Cover

Das kann doch nicht wahr sein!


 Ein Brief anstelle eines

Vorworts

Lieber Felix,

ich erinnere mich noch genau: Vor acht Jahren packte Dich nach langer Zeit mal wieder die Schreibwut. Du sammeltest alles, was Dein Leben so hinterlassen hatte: Bilder, Belege von Ereignissen, Plakate von Deinen Auftritten und vieles mehr. Du breitetest alles auf unserem großen Küchentisch aus und schlugst entsetzt die Hände über den Kopf zusammen. „Das kann doch nicht wahr sein! Habe ich das alles wirklich durchgemacht?“ Da musst Du durch, dachte ich nicht ohne Schadenfreude. Schließlich hattest Du Dich viel zu lange erfolgreich gegen Deine Erinnerungen gewehrt. Was meinen Beitrag betrifft, so durfte ich die Kapitel zuerst lesen und kommentieren. Und was ich da las, trieb mich in eine Schwindel erregende Achterbahn. Ich kam ins Grübeln beim Aufzählen all der Frauen, die neben Dir Theater spielten oder bei Deinen Buchlesungen assistierten. Ich erschrak über Deinen bodenlosen Leichtsinn, als Du in der Türkei Deine ungenehmigte Fernsehsendung moderiertest und dabei den Verkehrsminister lächerlich machtest.

Ich litt mir Dir, als Dich daraufhin die Gendarmerie verfolgte und Du es dennoch nicht lassen konntest, ohne Arbeitsgenehmigung eine Zeitung herauszugeben – mitten in einem noch aktiven Erdbebengebiet. Dich schien der Teufel zu reiten, als Du in diesem streng muslimischen Land einen christlichen Gottesdienst veranstaltetest. Und – das muss ich zugeben – Du rührtest mich zu Tränen, als Du von Deiner Zeit als Hospizhelfer erzähltest und es fertigbrachtest, mit einem sterbenden Kind zu kommunizieren. All diese Aktivitäten würde ich bei einem Menschen vermuten, der eine Bärennatur und eine unerschütterliche Psyche hat. Aber doch nicht bei einem wie Dir, der seit Jahrzehnten einen sich ständig ausbreitenden Krebs in sich trägt. Aber auch hier ganz typisch für Dich: Statt den Krebs traditionell zu bekämpfen, schreibst Du ihm sogar ein Gedicht und heißt den Peiniger in Deinem Körper willkommen: Ein Gläschen auf das Metastäschen! Für mich als Ärztin sind das unbegreifliche Töne. Und nicht selten erwische ich mich bei der Frage: Wen habe ich da eigentlich geheiratet? Einen Abenteurer? Einen Draufgänger? Oder einfach nur einen unverbesserlichen Phantasten, einen Träumer? Und ich dachte immer, mein Leben als Medizinerin sei an Ereignissen nicht mehr zu toppen?

Nun habe ich Dich gleich von mehreren Seiten kennengelernt. Ich weiß jetzt, wen ich da geheiratet habe. Glaube mir: Ich würde es heute wieder tun.

Immer Deine

Larysa

 

Borkum, 25. Oktober 2007 - 22.50 Uhr

 

Meine rote Brille, ein Designerstück aus den späten 80er Jahren, fiel zu Boden und zerbrach in zwei Teile. Das war gestern Abend, kurz bevor ich meine Frau Larysa in der Ukraine anrief. Der Verlust meiner einzigen Lesehilfe war insofern ärgerlich, als ich mir fest vorgenommen hatte, im Bett noch ein paar Seiten aus Siegfried Lenz´ „Deutschstunde“ zu lesen. Ein Buch, das ich immer mal wieder zur Hand nehme – wenigstens alle fünf Jahre. Also schnappte ich mir das gute Stück, das jetzt aus zwei Teilen bestand, und versuchte eine Reparatur mit Klebeband. Das ging schief. Mal rutschte die linke Seite aus der Verklebung und ich sah mit dem rechten Auge scharf, dann wieder verschwand die rechte Hälfte irgendwo unter der Bettdecke und das linke Auge triumphierte. Ich rettete mir den Abend, indem ich die Brille in ihren Bestandteilen beließ und mir auf SAT.-1 Schalke gegen Chelsea anschaute. Dass Schalke auf der Verliererstraße war, regte mich nicht sonderlich auf. Meine Gedanken schweiften ohnehin immer wieder ab und beschäftigten sich – ausgerechnet an diesem Abend – mit meiner derzeitigen Lage. Ja, das taten sie. Sie stellten mit unerbittlicher Hartnäckigkeit all diese unangenehmen Fragen, denen ich seit unserem nunmehr sieben Monate währenden Aufenthalt auf Borkum mit Erfolg ausgewichen bin. Als Schalkes Nummer eins getunnelt wurde und so das erste Tor kassierte, fragte die aufsässige Stimme in mir: „Was tust du eigentlich hier?“ Ich bin hier, weil meine Frau einen Job auf Borkum angenommen hat, verteidigte ich mich. Was du tust? - Ach so. Willst du jetzt nur noch Hausmann sein? Wann hast du eigentlich zuletzt etwas geschrieben? Dein Roman, dein Kinderbuch – das liegt mehr als sieben Jahre zurück. Fällt dir denn gar nichts mehr ein? - Keine Lust. Wenn du so gar keine Idee hast, dann bringe doch wenigstens etwas aus deinem Leben zu Papier. Irgendwas. – Keine Lust. Hast du denn alles vergessen? Du hast mindestens ein Dutzend Berufe ausgeübt, du hast deine Fähigkeiten immer bis an die Grenzen ausgereizt. Du hast in der Türkei kritisches Fernsehen gemacht und wurdest von der Gendarmerie verfolgt. Du hast das alles überstanden, einschließlich der drei Ehen, zumindest bis jetzt, mit ausgesprochen problematischen Frauen. - Keine Lust.

Zugegeben. Was da alles hinter mir liegt, ist schon ein paar Zeilen wert. Als Schüler träumte ich von einer Boxerkarriere. Jahre später wollte ich dann aber doch lieber Sänger werden. Ich hatte schließlich Unterricht bei den renommiertesten Hamburger Gesangslehrern, von Beruf war ich aber Bankkaufmann. Ich sah einer - wie ich glaubte - viel zu einseitig vorgezeichneten Zukunft entgegen. Scheinbar hatte ich mich mit meinem Schicksal schon abgefunden. Doch wäre mir damals vergönnt gewesen, in die Zukunft zu sehen, hätte sich meine Grundstimmung unversehens erhellt. Ich konnte mich später nämlich noch als Zeitungsredakteur, Medizinjournalist, Heilpraktiker, Dozent, Theaterleiter, Fernsehmoderator und Buchautor entfalten. War das Zufall oder Methode? Ich glaube, es war Methode, wenn auch zunächst ganz unbewusst, aber doch stur nach meinem Lebensmotto: Nutze deine Zeit, teste deine Grenzen und nimm jede interessante Herausforderung an!

 

Allerdings gehöre ich auch zu den Menschen, die gern etwas hinausschieben. Ja, mir fallen spontan immer gleich mehrere Gründe ein, warum es besser wäre, dieses zu vertagen, jenes zurückzustellen oder anderes ganz und gar auf Eis zu legen.

 

Als ich heute Morgen erwachte, war es mir, als hätte ich gestern Abend ein Versprechen abgegeben. Mehr noch. Ich hatte das Gefühl, es war so etwas wie ein Gelübde. Jedenfalls ging ich heute Morgen wie unter Zwang in die Drogerie und kaufte mir eine Lesebrille von der Stange. Was sollte ich machen. Versprochen ist versprochen. Also werde ich schreiben.

Gleich heute. Heute ist ein Tag, sich zu erinnern. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, ein anderer Tag irgendwann in der Zukunft wäre besser dazu geeignet. Ein eher hilfloser Vorwand, sich noch eine Weile von der Erinnerung fernzuhalten, wäre die Behauptung, im Kopf „leer" zu sein. Dieser Zustand ist mir immerhin nicht fremd. Zu meiner Zeit als Journalist saß ich so manche Nacht in der Redaktion vor einem leeren Blatt Papier, das ich zuvor in übertriebener Langsamkeit in eine altmodische Schreibmaschine gespannt hatte. Erst mal eine Zigarette, war dann der rettende Gedanke. Und war der Kopf erst so richtig vom Rauch umhüllt, kam interessanterweise auch recht bald die rettende Idee für den ersten Satz.

 

Es ist schon erstaunlich, wie plötzlich Bilder aus einer längst versunkenen Zeit vor dem geistigen Auge erscheinen. Da fahre ich neulich mit dem Zug nach Düsseldorf, um mich über eine neue Therapie von Professor Maar (Autor des Bestsellers „Rebell gegen den Krebs“) unterrichten zu lassen.

Und wo hält der Regionalexpress? - In Papenburg an der Ems. Sofort tauchten Bilder aus meiner Kindheit auf. Unser Haus in der Bahnhofstraße, die Meyer-Werft, das Sägewerk… Und dann, als der Zug wieder anruckte, sah ich ihn: den Begleiter meiner frühen Schuljahre - den Kanal.

 

 

 

 

 

Der Kanal in Papenburg

 

Es waren die ersten Jahre nach dem Krieg: Die Bundesrepublik wurde gegründet, die DDR geboren, die Nato aus der Taufe gehoben. Außerdem wurde dann noch die Welt darüber in Staunen versetzt, dass nun auch die UdSSR eine Atombombe besaß. Ich begriff von all dem wenig.

Offenbar hatte ich auch den Auszug aus Ostpreußen verschlafen, denn meine erste Erinnerung ist eng verbunden mit einem Kanal, von dem ich hier erzählen will. Dieser Kanal prägte damals wie heute das Bild der Stadt Papenburg, unserer letzten Station nach monatelanger Flucht vor der Roten Armee.

Es war an einem Sonntagmorgen. Wie so oft nach dem Frühstück rannte ich zum Kanal, wo sich Gleichaltrige mit mir zum Spielen verabredet hatten. Aber es wurde nichts daraus. Genau an der Stelle, wo sonst Peter, Manni und die anderen mit mir „in See stachen“, war die halbe Nachbarschaft versammelt. Und es kamen immer noch Leute hinzu. Polizisten mit ernsten Mienen drängten die Menschen vom Ufer weg. Schon fing mich eine der Nachbarinnen ein und verbot mir, noch näher zu kommen. Natürlich ging ich nicht wieder nach Hause, sondern erkundigte mich nach der Ursache all der Aufregung. An diesem Tag stellte ich wohl meine erste ernsthafte Recherche an, was meinen späteren Weg zum Journalisten ohne Zweifel beeinflusst hat. Ich erkundigte mich bei Nachbarn, die für ihre Zuverlässigkeit bekannt waren, und bekam heraus, dass es sich um eine „Moorleiche“ handelte. Später allerdings wurde diese Bezeichnung wieder zurückgenommen, zumal jeder natürlich wusste, dass das Moor an dieser Stelle längst abgegraben war, nämlich schon nahezu seit 300 Jahren.

Papenburg wurde 1638 als sogenannte Fehn-kolonie gegründet. Wer sich hier niederlassen wollte, brauchte nichts für den Grund und Boden zu bezahlen. Einzige Bedingung: Er musste sich an der Aushebung des Kanals beteiligen. Und so zog sich der Kanal von Jahr zu Jahr immer mehr in die Länge, und die Stadt wuchs mit dem Kanal. Noch heute begegnen wir im Nordwesten Deutschlands Orten, die auf diese Weise entstanden sind. Einige tragen in ihrem Namen die Silbe „-fehn“. Hier wurde wie in Papenburg Fehnkultur betrieben, d.h., das Moor wurde durch Abtorfung urbar gemacht. Schon damals als Achtjähriger sah ich kaum noch Torfkähne auf dem Kanal. Es wurde zwar noch viel mit Torf geheizt, aber das Brennmaterial kam jetzt schneller über den Landweg in die Haushalte. Obwohl der Kanal jetzt eigentlich nutzlos geworden war, machte er tagtäglich von sich reden. Wenn der Bürgermeister das Geld gehabt hätte, wäre der Kanal längst eingezäunt worden. Zum Schutz der Papenburger, der Einheimischen wie der Flüchtlinge. Insbesondere aber zum Schutz der Nachtschwärmer. Immer wieder passierte es, dass einer mit billigem Fusel im Kopf die Richtung verfehlte und schnurstracks in den Kanal hineintappte. So erging es auch der „Moorleiche“. Auf meinem Schulweg, der natürlich wie alle Wege immer am Kanal entlangführte, sah ich dann die mir aus frühester Kindheit wohlbekannte Menschentraube. Ich brauchte mich jetzt gar nicht mehr bis ans Kanalufer vorzudrängen. Die Wortfetzen genügten: „De mutt wall bannich duhn rintorkelt siin!“ Oder: „Is wall von siin Olsch wechlopen!“ (Der muss wohl völlig betrunken hineingetorkelt sein. Ist wohl von seiner Alten weggelaufen.)

In der Grundschule: Der zweite von links vorn (mit den Strumpfstrapsen) bin ich.

 

Ich will noch einmal meine alte Schule betreten - wenigstens in Gedanken. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles wieder vor mir. Da ist der kleine Schulhof mit den hoch aufgetürmten Schneehaufen. Ich sehe das düstere Schulgebäude mit der Freitreppe. Ich betrete das Klassenzimmer mit den rauchgeschwärzten Wänden. Ich höre das Bullern im eisernen Kanonenofen. Es riecht nach nassem Holz. Einige Kinder husten. Nicht die an der Fensterseite. Das sind mehrheitlich die Einheimischen. Es husten schon eher die vom Ofenrauch eingenebelten Flüchtlingskinder. Bevor der eigentliche Unterricht beginnt, müssen wir alle aufstehen. Es wird gebetet. Während sich die katholischen Fensterseitigen bekreuzigen, stehen die evangelischen Ofenseitigen wie immer etwas unschlüssig da. Einige versuchen sich in Solidarität und probieren, sich zu bekreuzigen, was meistens misslingt. Dann husten sie wieder. Mehr aus Verlegenheit als vom Ofenrauch.

Diese Aufnahme muss um 1950 entstanden sein. Ich (Mitte) mit Schwestern und Eltern.

 

 Für Menschen wie mich, die schon mal die falsche Richtung einschlagen, war es sehr praktisch, dass die Stadt in ein Oben-, Mittel- und Untenende eingeteilt war. Wir wohnten am Untenende, da, wo der Kanal in die Ems mündet, direkt am Bahnhof. Natürlich ging es auch nach der Schule immer am Kanal entlang. Manni, Peter und ich bummelten an den Schaufenstern entlang, bestaunten die neuen Auslagen, wechselten auch mal auf die andere Straßenseite zum Kanal, wenn es da etwas zu bestaunen gab. Wir gesellten uns zu einer Schar von Kindern, die wie wir eindeutig als Flüchtlinge zu identifizieren waren. Flüchtlingskinder unterschieden sich von den Einheimischen schon dadurch, dass sie nicht so warm angezogen waren, wie es dieser kalte Wintertag erfordert hätte. Ihre Kleidung war alt und verwaschen oder schon mehrere Jahre von älteren Geschwistern getragen. Schuhe waren das größte Problem. Für Flüchtlinge einfach unerschwinglich. Man behalf sich mit Holzschuhen. Und wenn diese nicht warm genug waren, legte man sie mit Stroh aus. Sollte einmal die Unterscheidung zwischen uns Flüchtlingen und den „Emsköppen“ nicht eindeutig genug ausfallen, musste die Religion herhalten. „Du siehst so evangelisch aus, du musst Flüchtling sein.“ Das stimmte fast immer. Denn das Emsland, insbesondere Ostfriesland, war schon damals tiefschwarz und katholisch.

Wir gesellten uns also zu den Gaffern und betrachteten ein halbes Dutzend Kinder, die sich mit ihren Schlitten auf dem zugefrorenen Kanal vergnügten. Mit ihren Schlitten! Für jeden von uns ein unerfüllbarer Traum. Wie das so ist: Kinder können sich nicht verstellen. Sie drücken mit ihren Gesichtern aus, was sie wirklich denken. Wir müssen wohl ausgesprochen sauertöpfig auf die ausgelassene Schar der Mitschüler geblickt haben. Unseren Neid trugen wir unverhohlen zur Schau. Wir erkannten Volker, Söhnchen eines Textilkaufmanns, in gesteppter Winterjoppe mit seinen engsten Freunden. Sie erwiderten unsere feindseligen Blicke. Zuerst schoben sie ihre Schlitten zusammen, setzten sich sodann darauf und machten uns lange Nasen und allerlei Grimassen. Plötzlich begann es im Eis zu knacken. Die Schlittenkinder waren so mit ihrem Spott beschäftigt, dass sie nicht merkten, wie ihre Schlitten langsam einbrachen. Das war so faszinierend, dass wir nicht gleich reagierten. Dann plötzlich ging ein Ruck durch unsere frierenden Leiber und wir sprangen den schreienden Kindern entgegen und zogen sie aus dem Wasser. Erwachsene kamen gelaufen und besorgten den Rest. Das war gut so. Aber wir waren noch aus einem anderen Grunde erleichtert. Die Schlitten waren verschwunden. Unserem kindlichen Denken nach war hier wenigstens ein Stückchen Gerechtigkeit wieder-hergestellt worden.

 

Meine Konfirmation.

Ich (so ziemlich) in der Mitte.

