Isabel geht
Die Scheibenwischer stemmten sich jaulend gegen den Regenschwall. Wasserfontänen peitschten an den Seitenfenstern empor. Isabel stierte mit zuckenden Mundwinkeln geradeaus.
„Vom Gas runter“, schrie ich. Stattdessen steckte sie sich eine Zigarette an. Plötzlich fing ihre Bluse Feuer. Gegenverkehr! Isabel riss das Steuer herum. Ein mächtiger Betonmast raste auf uns zu. Noch ehe mich ein Airbag auffangen konnte, wurde ich brutal gegen die Seitentür geschmettert.
War es noch Nacht oder schon Tag? Früher reichte die spärliche Straßenbeleuchtung aus, um die Uhrzeit abzulesen. Aber jetzt? Seit dem Unfall konnte ich nur noch Hell und Dunkel unterscheiden. Isabel warf sich von einer Seite auf die andere, dabei knarrte das Bett, wie schon lange nicht mehr. Sie hatte es in letzter Zeit nicht leicht mit mir. Ständig fuhr ich mitten in der Nacht hoch – oft mit einem spitzen Schrei.
Und als ob das traumatische Erlebnis bei mir nicht schon genug angerichtet hatte, lief kurz nach dem Erwachen noch einmal alles wie im Zeitraffer ab, sozusagen als Gratis-Zugabe. Ich hatte mehrere Knochenbrüche davon getragen und – wie die Ärzte sagten – auch eine psychische Erblindung. Isabel erlitt – für ein Model schlimm genug - eine Knieabschürfung. Seit dem Unfall war nichts mehr wie früher. Isabel hatte sich vollkommen zurückgezogen, wurde einsilbig und löste in mir Schuldgefühle aus. Ja, und dann war da noch diese grässliche Hilflosigkeit.
Ich merkte sehr wohl, dass Isabel die morgendlichen Handgriffe mit einer gewissen Reserviertheit verrichtete: Mir aus dem Bett und in den Rollstuhl helfen, die Halskrause anlegen, die Armschlinge, die Beckenschale festzurren. Anfangs hatte sie auch noch das Essen für den Tag vorbereitet. Das war kurz nach dem Unfall. Als ich sozusagen stockblind war. Jetzt konnte ich wenigstens grobe Umrisse wahrnehmen und mir ein bisschen selber helfen.
Isabel bewegte sich. Nach meinem Zeitgefühl musste sie so etwa in einer halben Stunde aufstehen. Wo ging es wohl heute hin? Ach ja, nach Mailand. Zu einem Shooting. Anschließend die Modenschau in München. Dann würde sie wohl heute nicht zurückkommen.
„Daniel?“
Eine Stimme aus meinem Alptraum?
„Daniel!!“
Nein, das war Isabel. Wenn Isabel „Daniel“ sagte, und nicht wie sonst „Danny“, stand eine Überraschung bevor. Ich sah wie durch einen dichten Schleier, dass sie sich aufgerichtet hatte. Jetzt schaute sie mich wohl an, so wie früher – forschend, abschätzend. Ich gewahrte nur ihre Umrisse, die sich gegen das hellere Fenster abhoben, aber ich glaubte auch, ihren bohrenden Blick zu „sehen“.
„Daniel, du musst jetzt mit deinem Schicksal selber zurechtkommen.“
Peng!
Ich hatte es geahnt. Sie war also über Nacht zu einer Entscheidung gekommen.
„Was willst du damit sagen, Isabel. Ich stelle mich doch meinem Schicksal.“
„Das ist vernünftig, Daniel. Und zukünftig auch ganz ohne mich.“
„Du willst… - du willst mich verlassen?“
„Richtig, Daniel. Ich muss mich in Zukunft ganz auf meinen Beruf konzentrieren. Ich kann nicht mehr zwischendurch zu dir kommen.“
„Aber Isabel, seit dreieinhalb Jahren gestehst du mir deine Liebe, wir haben Heiratspläne und jetzt… Ich sehe ja ein, so, wie ich heute bin, mit all den Bandagen und dieser Sehbehinderung… Es ist nicht viel, was ich dir in dieser Situation bieten kann, aber…“
„Daniel, hör´ auf damit. Keine Sentimentalitäten. Es geht nicht mehr darum, was du mir bieten kannst. Jeder muss jetzt seinen eigenen Weg gehen.“
Und den ging sie.
Zunächst bewegte sie sich aus dem Bett, verließ das Schlafzimmer, betrat das Badezimmer, danach wohl auch all die anderen Räume. Sie packte. Ich hörte es, ich „sah“ es. Nach einer guten Stunde kam sie noch einmal ins Schlafzimmer.
„Daniel, ich werde jetzt gehen. Die restlichen Sachen lass ich abholen. Wir sollten uns den Abschied nicht unnötig schwer machen…“
Ich hörte, wie sie näher kam, roch ihr Parfüm. Dann fühlte ich, wie sie meinen Kopf zwischen ihre Hände nahm und mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund drückte.
Ich war unfähig, etwas zu sagen. Offenbar hatte sie das auch nicht erwartet. Jetzt ging sie wohl noch einmal zum großen Spiegel, stellte ich mir vor, ordnete abschließend ihre Frisur. Die Wohnungstür ging auf, blieb lange offen… Vielleicht blickte sie noch einmal sinnend zurück. Dann aber klappte die Tür energisch zu. Wenige staksige Schritte im Hausflur, nun fiel auch die Haustür ins Schloss. Stille.
Ich wagte nicht, mich zu rühren. Wie in einer Endlos-Schleife zogen die Geräusche der letzten Minuten an meinem inneren Ohr vorbei, so, als wäre sie immer noch da. Ich sorgte mich nicht, wie ich jetzt wohl ohne Hilfe aus dem Bett kommen würde. Ich wusste nicht einmal, wo der Rollstuhl war. Isabel war in meinem Kopf. Sonst nichts.
Die Dunkelheit, die mich umgab, war nur von ihrer Gestalt erhellt. Sie blickte mich über die Schulter hinweg an. Stumm, aber eindringlich. Sie hatte ihren rassigen Kopf mit dem gescheitelten schwarzen Kurzhaar ein wenig erhoben. Ihre sonst so verträumten Augen wirkten jetzt zwingend. Ich war immer noch nicht in der Lage, auch nur eine Frage an sie zu richten. Was war geschehen? Ich, Dr. med. Daniel Werkmann, Inhaber einer gut gehenden Psychologischen Praxis, fühlte, wie nach der äußeren Zerstörung jetzt auch die innere folgte. Wie sich alles in ein Nichts auflöste, alles, was mir lieb und wert war.
Plötzlich kehrte der Schmerz in meinen erwachenden Körper zurück. Der geschiente rechte Unterarm schmerzte, ebenso das Becken und der rechte Oberschenkel. Die Tabletten waren in der Küche. Sollte ich den Notarzt anrufen? Das Handy lag auf dem Nachttisch, und die 112 würde ich schon ertasten können. Unsinn. Wer würde dem Arzt denn die Tür aufmachen? Wo war bloß der verdammte Rollstuhl? Isabel hatte ihn immer jeden Morgen vor mein Bett geschoben… Ich prägte mir den Weg zur Küche in allen Einzelheiten ein. Auftreten konnte ich nicht. Also musste ich auf allen Vieren… Unmöglich! Und wie sollte ich wieder hoch kommen, um die Tabletten aus dem Regal zu nehmen? Trotzdem. Es gab keine Alternative.
Ich bewegte vorsichtig das linke, unversehrte Bein aus dem Bett und erreichte mit der Fußspitze den Boden. Dann versuchte ich, mich etwas aufzurichten. Dabei konnte ich mich mit dem gesunden, linken Arm abstützen. Ein rasender Schmerz durchfuhr plötzlich Becken und Oberschenkel. Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich biss die Zähne zusammen und richtete mich bei zunehmendem Schmerz noch weiter auf. Ohne mir eine Pause zu gönnen, ergriff ich mit der linken Hand das geschiente rechte Bein und zog es aus dem Bett. Ich brüllte vor Schmerzen, hielt aber nicht inne. Weitermachen! Weitermachen! hämmerte es in mir. Nur jetzt nicht aufhören. Ich beuge mich mit aller Kraft noch weiter vor, als ich fühlte, wie mein Körper auseinander gerissen wurde, mir schwarz vor Augen wurde und ich mit einem harten Knall auf dem Boden aufschlug. Isabel, Isabel! schrie ich. Aber meine Stimme verhallte in einem langen schwarzen Tunnel.
Langsam sah ich wieder Licht und – Isabel. Sie hatte ein ultra-kurzes geblümtes Sommerkleid an und betrat meine Praxis. Die Sprechstunde war längst beendet, und sie hatte auch keinen Termin. Mein Kittel hing bereits am Haken, ich saß auf dem Stuhl meiner Sprechstundenhilfe und hatte mich in eine Karteikarte vertieft.
„Bitte melden Sie mich bei Ihrem Chef an. Es ist dringend!“ Schon wollte ich sie höflich, aber bestimmt hinaus komplimentieren. Aber dann gewahrte ich etwas in ihrem Blick, das mich neugierig machte. Ich übersah nicht ihr Stirnrunzeln, als ich mich als „Chef“ ausgab. Sie blieb also. Ich erfuhr noch am selben Abend, weshalb die gekommen war.
„Helfen Sie mir dabei, meinen Ex-Freund so schnell wie möglich zu vergessen“, bat sie. Er verfolge sie im Traum, gefährde ihre Karriere. Sie sei unkonzentriert und nervös, schlafe schlecht. „Ich kann mir Liebesgedöns in meinem Beruf nicht leisten“, schloss sie.
Es stellte sich heraus, dass sich bei Isabel eine Therapie nach bewährtem Muster nicht so leicht durchführen ließ, zumal sie bei jeder Sitzung aufs Tempo drückte. Ich machte gar nicht erst den Versuch, sie in die Lage zu versetzen, diesen Mann zu vergessen. Im Gegenteil. Ich brachte sie dazu, ihn innerlich zu verarbeiten, ihn abzuarbeiten - und Liebeskummer oder wie sie es nannte: „Liebesgedöns“ zuzulassen.
Und dann geschah etwas Seltsames. Das Dauerthema Liebe hatte uns beide näher gebracht. Eines Abends hatte ich das Gefühl, sie rede nicht mehr über diesen Mann, sondern über mich. Und wie selbstverständlich brachen wir nach einer dieser Routinesitzungen gemeinsam auf und steuerten eine romantische Ecke in einem Restaurant an, aßen, tranken und küssten uns. Das war vor dreieinhalb Jahren. Sie war kurz darauf bei mir eingezogen.
Tamara kommt
Es dauerte eine Weile bis ich merkte, dass ich die Augen offen hatte und auf dieses konturlose Gebilde starrte, was sich als Schlafzimmerlampe entpuppte. Ich konnte kaum zu Ende denken, was alles wehtat, als es klingelte. Nein, es war nicht das Telefon. Jemand war an der Wohnungstür. Erneutes Klingeln.
"Wer ist da?"
Ich rief es durch die geöffnete Schlafzimmertür. Jetzt steckte jemand zaghaft einen Schlüssel ins Schloss. Isabel. War sie zurückgekommen? War sie wirklich… -
"Sind Sie da, Herr Dr. Werkmann?" Das war eine Frauenstimme, die ich nicht kannte. Schritte kamen näher. Jetzt musste sie direkt vor mir stehen.
"Oh Gott, was ist passiert? Sie sind doch Dr. Werkmann oder?"
"Ja, ich bin es. Und mit wem habe ich die Ehre?"
Mir war im selben Moment klar, dass ich halb nackt sein musste. Sie versuchte, mir aufzuhelfen. Augenblicklich schrie ich auf vor Schmerzen, sodass sie erschrocken zurückwich.
"Ich heiße Tamara Tretschkowa. Ich bin Ihnen als Krankenschwester zugeteilt worden."
"Haben alle Krankenschwestern so einen harten Griff? Und woher haben Sie überhaupt einen Schlüssel?"
"Entschuldigen Sie. Eine schwarzhaarige Frau war in unserem Büro… Ich habe leider den Namen vergessen."
Ja. Jetzt erinnerte ich mich. Isabel hatte da etwas in die Wege geleitet. Und Isabel machte auch keine halben Sachen. Aber hatte sie schon vor Tagen den Plan, sich von mir zu trennen?
