, vor denen sich Isabel am liebsten gedrückt hatte. Beim Anlegen der Halskrause war sie meinem Gesicht so nahe gekommen, dass ihre Haare mein Gesicht leicht kitzelten. Ich spürte ihren Atem. Es roch nach Frühling. Nein, Parfüm war es nicht, wohl eine besondere Seife.
Als sie mich durch den Flur schob, hatte ich ein seltsames Gefühl. Ich gab ihr ein Zeichen anzuhalten. Für Sekunden war es ganz still. Da atmet doch jemand, dachte ich.
„Ist noch jemand hier, Frau Tretschkowa?“
Ihre Hand lag plötzlich auf meiner Schulter. Durch die dünne Schlafjacke fühlte es sich kühl an.
„Oh, verzeihen Sie bitte, Dr. Werkmann. Es ist mein Töchterchen. Ich hatte in der ganzen Aufregung vergessen…“
„Nein, nein, Sie müssen sich nicht entschuldigen, es wäre nur nett, wenn Sie mir möglichst vorher verraten, wenn Sie vielleicht auch noch Ihren Hund mitgebracht haben.“
„Nein, nur Katjuscha."
Tief in mir schmunzelte etwas. Sie hatte doch tatsächlich die Bemerkung mit dem Hund ernst genommen. Nach langer Zeit fühlte ich, wie sich die Lebensgeister wieder langsam meines Körpers bemächtigten. Ich schaute in die Richtung, aus der das Atemgeräusch kam.
„Hallo Katjuscha, kommst du mit uns in die Küche?“
Tamara schob vorsichtig meinen Rollstuhl an den kleinen Küchentisch. Ich spürte, wie sie in ihren Bewegungen innehielt. Sie schien zu überlegen.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Treschkowa?“
„Nein, nein, alles ist bestens. Ach bitte, sagen Sie doch einfach Tamara zu mir.“
„Aber gern. Also: Tamara. Suchen Sie vielleicht etwas?“ Ich hörte, wie einige Schranktüren zuschnappten.
„Ja, sagen Sie doch bitte, wo die Essensvorräte sind. Der Kühlschrank ist fast leer …“
„Sie haben Recht, Tamara. Bei mir stand in letzter Zeit nur Müsli und Brot auf dem Speiseplan. Ich habe aber noch gar keinen Hunger.“
„Egal“, Tamara war offenbar wieder an den Rollstuhl getreten. „Bevor Sie Ihre Tabletten einnehmen, müssen Sie etwas essen. Ich mache Ihnen ein leckeres Müsli, aber wo …?“
„Im Kühlschrank ist noch etwas Milch, Mama.“ Das war Katjuschas schüchternes Stimmchen.
„… und hier sind die Vorräte, prima. Haferflocken, Leinsamen, Nüsse, Trockenfrüchte. Ich bin gleich fertig. Dann können Sie auch Ihre Tabletten nehmen.“
Und wieder sagte sie es so, als würde sie mir keine Wahl lassen. Dann kramte sie zwischen den Töpfen. Ich hörte den Elektroherd summen. Wenig später roch es nach warmer Milch. Das fertige Müsli stand offenbar direkt vor mir auf dem Tisch.
„Darf ich Sie füttern?“ Tamaras Stimme klang zum ersten Mal etwas unsicher. Ich machte ein paar abwehrende Handbewegungen und tastete schon nach dem Löffel.
„Ich gehe jetzt etwas einkaufen. Meine Auslagen schreibe ich auf, ja?“ Tamaras Stimme kam plötzlich aus dem Flur. Ich hörte, wie sie ihren Mantel im Gehen überstreifte.
„Wenn Sie etwas brauchen, Katjuscha wird Ihnen behilflich sein. Übrigens: Die Schmerztabletten liegen auf dem Tisch.“
„Alles klar, danke.“
Ich spürte, wie sich etwas in meinem Kopf drehte. Nachdem Tamara die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, musste ich an Isabel denken. Als sie heute Morgen die Tür hinter sich zuschlug, war ich wie gelähmt. Die Leere, die sich anschließend in mir ausbreitete, war wieder präsent.