 

Borkum, 13. Februar 2009 – 11.20 Uhr

 

Heute ist Freitag. Dazu noch der 13. Ein willkommener Anlass, meiner Lesungsshow heute Abend einen entsprechenden Touch zu geben. Ich werde dem Publikum einfach voraussagen, was alles schief gehen wird. Genau. Ich werde den RIFF-Klinikern und Patienten schon bei der Begrüßung eine Gänsehaut über den Rücken jagen und orakeln, was alles an solch einem 13. für Pannen passieren können.

Meine Mitspieler wissen noch nichts davon. Ulli, der pensionierte Lungenarzt, hätte auch „erhebliche Bedenken“ angemeldet. Ganz anders Uschi. Die Sopranistin willigte sogar spontan ein, als ich vorschlug, eine Szene aus meinem Buch nicht vorzulesen, sondern wie einen Sketch vorzuspielen.

Ankündigung meiner Buchlesung.

 

Kopfschmerzen bereitet mir noch die Clown-Szene. Ich trete nämlich gleich am Anfang als dienstbeflissener Clown auf, der sich als „Assistent des Künstlers“ ausgibt und gewisse Vorbereitungen für seinen Chef trifft. Ich singe in dieser Szene nämlich nach Begleitung von der CD. Aber egal. Ich spucke diskret dreimal über die linke Schulter und sage:

„Toi, toi, toi…“

Es wurden eine Menge Pannen angekündigt, und die eine, die wirklich eintrat, verursachte ich selbst. Zum Abschied wünschte ich dem erlauchten Publikum nämlich „einen guten Heimgang“. Das hartgesottene Krankenhaus-Personal und auch die Patienten nahmen es mit Humor. Heute lese ich in der Borkumer Zeitung folgende Zeilen:

Eine pannenlose Lesung

am Freitag, den 13.

Die Überraschung war den Aufführenden gelungen. Schon zu Beginn der Lesung im Klinikum Borkum Riff wurde das Publikum von einem Clown überrumpelt, der vorgab, für seinen Chef Vorbereitungen für die Lesung zu treffen. Stattdessen überraschte er mit dem berühmten Prolog aus Bajazzo und kündigte mit einem leicht veränderten Text nicht ein Theaterstück, sondern eine Lesung an. Dieselbe Person – nämlich Felix H. Bendig – trat dann wenig später als lesender Autor auf und am Schluss der Veranstaltung sogar als singender Brecht-Interpret mit „Der Mensch lebt durch den Kopf“. Ganz hart an Pannen vorbei geschlittert ist Bendig dann mit seiner Partnerin Ursula in dem Sketch „Borkumer Strandkatzen“, was das Publikum aber eher erheiternd auffasste. Ein Genuss waren die Gitarrenbeiträge von Ulrich M., der auch Ursula L. bei ihren zumeist plattdeutschen Liedern begleitete Es herrschte im Saal eine angespannte Stille, als Felix H. Bendig fünf Szenen aus seinem Buch „Die 13 Tage nach der Hinrichtung“ las. Das Buch ist ab sofort in beiden Borkumer Buchhandlungen zu einem reduzierten Einführungspreis erhältlich.

 

Soweit die Borkumer Zeitung.

 

Apropos Pannen. Ich muss drei oder vier Jahre alt gewesen sein, als mir diese unerhörte Panne (oder sagen wir besser: dieses Missgeschick?) passierte. Es war der Tag, an dem ich angesichts eines Tieffliegers die säuberlich von meiner Mutter geschmierten Stullen, die für meinen Vater auf dem Feld gedacht waren, einfach in die Kartoffelfurche warf. Das war noch in Ostpreußen…

Das einzige Kinderfoto, das wir bei der Flucht retten konnten. Da bin ich zwischen 3 und 4 Jahre alt.

 

 

Es war in Ostpreußen…

 

Land meiner Väter. Ein Heimatboden, auf dem ich meine ersten Gehversuche machte. Ein Landstrich, von dem ich alles aus Büchern, nichts aber aus eigener Erinnerung weiß.

 

Wie mochte wohl meine Kindheit gewesen sein? Wertvolle Augenzeugen sind längst verstorben. Natürlich tauchen Bilder in mir auf, zusammengesetzt aus Geschichten, die mir von Kindesbeinen an aufgedrängt wurden. Szenen, die dermaßen überdeutlich in mein Bewusstsein eingestempelt wurden, dass ich sie heute für selbst erlebt halte.

 

So sehe ich mich auf dem Feld, erkenne, wie mein weißer Haarschopf dem arbeitenden Vater zustrebt. Den Vater mit der Heuharke fest im Blick, die Brotdose noch fester an die Brust gepresst und tapfer immer die Ackerfurche entlang gestapft. Dann das Unerwartete. Ein Tiefflieger kommt direkt auf mich zu.

 

Meine Großmutter

väterlicherseits

                                                

 

 Ich werfe die Brotdose über alle Furchen und mich selbst auf die Erde. Gerade noch rechtzeitig. Der Jagdbomber aus dem Zweiten Weltkrieg verliert mich aus dem Visier und fliegt davon. Vater beißt unverzagt in das sandige Brot und versucht mir geduldig zu erklären, dass diese Flugzeuge unsere Freunde sind. Ich glaube ihm natürlich nicht. Weit draußen tobte ein Krieg, von dem ich nichts wusste. Hitler hatte gerade (es war Sommer 1942) seine Weisung Nr.45 herausgegeben, nach der die deutschen Truppen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig gegen Stalingrad und zum Kaukasus vorstoßen sollten. Das hatte die entscheidende Wende des Krieges eingeleitet, die auch mich und meine Familie betraf. Im Oktober desselben Jahres begann Montgomery mit seiner britischen Armee eine Offensive gegen das deutsche Afrikakorps, in dem auch mein Vater wieder diente, nachdem er seine Heuharke beiseitegelegt und den Heimaturlaub beendet hatte.

 

Währenddessen erlebte ich auf dem kleinen Bauernhof in Scheeren friedliche Kindertage. Es war noch vor der landwirtschaftlichen Revolution. Die Automatisierung war noch in weiter Ferne, sodass noch viel körperlicher Einsatz gefragt war. Und die wenigen Landmaschinen, die die Muskelkraft des Bauern ersetzen sollten, hatten unglaubliche Ausmaße. Angerostete Ungeheuer waren das. Aus meiner frühkindlichen Perspektive kamen sie mir wie gefräßige Dinosaurier vor. Die Scheu vor diesen Giganten muss nicht lange angehalten haben. Schon bald hatte ich mir aus Stock und Bindfaden eine Peitsche gebastelt. Dann quälte ich mich auf den hohen Sitz und trieb mit Furcht erregenden Anfeuerungsrufen das monströse Gefährt voran - bis mir der Schaum vor dem Mund stand.

Die Flucht aus Ostpreußen.

 

 

Borkum, 12. Mai 2009 – 12.50 Uhr

 

Heute ist der Tag, an dem die Ernte eingefahren wird. Die Schinderei eines halben Jahres, die Arbeit mit zehnjährigen Monstern, sollte sich nunmehr auszahlen. Es war im Herbst vorigen Jahres, als mich der Leiter der Grundschule Borkum bei meinem Hausarzt ansprach. Er habe von meinen Ambitionen für das Theater gehört und erlaube sich zu fragen, ob ich nicht an seiner Schule eine Theater-AG für seine „Großen“ ins Leben rufen wolle. Spontan wie ich bin, sagte ich zu. Ich hatte noch nie mit Kindern dieses Alters gearbeitet, also wusste ich auch nicht, was auf mich zukam.

Die 26 Mädchen und Jungen, die am 17. November 2008 um 14.30 Uhr ihren Dienst in der Theater-AG antraten, erhielten zunächst einen Klebestreifen mit ihrem jeweiligen Vornamen in riesigen Lettern auf die Brust geheftet. Doch wenn ich glaubte, das Merken der vielen, teilweise ungewöhnlichen Namen werde das einzige Problem sein, so musste ich bald meinen Irrtum erkennen. Der Geräuschpegel war das weit größere Übel. Nein, das war kein Geräusch! Das war Krach in höchster Potenzierung. Mir kam der Gedanke, dass die kleinen Racker wohl nicht genug ausgelastet waren. Ich führte ihnen vor Augen, was ich in nächster Zeit von ihnen erwartete: Sie mussten mir zunächst vorsingen oder vorsprechen. Das schien Spaß zu machen. War es doch so etwas wie Casting im Fernsehen. Konzentration auf Sketche und Lieder machte den Jungen auf Dauer nicht so viel Spaß wie Fußball spielen. Andere fanden andere Hobbys dann doch attraktiver, und so schrumpfte die Gruppe auf die Hälfte zusammen, ohne dass ich mit einem Lied, einer Szene oder gar mit einem ganzen Sketch hätte beginnen können. Mit den Kindern, die an diesem Übungsnachmittag – es war immer der Montag – nicht gerade etwas anderes vorhatten, konnte ich nur Warm-up-Theaterübungen machen.

 

Anlässlich einer Kinderbuch-Lesung durfte

ich meine spätere Theater-Rasselbande kennenlernen.

 

 Alles schien wichtiger als die Theater-AG zu sein: irgendeine Insel-Feierlichkeit, die Fahrt zum Festland, Omas Geburtstag usw. Es gab Montage, da stand ich ganz allein im Raum 8 und fragte mich, was ich hier eigentlich machte, warum ich mir das antat. Dann entschloss ich mich, die Notreißleine zu ziehen. Ich verkündete mit dem nötigen Ernst, dass jeder aus der Gruppe ausgeschlossen werde, der unentschuldigt der Probe fernbleibe. Einige Mädchen und Jungen wurden daraufhin ausgeschlossen. Die elf verbliebenen Kinder schienen die Erleichterung mit mir zu teilen. Was übrig geblieben war, entpuppte sich als eine verschworene Gemeinschaft. Es war wieder Ruhe eingekehrt, und wir konnten mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Es dauerte wieder eine lange Zeit, bis von den kleinen Mimen eingesehen wurde, dass nicht jede Rolle zu jedem Kind passte. Die notorische Vergesslichkeit der Neun- und Zehnjährigen versuchte ich dadurch zu kompensieren, dass ich alles – fein säuberlich mit dem PC zusammengestellt – ausdruckte und verteilte: Termine, Rollentexte, Szenenfolgen, Liedertexte, Kassetten zum Üben usw. Leider ging von einer Woche zur nächsten immer wieder der größte Teil verloren, war unauffindbar und unwiederbringlich. Ich musste also weiterhin drucken, bis mir das Papier ausging. Die Gleichgültigkeit war einfach nicht zu besiegen. Ein anderer Wind wehte plötzlich, als der erste Aufführungstermin feststand. Lampenfieber war zu spüren. Plötzlich wurde die Sache sehr ernst genommen. Es kam auch kein Protest, als ich mehrere Sonderproben einschob. Und schließlich war die ganze Aufführung so perfekt vorbereitet, dass ich mich um nichts weiter als um die Musik kümmern musste. Dann kam die erste Aufführung für die unteren Klassen. Der Saal war gerammelt voll. Und „meine“ Kinder bekamen Muffensausen. Einige verkrochen sich in eine dunkle Ecke des Umkleideraumes. Andere bekamen rote Flecken im Gesicht und stammelten Unverständliches. Wieder andere wurden hysterisch und fingen an zu schreien.

Gemeinsames Eis-Essen als Belohnung

für eine gelungene Vorstellung.

 

Ich musste durchgreifen. Ich sammelte sie alle wieder ein und zählte durch: Sie waren noch vollzählig. Dann nahm ich jeden Spieler einzeln beiseite, sprach ruhig auf ihm ein und fühlte den Puls. „Dein Kreislauf ist stabil. Du wirst Deinen Text beherrschen,“ suggerierte ich. Es klappte alles phantastisch. Puh! Im Nachhinein muss ich gestehen: Ich habe mich noch nirgendwo so tief reingehängt. Und das alles ohne Honorar! Wenn ich da an mein erstes Honorar denke…

 

 

Bahnhof Papenburg/Ems:

Ab in die Großstadt

                                                 

Das erste Honorar

 

Der pubertierende Dorflümmel kam in die Großstadt. Um zunächst sein Bildungsniveau zu erhöhen. Nachdem das nach weiteren drei Jahren durch den Besuch weiterführender höherer Wirtschaftsschulen gelungen schien, sagte man mir, ich sei reif für das Bankwesen. Ich willigte mit einigem Stirnrunzeln ein. Eine Hamburger Kleinbank war es, die mir den Unterschied zwischen Allonge und Prolongation beibrachte. Richtig begeistern konnte mich aber erst unser Betriebsfest im Garten des Chefs. Das Steckenpferd dieses Mannes mit den jüdischen Vorfahren war das Wissensquiz. Schon bei meinem Einstellungsgespräch schockierte er mich mit Fragen wie „Wer war in der Verteidigung der WM-Elf von 1954 aufgestellt?“ Oder: „Wiegt ein Erstgeborenes mehr als ein Zweitgeborenes?“ Oder: „Gibt es Unterschiede zwischen den Eisenbahnschienen Europas und dem Ostblock?“ Mit meinem damaligen Wissen war es mir nicht möglich, all diese Fragen erschöpfend zu beantworten. Dass ich schließlich doch eingestellt wurde, verdankte ich dem Umstand, dass ich zu seiner maßlosen Verblüffung auf die etwas schwammige Frage nach dem Sinn des Lebens wenigstens aus philosophischer Sicht einige Auskünfte geben konnte. Also hatten sich meine Diskussionszirkel, die ich damals mit Eifer besuchte, doch gelohnt.

Man trug Elvis-Locke und

legte "heiße Scheiben" auf.

 

Im Garten des Chefs wiederholte sich - wie man mir sagte – ein jährlich immer wiederkehrender Brauch. Nach gutem Essen und reichlich Bewegung im Garten versammelte sich das rund 20-köpfige Personal um den Chef. Rechts von diesem saß sein Hauptkassierer mit einer schwarzen, prall gefüllten Tasche: das Bargeld für die Preisverleihung. Ich punktete wieder mit meiner Philosophie und nahm so gegen Mitternacht das Monatsgehalt eines Bank-Azubis mit nach Hause. Das war es aber nicht, weshalb ich mich an diesen Tag noch heute so genau erinnere. Ich erhielt nämlich mein erstes Honorar als Sänger in Form einer Goldmünze. Und das kam so. Als nach dem ertragreichen Quiz die Wellen der Ausgelassenheit hochschlugen, rief einer in das Stimmengewirr hinein: „Felix soll singen!“ Plötzlich wurde es ganz still. Alle blickten mich an. Einige verständnislos, andere heftig nickend. „Wenn er im Postversand die Briefe frankiert, schmettert er seine Arien, dass man es im Kassenraum hören kann", gab ein anderer zum Besten. Ich hatte noch nie öffentlich gesungen. Mein Herz schlug bis zum Halse. Am liebsten hätte ich mich in ein Mauseloch verkrochen. Aber es half nichts. Ich sang „Granada", ein Lied, von dem ich heute lieber die Finger lassen würde. Meine Kollegen rasten vor Begeisterung. Nachdem sich der Beifall langsam gelegt hatte, stand unser Börsenchef auf, zog etwas verlegen einen ledernen Beutel aus der Tasche und überreichte mir eine Maria-Theresia-Münze. Diese trug ich viele Jahre an einer Halskette, bis ich sie meiner ersten großen Liebe schenkte.

 

                                                             Ich - der Bankkaufmann

 

Es gehörte zum guten Brauch, dass man nicht allzu lange bei einer Kleinbank blieb, sondern seinen Horizont bei einer Großbank erweiterte. Und so landete ich am Hamburger Jungfernstieg. Meine Gesangsstudien, die ich während meiner Lehrzeit mangels finanzieller Möglichkeiten nur mäßig wahrnahm, konnten jetzt intensiviert werden. Ich schulte meine Stimme fortan nicht mehr in der Rothenbaumchaussee, sondern am vornehmen Alsterufer. Jetzt nahm mich ein noch aktiver Opernsänger unter seine Fittiche.

Ich war damals mit Wolf befreundet, einem Sängerfreund, der zu seinem Leidwesen auch in einem kaufmännischen Beruf tätig war. Da wir beide in Etagenwohnungen lebten, wo Nachbarn unsere Art des Gesangs nicht schätzten, taten wir uns zusammen, um wenigstens unsere Pflichtübungen zu erfüllen. Das ließ sich nicht selten nur im Stadtpark oder in irgendeiner Kirche realisieren. Zu Hause übte man durchaus auch mal in einem geschlossenen Schrank. Und so fieberten wir immer den damals üblichen Sängerwettbewerben entgegen. Wolf, der schwarze Bass, und ich, der lyrische Tenor, räumten ständig die ersten Preise ab. Interessanterweise ließen uns Elvis und die Beatles, die zu der Zeit Hochkonjunktur hatten, völlig kalt. Zunächst jedenfalls. Unsere Helden und Heldinnen waren Mario del Monaco, Mario Lanza, Giuseppe di Stefano, Maria Callas oder Renata Tebaldi. Manche Woche verbrachten wir mehr in der Hamburger Staatsoper als zu Hause.

Die Großbank, in der ich in dieser Zeit arbeitete (es war der Herbst 1965 und Albert Schweitzers Tod hatte die Welt berührt), war mir von Anfang an suspekt. Zu viel Spezialisierung und Unübersichtlichkeit. In der großen Hektik, die das Arbeitsleben bestimmte, spürte man zudem die Ellenbogen der Kollegen. Ich hatte mich für die Wertpapierabteilung beworben, landete aber ungewollt im Sortenbestand. Fortan hörten Dollar, Franken und englische Pfunde auf mein Kommando. Meinem Schreibtisch gegenüber saß Fräulein M., eine dürre, lange Altjungfer mit einem Pferdegesicht. Wir verstanden uns überhaupt nicht.