Die Frau, die sich Tamara Tretschkowa nannte, schwieg. Es war ein Schweigen, das von oben kam. Sie musste etwa in der Nähe der Schlafzimmertür stehen. Ich zog meine Schlafhose etwas hoch und richtete mich unter Schmerzen auf.
"Hören Sie", ich versuchte einen geschäftsmäßigen Ton, "vielleicht wissen Sie es noch nicht: Ich bin fast blind. Was ich zuerst brauche, ist mein Rollstuhl. Er muss irgendwo in der Wohnung stehen."
Ich hatte kein gutes Gefühl. Die Art, wie sie durch die Wohnung hetzte und den Rollstuhl suchte, wie sie dann plötzlich hinter mir stand und mich aufforderte, die Arme entspannt sinken zu lassen. Und das alles in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Nein, das flößte mir wenig Vertrauen ein. Würde sie mir – wie vorhin - Schmerzen zufügen? Ich schloss die Augen und ließ alles über mich ergehen.
Zu meiner maßlosen Verblüffung saß ich wenig später im Rollstuhl. Mit einem Kunstgriff, den ich nicht nachzuvollziehen vermochte, hockte ich zunächst wieder auf der Bettkante. Den Rollstuhl hatte sie ganz nahe herangeschoben und blockiert, sodass ich mit ihrer Unterstützung nur noch hinüberrutschen musste. Die wenigen Schmerzen waren schnell vergessen. Geschafft. Der Rollstuhl hatte mich wieder.
So ganz nebenbei hatte sie mit fliegenden Fingern all die Verrichtungen vollzogen, vor denen sich Isabel am liebsten gedrückt hatte. Beim Anlegen der Halskrause war sie meinem Gesicht so nahe gekommen, dass ihre Haare mein Gesicht leicht kitzelten. Ich spürte ihren Atem. Es roch nach Frühling. Nein, Parfüm war es nicht, wohl eine besondere Seife.
Als sie mich durch den Flur schob, hatte ich ein seltsames Gefühl. Ich gab ihr ein Zeichen anzuhalten. Für Sekunden war es ganz still. Da atmet doch jemand, dachte ich.
„Ist noch jemand hier, Frau Tretschkowa?“
Ihre Hand lag plötzlich auf meiner Schulter. Durch die dünne Schlafjacke fühlte es sich kühl an.
„Oh, verzeihen Sie bitte, Dr. Werkmann. Es ist mein Töchterchen. Ich hatte in der ganzen Aufregung vergessen…“
„Nein, nein, Sie müssen sich nicht entschuldigen, es wäre nur nett, wenn Sie mir möglichst vorher verraten, wenn Sie vielleicht auch noch Ihren Hund mitgebracht haben.“
„Nein, nur Katjuscha."
Tief in mir schmunzelte etwas. Sie hatte doch tatsächlich die Bemerkung mit dem Hund ernst genommen. Nach langer Zeit fühlte ich, wie sich die Lebensgeister wieder langsam meines Körpers bemächtigten. Ich schaute in die Richtung, aus der das Atemgeräusch kam.
„Hallo Katjuscha, kommst du mit uns in die Küche?“
Tamara schob vorsichtig meinen Rollstuhl an den kleinen Küchentisch. Ich spürte, wie sie in ihren Bewegungen innehielt. Sie schien zu überlegen.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Treschkowa?“
„Nein, nein, alles ist bestens. Ach bitte, sagen Sie doch einfach Tamara zu mir.“
„Aber gern. Also: Tamara. Suchen Sie vielleicht etwas?“ Ich hörte, wie einige Schranktüren zuschnappten.
„Ja, sagen Sie doch bitte, wo die Essensvorräte sind. Der Kühlschrank ist fast leer …“
„Sie haben Recht, Tamara. Bei mir stand in letzter Zeit nur Müsli und Brot auf dem Speiseplan. Ich habe aber noch gar keinen Hunger.“
„Egal“, Tamara war offenbar wieder an den Rollstuhl getreten. „Bevor Sie Ihre Tabletten einnehmen, müssen Sie etwas essen. Ich mache Ihnen ein leckeres Müsli, aber wo …?“
„Im Kühlschrank ist noch etwas Milch, Mama.“ Das war Katjuschas schüchternes Stimmchen.
„… und hier sind die Vorräte, prima. Haferflocken, Leinsamen, Nüsse, Trockenfrüchte. Ich bin gleich fertig. Dann können Sie auch Ihre Tabletten nehmen.“
Und wieder sagte sie es so, als würde sie mir keine Wahl lassen. Dann kramte sie zwischen den Töpfen. Ich hörte den Elektroherd summen. Wenig später roch es nach warmer Milch. Das fertige Müsli stand offenbar direkt vor mir auf dem Tisch.
„Darf ich Sie füttern?“ Tamaras Stimme klang zum ersten Mal etwas unsicher. Ich machte ein paar abwehrende Handbewegungen und tastete schon nach dem Löffel.
„Ich gehe jetzt etwas einkaufen. Meine Auslagen schreibe ich auf, ja?“ Tamaras Stimme kam plötzlich aus dem Flur. Ich hörte, wie sie ihren Mantel im Gehen überstreifte.
„Wenn Sie etwas brauchen, Katjuscha wird Ihnen behilflich sein. Übrigens: Die Schmerztabletten liegen auf dem Tisch.“
„Alles klar, danke.“
Ich spürte, wie sich etwas in meinem Kopf drehte. Nachdem Tamara die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, musste ich an Isabel denken. Als sie heute Morgen die Tür hinter sich zuschlug, war ich wie gelähmt. Die Leere, die sich anschließend in mir ausbreitete, war wieder präsent.
Isabel! schrie etwas in mir. Warum bist du gegangen? Warum bist du nicht zurückgekommen? War es nicht Liebe? Die echte Liebe? Welchen Wert hat noch mein Leben …? Diese Schmerzen … - Ja, auch die vom Unfall. Aber diese Leere! Isabel!!!
Ich erschrak. Offenbar hatte ich die letzten Worte laut geschrien. Und ich merkte, wie Tränen meine Wangen hinunterliefen. Plötzlich hörte ich Katjuscha weinen. Sehr leise, aber unüberhörbar. Ich vernahm ihren Atem, ganz nahe am Rollstuhl. Sie berührte mich, leicht nur. Dann wischte sie mit irgendetwas meine Tränen ab. Oh, Katjuscha. Ich saß ganz still da und hielt in meinem Schmerz inne.
„Es tut weh, ja?“ Sie sagte es ganz leise - fast unhörbar - und schien dabei das Weinen zu unterdrücken. Obwohl ich zunächst dachte, sie meine all meine Knochenbrüche, so sagten diese wenigen Worte dem Klang nach sehr viel mehr aus.
Ich nickte ein wenig, versuchte ein Lächeln und ertastete ihre Hand.
„Du bist ein liebes Kind.“ Ich bemühte mich, meiner Stimme einen neutralen Klang zu geben. Beim Zurückziehen der Hand streifte ich eine Art Puppe, die sie offenbar im Arm hielt.
„Was hast du da, Katjuscha, eine Puppe?“
„Das ist mein Freund. Er heißt Tschaburaschka. Er ist sehr schlau und …- reich. Augenblicklich zog bei mir der Psychologe wieder ein. Oh ja, das kennt man bei Kleinkindern. Ihre Phantasie ist grenzenlos. Das Schlimmste wäre, diese zu unterdrücken. Man muss in Augenhöhe mit ihnen reden.
Katjuscha hatte wohl längst begriffen, dass ich fast blind war. Sie hatte ihre Puppe auf meinen Schoß gelegt und meine Hand dorthin geführt. Ich betastete die Puppe, die nicht besonders groß und auch nicht neu zu sein schien.
„Wie kommt es, dass Tscha … buschka so reich ist“, fragte ich das kleine Mädchen, das wohl fünf Jahre alt sein mochte.
„Tscheburaschka“, verbesserte sie mich. „Er gehört doch zur Königsfamilie. Wenn ich einen Wunsch habe, sagt er es dem König.“
Schon lange hatte ich kein Kind mehr in meiner Praxis. Dieser „Fall“ interessierte mich.
„Hat Tscha… Tschaburaschka Dir auch mal einen Wunsch nicht erfüllen können?“
Nach kurzem Zögern erwiderte Katjuscha mit einem Anflug von Zurechtweisung in der Stimme: „Der König erfüllt doch den Wunsch. Tschaburaschka sagt es ihm nur.“
„Kennst Du den König auch? Hast Du ihn schon mal gesehen?“
„Aber nein“, sie lachte schüchtern, „das geht doch nicht. Der König muss unsichtbar sein, sonst kann er doch keine Wünsche erfüllen. Das ist doch klar!“
„Ja, ja, völlig klar!“ Ich hatte die ganze Zeit nicht mehr an meine Schmerzen gedacht.
Ich beschloss, dieses Thema später zu vertiefen. Was mich im Augenblick beschäftigte, war Tamara. Ich musste behutsam vorgehen.
„Katjuscha? Du hast bestimmt deine Mama lieb.“ Sie hauchte ein kaum hörbares Ja.
„Du hast schon gemerkt, dass ich nicht sehen kann. Hilf mir bitte: Wie sieht deine Mama aus?“
In diesem Augenblick hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Tamara war zurück.
Plötzlich im Park
„Tamara Nikolaiewna Tretschkowa, mu dolznu pogovorit!"
Die Stimme war nicht laut, aber eindringlich – irgendwie umheimlich. Der Park schien menschleer zu sein. Ich wollte was sagen, da fühlte ich, wie sich Tamaras Finger in meine Schulter krallten.
„Wir müssen hier weg, sofort! Komm Katjuscha, schnell!!“
Im selben Moment schob sie den Rollstuhl so kräftig an, dass mein Kopf nach hinten geschleudert wurde.
„Was ist denn …" Ich rang nach Luft.
„Später, später, nur schnell weg!“
Tamara jagte mit dem Rollstuhl über alle Hindernisse, keuchte, schien mehr zu stolpern, als zu laufen …
Plötzlich ein Schrei. So grell, so scharf, dass er durch den stillen Park schnitt und in meine schmerzenden Glieder fuhr. Erneut dieser Schrei, ohrenbetäubend und lang anhaltend.
Ich glaubte zu hören, dass Spaziergänger aus den Seitenwegen angelaufen kamen.
Ganz plötzlich stoppte Tamara. Diesmal wurde ich nach vorn geschleudert. Nur mit Mühe konnte ich mich am Sitz festkrallen. Tamara rang hinter mir nach Luft.
„Was ist denn los, Tamara? Haben Sie einen Geist gesehen. Und wer hat da so geschrien? Mir wäre fast das Trommelfell geplatzt.“
„Das war Katjuscha. Ich kann es auch noch gar nicht fassen. Sie hat Spaziergänger angelockt und dadurch die Männer vertrieben.“
„Was reden Sie da, welche Männer und weshalb diese mörderische Jagd mit meinem Rollstuhl?“
„Sie haben bei mir etwas gut. Ich lade Sie in ein schickes Cafe´ ein. Dann werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Ist das nach Ihrem Geschmack, Herr Dr. Werkmann?“
Ja, das war nach dieser Höllenfahrt durchaus nach meinem Geschmack. Wenig später saßen wir in einem Cafe´, das ich sofort erkannte. Wenn man hereinkommt, umfängt einen ein ganz bestimmter Geruch. So stellt man sich das Knusperhaus von innen vor. Hier war ich oft mit Isabel. Wir bestellten immer dasselbe: Erdbeertorte. Ich mit Sahne, sie ohne.
Während Katjuscha ein angeregtes Gespräch mit Tscheburaschka führte, bestellten wir unseren Kaffee mit Apfelschnitte. Auf Sahne verzichteten wir beide.
Meine brennendste Frage aber war nicht, wer diese Männer im Park waren. Ich wollte vielmehr wissen, wie aus einem so kleinen Körper ein derart ins Mark gehender Schrei kommen konnte.
Tamara hatte schnell gelernt, mit meiner Blindheit umzugehen. Sie sagte immer, was sie gerade tat, auch was sie dachte und fühlte. So war ich immer eingebunden in alles, was um mich herum geschah.