Isabel! schrie etwas in mir. Warum bist du gegangen? Warum bist du nicht zurückgekommen? War es nicht Liebe? Die echte Liebe? Welchen Wert hat noch mein Leben …? Diese Schmerzen … - Ja, auch die vom Unfall. Aber diese Leere! Isabel!!!
Ich erschrak. Offenbar hatte ich die letzten Worte laut geschrien. Und ich merkte, wie Tränen meine Wangen hinunterliefen. Plötzlich hörte ich Katjuscha weinen. Sehr leise, aber unüberhörbar. Ich vernahm ihren Atem, ganz nahe am Rollstuhl. Sie berührte mich, leicht nur. Dann wischte sie mit irgendetwas meine Tränen ab. Oh, Katjuscha. Ich saß ganz still da und hielt in meinem Schmerz inne.
„Es tut weh, ja?“ Sie sagte es ganz leise - fast unhörbar - und schien dabei das Weinen zu unterdrücken. Obwohl ich zunächst dachte, sie meine all meine Knochenbrüche, so sagten diese wenigen Worte dem Klang nach sehr viel mehr aus.
Ich nickte ein wenig, versuchte ein Lächeln und ertastete ihre Hand.
„Du bist ein liebes Kind.“ Ich bemühte mich, meiner Stimme einen neutralen Klang zu geben. Beim Zurückziehen der Hand streifte ich eine Art Puppe, die sie offenbar im Arm hielt.
„Was hast du da, Katjuscha, eine Puppe?“
„Das ist mein Freund. Er heißt Tschaburaschka. Er ist sehr schlau und …- reich. Augenblicklich zog bei mir der Psychologe wieder ein. Oh ja, das kennt man bei Kleinkindern. Ihre Phantasie ist grenzenlos. Das Schlimmste wäre, diese zu unterdrücken. Man muss in Augenhöhe mit ihnen reden.
Katjuscha hatte wohl längst begriffen, dass ich fast blind war. Sie hatte ihre Puppe auf meinen Schoß gelegt und meine Hand dorthin geführt. Ich betastete die Puppe, die nicht besonders groß und auch nicht neu zu sein schien.
„Wie kommt es, dass Tscha … buschka so reich ist“, fragte ich das kleine Mädchen, das wohl fünf Jahre alt sein mochte.
„Tscheburaschka“, verbesserte sie mich. „Er gehört doch zur Königsfamilie. Wenn ich einen Wunsch habe, sagt er es dem König.“
Schon lange hatte ich kein Kind mehr in meiner Praxis. Dieser „Fall“ interessierte mich.
„Hat Tscha… Tschaburaschka Dir auch mal einen Wunsch nicht erfüllen können?“
Nach kurzem Zögern erwiderte Katjuscha mit einem Anflug von Zurechtweisung in der Stimme: „Der König erfüllt doch den Wunsch. Tschaburaschka sagt es ihm nur.“
„Kennst Du den König auch? Hast Du ihn schon mal gesehen?“
„Aber nein“, sie lachte schüchtern, „das geht doch nicht. Der König muss unsichtbar sein, sonst kann er doch keine Wünsche erfüllen. Das ist doch klar!“
„Ja, ja, völlig klar!“ Ich hatte die ganze Zeit nicht mehr an meine Schmerzen gedacht.
Ich beschloss, dieses Thema später zu vertiefen. Was mich im Augenblick beschäftigte, war Tamara. Ich musste behutsam vorgehen.
„Katjuscha? Du hast bestimmt deine Mama lieb.“ Sie hauchte ein kaum hörbares Ja.
„Du hast schon gemerkt, dass ich nicht sehen kann. Hilf mir bitte: Wie sieht deine Mama aus?“
In diesem Augenblick hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Tamara war zurück.
Lesen Sie in der nächsten Folge:
Ganz plötzlich im Park
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2016
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Dieses Buch ist meiner lieben Tochter Europa gewidmet