Der Tag, von dem ich erzählen möchte, fing schon düster an. Fräulein M. hatte wieder ihren zickigen Tag. Ständig entblößte sie ihre spitzen langen Zähne und lästerte über irgendwelche Kollegen. Das war insofern nervig, als man sich beim Geldzählen unbedingt konzentrieren muss. Also sehnte ich mich nach dem Feierabend. Keine Chance. In meiner Dollar-Kasse fehlte ein Tausender. Wohlgemerkt: Für einen Dollar bekam man damals 4,80 DM. Das hatte mir die Pferdegesichtige eingebrockt! Sie hatte nämlich die Aufgabe, den Inhalt meiner Versandtüten (mit denen wir unsere Filialen belieferten) nachzuzählen, abzuzeichnen und zuzukleben. Ich wusste, wohin an diesem Tag die Dollar-Sendung gegangen war, nämlich nach Wilhelmshaven. Ein Anruf hätte genügt und der Fall wäre geklärt. Das war aber nicht die Vorgehensweise eine Großbank, die auf Einhaltung der Organisations-richtlinien (ORL) und Identifizierung eines Sündenbocks pochte. Am nächsten Morgen stand erwartungsgemäß die gefürchtete Revisionsabteilung auf der Matte und drehte noch einmal jeden meiner Scheine um. Dann wurden Fräulein M. und ich in die Vorstandsetage bestellt. Eine schwarz gekleidete Direktorenriege saß uns gegenüber. Der Vorsitzende verlas die Anklageschrift:

                                                             Untermieter mit Klavier

 

 

Hauptangeklagter: Herr Bendig, Zeugin: Fräulein M. Vergehen: Sträfliche Missachtung der Organisationsrichtlinien. Es folgten die Erläuterungen dieser Richtlinien, die er aus einem riesigen Buch vorlas. Dann nahm er seine Brille ab und blickte mich an, als sei ich ein gefährliches Insekt: „Haben Sie noch etwas zu sagen? Aber fassen Sie sich kurz.“ Ich war einigermaßen verblüfft darüber, dass man mich anstelle des Altfräuleins zum Sündenbock machen wollte. Zum Glück hatte ich mich am Vorabend ahnungsvoll auch auf das Unerwartete vorbereitet. Schon damals hatte ich die Angewohnheit, solche Auftritte genauestens vor dem Spiegel einzustudieren. Und so fasste ich mich keineswegs kurz, sondern spulte das Einstudierte rücksichtslos ab. Vom Heben und Senken der Stimme über das leidenschaftliche Zitieren der ORL bis hin zur entscheidenden Schlussoffensive. „…und darum wünsche ich, dass Sie mich in eine andere Abteilung versetzen.“ Da war einer, der sich nicht entschuldigte, sondern auch noch Forderungen stellte. Unfassbar! Die Pinguine am langen Vorstandstisch waren einigermaßen ratlos. Dem Altfräulein M. wollte man nicht zu nahe treten, schließlich hatte sie ein halbes Leben bei dieser Bank verbracht, gehörte eigentlich schon zum Inventar. Aber auch mir konnte man nichts anhaben. Und so zogen sich die Finanzgewaltigen murrend zurück.

Noch in der gleichen Woche wurde ich in die Hauptbank-Kontroll-Abteilung versetzt. Nun war auch ich ein „Sheriff“, wenn auch ein kleiner. „Weil Sie die Organisationsrichtlinien so gut beherrschen“, ließ mir der Vorstand durch meinen neuen Abteilungschef mitteilen. Es war die Zeit, als die Briten um den verstorbenen Sir Winston Churchill trauerten. Noch im selben Jahr 1965 traten die Beatles in New York auf. Es war das bis dahin größte Ereignis in der Rockgeschichte.

Aber das interessierte mich nicht im Geringsten. Mich interessierte nur der Gesang oder die Bank. In der Hauptbank-Kontroll-Abteilung bekam man bestimmte Sonderaufgaben, ganz wie bei der Kripo. Ich hatte die „SOKO Wertpapierdifferenz“ zu leiten. Bei der Bilanzierung war ein Minus von 50000 DM aufgetreten. Die Obersheriffs aus der Revisionsabteilung waren bereits an dieser Aufgabe gescheitert. Mein Sonderauftrag lautete: Mit einer Kompanie von Pedanten einen mehrere Meter langen Ordnerschrank zu durchforsten. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass diese Vorgehensweise zu nichts führen würde. Also ließ ich meine Kollegen weiter jeden Beleg umdrehen, während ich mich intuitiv über das Zahlenwerk der Revisionsabteilung hermachte. Und siehe da: Die Obersheriffs hatten sich genau um 50000 verrechnet. Mein Abteilungsleiter klatschte sich vor Begeisterung auf die Oberschenkel. Welch eine Sternstunde! Schon lange hatte er sich gewünscht, die hochnäsigen Revisoren einmal in die Knie zu zwingen. Er beauftragte mich, ein Protokoll anzufertigen. Eine Kopie war für die Vorstandsetage bestimmt. Die Wirkung war verheerend, zumal mein Bericht in einem angemessen scharfen Ton abgefasst war. Die Obersheriffs, die mich kürzlich noch wegen der verschwundenen Tausend-Dollar-Note in die Mangel genommen hatten, mussten jetzt einzeln und in Gruppen die Missbilligung der Direktoren über sich ergehen lassen. Was mich betrifft, so waren die Finanzlenker aus der obersten Etage in einer misslichen Lage. Ich hatte das Ansehen der ehrwürdigen Revisionsabteilung beschmutzt. Sollte man mich unter irgendeinem Vorwand vor die Tür setzen? Das wagte man wohl nicht. Andererseits wollte man „Bombenleger“ (so bezeichnete mich später mein Chefredakteur) wie mich nicht länger dulden. Man entschied sich für eine Beförderung. Ich hatte fortan die Innenleitung einer Zweigstelle zu übernehmen. Nun war ich weit genug weg von der Hauptbank und konnte keinen Streit mehr in die Abteilungen bringen. Umstritten aber blieb das dritte Tor, das bei der VIII. Fußball-Weltmeisterschaft (Deutschland gegen England) am 30. Juli 1966 in London der englischen Nationalmannschaft gegeben wurde. War der Ball über der Linie?

 

Rissen, 19. Februar 2013 -18.50 Uhr

 

Ich habe meine „Erinnerungen“ mal für eine Weile ruhen lassen. Für eine lange Weile. Genau gesagt: für nahezu vier Jahre. Larysa und ich wohnen jetzt wieder in Hamburg – im schönen Stadtteil Rissen an der Elbe. Der Umzug wurde wieder einmal wegen der fachärztlichen Weiterbildung meiner Frau erforderlich. Und während sie sich in Hamburger Praxen den Feinschliff für ihre anstehende Karriere holte, mischte ich mich unter das Rissener Volk. In den ersten Monaten meines Neubürgertums machte ich mich im Kinderhospiz als freiwilliger Helfer nützlich. Dann trat ich in den hiesigen Bürgerverein ein und übernahm die Pressearbeit. Wenig später kaufte ich mir eine Gitarre und wurde Mitspieler einer neu gegründeten Rentnerband. Heute ist nichts von alledem übrig geblieben. Das Kinder-Hospiz und den Bürgerverein musste ich aus gesundheitlichen Gründen verlassen. Die Rentnerband hatte sich wegen unüberwindlicher Diskrepanzen selbst aufgelöst.

Die „gesundheitlichen Gründe“ haben ihre Wurzeln Anfang des neuen Jahrtausends. 2001 hatte in Alanya/Türkei, wo ich mehrere Jahre verbrachte (später davon mehr), ein Klinikarzt bei mir Prostatakrebs festgestellt. Das war dann auch der Grund, weshalb ich nach rund sieben Jahren die Türkei wieder verließ und mich bemühte, in Deutschland Fuß zu fassen. Inzwischen hat sich der Krebs in meinem Körper wohlig ausgebreitet. Einige vorwitzige Metastasen haben sich sogar in den Rippen festgesetzt, andere in der Wirbelsäule und im Becken. Dort verursachen sie Schmerzen, die mich von einigen liebgewordenen Aktivitäten abhalten. Selbst das Gitarrenspiel geht mir nicht mehr so leicht von der Hand. Diese Einschränkung ist schlimm für einen wie mich, der gern immer unter Strom stand, der die Pferde wechselte wie im Husarenritt, dem der Ortswechsel nicht das Geringste ausmachte, geschweige denn ein Wechsel in eine andere berufliche Laufbahn. Genau wie damals, als ich erkannte, dass ein Leben als Bankkaufmann nicht mein Innerstes erfüllte, als ich mich entschloss, von der Zahl zum Wort überzuwechseln.

 

 

Mein Leben ist nicht

die Zahl!

 

Die Idee kam nicht über Nacht. Der Wechsel war aber im Kopf wohl unbewusst schon lange vollzogen. Was mich zunächst noch daran hinderte, den Banker in mir so einfach auszuknipsen und in den Journalismus einzutreten, war meine Vorbildung. Die war doch von Kopf bis Fuß auf Wirtschaft eingestellt, wenn man mal von den mehr privaten Studien der Medizin absieht. Es bedurfte einer Initialzündung, um meine Zweifel auszuräumen und alle vermeintlichen Widerstände zu ignorieren. Und diese Zündung kam in Gestalt eines flämischen Autors. Was war geschehen?

 

Ich wohnte zu der Zeit bei einer „Wirtin Wunderlich“. Wir Untermieter nannten sie auch „Kognak-Jette“, weil sie ihr billiges Gesöff immer in Einwickelpapier beließ, um die Menge ihres Tageskonsums nicht preiszugeben. Zu ihren besonderen Eigenarten zählte auch der Umgang mit ihrem Rauhaardackel „Hexe“. Sie fütterte den armen Hund immer mit Dosenmilch und redete ihm ein: „Glaub mir, Hexe, wir leben kurz, aber gut.“ Sie wurde 96, der arme Hund nur schlappe fünf Jahre.

Nicht selten zu Besuch kam ihre Tochter aus Brüssel und deren Mann, der bereits erwähnte flämische Autor. Ich bewunderte diesen Mann, obwohl ich noch keine Zeile von ihm gelesen hatte.

Er wurde mir ein väterlicher Freund, der mich in alle Belange der Schriftstellerei einweihte. Schließlich machten wir uns gemeinsam an die Arbeit, die ersten Seiten seines neuesten Werkes ins Deutsche zu übersetzen. Er lieferte mir eine Stegreifübersetzung, ich verfeinerte und bastelte so lange an dem Text, bis die neue deutsche Fassung nach Inhalt und Atmosphäre der flämischen Urfassung entsprach. Es war ein Spaß ohne Ende. Doch dann näherte sich der Tag seiner Abreise. Mein Freund verpasste mir noch schnell einen Crashkurs in Flämisch, drückte mir ein Wörterbuch und ein Exemplar seiner Neuerscheinung in die Hand und wünschte mir „frohes Schaffen“. Wir schrieben das Jahr 1967. In Kapstadt pflanzte Professor Barnard einem Patienten das Herz einer tödlich verunglückten 25-jährigen Frau ein.

Nun saß ich Nacht für Nacht über meinem Manuskript und wog wie ein Apotheker Worte und Phrasen ab, um genau den Ton zu treffen, den der Autor beabsichtigt hatte. Eine mehr wörtliche Übersetzung wäre nicht schwer gewesen. Schließlich war ich im Emsland, nahe der niederländischen Grenze, aufgewachsen, wo Plattdeutsch und Niederländisch (was dem Flämischen sehr ähnlich ist) nahtlos zusammenfließen. Mein Ehrgeiz war grenzenlos. Ich wollte die Seele des Buches erreichen. Es gelang offenbar. Nach einigen vergeblichen Anläufen druckte eine Hamburger Zeitung die Übersetzung in Fortsetzungen ab. Das war die Initialzündung, die mein neues Lebensziel bestimmte und zu der Aussage führte: Mein Leben ist nicht die Zahl, sondern das Wort. Basta!

 

 

Hamburg UKE, 18. Februar 2014 –

13.25 Uhr

 

Ich habe meine Augen geschlossen. Die erste Neugier ist ja befriedigt. Fast bin ich – wie so oft – auf der harten Behandlungsliege eingenickt, in einem von Neonlicht durchfluteten Raum. Neben mir ein monströses Sonografie-Gerät. Das habe ich alles schon unzählige Mal zu Gesicht bekommen. Manchmal lag ich in der CT- oder MRT-Röhre. Dann wieder war Nuklear-Medizin angesagt und ich steckte in einem beängstigend engen Knochen-szintigrafen. Und immer dieses begleitende lähmende Unbehagen: Wie wird dieses Mal die Diagnose ausfallen? Sind weitere Metastasen hinzugekommen. Oder steht gar ein Super-Gau vor der Tür – die todbringende Metastasen-Explosion?

Eine sympathische weibliche Stimme weckt mich. Beim Öffnen der Augen gewahre ich, dass ihre Erscheinung ebenso sympathisch auf mich wirkt wie ihre Stimme. Es ist die Oberärztin, ein südländischer Typ mit feinen Gesichtszügen und dunklen Augen. Ich muss meinen Leib von der Hüfte bis zum Kinn freilegen. Dann fährt sie mit ihrem Gel-kalten Applikator über meine Haut. Sie sagt nicht viel. Aber was sie sagt, verwirrt mich. „Sie sind sehr schlank“, stellt sie fest, ohne den Blick vom Monitor wegzunehmen. Meint sie vielleicht meine Organe? Und dann völlig überraschend: „Welches Parfüm benutzen Sie?“ Ich will schon umständlich erklären, dass ich den Namen des Parfüms vergessen habe, da muss sie schon wieder etwas wissen. „Sind Sie eigentlich verheiratet?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: „Nach meiner Erfahrung benutzen verheiratete Männer kein Parfüm.“ Sie sagt das mit einer solchen Selbstsicherheit, die keinen Raum für eine abweichende Meinung zulässt. Außerdem habe ich das Gefühl, dass mich ihre dunkle Stimme etwas betäubt hat. Jedenfalls brauche ich einige Sekunden, um mich aus meiner selbst verordneten Defensive zu befreien. „Ich bin zum dritten Mal verheiratet“, stoße ich etwas überhastet hervor. Sie schweigt. Offenbar hat sie sich an meiner linken Niere dort auf dem Bildschirm festgebissen. Ist da etwa… Nein, nicht daran denken.

Dann wendet sie mir unvermittelt ihr schmales Gesichtchen zu und schüttelt leicht den Kopf. Sie sagt mit ihrer dunklen, emotionslosen Stimme: „Drei Frauen und ein fortgeschrittener Krebs. Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie das alles wirklich durchgemacht!“

Ich denke noch über den letzten Satz der attraktiven Oberärztin nach, während ich dem Ausgang der Klinik zustrebe. Was hat sie bloß für ein Frauenbild? Und was habe ich so Schreckliches durchgemacht? Während ich den Bus besteige, um nach Hause zu fahren, gehen meine Gedanken zurück in die 60er Jahre. Alles andere als „schrecklich“ waren die Anfangsjahre mit meiner ersten Frau. Sie waren eher ein einziger Rausch…

 

 

Die erste Ehefrau

und die wilden 60er Jahre

 

Ich zählte 26 Lenze und hatte eine junge Frau namens Christel kennen gelernt, mit der ich mein restliches Leben verbringen wollte. Was in solchen Fällen äußerst selten vorkommt: Meine Verwandten und Freunde rieten mir ab. Und zwar dringend. Begründung: Das seien zwei Welten, die nicht zusammenpassten. Meine damalige Freundin und heutige Exfrau (es folgten noch zwei weitere Ehen) ist nämlich gehörlos. Wir heirateten trotzdem. Ich machte mir nichts daraus, dass sie nicht hören konnte. Und sie störte keineswegs, dass ich gerade einen Bombenjob bei der Bank aufgegeben hatte, um Journalist zu werden. Diese erste Ehe war so ungewöhnlich wie mein ganzes Leben. Die Gehörlosigkeit meiner Frau bedeutete für mich keineswegs irgendeine Einschränkung in meinem Leben, sondern eher eine Bereicherung. Ich lernte die Gebärdensprache und stieß auf tausend Dinge, die ich früher nie beachtet hatte.

 

 


Gebärden-Theater mit Tochter Iris (links) und Ex-Ehefrau Christel mit einem Gehörlosen.

 

Ich hatte mich ohne große Erwartungen bei einer Hamburger Zeitung als Volontär beworben. Da ich kein Passbild zur Hand hatte, legte ich einfach ein Hochzeitsfoto bei. Die Sache schien ohnehin aussichtslos, also warum dann nicht einen kleinen Gag machen? Ich war ja nur einer von unzähligen Bewerbern, die alle sicher allerbeste Voraussetzungen mitbrachten. Aber den Zuschlag bekam ich.

Es war die Zeit der 68er, der Studentenunruhen. Ein Mordanschlag auf Rudi Dutschke, dem Vorsitzenden des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, wurde verübt. Meine Frau und ich schlossen uns einigen Redakteuren an und beteiligten uns an einem Sternmarsch auf Bonn, um gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu protestieren.

Mein Chefredakteur hatte kein Verständnis für solche „linken Spinnereien“. In der Redaktion gehörte ich einer Gruppe an, die gemäß dem damaligen Trend Radaktionsstatuten ausarbeitete. Das Ziel war das Mitspracherecht der Redakteure bei der inhaltlichen Gestaltung der Zeitung und bei Personalentscheidungen. Also so etwas wie ein Betriebsrat, der sich gegenüber irgendeiner Mediengewerkschaft verpflichtet fühlt. Natürlich wurde nichts daraus. Wie auch? Willi Brandt, der erste sozialdemokratische Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, brachte mit seiner sozial-liberalen Koalition nach Meinung des Chefs schon genug Unheil über die Republik.