„Ich muss gerade schmunzeln, wenn ich sehe, wie Katjuscha auf ihre Puppe einredet. Sie sagte mir einmal, sie habe über Tscheburaschka den König gebeten, ihrer Stimme die Kraft zu geben, böse Menschen zu vertreiben. Es muss die Zeit gewesen sein, als wir in St. Petersburg um unser Leben bangen mussten.
„Das ist unglaublich!“ entfuhr es mir.
Noch bevor der Kuchen kam, begann Tamara zu erzählen.
Sie habe in St. Petersburg Medizin studiert. Durch eine Freundin, es sei dieselbe, be der sie jetzt wohnt, habe sie einen Geschäftsmann kennen und lieben gelernt.
„Wir beschlossen zu heiraten, denn ich war schwanger“, sagte Tamara und machte eine Pause. Ich hatte das Gefühl, sie schaute in diesem Augenblick auf die unaufhörlich brabbelnde Katjuscha.
Der weitere Bericht fiel nüchtern aus: Zur Hochzeit kam es nicht mehr. Man hatte ihn auf offener Straße erschossen. Kurz darauf bekam sie seltsame Anrufe. Von wertvollen Ikonen war da die Rede. Sie müsse die Ware sofort herausgeben, sonst könne man keine Garantie für ihr und Katjuschas leben geben.
„Ich erfuhr durch diese Freundin, dass sich mein Verlobter offenbar mit der Mafia eingelassen hatte.“ Tamaras Stimme war der Schmerz nicht anzumerken.
„Als ich eines Morgens merkte, dass drei Männer auf der Straße standen und unentwegt auf die Fenster meiner Wohnung im 4. Stock starrten, packte ich meine Sachen und verschwand noch in derselben Nacht, nahm die nächste Maschine und landete in Deutschland. Glücklicherweise hatte ich die Adresse meiner Freundin, die kurz zuvor St. Petersburg verlassen hatte und in dieser Stadt lebt. Da bin ich übrigens auch untergebracht. Ich habe noch keine Wohnung.“
Kaffee und Kuchen wurden gebracht und Katjuscha machte sich über ihren Eisbecher her.
„Man ist Ihnen offenbar gefolgt. Sind denn Ikonen so viel wert?“ Ich merkte im selben Augenblick, dass diese Frage naiv war.
„Fast täglich werden Ikonen aus unseren Museen und Kathedralen gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. So eine Ikone aus dem 17. Jahrhundert bringt schon mal einen sechsstelligen Betrag ein“, sagte Tamara. In St. Petersburg sei es das berüchtigte Kartell „Tambowskaja“.
„Waren Sie schon bei der Polizei?“
„Ja, natürlich. Aber die kann offenbar erst aktiv werden, wenn eine Straftat vorliegt.“
Plötzlich verstummte Tamara.
„Stimmt was nicht?“ wollte ich wissen.
„Katjuscha ist eingeschlafen“, flüsterte Tamara. „Können Sie das Kind auf den Schoss nehmen?“ Tamara brachte sie zu mir, beglich die Rechnung und fuhr uns schnell in meine Wohnung.
Nun lag ich wieder in meinem Bett und konnte eine gewisse Zufriedenheit nicht abstreiten. Ich war rundum versorgt und satt. Zum Abendbrot gab es noch Rührei mit vielen leckeren Beilagen.
Tamara. Katjuscha. Was war das heute bloß für ein Tag. Aufregend, aber auch schön. Das mit dem Schrei ging mir immer noch nicht aus dem Kopf. Ob ihre Tochter das öfter mache, hatte ich Tamara noch gefragt. Nein, sie sei auch überrascht. Es sei das erste Mal gewesen.
„Sie glauben doch nicht etwa die Geschichte mit der Puppe und dem König.“ Ihre Stimme klang heiter und gelöst. Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen, als ich prompt antwortete: „Aber natürlich, der König hat ihr den Wunsch erfüllt.“
„Wie bitte?“ Der Stimme nach zu urteilen, schien sie an meinen Verstand zu zweifeln. „Sie sind doch Arzt. Wie können Sie an sowas glauben?“
Ich gab mir Mühe, meine Antwort nicht belehrend klingen zu lassen.
„Das geht schon sehr tief ins Psychologische. Katjuschas Glaube an die Macht des Königs gibt ihr Selbstvertrauen und innere Stärke. Sie hat nicht den geringsten Zweifel an ihren Erfolg. Dieses Urvertrauen kann die berühmten Berge versetzen. Bitte nehmen Sie ihr nicht dieses Vertrauen!“
„Aber nein. Ich habe nur große Angst, dass sie eines Tages entführt wird. Diese Gangster schrecken vor nichts zurück.“
Und dann hörte ich, wie sie leise schluchzte. Ich ertastete über den Tisch ihre Hand und nahm diese in meine beiden Hände.
„Sie sollen sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Schlafen Sie diese Nacht mit Katjuscha in meinem Gästezimmer.“
Da schlief jetzt ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter im Nebenzimmer. Und ich war zufrieden wie nie zuvor.
Katjuschas Traum
Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dieses unwesentlich hellere Viereck blickte. Mein Schlafzimmerfenster sagte mir ziemlich genau, um wieviel Nuancen sich meine Sehkraft verbessert hatte. Von Verbesserung konnte auch heute Morgen nicht die Rede sein. Es hatte sich etwas Anderes verändert. Ich hatte seit dem Unfall zum ersten Mal durchgeschlafen. Keine Alpträume, kein Aufschrei mitten in der Nacht. Ich schloss die Augen, um meine Gedanken zu ordnen. Da war in irgendeiner Ecke meines Gehirns etwas Unvollendetes. War es der gestrige Tag? Ohne zu wissen warum, tastete ich nach dem Bett neben mir. Das war es. Ja, Isabel war gegangen – wohl für immer. Fast gleichzeitig hatte ich einen Geruch in der Nase, von einem Parfüm oder einer Seife. Tamara. Wie musste man sie sich vorstellen. Sie war sicherlich stämmig, kräftig … - wie sie mich gestern Morgen so einfach vom Fußboden aufs Bett hob! Schon hörte ich das schüchterne Stimmchen von Katjuscha. Es dauerte viel zu lange, bis ich begriff, was gestern Abend geschehen war. Tamara hatte geweint und ich hatte sie und Katjuscha im Gästezimmer übernachten lassen.
Noch war alles still. Ich lauschte. Mutter und Kind schliefen wohl noch. Ich ließ die Ereignisse gestern im Park an mir vorüberziehen. Das muss die beiden ganz schön mitgenommen haben. Sollen sie schlafen. Hörte ich da ein Tuscheln, ein Kichern? Jemand drückte die Türklinke nieder. Mit einem Ruck wurde die Tür aufgestoßen und ein zweistimmiges Lachen kam mir entgegen.
„Guten Morgen, Herr Dr. Werkmann. Katjuscha ließ mir keine Ruhe. Sie möchte gerne zuschauen, wenn ich Sie … - fertigmache … äh – versorge. Ich meine, haben Sie etwas dagegen, wenn Katjuscha …“
Ich hatte überhaupt nichts dagegen. Im Gegenteil. Katjuschas Nähe wirkte auf mich von Anfang an auf unerklärliche Weise beruhigend, irgendwie auch tröstend. Nein, auch diese Erklärung erschien mir nicht ausreichend. Katjuscha war ein ganz besonderes Kind.
Plötzlich spürte ich ihre kleine Hand auf meinem Unterarm.
„Sind Sie ein Doktor?“ fragte sie unvermittelt.
„Ja, aber mehr einer für die Seele.“
Sie schien sich umzudrehen, ließ meinen Arm aber nicht los.
„Was ist Seele, Mama?“
„Das kann Dir Dr. Werkmann viel besser erklären“, erwiderte Tamara.
Ich musste jetzt endlich mit diesem „Dr. Werkmann“ Schluss machen.
„Bitte nennen Sie mich beim Vornamen, Tamara. Wie Sie wohl schon wissen, heiße ich Daniel.“
„Aber gern, Herr Daniel …“
„Nur Daniel, bitte. Was machen wir heute?“
„Wenn Sie wieder im Rollstuhl sitzen, können wir vielleicht nach dem Frühstück ein bisschen durch die Stadt fahren oder durch den Park?“
Kutjuscha zog plötzlich ihre Hand weg.
„Oh ja, dann kann ich auch mein Kettchen …“
Sie drehte sich plötzlich weg und verstummte.
„Was ist mit Deinem Kettchen, mein Schatz. Lass mal sehen … - Du hast Dein Kettchen ja nicht mehr um Deinen Hals?“ Aus Tamaras Stimme war mehr Überraschung als Vorwurf herauszuhören.
Plötzlich spürte ich, wie Katjuscha ihr Köpfchen auf meinen Arm legte und weinte.
Ich hob meinen bandagierten Arm und streichelte ihr Haar.
„Weine nicht, Katjuscha, sonst muss ich auch weinen.“
Ihre Reaktion war erstaunlich. Augenblicklich unterdrückte sie das Weinen und sagte unter heftigem Schluchzen: „Ich habe gestern mein Kettchen verloren, als ich so schnell laufen musste. Helfen Sie mir beim Suchen?“
Ich versprach es ihr. Es tropfte etwas Warmes auf meinen Arm. Katjuschas Tränen. Und dann spürte ich, wie sie meinen Unterarm küsste.
„Da ist noch etwas Anderes, ihr Turteltäubchen: Heute Nachmittag erwarten wir einen Überraschungsbesuch.“ Tamaras Stimme klang wieder aufgeräumt und fröhlich. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Daniel!“
„Wenn Sie mir sagen, wer das ist?“
Ich spürte plötzlich, wie Haare mein Gesicht kitzelten. Tamaras Mund musste ganz nahe an meinem Ohr sein, als sie flüsterte: „Die Ärztin, bei der ich wohne, kommt uns besuchen. Es soll eine Überraschung für Katjuscha sein. Aber meine Freundin bringt leider eine schlechte Nachricht mit: Die Männer standen vor ihrer Wohnungstür.“
So schnell, wie Tamaras Haare mein Gesicht wieder freigaben, verzog sich auch dieser unvergleichliche Duft. Nun schnappte ich nach Luft. Ich hatte die ganze Zeit den Atem angehalten.
„Mama, du sagst immer, man darf nicht flüstern.“ Es gelang Katjuscha vortrefflich, die Stimme ihrer Mutter nachzuahmen. Tamara und ich lachten ausgelassen.
„Was hast du geflüstert, Mama, sag es mir“, drängte sie.
„Das ist eine Überraschung, auch für dich.“
Das schien das Kind zufriedenzustellen.
Katjuscha legte auch das andere Händchen auf meinen Unterarm und rüttelte diesen vorsichtig.
„Ich muss jetzt Tscheburaschka, guten Morgen´ sagen. Ich glaube, er hat diese Nacht ganz schlecht geschlafen.“
Die Stimme Katjuschas klang so unendlich besorgt, dass ich ungewollt mitfühlte.
„Ja? Warum glaubst du denn das?“
„Mein Schrei gestern hat ihn bestimmt zu Tode erschreckt.“
Ich fühlte Tamaras Blick auf mich ruhen. Und schon waren die Händchen von meinem Arm verschwunden und ich hörte, wie Katjuscha aus dem Schlafzimmer lief.
Tamara machte sich unverzüglich an die Arbeit. Gestern Morgen noch musste ich Minuten voller Peinlichkeiten überstehen, als sie mich ankleidete und in den Rollstuhl half. Da war sie ja auch für mich nicht mehr als eine Pflegerin, die keinen Widerspruch duldete. Bei der jeder Handgriff saß, auch wenn sie manchmal etwas zu robust vorging - wohl auch ohne innere Anteilnahme.
Das war schon gestern Abend völlig anders. Sie war so behutsam, beinahe zärtlich. Ich kam mir vor, wie ein Baby, das ins Bett gebracht wird. Und jetzt? Es war rührend, wie sie immer erst fragte, bevor sie etwas tat.
„Darf ich Ihnen jetzt die Halskrause anlegen, Daniel?“
Ich musste bei jeder neuen Frage die Lippen zusammenpressen, um nicht laut loszulachen. Wie sie meinen Namen aussprach, war einfach köstlich. Mit Betonung auf der letzten Silbe. Das hatte so etwas Französisches.