Ich schrieb und schrieb. Recherchierte und schrieb. Über Goldene Hochzeiten genauso gewissenhaft wie über Kaninchenzuchtvereine und Schützenfeste. Alles ist wichtig, sagte ich mir. Nur nicht mehr zurück zu den seelenlosen Bankschaltern und Tresoren. Gierig wie ich war, sog ich tagtäglich mit großem Genuss die Atmosphäre rund um Redaktion und Setzerei in mich auf. Es war die Zeit, als die Buchstaben noch in Blei gegossen wurden, als Schriftsetzer an monströsen Maschinen saßen und Metteure neben Redakteuren die Seiten bastelten. Eine neue, faszinierende Welt hatte sich für mich aufgetan. Jede noch so nichtige Kleinigkeit hatte sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Jahrzehnte später war ich reif genug, mit dem nötigen Abstand dieses Milieu in einem Buch wiederzugeben. In dem Roman „Die 13 Tage nach der Hinrichtung“ verband ich selbst Erlebtes und Erdichtetes. Hier ein kleiner Ausschnitt…

Der sonst so stille und ernste Breitenbach begann zu toben, wenn manchmal Hunderte von Zeilen in den Bleiabfalleimer geschoben werden mussten. Und dann erst die Überschriften. Natürlich passten auch die nicht. Jeden Tag musste der arme Mensch zur Redaktion hinaufklingeln: „Herr Regenstein, Ihre Überschrift... wollen Sie eine andere Schrift oder einen anderen Text wählen?“ Nach einiger Zeit des stillen und lauten Grollens entschied der Metteur, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er berechnete anhand seines eigenen Typometers die Schriftgröße und änderte auch hier und da mal den Text ab. Das wiederum brachte ihn, Regenstein, in Rage. Seit wann griff ein Metteur in das Layout ein? Spielte sich als Redakteur auf? Er, Regenstein, durfte sich ja auch nicht erlauben, auch nur eine Zeile Blei anzufassen. Ein ungeschriebenes Gesetz!

 

Was war in dieser Zeit des Volontariats für mich herausragend? So paradox das klingt: Es war der Stress - oder besser: Eustress. Positiver Stress also, der nicht schadet, sondern beflügelt. Ich war nicht einen Tag krank, obwohl mein Arbeitstag in aller Frühe begann und erst gegen Mitternacht endete. Schon um 5 Uhr stand ich auf. Eine Stunde später saß ich am Redaktionstisch, redigierte, recherchierte, schrieb und schrieb. Ich wurde als „Feuerwehr" für Unfälle und andere Ereignisse eingesetzt. Gegen Mittag nach Andruck nahm ich größere Termine war. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich für Medizin Interesse zeigte. Ich musste wohl irgendeinem Kollegen mal anvertraut haben, dass ich einige Semester als Gast Medizin studiert hatte. Andererseits zeigte kein anderes Redaktionsmitglied die nötige Begeisterung, diesen Themenbereich abzudecken. Ich besuchte Pressekonferenzen von Ärzte- und Kassenverbänden, war auf Messen, Kongressen und Vorträgen. Nicht alles Dargebotene war mir verständlich. Ich hatte das Bedürfnis, noch tiefer in die Materie einzudringen. Und so meldete ich mich heimlich bei der Akademie für Naturheilkunde (Heilpraktiker-Fachschule) an. Es war eine Abendschule, die ich gerade noch mit meinem Tagesplan vereinbaren konnte.

Die Heilpraktiker-Schulen hatten damals keinen guten Ruf. Sie waren mehrheitlich kommerziell ausgerichtet und bildeten wie am Fließband aus, warfen jährlich Hundertschaften von Möchtegern-Medizinern auf den Markt und interessierten sich kaum dafür, ob die Prüfung vor dem Gesundheitsamt auch bestanden wurde. Bei meiner Akademie handelte es sich um eine staatlich anerkannte sogenannte Ergänzungsschule, die auch für Umschulungen vom Arbeitsamt oder von der Bundeswehr empfohlen wurde. Scheinbar hatte ich mit meiner Redaktionsarbeit, den vielen Terminen, der Abendschule und nicht zuletzt meiner Familie nicht genug „an den Hacken“. Ich ließ mich auch noch zum Pressesprecher der norddeutschen Heilpraktiker-Verbände wählen. Nach Beendigung meiner Volontärzeit stellte mich die Schulleitung als Dozent für die Fächer Anatomie, Neuraltherapie und Psychotherapie ein. Ich „tanzte“ also auf mehreren Hochzeiten.

 

 

 Rissen, 24. Februar 2014 –

19.10 Uhr

 

„Weiche, Wotan, weiche, flieh des Ringes Fluch!“, singt beschwörend die Gemahlin auf den Gottvater ein. Aber Wotan will sich vom Ring, auf dem ein fürchterlicher Fluch lastet, nicht trennen. Beide zerren wie wild an dem Hula-Hopp-Reifen. Diese kleine Szene, von halbwüchsigen Mädchen mit ausgebildeten Opernstimmen im Opernloft gespielt, erfreute auch meine Enkel Niki und Piet sowie Larysa und ihre Mutter Iryna, die bei uns für ein Vierteljahr einquartiert war. Wie vertraut waren mir all diese Szenen! Ich dachte unwillkürlich an Wolf, der mit mir Gesang studierte – auch noch bei demselben Gesangslehrer. Wagners „Ring des Nibelungen“ hatten wir oft gemeinsam besucht. Und nach der Vorstellung suchten wir nicht minder häufig den menschenleeren Stadtpark auf, um unsere Arien ungestört schmettern zu können. Dann sang ich nicht selten die romantische Siegmund-Arie „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ und Wolf, der „schwarze Bass“, irgendeine Wotanszene. Aber diese vier Mädchen, die Wagners 16-Stunden-Musikdrama auf 75 Minuten zum „Kleinen Ring“ für Kinder komprimiert hatten, erinnerten mich auch an jene Zeit, als ich selbst zum ersten Mal die „Bretter der Welt“ entdeckte. Damals wurde ebenso improvisiert, wie hier, wo ein bescheidenes Kinderzimmer die Kulisse für das weltgrößte Musikspektakel bildete. Ich dachte an unser erstes selbst gegründetes Theater. Ich erinnerte mich an die „Hamburger Sprech- und Gebärdenbühne“.

 

Die Hamburger Sprech-

und Gebärden-Bühne

 

Meine gehörlose Frau und ich hatten ein bundesweit (vielleicht sogar weltweit) noch nie da gewesenes Theater gegründet. Meine Familie zählte inzwischen fünf Personen. Es waren zwei Töchter und ein Sohn herangewachsen. Meine Frau begleitete die Kinder in der Vorweihnachtszeit in das eine oder andere Weihnachtsmärchen, ohne als Gehörlose selbst etwas von der Vorstellung zu haben. Das machte uns nachdenklich. Warum konnten beispielsweise gehörlose Kinder mit ihren zum Teil hörenden Familienmitgliedern nicht gemeinsam eine Theatervorstellung genießen? Die reinen Gehörlosentheater, wo nur gebärdet wurde, waren nichts für Hörende. Andererseits fanden Gehörlose keinen Genuss in der hörenden Theaterwelt. Es musste einen dritten Weg geben. Eine Idee wurde geboren: die totale Kommunikation. Lautsprache, Gebärde, Körpersprache, Pantomime, Musik und Tanz… Ja, das war es! Wir erlebten Jahre später, dass sogar ausländische Kinder, die noch kein Wort Deutsch sprachen, der Vorstellung ohne Schwierigkeiten folgen konnten. Aber zunächst mussten wir einen schwierigen Weg beschreiten. Es stellten sich nämlich keine Schauspieler zur Verfügung. Ihnen erschien die Aufgabe zu schwer. Und in der Tat: Was wir von den Schauspielern verlangten, war so etwas wie gleichzeitiges Seiltanzen, Jonglieren und Singen. Wir ließen uns nicht entmutigen. Nachdem wir wenigstens zwei Gehörlose für unseren Plan gewonnen hatten, besetzten wir alle anderen Rollen mit sämtlichen Mitgliedern meiner Familie. Wir führten das Grimm´sche Märchen „Rumpelstilzchen“ auf.

 

Was nach unserer Planung nicht mehr und nicht weniger als ein Versuchsballon sein sollte, machte bundesweit Furore. Wir konnten uns vor Terminen nicht mehr retten. Wir kauften uns einen Kleinbus - hinten die Kulissen, in der Mitte die Schauspieler und ganz vorn die Verantwortlichen. Jedes Wochenende waren wir in einem anderen Gehörlosenzentrum, sogar im deutschsprachigen Ausland. Der Bayrische Rundfunk strahlte in der Sendung „Sehen statt Hören“ einen Zusammenschnitt unserer Aufführungen aus. Es folgte das Kriminalstück „Mord in Ulm“ nach der gleichnamigen Romanvorlage. Weitere Grimm´sche Märchen wurden inszeniert, so „Der gestiefelte Kater“. Dann „Hänsel und Gretel“ nach Humperdinck mit viel Gesang und Tanz für die ganze Familie. Etwas ganz Besonderes stellten wir mit „Die Schöne und das Tier“ auf die Bretter. Es handelte sich hier um ein Märchenmusical mit selbst komponierten Liedern und Musikstücken. Der Kopf des Unternehmens war nach außen hin meine gehörlose Frau. Mir fiel der Rest zu. Ich schrieb die Texte, entwarf die Szenen, führte Regie, übernahm irgendeine Rolle und organisierte die Tourneen.

 

 


Die erste Produktion "Rumpelstilzchen" war auch

die erfolgsreichste. Hier Töchterchen Europa in der Titelrolle

 

 

Rissen, 27. März 2014 – 18.15 Uhr

 

Durch halb geschlossene Augenlider sehe ich die Pferdekoppeln vorbeifliegen. Endlich! Nächste Station Rissen. Auf der Stelle bin ich hellwach. Wie neu und unberührt kommt mir plötzlich alles vor. So, als sähe ich es durch frisch geputzte Brillengläser. Aber ich war doch nur zehn Tage weg. Noch wenige Minuten und ich bin zu Hause. Wie werde ich die Wohnung vorfinden? Der Aufbruch an jenem Sonntag war überaus hektisch gewesen. Zu lange hatte ich gebraucht, um meinen Kreislauf zu beruhigen. Um 4.47 Uhr fuhr die Bahn. Plötzlich musste alles ganz schnell gehen: Fenster zu, Heizungen runter, Herd aus… - Oh Gott, der Herd! Habe ich den Herd auch wirklich ausgedreht? Meine Gedanken eilen voraus. Schon biege ich bei Rossmann um die Ecke und blicke auf den Eingang Nummer 37. Nein, das kann nicht sein! Alle Etagen über meiner Wohnung sind eingestürzt. Meine Parterre-Wohnung – eine einzige rauch-schwarze Ruine. Beim Verlassen der S-Bahn werden meine Horrorvisionen von versöhnlicheren Gedanken abgelöst. Meine Betrachtungen streifen um die Gebäuden 5 und 8 der BioMed-Klinik in Bad Bergzabern. Die zehn Tage dort in der Pfalz haben mir einen Blick in eine unbekannte Welt gewährt. Klar, da war im Tagesablauf viel Vertrautes: Hyperthermie, Magnetfeld-Therapie, Sauerstoff. Und auch so etwas wie Meditation oder Töpfern. Aber diese unbekannten Welt, ja, das waren die Menschen. Krebskranke in einem weit, weit fortgeschrittenen Stadium. Aber auch mit einem großen Charakter und einer noch größeren Seele.

Das Briefkasten-Türchen klemmt. So viel Post ist da hineingestopft worden. Bevor ich die Wohnungstür aufschließe, atme ich einmal tief durch. Erleichterung. Es ist alles so, wie ich es hinterlassen hatte. In der Wohnung ist es nicht viel wärmer als draußen. Nachdenklich drehe ich alle Heizkörper auf und muss dabei unwillkürlich an Fabian denken. Der erst 19-jährige Schlacks mit der frühen Glatze hatte die ganze Nacht das Bett zerwühlt. Einen Tag vor meiner Abreise war er meinem Zimmer zugeteilt worden und hatte mir von seinen Schlafstörungen erzählt. Er wünschte mir zum Abschied „Frohe Ostern“ und eine erfolgreiche Therapie. Ich wünschte ihm das Gleiche und wies mit dem Kopf vielsagend auf seinen jungen geschundenen Körper. „Ja, danke“, beeilte er sich, „aber es gibt Schlimmeres.“ Dabei lächelte er etwas schief. War das nur so daher gesagt oder dachte der junge Mann wirklich, dass es noch etwas Schlimmeres als Lungenkrebs mit Hirnmetastasen gäbe?

Nach dieser mehr als zehnstündigen Bahnfahrt schrie geradezu alles nach einer Belohnung. Ich hatte schon den Schnellkocher in der Hand. Endlich „richtigen“ Kaffee trinken! Die kleine Küche war schon warm. Also schob ich die Post beiseite und trank meinen Kaffee gleich am Küchentisch. Renate. Eine ungewöhnliche Frau. Die bayrische Mittfünfzigerin mit den losen langen Haaren, einem schmalen, ernsten Gesicht, lässt ihre Augen oft recht schelmisch hinter randlosen Brillengläsern aufblitzen. Sie ist nicht böse, wenn man sie als „Rampensau“ bezeichnet. Ähnlich wie ich hat sie auf der Bühne schon so gut wie alles gemacht - sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Noch vor nicht allzu langer Zeit zog sie mit einem Soloprogramm durch die Gegend - als „Hexe Walpurga“.

Renate wurde nach der Diagnose Brustkrebs massiv von Lymphmetastasen heimgesucht. Nach einigen OPs hat sie die Notbremse gezogen. Jetzt lässt sie nichts mehr an ihren Körper heran – keine OP, keine Bestrahlung, nicht einmal Hormontherapie. Dafür kommt sie regelmäßig nach Bad Bergzabern und lässt die biologische Therapie über sich ergehen. „Ich will nicht an den Nebenwirkungen zerbrechen. Mein Körper gehört mir und ist kein Experimentierfeld für neugierige Ärzte.“ Wenn sie so spricht, wirft sie mit entschiedenem Schwung ihre langen Haare in den Nacken.

Auf dem Klinikgelände gibt es auch ein kleines Cafe´. Dort trafen sich manchmal einige Patienten von unserer Station. Marita, eine Frau mittleren Alters, war fast immer dabei. Eine erfrischend sympathische Frohnatur mit Pausbäckchen und großen Kinderaugen. Ihr Lachen war ansteckend. Aber während Renate dem Krebs in Augenhöhe zu begegnen schien, ihm Respekt zugestand und mit ihm so etwas wie ein Gentlemen-Agreement einzugehen beabsichtigte, ist Marita drauf und dran, den Bösewicht mit Stumpf und Stiel auszurotten. Auch sie steckt nach dem Brustkrebs voller Metastasen, insbesondere sind auch ihre Knochen befallen. Wenn sie mit dem vertrauten lachenden Gesicht erzählt, ist der feuchte Glanz in ihren Augen nicht zu übersehen.

Meine Frau Larysa hat mir inzwischen über Skype eröffnet, dass sie noch eine Woche länger in der Ukraine bleiben wird. Dann wird also auch in diesem Jahr keiner da sein, der mir beim Suchen der Ostereier hilft. Ich lasse das Badewasser ein und ziehe mich aus. Im Spiegel blickt mich ein müdes Gesicht an. Meine Augen bohren sich in das Spiegelbild. Ich trete näher heran, noch näher, bis nur noch die Augen da sind. Krebs! Im selben Augenblick habe ich die listigen Augen von Franz vor mir. Es war am Abend vor meiner Abreise. Sein faltiges Gesicht hatte er auf Schmunzeln geschaltet, als er mir seine Hand entgegenstreckte. Ich musste seinen Daumen mit allen Fingern umfassen und „melken“. Ich tat es. Das Schmunzel-Gesicht wechselte auf maßloses Erstaunen um. „Tatsächlich, Felix, du kannst melken“, stellte er fest. Spontan lud er mich zu sich auf die Schweizer Alm ein. Franz war zunächst der Meinung, er allein sei der Einäugige unter den Blinden. Seine Krebsgeschwulst am Darm sei doch total entfernt worden. Und keine Metastasen. Als er dann aber all die Geschichten vom erstmaligen Auftreten der Metastasen auch nach Jahren hörte, wurde der Almbauer sehr nachdenklich. Auch ich hatte in dieser Runde anfänglich das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören. Schließlich hatte ich doch „nur“ Prostatakrebs, ein möglicherweise sehr langsam wachsender… Als ich dann aber sah, wie viel leistungsfähiger andere Leidensgenossen waren, unübersehbar mehr Energie ausstrahlten, größeren Appetit entwickelten und offenbar weniger unter den Einschränkungen litten, blieb auch mir die Nabelschau nicht erspart. Erfolg und Misserfolg lagen ja so eng beieinander. Und am besten schnitten wohl noch jene ab, die sich als einmaliges Individuum begriffen und sich von niemandem einfach ein vorgefertigtes Therapiekonzept überstülpen ließen.

Ich liege inzwischen in der wohlig-warmen Badewanne und lasse meine Gedanken in eine Zeit zurückwandern, da ich ähnliche Gedanken über die Medizinwelt anstellte. Damals war ich ein frisch gebackener Medizinjournalist und hatte meine erste Feuerprobe zwischen Medizinkritik und Gewissen zu bestehen.