„Wollte Katjuscha nicht dabei sein?“
Ich musste mich ablenken, Tamara könnte meine innere Belustigung falsch verstehen.
„Sie wird gleich kommen, Daniel, so etwas vergisst sie nicht.“
Und richtig. Kaum hatte Tamara die Worte ausgesprochen, da wurde auch schon die Türe aufgestoßen.
„Ich bin wieder da!“ Das war an mich gerichtet. Und zur Mutter: „Darf ich helfen, Mama?“
„Ja, du kannst den Rollstuhl vom Flur holen.“ In Sekunden war sie wieder im Schlafzimmer.
„Und jetzt, Mama?“
„Du kannst mich unterstützen, Daniel… - ich meine, Onkel Daniel in den Rollstuhl zu helfen.“
Ich erschrak. „Das ist doch zu schwer für Katjuscha!“
„Sie soll ja nicht heben, sondern begleiten“, erwiderte Tamara ernst.
Und dann erlebte ich, was meine etwas rätselhafte Pflegerin damit meinte. Während Tamara mich in ihren nicht nachvollziehbaren Griff nahm und mich zentimeterweise zum fixierten Rollstuhl hinüberschob, hatte Katjuscha nur meine Hand in ihre zarten Händchen genommen. Das genügte schon. Ich war so damit beschäftigt, meine Verblüffung über das Verhalten des Kindes richtig einzuordnen und sie nicht etwa durch Schmerzensschreie zu erschrecken, dass ich gar nicht merkte, dass ich schon im Rollstuhl saß. Oh ha, fuhr es mir durch den Kopf. An Tamara war gewiss so etwas wie eine Psychologin verlorengegangen.
Als es am frühen Nachmittag klingelte, bat ich Tamara, zuerst durch den Türspion zu schauen. Ich hörte sie lachen, die Tür wurde aufgerissen und das Lachen wurde zweistimmig. Das musste die Ärztin sein. Tamara kam zu mir ins Wohnzimmer.
„Komm doch näher Luda. Das ist Dr. Werkmann“, stellte sie mich vor. Und wieder registrierte ich, dass sie dabei fast zärtlich meine Schulter berührte.
„Oh, ein Kollege? Ich bin Ludmilla Kastfort. Sie können Luda zu mir sagen.“
„Aber gern, Luda. Ich bin der Daniel. Kastfort klingt aber ziemlich deutsch.“
„Das ist richtig. Ich bin mit einem deutschen Mann verheiratet… - Katjuscha!!“
„Katjuscha, mein kleiner Engel…“ Ich hörte, wie sich ihre Stimme entfernte, wie sich lauter knallende Küsse mit „mein kleiner Engel“ ablösten.
Dann war auch mal Katjuscha zu vernehmen.
„Tante Luda, du bist endlich gekommen.“
Ganz am Anfang konnte ich die Stimmen von Tamara und Luda schwer unterscheiden. Beide hatten den ganz typischen russischen Akzent. Als Tamara in die Küche ging, um Tee und Kekse zu holen, war ich mit Luda eine Weile allein. Wir unterhielten uns über die Männer, die gestern Abend so plötzlich vor ihrer Tür standen.
„Da ich um diese Zeit keinen Besuch erwartete, schaute ich vorsichtshalber durch den Türgucker. Das war mein Glück“, berichtete Luda und atmete hörbar aus.
Natürlich habe sie die Männer nicht hereingelassen, sondern mit der Polizei gedroht.
„Schauen Sie mal, was ich gefunden habe.“
Sie legte mir einen Zettel in den Schoß.
„Das wird noch nichts“, hörte ich Tamaras Stimme näher kommen, „Daniel braucht noch Zeit, bis er wieder lesen kann.“
„Oh, entschuldigen Sie, Daniel, das hatte ich ganz vergessen.“ Ich nickte nur freundlich in Ludas Richtung. Nun merkte ich doch den recht klaren Unterschied zwischen den beiden Stimmen. Tamara hörte sich tiefer und weicher an, während Ludas Stimme etwas höher und immer ein wenig zu laut klang. Tamara hatte den Zettel schon an sich genommen und las:
„Das Deutsch ist unmöglich, soll aber wohl heißen: Geben Sie die Ikonen heraus, sonst passiert etwas ganz Schlimmes!“ Die Worte „ganz Schlimmes“ seien dreimal unterstrichen worden.
Luda wollte wohl in Anwesenheit des Kindes schnell das Thema wechseln.
„Na, mein kleiner Engel, was hast du denn diese Nacht geträumt?“
„Was man die erste Nacht in einem fremden Bett träumt, soll in Erfüllung gehen.“
Das war Tamaras angenehme, warme Stimme.
Plötzlich fühlte ich erneut Katjuschas Händchen auf meinem Arm.
„Stimmt das, Onkel Daniel?“
„Aber natürlich“, erwiderte ich. „Wenn deine Mama das sagt, stimmt es!“
„Ich träumte von Rischik.“
„Das ist ihre Katze“, ergänzte Tamara. „Wir mussten sie bei unseren Nachbarn zurücklassen. Rischik heisst die Rote.“
„Rischik war im Traum zu mir gekommen.“ Für mich hörte sich das keineswegs vergnügt an. Mit einer fast weinerlichen Stimme setzte sie den Bericht fort.
„Sie lief von den Nachbarn weg, dann durch den Autoverkehr – sie wurde fast überfahren. Ich sah, wie sie sich durch Schnee und Eis quälte, durch Flüsse, durch Wälder. Böse Menschen liefen mit Gewehren hinter ihr her… - und dann miaute sie vor dieser Tür.“ Katjuscha zeigte durch das offene Wohnzimmer auf die Eingangstür. Sie sei ganz schwach und halb verhungert gewesen.
Ich hatte den Eindruck, dass jetzt alle auf die Tür blickten, hinter der diese Rischik miaut haben soll. Plötzlich klopfte es. Dreimal sehr laut. Wieder Klopfen, so gewaltig, als wollte jemand die Tür zertrümmern. Katjuscha fing an zu weinen und flüchtete zu mir. Luda schrie fast hysterisch: „Gehen Sie weg, sonst kommt die Polizei.“
„Aufmachen. Sofort. Wir wissen Sie hier! Sofort. Sonst Türe Bruch.“ Ich hörte es sofort. Auch wenn er jetzt Deutsch sprach: Es war der Mann aus dem Park. Alle waren ganz still. Auch Katjuscha. Nur ihr Atmen war zu hören. Plötzlich steckte jemand einen Schlüssel ins Schloss.
Eine Torte und fünf Kerzen
Obwohl ich nichts sah, starrte ich wie gebannt auf die Eingangstür. Jemand hatte soeben einen Schlüssel oder irgendetwas Anderes ins Schloss gesteckt und stocherte wild darin herum. Wortfetzen drangen zu uns herüber. Unverkennbar, es waren die Russen. Höchstwahrscheinlich jene aus dem Park.
„Was sagen sie?“ Ich rief die Worte in die Richtung, in der ich Tamara vermutete.
„Sie fluchen fürchterlich“, erwiderte sie. Offenbar passte keiner ihrer Schlüssel oder sonstiger Werkzeuge.
„Jemand muss die Polizei anrufen!“ schrie ich.
„Habe ich schon…“ Ludas Stimme klang in ihrer Angst noch höher.
Jemand schob ein flaches Eisen unter die Tür. Tamara raunte mir die Nachricht mit halblauter Stimme zu. Mein Atem stockte. Ich marterte mein Gehirn. Es musste eine Lösung her…
„Tamara, schnell, fahr mich zum Sicherungskasten. Rechts neben der Tür, gleich unter den Kleiderhaken!“ Tamara schob meinen Rollstuhl so heftig an, dass ich an die Höllenfahrt durch den Park erinnert wurde. Zu spät merkte ich, dass ich sie in der Aufregung geduzt hatte.
Tamara hatte mich an der Schulter gepackt.
„Der Sicherungskasten ist offen. Und jetzt?“
„Irgendein Schalter ist die Alarmanlage. Sehen Sie eine besondere Kennzeichnung oder Farbe?“
„Nein, ich …“ Tamara schienen die Kräfte zu versagen.
Ich hörte, wie jemand wütend gegen die Tür trat und immer wieder im Schloss herumstocherte.
„Da ist keine Kennzeichnung“, kreischte Tamara. Das flache Eisen schien die Tür millimeterweise anzuheben …
Plötzlich fing Katjuscha an zu schreien. Nicht so agressiv und laut wie im Park. Es war mehr ein energieloser Schrei, unterbrochen von heftigem Schluchzen.
„Drück einfach alle Schalter runter!“ Ich war nicht sicher, ob mich Tamara bei dem Lärm verstand. Plötzlich schwoll die Sirene für den Bruchteil einer Sekunde an und verstummte gleich wieder. Im selben Augenblick war überall das Licht aus.
„Wieder alles zurück, Tamara“, brüllte ich über Ludas Wimmern und Katjuschas Angstschreie hinweg. „Du hast den Strom ausgeschaltet. Die Alarmanlage braucht Strom!“ Das Licht war wieder an. Ich merkte das an dem helleren Punkt an der Wand.
„Bitte testen Sie jetzt jeden Schalter einzeln, aber schnell!“ Ich hatte das Gefühl, Tamara würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich merkte an ihrer Stimme, dass die Angstschreie von Katjuscha und Luda ihr arg zusetzen mussten.
„Probiere es wieder, Tamara. Nicht aufgeben.“
„Ich kann nicht,“ jammerte sie, „meine Hände zittern so …“
„Du schaffst es. Jetzt der nächste Schalter. Los!“
Ich fuhr meinen Rollstuhl noch näher in Richtung Tamaras Stimme, die kaum noch zu verstehen war.
„Jetzt kommt nur noch ein Schalter, oh Gott, wenn auch der nicht …“ Ich wusste auf Tamaras Verzweiflung nichts zu erwidern. Nach einer kurzen Pause hatte ich mich wieder gefangen.
„Egal. Runter damit!“
Und dann geschah etwas, womit niemand mehr gerechnet hatte. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm ging die Sirene los, lauter als alles, was in den letzten Minuten mein Gehör ertragen musste. Ich presste mir die Hände gegen die Ohren. Katjuscha verstummte. Man hörte schwere Schuhe durch den Hausflur poltern.
„Mach um Gottes Willen die Anlage wieder aus, Tamara!“
Stattdessen ging das Licht wieder aus. Dann verstummte die Alarmanlage. Es dauerte Sekunden, bis Tamara in der Dunkelheit den Hauptschalter wiederfand.
„Das Licht ist wieder an“, sagte Luda. Es kam mir in dieser plötzlichen Stille übertrieben laut vor.
Seit Stunden schon liege ich wach im Bett und lasse die Ereignisse von gestern Abend an mir vorüberziehen. Tamara. Was für eine Frau! Wenn sie mich nicht unterstützt hätte, wer weiß, ob die Russen dann nicht … - einfach nicht auszudenken! Die Polizei kam wieder einmal viel zu spät. Ein Protokoll wurde angefertigt, und dann war es das schon. Ich hatte Luda mein Wohnzimmer zum Übernachten angeboten, aber sie bestand darauf, wieder nach Hause zu fahren. Tamara und Katjuscha schliefen wieder im Gästezimmer. Etwas Anderes wäre für mich auch nicht denkbar gewesen.
Ich war schon fast wieder eingeschlafen, als meine Schlafzimmertür aufgestoßen wurde und Tamara mit Katjuscha hereingestürmt kamen.
„Guten Morgen, Daniel. Darf ich Ihnen eine frisch gebackene Fünfjährige vorstellen? Katjuscha hat heute Geburtstag.“
Ich war noch etwas benommen.
„Geburtstag?“ wiederholte ich deshalb etwas lahm.
Ich spürte die kleine Hand von Katjuscha auf meinem Arm.
„Ja, ich bin heute fünf geworden.“
„Katjuscha“, sagte ich nur. Und ich spürte einen Anflug von Zärtlichkeit in mir. Ich ertastete ihren Kopf und streichelte ihr Haar. Sie ließ es geschehen, zog sich nicht zurück, wie es Kinder oft tun, wenn Fremde ihnen zu nahe kommen. Ich war für Katjuscha schon lange kein Fremder mehr. Es war mir auch egal, wie sie aussieht, wie Tamara aussieht. Mit den beiden war wieder Wärme in mein Haus eingezogen.
„Und was machen wir heute?“ Jetzt war ich ganz wach.
„Natürlich feiern“, sagte Tamara gutgelaunt. „Luda versprach, heute nach Dienstschluss wiederzukommen. Geht das in Ordnung?“
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Für mich ging neuerdings alles in Ordnung, was Tamara vorschlug.
Katjuscha ließ es sich auch heute nicht nehmen, mich auf dem beschwerlichen Weg in den Rollstuhl zu „begleiten“.
Nach dem Frühstück bat ich Katjuscha, mir ihre Puppe für ein paar Minuten zu leihen.
„Willst du damit spielen?“ fragte sie ernst.
„Sowas Ähnliches“, sagte ich nur. Katjuscha legte bereitwillig die Puppe in meinen Schoß und führte sogar meine Hand auf Tscheburaschkas großen Kopf. Mit einem flüchtigen „Danke“ rollte ich davon und steuerte mein Arbeitszimmer an. Hier kannte ich mich bestens aus. Ich schloss sorgfältig die Tür hinter mir und rollte zum Schreibtisch. In der untersten Schublade fand ich, was ich suchte. Ich nahm Tscheburaschka zur Hand und tastete ihn sorgfältig ab: Die riesigen Elefantenohren, die großen Augen und die spindeldürren Beine. Das widerholte ich mehrmals, prägte mir alles genau ein und begann mit der Arbeit.
„Sie kommen gerade rechtzeitig, Daniel!“ Tamara kam mir mit schnellen Schritten entgegen. „Wir warten schon auf Sie.“
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich Katjuschas Stimmchen.
„Tante Luda hat eine Geburtstagstorte mitgebracht – mit fünf Kerzen.“
Tamara schob meinen Rollstuhl dicht an den Tisch heran. Das Flackern der Kerzen ahnte ich mehr, als ich es sah. Nach einer kurzen Stille waren Tamara und Luda gemeinsam zu hören: „Achtung, fertig – los!“ Ich hörte, wie Katjuscha aus Leibeskräften pustete. Einmal mehr fiel mir ihre Atemnot auf. Dann Klatschen und Bravorufe. Ich stimmte überschwänglich in den Beifall ein.
„Jetzt wird Katjuscha die Torte anschneiden“, hörte ich Tamara sagen.
Am Geruch merkte ich, dass der Kaffee hereingebracht wurde. Wohl auch Kakao für Katjuscha.
Oh, dieser Kaffee von Tamara! Ich hatte nie einen besseren getrunken. Sie benutzte nicht meine Kaffeemaschine, sondern hatte so lange gesucht, bis sie den Kaffeefilter fand. Es dauerte natürlich bei ihr alles etwas länger. Aber es lohnte sich.
Luda hatte ihrem „kleinen Engel“ außer der Torte noch ein Leselernbuch mitgebracht. Was Katjuscha für mich extra laut kommentierte. Von ihrer Mutter bekam sie ein Sommerkleidchen und ein Gedächtnisspiel. Ich konnte mich irren, aber ich spürte, dass jetzt alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ich holte zunächst die Puppe hinter meinem Rücken hervor und hielt sie Katjuscha entgegen. Sofort kam sie angelaufen und nahm mir Tscheburaschka ab.
„Danke, lieber Onkel Daniel“, sagte sie. Es hörte sich so an, als habe sie ihre eigene Puppe für ein Geburtstagsgeschenk gehalten. Dann holte ich ein blaues Kästchen hinter meinem Rücken hervor und gab es Katjuscha. Sie nahm es überaus vorsichtig an sich und schrie plötzlich: „Schau mal, Mama, das ist doch Tscheburaschka!“
Da war ein langgezogenes „Ah“ und „Oh“ und „Toll getroffen“ zu hören.
Tamara berührte wieder zaghaft meine Schulter.
„Sie haben das gemalt? Bei Ihrer Blindheit?“
„Ja, das hat mir Spaß gemacht. Ich wollte einfach noch etwas Persönliches hinzufügen. Zuerst habe ich die Puppe in allen Einzelheiten befühlt: Die übergroßen Ohren, die Augen, die dünnen Beine… Und dann habe ich meine Eindrücke auf das Kästchen übertragen.“
„Tscheburaschka soll den Inhalt bewachen“, sagte ich mit gespieltem Geheimnis in der Stimme.
„Den Inhalt?“ Katjuscha hatte offenbar schon den Decken abgehoben und das Kettchen herausgenommen. Ich hörte nur einen Jubelschrei.
„Eine Halskette! Tante Luda, ich habe meine Kette im Park verloren.“
Jemand drehte meinen Stuhl herum. Ich spürte es sofort. Tamara hockte vor mir und hatte ihre Hände auf meine Unterarme gelegt. Ich atmete ihren Duft.
„Das geht aber nicht, Daniel. Das ist gewiss ein Familienerbstück. Katjuscha ist doch noch ein Kind…“
Und nach einer kurzen Pause nach hinten sprechend.
„Zeigt doch nochmal her das gute Stück… - Das gibt es doch nicht.“
Sie sagte es so gedehnt, dass ich jetzt unruhig wurde.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“ wollte ich wissen.
Tamara dachte offensichtlich nicht daran, mich aufzuklären. Sie sagte immer nur:
„Das kann nicht sein, das ist Zauberei!“
„Zauberei??“ Ich nahm Tamaras Hand, die auf meinem Arm verblieben war und schüttelte diese, etwa so, als müsse ich sie aus einem Alptraum herausholen.
„Wo haben Sie das Kettchen her, Daniel?“
Ich versuchte mich zu erinnern.
„Das ist eine Hinterlassenschaft meiner Großmutter.“
„Und wo wohnte diese Großmutter?“ Tamara hörte sich an, als müsse sie einen Kriminalfall aufklären.
„In Moskau“, sagte ich.
„In Moskau??“, riefen Tamara und Luda wie aus einem Mund.
„Ja, meine Vorfahren waren Moskauer. Ich habe also auch russisches Blut in mir.“
„Verzeihen Sie die Aufregung, Daniel. Aber dieses Kettchen gleicht meinem, das ich trage, in allen Einzelheiten. Leider kann ich es Ihnen nicht zeigen. Schade!“
„Aber warum denn nicht? Zeigen Sie mir Ihre Halskette. Ich habe doch Hände.“
Kurz darauf ließ sie etwas in meine Hände fallen. Die Halskette war noch warm von ihrem Körper. Die Kette selbst war sehr zart. Ich ertastete ein Spindelmuster.
„Was fühlen Sie?“ Da war mehr als Zweifel in Tamaras Stimme, ob ich überhaupt was fühlte.
„Vom Gewicht her, glaube ich, ist es eine Silberkette. Mit einem Spindelmuster. Zwei Anhänger: Der eine im Vordergrund – Jesus am Kreuz. Eine sehr feine Arbeit. Hinter dem Kreuz ein flacher Anhänger mit dem eingravierten Bild von Maria und dem Jesuskind. Auf der Rückseite das orthodoxe Kreuz mit einer Inschrift, die ich nicht lesen kann. Ja, diese Kette gleicht meiner – die jetzt Katjuscha gehört – aufs Haar.“
Tamara erinnerte sich.
„Ich war manchmal nach Moskau zum Schoppen gefahren. Da sah ich diese Kette und war sofort in das Stück verliebt. Ich musste die Kette haben. Der Verkäufer legte sie mir für eine Woche zurück. Ich kam wieder mit all meinen Ersparnissen und kaufte das Kettchen. Und so ein teures Stück wollen Sie Katjuscha schenken?“
„Ich würde ihr noch viel mehr schenken, aber ich bin an diesen Rollstuhl gefesselt.“
"Eines verstehe ich nicht." Das war Luda, die bei den letzten Worten näher gekommen war.
"Daniels Großmutter hatte eine identische Kette wie Du, Tamara?"
"Das ist in Russland normal. Hier wird gerade das Kunsthandwerk von Generation zu Generation haargenau weitergegeben", sagte Tamara und zog ihre Hand, während sie offenbar aufstand, zurück.
„Darf ich das Kettchen nicht behalten, Mama?“
Ich fürchtete, Katjuscha würde gleich in Tränen ausbrechen, deshalb antwortete ich an Tamaras Stelle.
„Aber natürlich, meine liebe Katjuscha. Das ist jetzt dein Kettchen und soll es immer bleiben.“
Augenblicklich legten sich kleine Ärmchen um meinen Hals.
„Onkel Daniel, Du bist so gut. Ich hab Dich lieb!“
Als Katjuscha meinen Hals wieder freigab und offenbar mit dem Kettchen zu Luda hinüberlief, flüsterte Tamara mir ins Ohr:
„Sie betet jeden Abend, dass ihr Onkel Daniel wieder gesund werden soll und auch wieder laufen kann. Und das tut sie, ohne dass jemand sie darum gebeten hat.“
Ich wollte etwas erwidern. Wollte sie fragen, ob sie im anderen Fall Katjuscha darum bitten würde. Und ob sie vielleicht selbst für mich gebetet hätte. Zum Glück konnte ich mich noch rechtzeitig bremsen. Regelmäßig löste ihre Nähe eine deutliche Schwäche in mir aus. Wenn sie so auf ihre besondere Art in mein Ohr flüsterte, hielt ich unbewusst den Atem an, genoss schweigend ihren Duft, was ich jedes Mal mit einem Schwindelanfall bezahlen musste. Das ist eine Frau, die ich ein Leben lang um mich haben möchte, dachte ich. Wenn ich nur wüsste, wie sie aussieht? Im selben Augenblick dachte ich an Isabel. Das war doch erst vor wenigen Tagen. Und wie weit lag das jetzt schon zurück!
Meeres- und Liebesrauschen
Von den Gedanken, die mich gestern Abend noch umtrieben, habe ich mich auch heute Morgen nicht entfernen können. In diesem Augenblick musste ich mich aber von keinem Schwächeanfall erholen. Die Gefahr, in ein Sauerstoffdefizit zu geraten, war zurzeit eher gering. Hier am Wasser gab es den Lebensstoff in Hülle und Fülle und Tamara war auch nicht in der Nähe.
Tamara. Sie war der Meinung, man müsse nach all der Aufregung ans Meer, um den Kopf frei zu bekommen. Wer hätte da widersprechen wollen und können? Sie hatte mir ein sehenswertes Exemplar von Rollstuhl besorgt - mit extra hohen Rädern für den Sand. Bei nicht genauem Hinsehen hätte man mein Gefährt auch für einen Liegestuhl der Luxusklasse halten können, das mich immer wieder zum Schlafen einlud.
Auch wenn ich immer noch nichts sah, blickte ich aus alter Gewohnheit nach oben, malte mir einen spätsommerlichen blauen Himmel aus, verfolgte ein inneres Bild von unermüdlich heranbrausenden Wellen. Gewahrte schläfrig, wie vermutlich weiße Schaumkronen am Ufer zurückblieben.
Es war etwas windig, was ich als ausgesprochen angenehm empfand.
Ich sah in Gedanken an mir herunter, und innere Heiterkeit bemächtigte sich meiner. Tamara hatte mich wie ein Postpaket zusammengeschnürt. Eine Decke für die Beine, eine andere für die Arme, so dass es mir nicht gelang, meine verrutschte Strandmütze aus dem Gesicht zu schieben. Aber das war keineswegs tragisch. Was hätte ich auch sehen können oder wollen.
Mein inzwischen gut geschultes Gehör filterte aus dem einschläfernden Meeresbrausen und den kreischenden Möwen plötzlich Katjuschas Stimmchen heraus. Das Kind war offenbar noch sehr weit entfernt, aber es gab keinen Zweifel. Die Beiden kamen zurück.
"Ihr seid aber früh wieder da", rief ich ihnen nach einer Weile entgegen.