 

 

Die Medizinkritik

und das Gewissen

 

In meinem Arbeitsvertrag stand, dass ich überparteilich und objektiv zu berichten hatte. Die Gesundheitspolitik machte mir keine Schwierigkeiten. Anders war es bei meinen Artikeln über Leistungen und Errungenschaften der so- genannten modernen Medizin. Schon frühzeitig trug ich in mir ein ganz anderes Bild vom Beruf des Arztes. Lange Zeit bevor ich mein Studium der Naturheilkunde aufnahm, war für mich Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Der Arzt sollte kein „Gesundheitsingenieur", sondern ein Künstler (im besten Sinne des Wortes) sein. Als ich schließlich die Bestätigung aus der Jahrtausende alten Erfahrungsmedizin bekam, stieß ich in meiner Berichterstattung immer wieder auf innere Konflikte.

Dem journalistischen Grundsatz gehorchend, zumindest beide Seiten anzuhören, interviewte ich viele Patientinnen und Patienten. Da gab es todunglückliche Frauen, denen vorschnell die Brüste amputiert worden waren. Das war besonders tragisch, wenn sich nach der Operation herausgestellt hatte, dass der Tumor gutartig war. Da wurde sogar jungen Frauen vorsorglich die Gebärmutter entfernt, weil diese angeblich ein Krebsrisiko in sich trugen. In sehr vielen Fällen aber stellte sich heraus, dass angehende Gynäkologen lediglich bestrebt waren, für ihre Facharztausbildung eine bestimmte Anzahl von Operationen nachzuweisen. Da wurde allzu freizügig Antibiotika verabreicht, auch bei Kindern, mit all den unkalkulierbaren Folgen für den heranwachsenden Menschen. Das ganze System der Symptomunterdrückung machte mir zu schaffen. Fiebersenkende Pillen statt Wadenwickel, chemische Abführmittel statt Einläufe oder Ballaststoffe. Was ich vermisste (und eigentlich heute immer noch vermisse) ist der Mut zur Heilung, die ganzheitliche Betrachtung des Menschen und der Versuch, die Symptome aufzulösen, statt sie zu unterdrücken. Wer handelte eigentlich noch nach dem Eid des Hippokrates, den die Ärzte auch heute noch ablegen und der verspricht, in erster Linie dem Patienten nicht zu schaden.

Meine Berichte fielen entsprechend aus. Zwar war ich bestrebt, den Ärztestand nicht pauschal zu verurteilen, wie es seinerzeit der Chirurg Professor Hackethal in seinen Büchern tat, bremste aber doch unüberhörbar die meiner Meinung nach sehr naive Fortschrittsgläubigkeit meiner Leser.

Es kam der Tag, an dem ich mich von denen examinieren lassen musste, die ich ein Jahrzehnt lang kritisiert hatte. Das Hamburger Gesundheitsamt hatte sich auf Tag und Stunde festgelegt. Es gab kein Zurück mehr. Ich bekam die Chance, die Approbation ohne Bestallung, wie die Heilpraktiker-Zulassung offiziell heißt, zu erwerben. Zu meinem Schrecken sickerte kurz vor dem großen Tag aus internen Kreisen die Nachricht durch, dass der Prüfer der Inneren Medizin all meine Artikel gesammelt hatte.

Und da saß ich nun in dem unpersönlichen Behördenraum. Vor mir ein altmodisches, ein leicht quietschendes Tonbandgerät mit Mikrofon. Das Ganze erinnerte mich ein wenig an die Nachrichtensprecher früherer Jahre. Das gab ich dann auch zum Besten, stieß jedoch nur auf eisiges Schweigen. Ich war auf das Schlimmste gefasst. Zu meiner maßlosen Überraschung jedoch lockerten sich plötzlich die Gesichtszüge des Hauptprüfers. Er nickte mir freundlich zu und lächelte dabei süffisant: „Herr Bendig? Das sind Sie doch, ja… Sie sind also der Meinung, man könne auf uns Ärzte getrost verzichten.“ Das saß wie ein Keulenschlag. Ich war ganz benommen. Nein, beteuerte ich überhastet, so etwas sei zu keiner Zeit aus meiner Feder gekommen. Und überhaupt, in akuten Fällen habe der Arzt immer noch seinen Platz…

Ich merkte zu spät, dass ich alles noch viel schlimmer machte. Der Prüfer winkte ab. Man wolle jetzt sehen, was ich drauf habe. Die Auswahl der Fragen war entgegen meinen Erwartungen fair. Zwar konnte ich nicht alles erschöpfend beantworten, aber das war auch gar nicht nötig. Problematisch wurde es bei den Infektionskrankheiten. Eine etwas betagte mausgraue Amtsärztin hatte sich regelrecht festgebissen. Ihre Fragen waren so unglücklich formuliert, dass ich oft gar nicht verstand, was sie von mir wollte. Schließlich ließ sie erschöpft von mir ab. Ich hatte bestanden.

Im gegnerischen Lager hatte ich einen einzigen Fan - meinen Hausarzt. Er war naturgemäß nicht mit allem einverstanden, was ich schrieb. Vieles jedoch fand seine Zustimmung. So hatte er - als er einen meiner flammenden Berichte über die Zustände in den Arztpraxen gelesen hatte - in seiner Praxis die Terminvergabe eingeführt, was in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit war. Für jeden Patienten nahm er sich wenigstens eine Viertelstunde Zeit. Immerhin. Und dann lud er mich sogar zu einem ausführlichen Gespräch nach Praxisschluss ein.

Genau wie auf dieser Kanone fühlte ich mich,

wenn ich meinem Leben wieder einmal eine neue Wende gab.

 

Dieses Gespräch sollte meinem Leben erneut eine Wende geben. Ohne seine Schweigepflicht zu verletzten, berichtete mir der Mediziner über interne Situationen, warb um Verständnis für die Zwänge, die auf ihm und seinen Kollegen tagtäglich lasteten.

„Manchmal möchte ich alles hinschmeißen. Es macht einfach keinen Spaß mehr.“ Das waren ganz neue Töne in einer Zeit, da man Mediziner als „Götter in Weiß" bezeichnete und hinter vorgehaltener Hand darüber rätselte, ob sich Ärzte überhaupt noch standesgemäß fühlten, wenn sie nicht wenigstens ein zweites Feriendomizil besaßen. Mein Hausarzt zählte nicht zu den Auserwählten der Arzneimittelindustrie. Er verordnete nicht, was ihm Pharmareferenten diktieren wollten und beugte sich schon gar nicht dem Willen seiner Patienten. Letzteres war seine eigentliche Sorge. „Die Patienten kommen mit ausgeschnittenen Zeitungs- oder Zeitschriftenartikeln und verlangen, dass wir Ärzte dieses oder jenes verschreiben sollen. Nun frage ich Sie, habe ich dafür so viele Jahre studiert?“ Ich solle mir auch mal ernsthaft überlegen, ob ich mit meinen Artikeln das erreichen könnte, was ich bezweckte. „Schreiben Sie nicht nur, handeln Sie - oder besser: Behandeln Sie. Geben Sie nicht nur Ratschläge, sondern machen Sie es besser!“ Ich hörte da einen fast unfreundlichen Unterton heraus. Ich hatte das Gefühl, mich wehren zu müssen. Zum Wohle der Patienten sei zu allererst eine echte Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Heilpraktikern nötig. In den Statuten der Ärzteorganisationen sei aber von einem strikten Verbot die Rede, warf ich ein. „Was kümmern mich die Statuten“, regte er sich auf. „Lassen Sie sich als Heilpraktiker nieder und ich, wie auch meine Kollegen, werde mit Ihnen zusammenarbeiten.“

Ich ging an diesem Abend sehr nachdenklich nach Hause. Der Arzt hatte mir einen Floh ins Ohr gesetzt.

Eigentlich hatte ich doch Naturheilkunde studiert, um meine Berichte fundierter abfassen zu können. Jetzt aber war die Versuchung groß, wieder einmal den Beruf zu wechseln, zumal ich die Approbation schon in der Tasche hatte. Und dann dieses Angebot meines Hausarztes, der einen großen Einfluss auf seine Kollegen hatte. Mir war bis dahin kein einziger Hamburger Stadtteil bekannt, in dem Ärzte mit Heilpraktikern zusammenarbeiteten. Ich musste erst mal einige Nächte darüber schlafen.

Es war die Zeit, als der deutsche Film am Boden lag. Hardy Krüger senior, den ich seinerzeit interviewte, antwortete auf die Frage, was er vom deutschen Film halte: „Man soll ein krankes Pferd nicht auch noch schlagen!“ Ein Repräsentant des damaligen Films war Theo Lingen. Sein Tod am 10. November 1978 ging mir doch sehr an die Nieren. Ich hatte über ihn immer herzlich gelacht.

 

 

Rissen, 1. Oktober 2014 - 18.30 Uhr

 

Der Anruf kam am frühen Abend. „Sie müssen wieder in die Klinik. Ihre neutrophilen Granulozyten sind lebensgefährlich abgestürzt!“

Es dauerte eine Weile bis ich mitbekam, dass mein Urologe höchstpersönlich in der Leitung war.

Nach der unseligen Chemotherapie, die mir tagelange Herzrhythmusstörungen und ununterbrochenes Kotzen beschert hatte, nun auch noch diese „Zugabe“ mit der umgekehrten Isolierung. Ja, umgekehrt. In diesem Fall musste ich mich vor dem Krankenhauspersonal schützen und nicht umgekehrt, wie im Normalfall. Es war ein bisschen wie Ebola im Fernsehen. Wer mein Zimmer betrat, musste sich den Raumanzug überstülpen. Und da das offensichtlich Mühe machte, ließen sich die vermummten Gestalten nur zu den Mahlzeiten blicken.

So hatte ich viel Zeit zum Grübeln, Abwägen und Analysieren. So wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich austherapiert war. Natürlich. Nach der mehr als zehn Jahre langen antiandrogenen Therapie, die jetzt nicht mehr wirkte und der abgebrochenen Chemotherapie geht nichts mehr. Rien ne va plus. Da hatte ich doch – ohne weiteres Nachdenken – in all meinen Buchlesungen dem aufgekratzten Publikum die Frage gestellt: „Was passiert mit mir, wenn ich austherapiert bin?“ Und prompt kamen Zwischenrufe wie „Ganz genau!“ oder „Möchte ich auch mal wissen!“

In der Gestalt des gerissenen Titel- und Themenhändlers hatte ich mich zuvor über die Machenschaften der Pharmaindustrie ausgelassen. Und zu guter Letzt machte ich in diesem selbstgeschriebenen Sketch Vorschläge für die weitere Verwendung des Austherapierten: Starkstromprüfer, Einsatz zur Belebung der Fußgängerzonen, Testpuppe für Sicherheitsgurte oder Organspender für Kassenpatienten. Ja, das hatte ich alles in meinem Angebot.

Heute, da ich selbst betroffen bin, will ich natürlich nichts mehr von meinem einstmaligen Bühnengeschwätz wissen. Im Übrigen bin ich sogar der Meinung, dass es streng genommen das Austherapiert-Sein gar nicht gibt. Allenfalls noch aus der Sicht der Schulmedizin. Ich denke mal: Solange man atmet, gibt es immer noch eine Möglichkeit. Gesetzt den Fall, man peilt nicht unbedingt die vollständige Heilung an. Die Schulmedizin hat sich von diesem Ziel sowieso meistenteils verabschiedet. Wer aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist bestenfalls „gebessert“. Und das auch nur, wenn er großes Glück hat.

Inzwischen bin ich wieder zu Hause. Bei mir ist nicht einmal das Fazit „gebessert“ angebracht. Mir ist, als bestünde ich aus drei Personen: Aus einem in sich gekehrten Grübelnden, aus einem sehnsüchtig zurück Blickenden und einem, der die beiden anderen beobachtet. Da kommt der Grübelnde zu der Erkenntnis: Die Chemotherapie ist der größte Irrtum dieses und des vorigen Jahrhunderts.

Laut einer Langzeitstudie des Krebsregisters der Universitätsklinik München profitierten nur zwei Prozent von dieser Behandlung. Wer also auf diese Therapie verzichtet, schafft spielend die Überlebensrate von fünf Jahren und erspart sich die ganze Quälerei. So jedenfalls die Studie. Nicht ermittelt ist, ob Patienten ohne Chemo möglicherweise sogar länger gelebt hätten.

Mir ist noch die Bemerkung des Leiters der Gynäkologie der Universitätsklinik Eppendorf, Professor Klaus Thomson, im Ohr. Auf einem Ärztekongress sagte er: „Es sollte uns nachdenklich stimmen, wenn eine zunehmende Zahl von Ärztinnen und Ärzten sagt: „An mir würde ich keine Chemotherapie vornehmen lassen.“

Trotzdem wird auf dieser Schiene immer weiter gemacht. Man hofft, den Krebs schneller mit dem Gift zu töten, als den Patienten, was selten gelingt. Schon vor zehn Jahren nannte der SPIEGEL in einem Artikel die Chemotherapie eine „Giftkur ohne Nutzen“. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass der eine oder andere Patient trotz Chemo überlebt hat. Allerdings mit bleibenden Langzeitschäden. So hat eine US-Studie nachgewiesen, dass einige Zellgifte die Nervenzellen (und damit das Gehirn) stärker schädigen als den Krebs. Wie auch immer: Ich bin heilfroh, dieser Quälerei entronnen zu sein.

 

Meine schlaflosen Nächte Anfang der 80er Jahre waren nicht minder eine Quälerei. Mein Hausarzt hatte mir da einen Floh ins Ohr gesetzt. Wie sollte ich mich entscheiden? Sollte ich eine Naturheilpraxis eröffnen?

 

 

Sollte ich eine

Naturheilpraxis eröffnen?

 

Noch war ich unschlüssig. Ging es doch wieder einmal darum, einen absolut sicheren Arbeitsplatz gegen einen höchst umstrittenen einzutauschen. Mein Platz in der Redaktion war gefestigt. War er aber auch Erfolg versprechend? Als Ressortleiter hatte ich die oberste Sprosse erreicht. Mein Chefredakteur war noch zu jung, um abgelöst zu werden. Immer wieder ging ich mit mir zu Rate, verlängerte mein Zaudern und Zögern, schob immer wieder die Bedenkzeit hinaus. Eines Morgens wachte ich mit einem Entschluss auf. Ja, ich wollte dieses Wagnis eingehen - dieses kühne Unterfangen, die ruhigen und sicheren Gewässer des Angestelltenverhältnisses zu verlassen, um in die Wildwasser der Selbständigkeit einzutauchen. Unverzüglich teilte ich dem Chef mein Vorhaben mit. Es war unmittelbar nach einer dieser endlosen Redaktionskonferenzen. Die Kollegen waren schon gegangen. Auch mein Chefredakteur wollte sich flüchtig von mir verabschieden, stoppte jedoch im Wegdrehen plötzlich seinen Schritt und wendete mir sein Gesicht zu.

„Stimmt etwas nicht, Herr Bendig?“ - „Ich muss Sie kurz sprechen.“ - „Können wir das nicht besser…“ - „Nein, ich habe eine Entscheidung getroffen.“

Der Redaktionsleiter und ich setzten uns. Ohne Umschweife kam ich zur Sache. „Ich will die Redaktion verlassen, um eine Naturheilpraxis zu eröffnen.“ Rumms. Jetzt war es heraus. Ich fühlte mich erleichtert, ja, befreit nach den nicht enden wollenden Tagen der Unentschlossenheit. Mein Chef schaute mich erst etwas verwirrt an, dann verzogen sich seine Gesichtszüge zu einem verschmitzten Grinsen, schließlich schlug er sich auf die Oberschenkel und ließ ein schallendes Gelächter hören. „Ach, Herr Bendig, Sie machen schon wieder Ihre Witze. Und ich dachte schon, es sei etwas Ernstes…“ Auf diese Reaktion war ich nicht vorbereitet. Zuerst erschrak ich, dann wurde ich sogar ärgerlich. Noch rechtzeitig besann ich mich: Wie hätte er auch anders reagieren können? Er war doch nicht einmal darüber im Bilde, dass ich dreieinhalb Jahre lang neben der Redaktionsarbeit auch noch die Abendschule besucht hatte. Und natürlich wusste er auch nichts von meiner bereits erworbenen Approbation. Ich füllte sein Informationsdefizit auf und berichtete im Telegrammstil. Seine Verblüffung war echt. Dann kam so etwas wie Zorn in ihm hoch. „Nein, nein, so geht das nicht, Herr Bendig! Sie hätten mich von Anfang an informieren müssen. Oder wissen Sie etwa nicht, dass wir laut Arbeitsvertrag auch über ihre Freizeit verfügen können.“ Er redete sich noch eine Weile in Rage. Dann endlich gab er mir Gelegenheit, auch etwas dazu zu sagen. Es sei von Anfang an nicht meine Absicht gewesen, die Redaktion zu verlassen, versuchte ich mich zu verteidigen. Der Besuch der Akademie habe ausschließlich dem Ziel gedient, mich in meiner Tätigkeit als Medizin-Journalist zu vervollkommnen. „Oder hatten Sie zu irgend einem Zeitpunkt das Gefühl, dass ich nicht meine volle Arbeitskraft der Redaktion zur Verfügung gestellt habe?“ Er zögerte ein wenig, ließ mich eine Zeitlang zappeln. Dann gab er unumwunden zu, dass er nichts vermisst hatte. Unser Abschied fiel etwas frostig aus. Am nächsten Tag diktierte er der Redaktionssekretärin ein hervorragendes Zeugnis. Leider fand ich dafür keine Verwendung. Von nun an hatte mich keiner mehr zu beurteilen. Jetzt war ich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zugleich.