"Wir haben schöne Sachen eingekauft", erwiderte Tamara. Neben vielen Leckereien für die Mittagszeit packte Tamara ein Spiel aus. Ich nenne es mal: Was ist das? Oder: Wer bin ich? Ein heiteres Tiereraten mit gewissen Auflagen. Tamara verband uns die Augen. Auch mir! Besonders mir. In einem kleinen Korb lagen daumengroße Tiere aus Holz oder Plastik. Jeder durfte sich ein Tier herausnehmen und befühlen. Tamara als Schiedsrichterin war berechtigt, immer kurz die Augenbinde hochschieben, um das erratene Tier zu überprüfen. Wer zuerst die richtige Antwort gab, bekam einen Punkt. Wer zehn Punkte hatte, gewann das Matsch. Tamara war ausgerechnet mit mir so streng. Immer wieder überprüfte sie den Sitz meiner Augenbinde. Und ganz so wie nebenbei erhielt ich zum Abschluss der Prüfung einen unmerklichen Klapps auf die Wange. Das sollte wohl heißen: Alles in Ordnung. Du darfst weiterspielen!
Katjuscha lieferte sich mit mir ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Mal erreichte sie die erforderlichen zehn Punkte, mal war ich es. Doch ganz plötzlich hatte sie keine Lust mehr, zog ihre Sandalen aus und lief ans Wasser, hüpfte in die heranrollenden Wellen, dass es nur so nach allen Seiten platschte.
"Tut mir sehr leid", sagte Tamara und legte ihre kühle Hand auf meinen Arm. "Wollen Sie mit mir weiterspielen?"
"Ja gern, aber vielleicht eine andere Variante. Wir spielen Spiegel!"
"Spiegel? Ist das ein Spiel?"
Tamara zog sich merklich zurück.
"Ja, man könnte auch ein Spiel daraus machen", sagte ich fröhlich. "Sie tasten mein Gesicht ab - natürlich mit geschlossenen Augen - und sagen, ob es einen Unterschied zum Gesehenen gibt. Ich mache es auch bei Ihnen und sage, wie Sie aussehen. Natürlich nur, wenn Sie es auch wollen!"
"Aber das ist doch viel zu schwer", protestierte sie. Oder wollte sie nicht, dass ich ihr Gesicht berühre. Ich wendete meinen Kopf kurz in Richtung der Wellengeräusche, die gelegentlich von Katjuschas spitzen Schreien und fröhlichem
Quietschen durchbrochen wurden.
"Ich bin bereit", sagte ich gutgelaunt in Erwartung dieser ungewöhnlichen Berührung. Doch es kam nichts. Trotz des Meeresrauschens empfand ich eine ungewöhnliche Stille.
"Tamara, sind Sie noch da?"
Plötzlich fühlte ich ihre Hand auf meiner Schulter.
"Erschrecken Sie nicht", hauchte sie. Und schon waren zwei kühle Hände auf meinen Wangen. Ich vergaß, den Atem anzuhalten und versuchte meine Aufregung durch unnützes Gerede im Zaum zu halten.
"Sie schummeln doch nicht etwa, Tamara. Ihre Augen bleiben zu."
Auch ich machte wie automatisch die Augen zu und hielt jetzt auch den Atem an. Ihre Fingerspitzen glitten ganz zart über mein Gesicht, verweilten an manchen Stellen länger, bis sie, wie aufgeschreckt, zu einer anderen Region meines Gesichts flatterten. Nun war ich wirklich auf das Ergebnis gespannt.
Ich öffnete die Augen und atmete hörbar aus.
"Na, was sagen Ihre Finger: Wie sehe ich aus?"
"Was ich sehe, ist zehnmal… - Meine Finger haben mir einen ganz anderen Mann vorgestellt. Das ist ja erschreckend. Da kann ich mich ja auf etwas gefasst machen!"
Was sie da sagte, verwirrte mich. Aber weil sie so aufgewühlt schien, wollte ich nicht weiter vordringen.
Was mich beruhigte, war mein inneres Schmunzeln, das ich nicht abstellen konnte. Ich vermisste nur schmerzlich, dass ihre Hände weg waren.
"Jetzt bin ich dran", erinnerte ich sie. "Kommen Sie näher, Tamara."
"Hier bin ich. Und jetzt?" Jetzt war ich es, der von Zweifeln ausgebremst zu werden drohte. Ich nahm ihre Hand und tastete mich langsam an ihrem Arm hoch, glitt über ihre Schulter, berührte am Hals entlang fahrend schließlich ihr Gesicht. Jetzt noch der andere Arm, der bis zum Handgelenk geschient war, aber zum Vergleich gebraucht wurde. Meine Fingerspitzen ruhten jetzt auf ihren Wangen. Ihr Gesicht war deutlich wärmer als ihre Hände. Sie atmete plötzlich hörbar. Ich begann meinen Kommentar.
"Sie haben hohe Wangenknochen. Ihre Haargrenze ist ungewöhnlich tief. Ihre Wangen sind breitflächig…"
"Oh Gott, das ist ja furchtbar", stöhnte sie, hielt aber still. Ihr Gesicht schien immer wärmer zu werden. Als ich ihre Lippen berührte, öffnete sie leicht den Mund. Mein Herz begann zu rasen. Ich tat so, als könnte ich bestimmte Stellen ihrer Schläfen nicht richtig ertasten und zog ihren Kopf unmerklich näher und näher zu mir heran. Bis irgendetwas in mir explodierte und ich meine Lippen auf ihren Mund drückte. Für Sekunden schien sie wie gelähmt zu sein. Ich glaubte, eine leblose Puppe im Arm zu halten. Urplötzlich aber umschlangen mich zwei kräftige Arme. Tamara sass auf einmal auf meinem Schoss, ihre Küsse beschränkten sich nicht mehr auf meinen Mund. Der Rollstuhl entriegelte sich, rollte auf das Meer zu, schneller, immer schneller - bis Katjuscha sich unserem Gefährt entgegenstemmte.
"Mama, hallo, darf ich auch mal Onkel Daniel küssen?"
Tamara reagierte nicht. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Meine mir längst vertrauten Schwindelanfälle, die mich regelmäßig in ihrer Nähe heimsuchten, erlebte ich jetzt auf einer immer schneller routierenden Drehbühne. Ich war Akteur und Zuschauer zugleich. Erkannte mich beim Abfühlen kleiner Plastiktierchen, schreckte vor einer ohrenbetäubenden Sirene zurück, der sich russische Flüche anschlossen, erlebte - während die Drehbühne mich ins Nichts zu schleudern drohte - die Höllenfahrt mit dem kleinrädrigen Rollstuhl im Park, fühlte Katjuschas Tränen auf meinem Arm, hörte, wie die Haustür hinter Isabel zuschlug, sah, wie ein mächtiger Betonmast auf mich zu raste - Peng!!!
Ich riss die Augen auf und schloss sie sogleich wieder. Man hatte ein Licht in meinem Kopf angeknipst. Nur durch einen schmalen Spalt ließ ich die Helligkeit herein, gewahrte hauchdünne weiße Schleier, die sich unermüdlich hin- und herbewegten. Und dann sah ich es: Das lachende Gesicht eines kleinen blonden Mädchens.
Wer hat Katjuscha zuletzt gesehen?
Ich gab es auf: Keinen weiteren Versuch - die Augen blieben zu. Das Licht war einfach nicht auszuhalten. Wo war Tamara heute Morgen? Auch Katjuscha war nicht zu hören. Wie spät mochte es sein? Habe ich so lange geschlafen?
"Daniel, bist du wach?"
Endlich, Tamara. Fast geräuschlos war sie näher getreten und nahm meine Hand.
Weiche Lippen berührten meinen Mund, flüchtig nur, aber diese kleine Geste genügte schon, mich hellwach zu machen.
"Ich wollte dich nicht wecken, Daniel. Du hast geschlafen, wie ein Stein."
"Und wie sind wir gestern nach Hause gekommen? Mir fehlt ein Stück Erinnerung. Ich weiss nur, dass wir uns geküsst hatten."
"Du hast mich geküsst, Daniel. Wir wären fast ins Meer gerollt. Es war himmlisch!"
"Ja. Es war mehr als das. Dann bekam ich diese Augenschmerzen und sah etwas …"
"Du sahst? Was hast du gesehen, Daniel?"
"Ich sah ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und …"
"Du hast Katjuscha gesehen, Daniel, dein Augenlicht kehrt zurück!!"
Tamara lies meine Hand los und rannte aus dem Schlafzimmer, kam sofort zurück und setzte mir eine Brille auf.
"Mach doch mal ein wenig die Augen auf." Ihre Stimme bebte vor Aufregung.
Ich versuchte es, hob die Lider nur einen winzigen Spalt. Dann schloss ich sie wieder.
"Das Licht ist jetzt etwas matter, aber immer noch schmerzhaft."
"Daniel, du kannst bald wieder sehen. Deine Augen müssen sich noch an das Licht gewöhnen. Wir werden fürs Erste alle Vorhänge zuziehen und du trägst weiter meine Sonnenbrille. Oder hast du eine eigene?"
"Mach mal die Schublade in der Flurvitrine auf. Da liegen mindestens fünf Exemplare. Das kleine Mädchen war also Katjuscha! Und warum hat sie unaufhörlich gelacht?"
"Weil wir mit dem Rollstuhl fast umgekippt wären."
"Wo ist die Kleine jetzt?"
"Luda, die heute Spätdienst hat, war so nett, Katjuscha bei der Vorschule anzumelden. Die Beiden werden zum Frühstück zurück sein."
Ich dachte wieder an den Augenblick am Strand, als Tamara auf meinen Schoss sprang.
"Gib mir doch bitte das Handy. Ich will meinen Kollegen, den Orthopäden von gegenüber, an unseren Untersuchungstermin erinnern. Eigentlich wollte er mir heute all die Bandagen, Schienen usw. abnehmen und mit dem Lauftraining beginnen. Gestern am Strand fiel es mir ein. Als du auf meinen Schoss hüpftest, sagten meine Beckenknochen keinen Piep!"
"Ach Daniel, mein Liebster, das war so unvernünftig von mir, ich hätte …"
"Du hättest was? Wenn du gestern nicht so stürmisch gewesen wärst, dann hätten sich meine Augen wohl nie daran erinnert, dass sie eigentlich zum Sehen da sind."
Ich wählte die Nummer des Freundes. Mein Kollege wollte nicht gestört werden. Verständlich. Er operierte gerade. Aber die Sprechstundenhilfe sagte mir, dass sein Hausbesuch bei mir um 10.30 Uhr vorgesehen war. Ich sollte, wenn möglich, im Bett bleiben. Das würde die Untersuchung erleichtern.
Tamara, die mitgehört hatte, nickte nur.
"Dann werde ich Dir das Frühstück ans Bett bringen." Sagte es und verschwand.
Ich hörte den elektrischen Wasserkocher summen. Bekam mit, wie Schranktüren auf- und zuklappten. War ganz Ohr für das begleitende Trällern von Tamara. Ich wusste immer noch nicht, wie sie aussah, aber ich liebte sie. Es war eine Liebe, die tief aus dem Inneren kam und noch jeden Tag weiter wuchs.
"Rückst du ein Stück?"
Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich sie nicht hatte kommen hören.
Das Klirren der Tassen und Teller verriet mir, dass sie wohl ein Tablett auf meinem Nachttisch abstellte. Ich versuchte, ein wenig wegzurücken. Erst mit ihrer Hilfe gelang es. Dann schlüpfte sie behänd unter meine Decke und verbreitete eine wohltuende Wärme und ihren unvergleichlichen Duft.
Sie sagte nichts, nahm nur meinen Kopf in ihre beiden Hände - was mich an den stummen Abschied von Isabel erinnerte - und küsste mich. Dieses Mal nicht flüchtig. Sie ließ mir genügend Zeit, ihren Kuss auf meine Art zu erwidern. Tamara hatte die Sonnenbrille längst abgenommen. Aber ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Oder sollte ich doch? Ich wusste, dass die Vorhänge in meinem Schlafzimmer noch zugezogen waren. Ich öffnete meine Augen einen Spalt. Ganz nahe sah ich volle Lippen und eine zarte Nase. Ich ergriff Tamaras Schultern und drückte sie ein wenig von mir weg. Unwillkürlich riss ich die Augen ganz auf - Tamara.