Geeignete Praxisräume fand ich in einem Bankgebäude, in der zweiten Etage ohne Fahrstuhl. Für ältere Patienten ein Nachteil. Vorteilhaft war andererseits die zentrale Lage. Auf dem Flur waren Toiletten für die Bankbediensteten, die auch ich und meine Patienten benutzen durften. Ein Zustand, der sich noch als verhängnisvoll erweisen sollte.

Unterdessen - es war der 13. Januar 1980 - konstituierten sich die Grünen auf dem Bundeskongress in Karlsruhe als Bundespartei. Drei Monate später sollte Beatrix als Königin der Niederlande gekrönt werden.

Wenn ich mal von den Toiletten außerhalb der Praxisräume absah, so konnte ich mit den Räumen sehr zufrieden sein. Die gebrauchten Möbel, die ich mir nach und nach zulegte, passten ausgezeichnet zu den hohen Räumen mit Stuck und großen Fenstern mit Blick auf die Fußgängerzone. Schon bald redete ich mir ein, dass es durchaus kein Nachteil sei, wenn mich Patienten erst nach verbissenem Treppensteigen erreichen konnten.

Natürlich hatte ich in den örtlichen Zeitungen das Ereignis angekündigt: Eröffnung einer Naturheilpraxis. Als der große Tag gekommen war, fand ich mich deutlich früher in der Praxis ein, ordnete noch einmal die Instrumente und wartete. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Es klingelte im Fünf-Minuten-Takt. Aber es kündigten sich keine Patienten an, sondern Blumen. Die acht umliegenden Apotheken hatten sich gegenseitig in der Größe der Gestecke übertroffen. Ich war vollauf mit dem Lesen der Glückwunschkarten beschäftigt, als ich plötzlich stutzte. „Sehr geehrter Herr Kollege…“ las ich da. Aber es war kein Heilpraktiker, der da schrieb, sondern ein Arzt. Ein stadtbekannter Urologe. Auch ein Chirurg und ein Masseur beteiligten sich an der Glückwunschorgie. Meine Praxis glich einem Blumenladen. Wo blieben aber die Patienten?

Und dann kam tatsächlich die erste Patientin. Eine Mittfünfzigerin in Begleitung ihrer Mutter, die so um die 80 gewesen sein muss. Beide standen mit hochrotem Kopf vor meiner Tür, rangen nach Luft nach dem anstrengenden Treppensteigen und stützten sich auf ihre Gehhilfen - die jüngere auf zwei, die ältere auf eine. Die Tochter hatte seit ihrer Kindheit eine ausgeprägte Poliomyelitis (Kinderlähmung). Natürlich war ihr klar, dass das chronische Leiden von mir nicht einfach so zu beseitigen war. Sie suchte nach einem Weg, das Fortschreiten der Krankheit zu stoppen. Während die Frauen ihre Garderobe ablegten, schoss es mir blitzartig durch den Kopf: Das also sind deine zukünftigen Patienten - die schwersten der schweren Fälle. Und bei längerem Nachdenken kam mir das sogar logisch vor. Mit leichten Zipperlein geht man ja kaum zum Arzt, geschweige denn zum Heilpraktiker. Patienten wie diese haben schon unzählige erfolglose Arztbesuche hinter sich, bis sie sich zu dem Entschluss durchringen, es einmal bei einem Heilpraktiker zu versuchen. Der steht dann oft - wie ich sehr viel später erkannte - vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Patienten kommen (den ständig wiederkehrenden Bescheid der Ärzte „Damit müssen Sie leben“ noch im Ohr) zum Heilpraktiker und setzen ihm geradezu die Pistole auf die Brust: „Wenn Sie mir nicht helfen können, mache ich Schluss!“

 

Frau Adelheid F. sagte so etwas nicht. Stattdessen legte sie mir einen umfangreichen Aktenordner mit Arztberichten und Röntgenaufnahmen auf den Schreibtisch. Da sich zunächst kein weiterer Patient angesagt hatte, nahm ich mir viel Zeit, alles an Ort und Stelle zu studieren. Den Frauen stand die Freude darüber im Gesicht geschrieben, dass sich jemand so viel Zeit nahm. Wie alle meine Kollegen ging auch ich in der Diagnose über das Übliche (klinische Diagnostik) hinaus und setzte einige verlässliche Außenseitermethoden ein. Die Irisdiagnose verriet mir, dass es sich bei Frau F. um einen katarrhalisch-rheumatischen Konstitutionstypen handelte. Die Segmentdiagnose ergab neben schmerzhaften Stellen an bestimmten Hautzonen, die mit inneren Organen „korrespondieren“ (Head´sche Zonen), dass offenbar noch eine Einschränkung der Nierenfunktion vorlag. Was tun? Was den Bewegungsapparat betrifft, so standen die Baunscheidt-Methode und die Akupunktur bereit. Alles andere besorgte die Ausleitungsmethode nach Aschner. Frau Adelheid F. gehörte zu den wenigen Patienten, die über ein Jahr lang regelmäßig meine Praxis aufsuchten. Als sie schließlich wegblieb, traf ich sie nach einigen Wochen in der Fußgängerzone. Sie trug in jeder Hand eine Einkaufstasche. Die Gehhilfen hatte sie zu Hause gelassen.

Die Praxis kam erfreulicherweise sehr gut aus den Startlöchern. Nach drei Wochen war die Welle der Neugierigen abgeebbt. Wer jetzt kam, hatte schon eine Empfehlung in der Tasche. Zumeist rückten Familienmitglieder nach, sodass ich nach und nach ganze Familienklans behandelte.

80 Prozent meiner Patienten waren Frauen. Die meisten davon hatten nur geringe körperliche Beeinträchtigungen, dafür umso mehr seelische. Anfang der 80er Jahre registrierte ich, dass ein bestimmter Typ von Patientin in meiner Praxis ein- und ausging: Die Mittfünfzigerin mit ausgeprägter Hausfrauendepression: Die Kinder waren schon aus dem Haus, der Ehemann ging fremd oder war bereits von ihr geschieden. Keine Aufgabe, keine Perspektive, kein Lebensmut. Allein Gespräche und Entspannungstherapien waren hier unzureichend. Ich erinnerte mich einer Methode, die in jener Zeit offenbar aus Amerika herüber gekommen war und der ich den Namen „Märchenprinz“ gab.

„Stellen Sie sich vor“, so begann ich das Gespräch mit der Patientin, „ich bin der Märchenprinz, der Ihnen zehn Wünsche erfüllen kann.“ Die Patientin hatte eine Wunschliste anzufertigen, und zwar in aller Ausführlichkeit. Die wichtigen Wünsche ganz nach oben, die weniger wichtigen weiter unten. Diese zehn Wünsche mussten jeden Tag überarbeitet werden. Weniger Bedeutendes sollte durch Neues, das spontan in den Sinn kam, ergänzt werden. Natürlich funktionierte das selten auf Anhieb. Gesetzt den Fall, die Patientin ließ sich überhaupt auf das „alberne Spielchen“ ein, so las ich zu allererst Wünsche, von denen andere profitierten: die Kinder, die Enkel, die Mutter usw. Das überraschte durchaus nicht. Depressive haben keine Wünsche. Ihre Welt ist mit Brettern vernagelt. Sie haben sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, können sich und andere nicht leiden und wollen sich dadurch bestrafen, dass sie sich kein Wünschen, kein Wollen, keine Perspektive gönnen. Und in dieser Situation kam ich daher und versuchte, ihnen Wünsche zu entlocken. Wie zu erwarten war, erntete ich nur böse Bemerkungen, Hohn und Spott. Aber ich ließ nicht locker. Ich wusste ja, welcher Ernst hinter dieser Methode steckt. Ein Mensch, der sich tagtäglich mit seinen Wünschen beschäftigt, auch wenn es sich anfänglich nur um die vordergründige Formulierung dieser Wünsche handelt, erzeugt im Unterbewusstsein Bilder, legt längst verschüttete Gefühle frei, die sich selbständig machen. Diese Verselbständigung führt allmählich dazu, dass die Wünsche immer konkreter werden, immer näher an das eigene Ich rücken und so einen gesunden Egoismus erzeugen, der vollkommen verloren gegangen war. Diese Patientinnen litten nicht mehr darunter, dass sie nicht mehr - wie früher - nur für andere da sein konnten. Die zunächst widerwillige Beschäftigung mit der Wunschliste geriet unmerklich von der Passivität in die Aktivität. Das Unterbewusstsein beschäftigte sich jetzt nicht mehr nur mit den Wünschen selbst, sondern mit der Möglichkeit der Verwirklichung. Man konnte mit Erstaunen die gewaltigen Veränderungen auf den Wunschlisten ablesen. Die Wünsche waren jetzt sehr persönlich, ursprünglich, ja, geradezu utopisch. Längst vergrabene Träume waren wieder hochgespült worden. „Ich möchte einmal mit den Schaustellern mitziehen“, „Tiere im Zoo pflegen“, „...einmal auf der Bühne stehen“, war da zu lesen.

Vielen meiner Patientinnen konnte ich einen Job vermitteln, in dem sie ihre Träume auslebten. Schon bald war ich in meiner Praxis nicht mehr allein. Die Heilpraktiker-Anwärter/innen, die meinen Vorlesungen lauschten, hatten natürlich mitbekommen, dass ich eine Praxis eröffnet hatte. Also bewarben sie sich um ein Praktikum.

Ich übte mehrere Berufe nebeneinander aus.

 

Der Ansturm war so groß, dass sie sich in eine Warteliste eintragen mussten. Der erste Praktikant wollte in meiner Praxis sein Wissen, das er sich in meinen Vorlesungen über Neuraltherapie erworben hatte, nun in der Praxis unterfüttern. Eine darauf folgende Praktikantin war ganz besessen darauf, die Blutegelbehandlung direkt am Patienten zu erleben.

Ich weiß nicht mehr, ob mir diese junge Dame besonders sympathisch war? Jedenfalls intensivierte ich ihr zuliebe die Blutegelbehandlung in meiner Praxis. Dabei taten sich mir ganz neue Horizonte der Naturheilkunde auf. Und was noch bemerkenswerter war: Mein beruflicher Werdegang bekam abermals eine neue Richtung.

 

 

Rissen, 21. November 2014 – 8.22 Uhr

 

Heute ist Alltag. Ein Tag wie der ganze zurückliegende Rest. Man steht früh auf – heute schon um 5.30 Uhr. Und das hat ausnahmsweise nichts mit „seniler Bettflucht“ zu tun. Wenn ich nämlich einigermaßen gut drauf bin, lasse ich es mir nicht nehmen, meiner Frau das Frühstück ans Bett zu bringen. Gut. Wenn Larysa dann gegen 7 Uhr das Haus verlassen hat, spule ich mein Programm ab: Ein bisschen schreiben, abwaschen, saubermachen, Essen vorbereiten… Ich weiß nicht, ob man bei diesen Zeilen schon meine Unzufriedenheit herausliest. Ich hatte mich eigentlich nie mit der Rolle des Hausmanns anfreunden können.

Manchen Tags, wenn meine Frau nicht aus dem Bett finden wollte und scherzhaft vorschlug, ich solle für sie in die Praxis fahren, dann jubelte ich ihr oft ein begeistertes Ja entgegen. Dann dachte ich an meine Praxis von damals, an den Spaß, an die Abwechslung, die ich hatte. Dann dachte ich wohl auch an jenen Tag, an dem die vermeintlich abgetöteten Blutegel sich aufmachten, schreienden Sekretärinnen ins pralle Hinterteil zu beißen.

 

 

 

Blutegel aus der

Kanalisation?

 

Sie hieß Geraldine L. und hatte einen Dickschädel, den man ihrer eher zierlichen Erscheinung nicht zutraute. Und da ich auch einen Dickschädel hatte und noch heute habe, gerieten wir immer wieder aneinander. Das tat aber der Sympathie füreinander keinen Abbruch. Wir diskutierten einfach gern und oft und leidenschaftlich. Zu meinem Leidwesen konnte sie ihre gelegentlichen Einwände auch im Beisein von Patienten nicht verbergen, was dann anschließend dazu führte, dass ordentlich die Fetzen flogen. Aber dennoch: Wir waren ein eingespieltes und nach unserer Selbsteinschätzung auch ein unschlagbares Team. Frau L. blieb nicht nur meine Dauerpraktikantin, sie hielt mir auch die Treue, als sie selbst ihre Approbation hatte. Die Praxis war gut bis sehr gut ausgelastet, sogar in den Abendstunden. Natürlich war auch meiner Ehefrau Christel die neue Assistentin nicht verborgen geblieben. Und die Arbeit bis in die Abendstunden nährte bei ihr den Verdacht, ich könnte etwas mit dieser Frau haben.

Als ich diesen Verdacht zum ersten Mal aus ihrem Mund hörte, war ich so überrascht, dass sie meine Reaktion so auslegte, als hätte sie mich ertappt. Meine maßlose Überraschung rührte aber daher, dass ich nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, in Geraldine L. etwas Anderes zu sehen als eine überaus fleißige Praktikantin. Es war immer eine Freude anzusehen, wie sie mit bloßen Händen die Blutegel aus dem Bottich nahm und direkt auf der Haut des Patienten ansetzte. Wie sie nach der allerletzten Behandlung ganz selbstverständlich nach den Buchführungsunterlagen griff und sich darüber hermachte.

Schon lange wendeten wir die Blutegelbehandlung nicht mehr nur bei Durchblutungsstörungen und Krampfadern sowie Entzündungen an. Als Medizinjournalist hatte ich ständig die Hand am Puls der aktuellen Medizinforschung. Meine neue Assistentin hingegen studierte die Aufzeichnungen bekannter Naturärzte, die private Forschungen in ihren Praxen betrieben. Bekanntes und Neues führten wir so zusammen und schlugen neue Wege in unserer Behandlung ein.

Es war aber auch die Zeit, in der ich großen Belastungen ausgesetzt war. Nach wie vor war ich ja auch noch als Dozent tätig, schrieb Artikel als freier Medizin-Journalist und betrieb das Familientheater „Hamburger Sprech- und Gebärdenbühne“. Jeden Tag mussten meine verschiedenen Tätigkeiten neu koordiniert und unter einen Hut gebracht werden.

In dieser Zeit unterlief mir auch mein erster Fehler. Wie jeden Abend war meine Assistentin mit der Buchführung beschäftigt, während ich die letzte Patientin verabschiedete und damit begann, die Praxis für den nächsten Tag herzurichten. Dazu gehörte auch das Abtöten der zuvor angesetzten Blutegel. Da die prall mit Patientenblut gefüllten Egel möglicherweise Krankheitserreger in sich tragen, dürfen sie nicht in der Natur ausgesetzt werden. Ich griff an diesem Tag offenbar an der Spiritusflasche vorbei und benetzte die Egel wohl mit einprozentigem Procain, welches ich für die Neuraltherapie benötige. Damit wurden die Blutegel allerdings nur leicht betäubt, dachten jedoch im Traum nicht daran, ihren Geist aufzugeben. Auch an diesem Abend wurden die vermeintlich toten Tiere in den Etagentoiletten entsorgt. Diese wurden besonders in den Abendstunden auch von den Sekretärinnen der benachbarten Büroräume der Bank benutzt.

Ich hörte nur einen markerschütternden Schrei. Frau L. ließ vor Entsetzen den Schreibstift fallen. Fast gleichzeitig rannten wir zum Flur und sahen noch, wie aus zwei Toiletten Frauen mit halb heruntergelassenen Röcken herausgeschossen kamen und in ihre Büros flitzten.

Mir war sofort klar, dass die Blutegel offenbar Procain abbekommen hatten und deshalb nicht besonders beeindruckt waren. Sie waren wohl nach dem Spülvorgang seelenruhig, eine breite Blutspur nach sich ziehend, wieder die Toilette hoch gekrochen, wo ihnen ein zum Anbeißen verlockendes Hinterteil einer Sekretärin entgegenglänzte.

Kurz darauf klopfte der Büroleiter an meine Praxistür und bat mich um eine Unterredung. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes. Mit einer wegwerfenden Handbewegung lehnte er es ab, Platz zu nehmen. Stattdessen blickte er sich suchend um, schüttelte beim Anblick meiner Schröpfgläser, Nadelköpfe und Akupunktur-Utensilien den Kopf und ging dann zielstrebig auf den gläsernen Bottich zu, in dem die noch unverbrauchten Blutegel schwammen.

„Sie mögen ja eine andere Einstellung haben“, sagte er, während seine Stimme vom Flüsterton zu einem Schrei anschwoll, „ich aber finde die Dinger einfach ekelhaft!!“

Ich versprach ihm, mich am nächsten Tag bei seinen Sekretärinnen zu entschuldigen. Mit einem Blumenstrauß und einem ausgesprochen schlechten Gewissen klopfte ich anderentags an die Tür des Bankbüros. Der Büroleiter war schon nach Hause gegangen.

Die Schreibdamen waren auf mein Kommen auf eine Art vorbereitet, die mir Angst machte. Frech grinsend ließen sie nicht eher locker, bis ich mich bei jeder Sekretärin einzeln entschuldigt hatte. Dann forderten sie mich auf, Platz zu nehmen und löcherten mich mit ihren Fragen. Aus meinen Antworten entstand ein ganzer Vortrag über Blutegel im Allgemeinen und im Besonderen. Vornehmlich wurde das Mitleid der Damen erregt, als ich erklärte, dass die Tierchen nach getaner Arbeit einfach abgemurkst werden. Gespielte Empörung, Neugierde und Scherz wechselten sich ab, während das Stimmengewirr mehr und mehr im zweiten Stock der Banketage anschwoll.

Wenn jemand eine Flasche Sekt zur Hand gehabt hätte, wäre der Abend noch feuchtfröhlich ausgeklungen. Beim Abschied meldete sich sogar eine der Damen zu einer Blutegelbehandlung an. Ich konnte sicher sein, dass mir auch die übrigen Schreibdamen nicht mehr böse waren.

Der Vorfall mit den Blutegeln hatte in der Stadt die Runde gemacht. Zuerst waren auf geheimnisvolle Weise die Bankkreise informiert worden, dann die wissbegierige Bevölkerung. Da war davon die Rede, dass überall in der Stadt blutverschmierte kleine Ungeheuer die Kanalisation hoch gekrochen kamen und unbescholtene Bürger ins Hinterteil beißen würden.

Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Stadtgesprächs ein seit langem geplanter Vortragstermin des Gesundheitsvereins anstand. Thema: „Die segensreiche Therapie mit Blutegeln“. Als Redner war der Vorsitzende dieses Vereins bestimmt: ich. Nun brauchten die braven Bürger nur noch eins und eins zusammenzuzählen und konnten sich auf einen handfesten Skandal einrichten.

Erwartungsgemäß war der Vortragssaal zum Bersten gefüllt. Viele bekamen keinen Sitzplatz mehr. Da diskutierten Mitglieder des Gesundheitsvereins, hier zwinkerten sich Schüler der Heilpraktiker-Schule vielsagend zu, dort wieder saßen verstreut und scheu ehemalige Patienten von mir. Aber es waren genauso viele Neugierige gekommen, Bluterfahrene, Leute, die angeblich ihre Begegnung mit der dritten Art auf der Toilette gemacht hatten (oder besser: angeblich gemacht haben wollen). Und dann sah ich sie und mein Gesicht erhellte sich: Es waren tatsächlich auch einige Sekretärinnen aus der Banketage gekommen.

Wie nicht anders zu erwarten war, ließen es sich einige Gäste nicht nehmen, meinen Vortrag mit provozierenden Zwischenrufen zu stören. Ich hatte es den Sekretärinnen zu verdanken, dass durch ihre gezielt gesteuerten Beiträge die ganze Veranstaltung noch ein versöhnliches Ende fand. Zum Dank lud ich die Damen zu einem Umtrunk ins Restaurant ein. Ich musste mir doch solche Nachbarn warm halten!

 

Mein ganzer Stolz: Der kleine Saal des Felix-Theaters.

 

 

 Borkum, 30. Mai 2015 – 16.35 Uhr

 

Ich bin wieder da! Wie vertraut mir alles ist, als wäre ich nie fortgewesen. Da ist der alte Leuchtturm unweit unserer Straße von damals. Und da der Tante-Emma-Laden, in dem ich Frau Schröder-Köpf (der Frau des Alt-Kanzlers) begegnet war. Auch in dem „Dschungel“, einem kleinen Wäldchen in Strandnähe, duftet es noch genauso herrlich wie damals. Ja, das ist Borkum. Wie gut, dass meine Frau hier einige Tage ihren Ärztekongress hat. Da kann ich ohne Zeitdruck in Erinnerungen schwelgen. Larysa ist zur Anmeldung in die Kongresshalle gegangen. Ich gehe am Strand spazieren. Unwillkürlich muss ich an den Umzugsstress denken, als wir vor ungefähr fünf Jahren von hier wegzogen.

 

Der mächtige Möbelwagen war schon wieder mit unserem ganzen Hab und Gut auf dem Rückweg zur Fähre. Wir wollten mit dem Pkw am nächsten Morgen nachkommen. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Warum musste ich schon wieder fort? Ich hatte doch so gute Freunde gewonnen, Lesungen abgehalten, mit Kindern eine Show aufgeführt, eine kleine Naturheilpraxis betrieben… Ja, ich hatte die Borkumer und ihre Insel liebgewonnen. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Also stand ich auf und begann zu schreiben:

 

Sie heißen Okke, Enno, Fokko oder Olde. Beim Gehen stemmen sie sich gewohnheitsmäßig gegen den Wind. Ihre Gesichter sind vom ständig wechselnden Wetter gezeichnet. Ihre hellen Augen aber sind wach, zumeist lauernd auf eine Gelegenheit, ihren unvergleichlichen Insulaner-Humor zu versprühen. Gemeint sind die Borkumer. Schon ihre Vorfahren, die auf dem bohnenförmigen Eiland in dürftigen Schilfhütten lebten, hatten es im Blut, ihre Besucher in Empfang zu nehmen. Allerdings waren es damals unliebsame Besucher, die vom Meer kamen. Deshalb wurden sie auch mit vorgehaltenen Forken begrüßt. Heute begrüßt der Borkumer seinen Gast mit Handschlag und holt ihn sogar vom Hafen ab. Da die Insel-Administration Benzindämpfe hasst, wird natürlich die Inselbahn benutzt. Auf einer Strecke von nur 7,4 Kilometern stellt diese die einzige zweigleisige Nebenbahn Deutschlands dar. Borkum ist eben anders. Der Insulaner weidet sich dann an den verblüfften, fast ängstlichen Blicken seines Gastes, wenn dieser im Hinausblicken feststellt, dass die Kleinbahn mitten in die Fußgängerzone fährt und anscheinend mit viel Tuten und Dampf eine Menschentraube zur Seite drängt.

Weshalb kommt man auf die größte ostfriesische Insel? Weil hier alles anders ist. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, mit dem „feineren“ Norderney oder gar mit Sylt zu konkurrieren.

Die 6000 Einwohner der Gemeinde sind stolz auf ihren 1850 verliehenen Titel „Nordseeheilbad“.

Sie fordern ihre Gäste auf, im Alten Leuchtturm zu heiraten, gehen mit ihnen per Hubschrauber in die Luft, um die Insel aus einer höheren Warte zu bewundern. Man besucht die Seehundbänke oder macht Wattwanderungen. Abends geht man in die „Seekiste“ oder in die „Kajüte“. Oder wie wäre es mit einem Spaziergang durch den Dünenwald, von den Borkumern liebevoll „Dschungel“ genannt.

Hier trifft man Liebespärchen und manchmal auch den Bürgermeister. Oder besser: die Bürgermeisterin. Borkum ist halt in jeder Hinsicht anders. Ich liebe einfach diese Insel...

 

Mit dem Umzug von Borkum nach Hamburg bekam mein Leben abermals ein neues Gesicht.

Wie damals, als ich zur Pharmaindustrie überwechselte und meine Naturheilpraxis in die fleißigen Hände meiner Assistentin gab.

 

 

 

Ringelwürmer und

andere liebe Kollegen

 

Der Blutegel sollte mich auch noch in den nächsten Jahren beschäftigen. Aber ich hatte das Gefühl, in meiner Praxis an Grenzen zu stoßen, die ich unbedingt zu überwinden trachtete. Und da das Suchen - das ist jedenfalls meine Erfahrung - irgendwann einmal zum Ziel führt, eröffnete ich eines Tages meiner Assistentin, dass sie die Praxis ab sofort allein weiterführen müsse. Ich hatte mich nämlich entschlossen, in einem norddeutschen Pharmaunternehmen neue Aufgaben zu übernehmen. Und so kam es. Aus dem Selbständigen wurde wieder ein Angestellter. Allerdings mit dem doppelten Gehalt. Meine Aufgabe bestand darin, die Segnungen des Blutegels in alle Welt zu tragen.

Das setzte natürlich ein umfangreiches Studium der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse über dieses lebendige Arzneimittel aus der Familie der Ringelwürmer voraus. Ich besuchte Ärzte, Diskussionsrunden, Messen, Kongresse. Ich fühlte mich wieder in die Zeit als Bankkaufmann zurückversetzt, als alles unter dem Gesichtspunkt von Umsatz geschehen musste. Nach einer gewissen Zeit machte mir das Angst. Natürlich sah ich ein, dass man der Konkurrenz nicht so leicht das Feld überlassen durfte. Aber ihr gleich die Luft zum Atmen abschneiden? In unseren Schulungsstunden begeisterten sich die leitenden Professoren, weil ich für unsere Hirudin-Produkte immer witzige und zugleich philosophisch angehauchte Werbesprüche parat hatte. Umso mehr wunderte man sich, dass ausgerechnet mein Verbreitungsgebiet nicht den allerhöchsten Umsatz aufzuweisen hatte. Die Erklärung wusste nur ich. Tief in meinem Inneren passte mir nämlich die ganze Richtung nicht. Die heimliche Bestechung der Ärzte mit Traumreisen und luxuriösen Praxiseinrichtungen gegen wohlwollendes Rezeptieren waren keine guten Argumente für das Produkt. Als ehemaliger Journalist juckte es in meinen Fingern. Sollte ich meine eigene Firma an den Pranger stellen? Ich begann Dienst nach Vorschrift zu machen und bat um die „einvernehmliche“ Kündigung. Die Praktiken der Pharmaunternehmen nahmen deswegen kein Ende. Im Gegenteil.

Ende der 80er Jahre ließen sich die Götter in Weiß besonders reich beschenken. Und das hat sich bis heute nur unzureichend geändert. Was mich betrifft, so war ich heilfroh, dass ich damit nichts mehr zu tun hatte. Schließlich hatte ich als Medizinjournalist in früheren Jahren gerade diesen gierigen Ärzten gehörig auf die Finger geklopft.

Ich verkaufte meine Praxis in der Fußgängerzone an meine Assistentin und richtete mir eine neue Praxis im eigenen Hause ein. Aber bevor es dazu kam, musste ich zusehen, wie mein Leben auf privater Ebene eine radikale Wende nahm.

Meine gehörlose Ehefrau und ich hatten uns unbemerkt auseinander gelebt. Sie war kaum noch ein Wochenende zu Hause. Und eines Tages war sie ganz weg. Die drei Kinder hatten sich entschieden, bei mir zu bleiben. Nicht zuletzt aus praktischen Gründen, denn sie besuchten alle drei noch das Gymnasium.

Jetzt begann eine schwierige, aber auch interessante Zeit. Wir lebten fortan wie in einer Wohngemeinschaft - einer Kommune. Die Freiheit jedes Einzelnen wuchs, aber auch die Verantwortung für das Ganze. Ich hatte häufiger als früher die Kinder von der Schule abzuholen, sie zu den verschiedensten Veranstaltungen zu chauffieren. Ich hatte für sie zu kochen, zu putzen, zu waschen... Und am Abend? Meist waren dann meine Zöglinge ausgeflogen.

Dann verzog ich mich in eine dunkle Ecke unseres riesigen Wohnzimmers und grübelte. Abend für Abend. Das dauerte eine Weile. Dann aber brach es aus mir heraus. Urplötzlich und gewaltig.

„Du gehörst noch nicht zum alten Eisen“, erkannte ich. Ein Blick in den Spiegel suggerierte mir: Du hast sogar noch Chancen bei Frauen. Ich antwortete auf Kontaktannoncen, ging Hals über Kopf Affären ein, die ich kurzfristig wieder auflöste. Die Anhänglichkeit mancher Frauen, die ich in dieser Zeit kennen lernte, machte mich außerordentlich skeptisch. Machte vielleicht mein Porsche den ausschlaggebenden Eindruck auf sie und nicht ich selbst? Vorsichtshalber löste ich auch die letzte Verbindung - bis Karen kam. Darauf muss ich später noch näher eingehen...

Es ist nur am Rande erwähnenswert, dass ich vorübergehend auch Geschäftsführer eines Vertriebsunternehmens war, einer Firma, die sich mit Gesundheitsartikeln in den Markt drängte. Das ganze Unternehmen stellte sich sehr schnell als Flop heraus. Die Kapitaldecke der Inhaber war viel zu dünn, um sich auf dem Markt behaupten zu können. Also verwirklichte ich meinen ursprünglichen Plan und richtete eine Praxis in meinem Hause außerhalb der Stadt ein. Die Kinder wurden nach und nach flügge, zogen aus und machten Platz für neue Aufgaben. Natürlich konnte ich nicht erwarten, dass hier auf dem Lande der Zuspruch für den Heilpraktiker so groß war wie in der Stadt. Darum konzentrierte ich mich auf eine Therapie, die im weiten Umkreis kaum anzutreffen war: Bio-Facelifting. Das lief erstaunlich gut an. Jüngere und insbesondere ältere Damen ließen sich die Falten im Gesicht unterspritzen und erlangten schon nach ein paar Sitzungen ein jugendliches Aussehen.

Und noch eine Aktivität wurde forciert: mein Theater. Nachdem die Gebärdenbühne mit dem Weggang meiner gehörlosen Frau eingeschlafen war, drängte ich erneut auf die „Bretter der Welt“. Ich lernte Jo kennen, der in vielen Stadtteilen von Hamburg als Theaterpädagoge Volkshochschulkurse gab, aber auch ein eigenes Ensemble leitete. Als ich zu dieser Gruppe stieß, wurde gerade ein neues Stück für die kommende Theatersaison ins Auge gefasst. Wir lasen Dario Fo´s „Das große Hohngelächter“, eine satirische Version der Brecht´schen Dreigroschen-Oper. Später gab ich dem Stück den neuen Titel „...und der Haifisch, der hat Flöhe“.

„Der Mensch lebt durch den Kopf...", sang ich als Peachum.

 

 

Hier spiele ich den Gangsterkönig Peachum in einer Szene mit Fixern.

 

 Nach vielen Umbesetzungen standen die Hauptrollen fest: Jo spielte den Mackie-Messer, ich den Gangsterkönig Jonathan Jeremiah Peachum. Meine Partnerin war eine Kabarettistin. Die Seemannsbraut Jenny spielte zeitweise meine Tochter Iris. Wir waren in den verschiedensten Hamburger Theatern - so im „Klecks“ oder „Monsun“ - oder auf Tournee zu sehen.

So ganz nebenbei etablierte sich im Süden Hamburgs mein eigenes Theater und bekam ein festes Domizil. Im Mehrzwecksaal eines altehrwürdigen Restaurants richtete ich das Felix-Theater ein. „Das jüngste Theater Hamburgs“ (BILD) wurde von allen namhaften Zeitungen und Rundfunkanstalten enthusiastisch begrüßt. Die A-Capella-Gruppe „Justfour“ heizte zur Eröffnung mit Hits aus den 60er und 70er Jahren ein. Die damals noch weitgehend unbekannte Gruppe hatte in meinem Theater die Gelegenheit, erstmalig ihr volles Programm abzuspulen. Das sprach sich schnell herum und lockte junge Fans auch aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen in mein Theater. Die ersten Wochen waren mit „Justfour“, dem Kabarettisten Monty Arnold, dem „Haifisch“ und dem Weihnachtsmärchen „Der gestiefelte Kater“ ausgebucht. Nach der letzten Weihnachtsvorstellung am 16. Dezember 1990 feierten wir mit dem gesamten „Kater-Ensemble“, mit Kollegen der „Haifisch“-Gruppe sowie Freunden und Verwandten meinen 50. Geburtstag. Ein ereignisreiches Jahr ging nicht nur für mich zu Ende. Man erinnere sich: In diesem Jahr wurde Deutschland zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Und nicht zu vergessen: Am 3. Oktober 1990 wurden wir wiedervereinigt.

 

 

Hamburg, 15. Januar 2015 – 19.30 Uhr

 

Ich denke mal: Hast du schon keine Mama mehr, dann habe wenigstens eine „Mamitschka“. Oh ja, die habe ich. Gerade eben hat mir Larysa nach einem Telefonat mit ihr „innige Grüße und Küsse“ aus der fernen Ukraine ausgerichtet. Sie heißt Iryna, hat helle, wache Augen, volles Haar und eine zierliche Figur. Was sie nicht hat, sind ruhige Hände. Sie leidet unter einem ausgeprägten Essential-Tremor. Trotz ihrer 82 Jahre und schwachen Kniegelenke, hasst sie den Gehstock und will von einem Rollator schon gar nichts wissen. Sie entstammt einer uralten russischen Aristokraten-Familie. Ich nehme an, dass es ihr deshalb aus Gewohnheit total gegen den Strich geht, beim Essen auf Messer und Gabel zu verzichten, was uns angesichts der mächtigen Schüttelungen immer einen Schauer über den Rücken jagt.

Nun kommt sie schon mehrere Jahre für ein paar Wintermonate zu uns herüber und versetzt uns immer wieder durch ihre Lebensbejahung in Erstaunen. Sie sagt nicht viel, schweigt beim Essen völlig, aber wenn sie etwas sagt, ist es knochentrockener Humor. Sie tanzt uns manchmal etwas vor oder singt russische Evergreens. Eine ihrer besonderen Begabungen entfaltet Mamitschka, wenn sie in einem Zug fährt und aus dem Fenster schaut. Dann verdichtet sie Lebensweisheiten zu wohlklingenden Versen. Leider kann sie diese nicht aufschreiben – eben wegen der schüttelnden Hände. Gehen wir im Wald spazieren, dann umarmt sie schon mal liebevoll eine knorrige Eiche und bittet diese um eine kleine Energiespende. Und irgendwie haben wir den Eindruck, der Baumriese hat sich nicht lumpen lassen. Anschließend geht sie immer mit sehr forschem Schritt vor uns her.

Was wir von Mamitschka auch gelernt haben, ist dies: Macht dein Körper einmal Zicken, dann sprich mit ihm. Rede auch mit einzelnen Organen. Bei ihr ist es immer wieder die Bauchspeicheldrüse. Wenn diese sich mit stechenden Schmerzen meldet, dann setzt sie sich ruhig hin und sagt: „Na, du Gute? Ich denke, wir müssen reden.“

Ich muss gestehen: Auch ich habe schon mit meinen Organen geredet. Ach nein, nicht mit Organe, eher mit den unartigen Kindern inmitten des Zellkosmos´ Felix. Ich rede mit meinen Metastasen. Anfangs war es ja nur eine einzige. Und weil sie so klein und verloren schien, habe ich mir ein Glas Rotwein eingegossen, ihr zugeprostet (Ein Gläschen auf das Metastäschen!) und ihr ein Gedicht gewidmet.