Das Erste, was ich sah, war diese goldene Spange, die ihr volles rotbraunes Haar bändigte. Ich hatte sie mir immer mit kurzen Haaren vorgestellt. Stattdessen waren es leicht gewellte schulterlange Haare, die ihr ovales Gesicht spielerisch umrahmten. Dieses Gesicht hatte ich gestern am Strand abgetastet. Ja, sie hatte hohe Wangenknochen, was ihrem ganzen Gesicht etwas Zauberhaftes verlieh. Was ich da sah, ließ mich mehr an eine mädchenhafte Studentin als an eine gestandene Pflegerin denken. Und dann dieses Lächeln! Oder war es schon Lachen. Ich musste unwillkürlich an Katjuscha denken.
Das Läuten des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Ich schloss die Augen, Tamara setzte mir die Sonnenbrille wieder auf. Es war Luda. Ich schaltete am Apparat den Lautsprecher ein. Das Erste, was ich hörte, war Katjuschas Schreien. Luda schluchzte in den Apparat, konnte offensichtlich nicht Sprechen. Im Hintergrund waren russischeWortfetzen zu hören.
"Ich muss Russisch sprechen, tut mir Leid, Daniel." Ich gab Tamara den Hörer und war auf alles gefasst. Luda sprach schnell und mit tränenerstickter Stimme. Natürlich verstand ich kein Wort, aber es war unschwer herauszuhören, dass etwas ganz Furchtbares passiert sein musste. Ich wagte nicht mehr, die Augen zu öffnen, nahm nur Tamaras freie Hand und drückte diese unaufhörlich - bis sie mir den Hörer zurückgab.
Was darauf folgte, war langes Schweigen. Tamara weinte nicht. Es war offenbar etwas Schlimmeres - ein Schock, der alles im Keim erstickte. Wie in Zeitlupe bewegte sie sich aus meinem Bett und schien eine Weile nur dazustehen. Ich wartete geduldig. Plötzlich rannte sie aus dem Schlafzimmer und kam gleich darauf wieder zurück.
"Ich gehe zur Polizei. Man hat Katjuscha und Luda von der Straße aufgegriffen und verschleppt. Sie sind in großer Gefahr."
Mehr sagte sie nicht. Ich hörte gleich darauf die Wohnungstür zuschlagen, vernahm etwas gedämpfter, wie auch die Haustür zuklappte, wie ihre schnellen Schritte der Morgenstille draußen einen neuen Takt gaben.
Ich roch den Kaffeeduft, der von meinem Nachttisch herüberkam. Mein Appetit war mir jedoch ganz und gar vergangen. Wieder läutete das Telefon. Es war Luda. Sie erklärte offenbar den Russen, dass sie mit mir Deutsch sprechen müsse.
"Ich hatte in der Aufregung vergessen, dass Tamara meinen roten Koffer aus dem Schlafzimmer holen und ihn am Kriegerdenkmal auf dem Rathausplatz abstellen soll - um Punkt 12 Uhr."
"Wo bist du, Luda, was ist eigentlich …"
"Frag nicht nach Sonnenschein. Ich darf keine Fragen beantworten." Aufgelegt.
Ich wählte 110 und berichtete in knappen Worten den Vorgang. Man werde den Koffer holen und zunächst zu mir kommen. Ich rief meinen Kollegen von Gegenüber an. Glücklicherweise war er diesmal am Telefon. Auch er erfuhr von mir im Telegrammstil die Situation. Ich bat ihn, so schnell wie möglich mit seinem Schlüssel rüberzukommen.
"Ich beende sofort meine Sprechstunde und komme."
Wenige Minuten später hörte ich, wie jemand behutsam die Wohnungstür aufschloss, ablegte und zu mir ins Schlafzimmer kam.
Dr. med. Heinrich Holthusen, ehemals Studienfreund und jetzt bekannter Orthopäde und Spezialist für ambulante Schulteroperationen, nahm meine Hand zum Gruß.
"Das tut mir unendlich leid, Daniel. Hoffen wir mal, dass alles gut ausgeht. Bis die Polizei kommt, kann ich dich ja schon mal untersuchen."
Er tastete hier, beklopfte dort, liess Zehen und Finger bewegen und deckte mich dann wieder zu.
"Das sieht alles gut aus," sagte er nur.
Damit war ich keineswegs zufrieden.
"Woran merkst du, dass die Knochen zusammengewachsen sind?"
"Überhaupt nicht. Wir werden in meiner Praxis jede Bruchstelle röntgen. Was ich jetzt feststellen konnte: Es haben sich im Bewegungsapparat keine Beeinträchtigungen eingestellt."
Jemand läutete an der Tür. Holthusen ging schnellen Schrittes aus dem Schlafzimmer und machte auf. Die Männer kamen schweigend zu mir ans Bett. Ein Polizist stellte sich und seinen Kollegen vor.
"Wir haben die Wohnung der Ärztin aufmachen lassen und den Koffer mitgebracht.
Es waren zwei Ikonen in einem doppelten Kofferboden eingenäht."
"Was??" Mehr kam nicht über meine Lippen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Was war das für ein Mensch, diese Luda. Warum hatte sie ihre Freundin so hinters Licht geführt? Warum hatte sie uns alle in Gefahr gebracht?
"Ist Ihnen bei diesem Telefonat irgendetwas aufgefallen? Ein bestimmtes Geräusch, etwas Ungewöhnliches im Hintergrund?"
"Nein, ich hatte nur das Schluchzen der Freundin im Ohr. Sie legte offenbar großen Wert darauf, dass wir auch wirklich den Koffer an diesem Kriegerdenkmal auf dem Rathausplatz abstellen."
"Wir werden uns darum kümmern. Und Ihnen alles Gute und schnelle Besserung. Ich werde Ihnen meine Karte … - ach so, Ihr Augenlicht. Geben Sie mir Ihr Handy, ich werde meine Nummer einspeichern. Drücken Sie nur die Schnellwahltaste 7. Alles klar?"
"Alles klar." Die Beamten verließen meine Wohnung. Heiner Holthusen nahm meine Hand.
"Tschüss Alter. Ich lasse Dich morgen Vormittag so gegen 10 Uhr zum Röntgen abholen. Ist das gut so?"
Ich war mit meinen Gedanken wieder bei Tamara und Katjuscha.
"Ja, gut so. Ich hoffe, es geht alles gut."
"Die Hoffnung ist uns allen ein letzter Rettungsanker. Bis morgen."
Ich wollte noch etwas sagen. Hätte er den Haustürschlüssel hier lassen sollen? Nein lieber nicht. Ich fühlte mich wieder wie entwurzelt. So wie damals, als Isabel mich so Hals über Kopf verlassen hatte. Damals? Das war doch noch nicht einmal eine Woche her … - Mir klang wieder Ludas Stimme im Ohr. Sie durfte keine Fragen von mir zulassen. "Frag nicht … - Frag nicht nach Sonnenschein" hatte sie gesagt. Mein Gott, war das vielleicht ein Hinweis?
Soviel ich wusste, gab es in der Stadt eine Sonnenschein-Apotheke. Und dann erinnerte ich mich an eine betagte Patientin aus der Residenz Sonnenschein. Ich griff nach meinem Handy und drückte die Sieben. Die beiden Polizisten seien gerade zurückgekommen. Ich solle einen Augenblick warten.
"Na, ist Ihnen noch etwas eingefallen?" Ich erkannte sofort die Stimme des Beamten.
"Ja. Die Freundin hatte am Telefon gesagt: Frag nicht nach Sonnenschein. Vielleicht ist das ein Hinweis auf ihren Aufenthaltsort."
"Moment bitte mal." Ich hörte, wie er einen Kollegen bat, den Computer nach dem Begriff "Sonnenschein" in der Stadt zu befragen.
"Da ist eine Apotheke und ein Altenheim. Und… - eine Pension mit Namen "Sunshine". Tolle Arbeit, Herr Dr. Werkmann. Wir machen uns sofort auf den Weg."
Ich hatte nicht einmal Zeit, meine Gedanken zu ordnen, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Tamara kam sofort ins Schlafzimmer und setzte sich stumm auf mein Bett. Sie weinte leise. Ich nahm ihre Hand und versuchte, ihren Schmerz nachzuempfinden.
"Ich habe im Polizeikommissariat gehört, was Du inzwischen unternommen hast. Danke."
"Das ist doch selbstverständlich, Tamara. Auch ich habe große Angst um Katjuscha und Luda."
"Luda hatte die Ikonen. Ich fasse es nicht. Was für eine Freundin ist sie?? Wie kann sie mir und Katjuscha das antun?"
Das Handy klingelte. Tamara stellte auf Lautsprecher.
"Alles ist gut gegangen. Wir haben die drei Russen festgenommen. Das Kind mussten wir ins Krankenhaus fahren. Es hat einen Schock erlitten. Ihre Freundin wird in diesen Minuten verhört."
"Kann ich meine Tochter gleich mal besuchen?"
"Nein, vielleicht morgen. Die psychiatrische Abteilung kümmert sich um sie."
"Welches Kranken …??" Aufgelegt.
Tamara legte sich kraftlos auf die Seite und nahm mich in die Arme. Sie liess ihren Tränen freien Lauf. Sie sagte nichts, aber jeder Schluchzer fragte mich: "Was ist mit Katjuscha geschehen?"
Der Tag ging zu Ende, ohne dass der tief sitzende Schmerz sich von der Stelle bewegt hätte. Wir sprachen wenig, aßen und tranken nichts. Ich blieb in meinem Bett, sie zog sich nach einem kaum hörbaren "gute Nacht" in ihr Gästezimmer zurück. Ohne Katjuscha. Wie musste ihr zumute sein.
Am anderen Morgen war Tamara schon früh auf den Beinen. Ich roch den Kaffeeduft. Als ich Tamaras Schritte hörte, rückte ich erwartungsvoll ein Stück zur Seite.
Wieder stellte sie das Tablett auf dem Nachttischchen ab und schlüpfte unter meine Decke. Sie küsste mich wie gestern, flüchtig, aber herzlich.
"Ich habe etwas im Briefkasten gefunden", sagte sie.
"Die Post ist doch noch gar nicht da."
"Nein, den Brief hat Luda persönlich vorbeigebracht. Sie schreibt: "Meine liebe Freundin Tamara, lieber Freund Daniel. Ich bin zu feige, Euch unter die Augen zu treten. Ich habe große Schuld auf mich geladen. Immer noch kann ich nicht begreifen, dass ich den liebsten Menschen, die mir geblieben sind, so etwas antuen konnte. Aber ihr habt auch das Recht, den ganzen Hintergrund zu kennen. Du hast, liebe Tamara, Deinen Mann durch mich kennengelernt. Auch ich habe damals halbwegs der Mafia angehört. Jedenfalls hatte ich meine Wohnung den Männern für nächtliche Treffen zur Verfügung gestellt. Einmal besuchte mich Dein Mann allein und brachte diese zwei Ikonen mit. Ich sollte sie für ihn aufbewahren und mir ein gutes Versteck ausdenken. Für den Fall, dass ihm etwas zustoße, sollte ich mit den Ikonen nach Deutschland flüchten. Auf dem Schwarzmarkt würde ich genug Geld bekommen, um mich einige Zeit über Wasser zu halten. Als ich merkte, dass meine Wohnung überwacht wurde, flüchtete ich unter dramatischen Umstanden nach Deutschland. Du kamst kurze Zeit später auch hierher. Ich war glücklich, nicht mehr so allein zu sein. Die Ikonen hatte ich verdrängt, schon fast ganz vergessen. Erst als ein Mafiosi ein Rasiermesser an das Gesicht von der schreienden Katjuscha hielt und damit drohte, er werde ihr das Gesicht verunstalten, wenn ich nicht auspacken würde … Tamara, liebste Freundin, glaube mir: Erst da kamen mir die längst verstaubten Ikonen wieder in den Sinn. Niemand durfte meinem kleinen Engel etwas antun. Ich bot mein Gesicht an, es zu zerschneiden, schrie und tobte, bis man von Katjuscha abließ, bis man mir glaubte, dass ich die Ikonen wiederbeschaffen konnte. Den Rest kennt ihr. Ich hoffe, dass mein Engelchen Katjuscha bald ganz gesund sein wird. Ich weiss, dass Ihr nicht vergessen könnt, geschweige denn vergeben. Nur eines bitte ich, mir zu glauben: Ich liebe Euch. Eure ganz verzweifelte Luda."
Unverhofft kommt Rischik
Tamara legte Ludas Brief auf das Nachttischchen zurück und hob das Frühstückstablett auf die Bettdecke. Ich folgte jede ihrer Bewegungen. Das war also Tamara. Das war sie, meine Tamara!
"Glaubst du, was sie da schreibt?"
Ehrlich gesagt, war mir in diesem Augenblick nicht so wichtig, was sie sprach, sondern wie sie es sagte. Ich war neugierig auf das vollständige Erscheinungsbild Tamara, einschließlich ihrer Stimme. Ich konnte sehen, wie sie scheinbar mutlos mit ihren zarten Schultern zuckte. Ich las in ihrem Gesicht, wie sie offenbar nach einer ausgewogenen Einschätzung suchte. Schließlich sagte sie:
"Es ist schwer zu glauben, dass Luda die Ikonen so ganz aus ihrem Gedächtnis gestrichen hat. Schließlich war sie zuletzt immer dabei, als wir von der Mafia bedrängt wurden. Ich glaube, sie ist nicht bösartig, aber immerhin doch leichtfertig."
"Das sehe ich auch so, Tamara. Erst die brutale Drohung mit dem Rasiermesser hat sie vermutlich wach gerüttelt. Sie war schließlich lange genug selbst in der Mafia, um zu wissen, wie brutal diese Männer vorgehen."
Ich beliess Tamara weiterhin in dem Glauben, ich würde meine Augen noch eine Weile vor dem schmerzhaften Licht schützen und saugte jede ihrer noch so kleinen Bewegungen mit meinen Augen auf. Und dann wurde ich Zeuge, wie sie in Tränen ausbrach, ohne einen Laut von sich zu geben. So, wie sie immer kurz zu mir herüber schaute, drückte ihr Gesicht unverkennbar aus: Hoffentlich merkt er nichts. Sie atmete kaum hörbar, presste nur stumm die Lippen aufeinander und liess ihre Tränen die Wangen herunter rollen. Ich schämte mich plötzlich meiner heimlichen Beobachtung, stellte das Tablett zur Seite und nahm sie fest in meine Arme. Jetzt brach es heraus, all das Aufgestaute und Verdrängte. Jeder Schluchzer hörte sich wie ein Hilfeschrei an, während ihre heißen Tränen auf meine nackte Schulter tropften.
Das Telefon läutete. Ein Mitarbeiter der orthopädischen Praxis erinnerte mich an meinen Röntgentermin. Man werde mich in einer halben Stunde abholen. Tamara sprang sofort aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Ich vernahm das Plätschern der Dusche, wartete auf ihr begleitendes Trällern und Singen. Aber nichts dergleichen drang an mein Ohr. Ich ließ mich in die Kissen zurückfallen. Natürlich. Sie sorgt sich um Katjuscha. Und da ist noch etwas. Auch wenn sie es noch sosehr von sich weist: Sie vermisst jetzt schon ihre Freundin.
Tamara kam - vollkommen nackt - wieder ins Schlafzimmer zurück. Ich wollte mich schon instinktiv zur Seite drehen, merkte jedoch noch rechtzeitig, dass ich mich dadurch erst recht verraten hätte. Wie sie so dastand und mit einem Handtuch hingebungsvoll ihre Haare trocknete und dabei mit ihrem weichen geschmeidigen Körper fließende Gegenbewegungen vollführte, war mir nicht gleich bewusst, welche Schönheit ihr Körper ausstrahlte. Allein diese Bewegungen bewirkten, dass ich meinen Blick nicht von ihr lassen konnte.
"Ich gehe jetzt in die Klinik und hole Katjuscha ab. Der Arzt hat ja einen Schlüssel. Ich hoffe, wir sind bald zurück", sagte sie, während sie anscheinend nachdenklich hinausging.
Wenn ich mich recht erinnere, wurde ich abgeholt, während Tamara noch im Gästezimmer rumorte.
"Bis später", rief ich ihr noch zu. Ihre Antwort hörte ich schon nicht mehr, denn in diesem Augenblick bugsierten mich zwei bärenstarke Pfleger auf der mitgebrachtenTransportliege lautstark durch unsere Wohnungstür.
Ja, ich machte mir große Sorgen um Tamara und natürlich um Katjuscha. Aphasie, das Unvermögen, sprechen zu können, kommt gerade bei kleinen Kindern nicht selten vor. Besonders aber nach einem solchen Schock.
Die Röntgenprozedur war langwierig und auch irgendwie nervig. Ich wäre jetzt lieber bei Tamara gewesen. Dann aber ging alles verblüffend schnell. Nachdem feststand, dass alles gut verheilt war, vergeudete der kollegiale Freund auch keine Zeit mehr. Die Bandagen, Schienen und das Beckenkorsett waren ja längst entfernt. Jetzt lud mich mein Freund mit einem süffisanten Lächeln zu einer ersten Gehprobe ein. In einem Nebenraum stellte er mich in einen Gehroboter, der mich von allen Seiten stütze und jede meiner Ausfallschritte abfing. Ich brauchte beim Gehen nur noch die Beine entsprechend zu bewegen. Dann übten wir den freien Stand mit Hilfe der Gehkrücken.
"Na, das sieht ja schon alles fantastisch aus", bemerkte der Herr Orthopäde, nahm meine schlaffe Hand, schüttelte sie und weg war er.
Mein Freund hatte mir immerhin noch einen Krankengymnasten zur Seite gestellt, der meinen Krückengang über die belebte Straße überwachte und mich auch beim Betreten meiner Wohnung behilflich war. Dann aber verabschiedete er sich schnell und erinnerte mich daran, dass er jetzt täglich zu einer Trainingsstunde mit ausgiebigen Laufübungen vorbeischauen würde. Als Letztes gab er mir meinen Schlüssel zurück.
Als ich die Wohnungstür aufschloss und durch den Flur ins Wohnzimmer ging, fing ich mit einem Blick dieses traurige Bild ein. Katjuscha sass in einem großen Sessel, was ihre Gestalt noch kleiner erscheinen ließ. Tamara saß in der Hocke davor, so, wie sie unzählige Male vor meinem Rollstuhl gesessen hatte, und streichelte wortlos ihr Töchterchen.
Ich humpelte mit meinen Krücken näher. Als Tamara mich sah, stand sie sofort auf und hielt mich am Arm fest.
"Daniel", flüsterte sie, "du gehst - blind?"
Ich nahm die Sonnenbrille ab.
"Naja, ein bisschen konnte ich doch schon gestern sehen."
Ich verschwieg, was ich schon alles heute Morgen gesehen hatte.
"Warum flüsterst du?" fragte ich sie verdutzt.
"Ich weiss es selbst nicht. Katjuscha ist so ganz anders geworden. Sie lacht nicht, weint auch nicht. Und sprechen tut sie schon gar nicht. Kannst du Katjuscha sehen?"
"Und ob ich sie sehe..."
Komischerweise hatte auch ich angefangen zu flüstern.
"Mein Gott, sie sieht aus, wie ein Häufchen Elend."
Tamara drückte ihre Finger in meinen Arm.
"Was kannst du, was kann der Psychologe tun?"
"Tamara, wir müssen jetzt eine große Geduld aufbringen. Wir dürfen sie nicht durch eine mehr oder weniger aufgezwungene Therapie weiter unter Druck setzen. Stress kann sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Wir müssen lernen zu warten. Der Zufall ist unser Verbündeter."
Ich zog einen Hocker heran, gab Tamara meine Krücken und setzte mich Katjuscha gegenüber. Wir blickten uns an. Ich vermied jede Art von Lachen, Grimassieren, unterdrückte jeden noch so kleinen Ausbruch meiner Gefühle. Katjuscha schien durch mich hindurch zu sehen. Und doch liess sie ihre Augen irgendwie auch auf ihren Onkel Daniel ruhen - ernst, irgendwie auch vorwurfsvoll und - traurig.
Tamara half mir wieder hoch und gab mir die Krücken zurück. Ich erkannte mich nicht wieder. Wie viele Kinder hatte ich schon behandelt, nicht wenige auch mit solchen Leiden. Nie jedoch hatte sich mein Herz so verkrampft, nie hatte mich das Leid eines Kindes so mitgenommen, wie das von Katjuscha. Aber auch Tamara machte mir Sorgen. Sie litt mehr, als sie mir zeigen oder zugeben wollte. Auf meinen Wink hin ließen wir Katjuscha ein Weilchen allein, als wir sahen, dass sie sich stumm mit Tschaburaschka beschäftigte. Wir setzten uns an den Küchentisch, nahmen uns über die Tischplatte hinweg an die Hand und schauten uns eine Weile nur an. Ich drückte ihre Handflächen fester.
"Was quält dich, liebste Tamara? Da ist noch etwas außer Katjuscha, ich spüre es. Tamara blickte zur Seite und schien nicht antworten zu wollen. Schließlich hörte ich sie ganz leise sagen:
"Es ist nur Katjuscha. Aber gerade jetzt könnte ich eine Freundin wie Luda gebrauchen. Und ausgerechnet sie hat das alles ausgelöst und verschuldet."
"Bist du ihr noch böse?"
"Und wie! Ich hasse sie. Aber ... - ich vermisse sie auch."
Die Tage vergingen. Es waren Tage voller Zweifel und Verzweiflung, voller Hoffnung und Zuversicht, voller Erwartung und Ungeduld. Und immer hatte ich das Gefühl, Tamara war in diesen und jenen Momenten mit ihren Gedanken bei Luda. Wir hatten jedoch ausgemacht, den Namen ihrer Freundin nicht mehr in den Mund zu nehmen.
Eines Tages fasste ich einen Entschluss. Ich rief Luda an. Schon am nächsten Morgen klingelte es an der Tür. Katjuscha hatte wieder Tschaburaschka an sich gedrückt und schaute nur kurz auf. Tamara war aufgesprungen und wollte schon zur Tür laufen, als ich sie im letzten Augenblick am Arm festhalten konnte. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich und kein anderer hier gefragt sei. Sie liess sich kopfschüttelnd wieder in den Sessel fallen. Ich humpelte zur Wohnungstür. Luda schien um Jahre gealtert zu sein. Sie überreichte mir nur wortlos den Tragekasten, zog ihren Schal noch tiefer ins Gesicht und verschwand wieder durch die Haustür. Ich machte den Käfig auf.
"Jetzt blamiere mich aber nicht, Alter!" flüsterte ich nur und ging schnurstracks zu Tamara zurück, nahm erwartungsvoll ihre Hand. Ich sah, wie Katjuscha ein paarmal kurz in den Flur blickte. Ich liess sie nicht mehr aus den Augen. Ganz plötzlich sprang sie auf, machte ein paar Schritte zur Zimmermitte und blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Augen weiteten sich. Ihre Lippen begannen zu zittern.
"Rrrri ... ri ... rischik!!!" Mit äußerster Kraft presste sie ihn aus ihrer Kehle, den Namen ihrer Katze aus der Heimat. "Die Rote" kam sofort auf sie zu und schmuste um Katjuschas Beine herum. "Rischick, Rischick," rief das Kind mit tränenerstickter Stimme. "Du bist wiedergekommen. Und ich dachte schon, du bist lange tot. Rischik, meine Rischik ..."
Sie nahm ihre Puppe vom Sessel und zeigte auf die rote Katze:
"Schau mal, Tschaburaschka, König Boschenka hat wieder einmal geholfen."
Ich zog Tamara zu mir heran und flüsterte ihr ins Ohr:
"Boschenka, wer ist denn das schon wieder?"
"Das ist ihr König, von dem sie immer spricht. Die Kinder hier würden "lieber Gott" sagen, in Russland ist die kindliche Version von Gott "Boschenka". Wer war eigentlich an der Tür?"
"Hast du es nicht eben gehört, der König!"
Tamara gab mir einen liebevollen Rippenstoß.
"Es war Luda. Sie sieht schlimm aus - völlig abgemagert und heruntergekommen. Sie ist auch schnell wieder gegangen."
"Und woher hat sie die Katze?"
"Ich hatte sie angerufen und die Katze ziemlich genau beschreiben können. Sie hatte - wie man sieht - in unserem hiesigen Tierheim das Glück der Tüchtigen. Tamara standen Tränen in den Augen.
"Luda ... - Man muss ihr einfach verzeihen. Ich werde sie demnächst anrufen."
"Tue das, mein Herz, und wir drei plus Rischik wollen endlich eine richtige Familie werden.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner Tochter Europa gewidmet