 

Was war das wieder für ein Zeichen

Ein Hauch wohl nur und nicht viel mehr.

Nicht weit vom Brustbein, an der Rippe

-die dritte schien´s - und wollt nicht weichen.

Du warst es - sollt´ ich wieder lachen?

Wie anfangs, als du kamst so früh,

mich wecktest auf bekannte Weise:

Mit Schmerzen, die nicht auszumachen.

Oft setzte ich dich vor die Tür,

verschmähte die Visitenkarten,

strich deinen Namen aus in mir

und ließ dich lange draußen warten.

Noch selb´gen Tags ließ ich dich rein.

Du richtetest dich bei mir ein.

.Es brauchte Zeit, dies zu begreifen:

Wir können nur gemeinsam sein.

 

Ja, und das hat nun wieder eine Lawine nach sich gezogen. Die eine sagte es der anderen. Plötzlich wollten sie alle mit mir „gemeinsam sein“: Onkel, Tanten, Anverwandte, die ganze Metastasen-Sippschaft. Vielleicht wollten sie auch alle ein Gedicht von mir? Oder wenigstens ein Autogramm? Jedenfalls bevölkerten sie meine Hüft- und Beckenknochen, nahmen Quartier in den Beckenschaufeln, wohnten in der Lendenwirbelsäule und residierten ganz vornehm in den Rippen. Irgendwie kommt bei mir über so viel Anhänglichkeit nicht die nötige Freude auf. Um an Mamitschkas Worte anzuknüpfen, würde auch ich heute sagen: „Lasst uns reden, ihr Metastasen und Metastäschen: Aber ich warne euch: Breitet euch nicht weiter aus! Es würde euch den Kopf kosten.“ Dass ich vorher dabei drauf gehen müsste, verschweige ich lieber.

Nicht mit Organen reden, aber Menschen zu ihrem Nachteil überreden – das verstehen viele Türken meisterhaft.

 

 

Türkei – erste leidvolle

Erfahrungen

 

Ich hatte versprochen, noch auf Karen näher einzugehen, einer Frau, die ich trotz aller Vorbehalte zu lieben begann. Schon kurze Zeit nach unserem Kennen lernen (wieder einmal durch Zeitungsanzeige), übernahm sie Rollen aus meinen Theaterproduktionen. Obwohl ihre Stimme nicht so viel hergab, bekam sie die Rolle der „Bella“ in dem Märchenmusical „Die Schöne und das Tier“, einem von mir für die Bühne geschriebenen Stück.

Dann wirkten wir noch in einer Produktion meines Freundes Jo mit, und zwar in dem Stück „Arsen und Spitzenhäubchen“ - ich versuchte mich in der Rolle des ewig genervten „Mortimer“, Karen spielte meine Braut. Es schien (auch im wirklichen Leben) alles zu passen - bis auf den Altersunterschied. Sie war satte zwei Jahrzehnte jünger als ich. Aber das sollte uns beide nicht weiter stören. Sie kehrte ihrem früheren Leben mit Disko und Partys den Rücken, ich wiederum war es ohnehin durch mein Theater gewohnt, mich immer wieder mit der Jugend zu messen. Also heirateten wir.

Die Idee, im eigenen Haus eine Praxis zu eröffnen, nahm jetzt konkrete Formen an. Die neue Praxis war ganz auf Bio-Facelifting zugeschnitten. Karen war neben ihrer Tätigkeit als Zahnarzthelferin regelmäßig in meiner Praxis assistierend tätig. Zu unseren ersten Patienten gehörte meine Schwester Christel.

Die gesamten Vorbereitungen und die Behandlung wurden in einem selbst gedrehten Film festgehalten. Diesen Film spulten wir mit Endlosschleife für unsere Patienten im Wartezimmer ab. Die Resonanz war erfreulich, sodass wir schon Schwierigkeiten wegen der fehlenden Parkplätze mit unseren Nachbarn bekamen. Doch schon nach knapp einem Jahr kam der große Tiefschlag.

Rinderwahn (BSE) war in England ausgebrochen. Würde die tückische Krankheit auch zu uns herüberschwappen? Vorsorglich warnte die BILD in großen Lettern: Vorsicht! Keine Frischzell-Injektionen aus dem Rind! Im Nu war meine Praxis leer. Zwar kamen die Präparate, die ich injizierte, aus den USA, aber das interessierte niemanden mehr.

Jetzt hatte ich endgültig die Nase voll. Ich hatte immer wieder in meinem Leben von vorne beginnen müssen oder wollen - jetzt aber wollte ich nicht mehr. Jedenfalls vorerst nicht. Um Abstand zu gewinnen, nahmen wir das Angebot an, das meine „bio-geliftete“ Schwester uns gemacht hatte: Wir machten Urlaub in ihrem Apartment an der türkischen Riviera, und zwar in Konakli, einem kleinen Ort wenige Kilometer von Alanya entfernt. Hier lebte ich mit meiner neu angetrauten Frau Karen. Hier machten wir nach einem zweiten Urlaub „Nägel mit Köpfen“ und blieben ganz dort. Nachdem uns die Residenz meiner großen Schwester nicht mehr zur Verfügung stand, zogen wir in „Ertans Hütte“, wie wir das Sommerhaus des Türken Ertan nannten. Es war ein wenig altmodisch möbliert und eigentlich auch viel zu groß für uns beide. Wir nahmen es trotzdem, auch unter der ungewöhnlichen Bedingung, die Miete für ein Jahr im Voraus zahlen zu müssen. Der Strand war nur einen Steinwurf entfernt. Und für Karen gab es jede Menge zu tun. Sie hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, all die streunenden Katzen und Hunde vor dem Giftmord der Türken zu retten. Unsere Zufriedenheit währte nur bis zu jenem Winter, als eine Folge von Ereignissen eintraf, die meinen Glauben an die Redlichkeit der Türken nachhaltig erschütterte. Karen musste von einem Tag zum anderen das „Retten“ von Vierbeinern einstellen, da zunächst ich selbst gerettet werden musste. Und das kam so:

Zunächst trat etwas ein, wofür auch die Türken nichts konnten. Es fing nämlich an zu regnen. Kein gewöhnlicher Regen. Dieser Regen war an Ausdauer nicht zu überbieten. Er hielt Tage an – Wochen, Monate… Ertans Hütte war von einem massiv gemauerten Wall umgeben. Wahrscheinlich wollte der Inhaber sich so unliebsame Eindringe vom Halse halten. Für uns bedeutete das aber, dass wir eines Morgens erwachten und von Wasser umgeben waren. Wir lebten in einem riesigen „Swimmingpool“. Wenn wir das Haus verlassen wollten, mussten wir uns provisorische „Brücken“ bauen, die natürlich nicht rutschfest waren, so dass wir oft bis zur Hüfte das eiskalte Wasser zu spüren bekamen. Jeden Abend nahmen wir dank der Solaranlage ein heißes Bad und hofften, die Katastrophe abwenden zu können.

Vergeblich. Der künstliche Swimmingpool hatte in kürzester Zeit das Haus dermaßen durchnässt, dass man geradezu das Wasser an den Wänden hoch kriechen sah. Wir schliefen unter unzähligen muffigen Decken und Teppichen, doch es nützte nichts. Wir zogen uns eine Erkältung zu, die immer gefährlichere Ausmaße annahm. Mich erwischte es ganz besonders. Mein Fieber stieg unaufhörlich, setzte sich im Gefahrenbereich fest und wollte nicht wieder fallen.

Wir sind in Alanya wohl ein Dutzend Mal umgezogen.

Dieses Foto entstand an unserem Apartment.

 

 Ein Doktor musste her. Antibiotika musste her. Schon am nächsten Morgen suchte ich einen ortsansässigen Mediziner auf. In Konaklis Hauptstraße leuchtete ein riesiges Schild mit dem Versprechen:

24Stunden-Service. Wenn ich heute an diesen Arztbesuch zurückdenke, überkommt mich immer noch ein Gefühl von innerer Wut und Ohnmacht. Und das nicht nur gegen diesen so genannten Arzt oder besser: Arzt-Darsteller. Wenn ich heute noch den Kopf schüttele, dann meine ich auch meine abgrundtiefe Blödheit. Ich, nicht ganz unwissend auf medizinischem Gebiet, ich, im Sinne deutscher Tugenden und Disziplinen aufgewachsen und erzogen, ging natürlich davon aus, dass Antibiotika nur von einem approbierten Arzt verschrieben werden konnten – wie es sich in Deutschland so gehört. Das war die erste Fehleinschätzung. Die zweite war noch schlimmer und folgenschwerer: Ich ging ferner davon aus, dass Ärzte nur ihrem Gewissen folgen und ihren Patienten weder finanziellen noch gesundheitlichen Schaden zufügen dürfen. Wäre ich damals kein Türkei-Neuling gewesen, hätte ich die Gier in den Augen des „Doctors“ gesehen – oder wenigstens die Dollarzeichen in seinen Pupillen. So kann ich mich heute nur mit meiner damaligen Krankenschwäche herausreden, mit dem vom Fieber umnebelten Kopf, der nicht aufmuckte, als ich durch unzählige nicht eingeschaltete Diagnosegeräte (oder Attrappen) geschleust wurde, um die Rechnung in die Höhe zu treiben. Diese betrug dann auch über 500 Millionen Lira, mehr als eine Monatsmiete in Ertans Hütte. Ich zahlte mit einigem Stirnrunzeln und nicht ohne Gedanken an die nahende Heilung. Aber das war dann auch die dritte und letzte Fehleinschätzung. Nachdem der „Doctor“ das Bündel Geld eingestrichen hatte, reichte er mir zwei (!) Antibiotika-Tabletten mit der Versicherung, die würden vollauf ausreichen. Spätestens jetzt erkannte ich, dass ich einem kriminellen Geschäftemacher in die Hände gefallen war. Selbst durch meinen Fiebernebel hindurch wurde mir klar, dass dieser Mensch von seiner ärztlichen „Kunst“ nicht das Geringste verstand. Die Krankheit nahm dramatische Formen an. Ich musste sofort ins Krankenhaus, wo endlich das Nötige veranlasst wurde. Es war schon zu viel Zeit vergeudet worden. Erkenntnis: Viele niedergelassene Ärzte in der Türkei sind in erster Linie schlitzohrige Geschäftemacher.

 

 

Rissen, 8. Juli 2015 – 11.05 Uhr

 

Wir wollen unser Auto verkaufen. Eine Interessentin, die sich auf unsere Anzeige meldet, hat eine E-Mail-Adresse mit dem Landeskürzel „ru“, also Russland. Sofort läuten bei mir die Alarmglocken: Automafia! Trickbetrug! Falschgeld! Und möglicherweise noch viel Schlimmeres. Larysa und ich malen uns haarsträubende Situationen aus. Eine davon ist die: Die Dame setzt sich für eine Probefahrt als Steuer, fährt uns an den entferntesten Rand des Klövensteen-Waldes, wo jeder Schrei ungehört verhallt. Dort hält sie an, bittet uns auszusteigen. Gleichzeitig brechen vermummte Russen aus den Büschen, überwältigen und fesseln uns. Dann setzen sie sich seelenruhig in unseren Wagen und brausen davon. Die noch schlimmere Variante wäre, dass sie uns zuvor den Schädel einschlagen. Ich muss zugeben, diese Phantasien habe eigentlich nur ich. Larysa ist der Meinung, man solle nur das Gute im Menschen sehen. Ihr russisch-orthodoxer Glaube hilft ihr dabei. Wenn ich da an die Istanbuler Pastorin denke, die während eines turbulenten Fluges jeden Glauben zu verlieren schien…

 

 

Die Pastorin aus Istanbul

 

Während ich in einem Krankenhaus in Alanya lag, zog Karen vorübergehend ins Hotel Riviera. Später suchten wir uns auch eine Wohnung in Alanya. Ich werde später noch auf das Hotel zurückkommen. Hier spielten wir einige Monate für Touristen und deutsche Einheimische sehr erfolgreich Theater.

Ich darf Brigitte nicht auslassen, wenn ich an meine Zeit in der Türkei zurückdenke. Es war etwa drei Monate nach dem großen Erdbeben südlich von Istanbul, also Mitte November 1999. Sie sprach mich in einem dieser Deutsch-Treffs von Alanya an. Ob ich ihr aus der Patsche helfen könne, begann sie ohne Umschweife. Ich erinnere mich noch genau an jenes Gespräch, sehe noch vor mir, wie wir unter einem Sonnenschutz unsere Getränke schlürften und unter der Hitze litten.

Brigitte mochte Mitte 50 sein, war groß und schlank und trug ihr blondes Haar kurz geschnitten. Ihre Augen signalisierten Entschlossenheit, aber auch Wärme. Von ihrer ganzen Person ging eine gewisse Eleganz aus. Sie war aus Istanbul gekommen, um hier in Alanya christliche Werte zu vermitteln. Sie war eine Kirchenfrau – Pastorin.

Bevor die "Wutbürger" mit dem Bürgermeister diskutierten,

knallte ihm eine Frau ihren toten Hund auf den Schreibtisch.

 

 

Offenbar hatte sie kurz zuvor meine Monatsbroschüre „Deutsches in Alanya“ gelesen. Sie nahm das Heftchen aus ihrer Handtasche und wies auf das Titelbild. Man sah darauf aufgebrachte Menschen, die sich um den Schreibtisch des Bürgermeisters scharten. Ohne auf ihre Eingangsfrage weiter einzugehen, sagte sie: „Ganz schön mutig. Das hätte ein türkischer Reporter nicht gewagt.“ Ich hatte in diesem Artikel gegen das Auslegen von Gift am Strand gewettert. Damit hatte ich die Obrigkeit der Stadt kritisiert, die da glaubte, auf diese Art der „Hunde- und Katzenplage“ am Strand Herr zu werden.

Brigitte kam endlich zur Sache. Wie sie gehört habe, sei ich in Deutschland Redakteur und Reporter gewesen. Ob ich mir vorstellen könne, eine Istanbuler Monatsschrift als Chefredakteur zu gestalten. „Ich habe vielleicht eine Dummheit gemacht, als ich das Blatt von einem Türken übernahm, ohne wirklich Ahnung vom Zeitungsmachen zu haben“, sagte sie geradezu kleinlaut. Ich kannte das Blatt, das eine respektable Auflage hatte und deutsche Einheimische wie auch Touristen bediente. Ja, ich konnte mir vorstellen, für die Monatszeitung zu arbeiten. Aber ich zögerte auch. Das mir angebotene Honorar war verlockend, barg aber auch unabsehbare Gefahren. Ausländern war nämlich in der Türkei jede Tätigkeit gegen ein Entgelt untersagt.

Ich willigte trotzdem ein. Und da schon viel zu viel Zeit verstrichen war (das Blatt sollte eigentlich schon auf dem Markt sein), musste ich mich noch am selben Tag reisefertig machen. Unser Flieger startete am späten Abend von Antalya. Als die Türkish Airline abgehoben hatte, schoss uns abermals trotz Klimaanlage der Schweiß aus den Poren. Brigitte verbrauchte Unmengen von Erfrischungstüchern.

Wir unterhielten uns über das Erdbeben südöstlich von Istanbul, wo immer noch Chaos, Trauer und Verzweiflung herrschten. Das Beben war am 17. August ausgebrochen und hatte über 18.000 Tote gefordert. Fast 49.000 Menschen wurden verletzt. Und als ob das Leid nicht schon ins Unerträgliche gestiegen war, schloss sich dem Beben noch in der Meeresbucht von Marmara ein Tsunami an. Ganze Straßenzüge versanken im Meer. Tagelang brannte eine Raffinerie. Die Städte Izmit, Valova und Gölcük, wo das Epizentrum war, wurden dem Erdboden gleich gemacht. Verzweifelt suchten Rettungsmannschaften und Angehörige mit bloßen Händen nach Verschütteten. Eigentlich noch heute – nach drei Monaten.

„Das ist nicht fair“, sagte Brigitte und wandte sich mir direkt zu: „Ist das fair?“ Ich antwortete nicht. Ich starrte wie gebannt durch das kleine Fenster und sah, dass wir in einer schwarzen Wolke schwebten. Fast gleichzeitig gab es einen fürchterlichen Knall. Blitze erhellten den Innenraum des Fliegers. Die Maschine machte einen Luftsprung, zitterte, trudelte und sackte ins Bodenlose. Brigitte hatte mit beiden Händen meinen bloßen Unterarm umfasst und ihre langen Fingernägel tief in mein Fleisch gekrallt. Ich konnte nicht schreien. Ich vernahm die Schreie der anderen Passagiere wie ein Außenstehender, der nichts damit zu tun hatte. Brigitte war mit ihrem Gesicht ganz nahe gekommen und schrie mir etwas ins Ohr. „Ist das das Ende, Felix?“ Sie wiederholte ihre Frage mehrmals, bis ich sie verstand. Ich schüttelte energisch den Kopf und gab ihr durch Zeichen zu verstehen, dass alles gut werde. Und es wurde gut. Ganz plötzlich war der Spuk vorbei. Ich sah, wie sich die Stewardessen von ihren Notsitzen losschnallten. Wir näherten uns Istanbul.

Ich hatte immer noch meine Vorbehalte, was diese neue Aufgabe betraf. Nun hatte ich nicht nur eine illegale Arbeit übernommen, ich war auch im Dienste einer christlichen Kirchengemeinde, die zwar geduldet war, aber unter ständiger Beobachtung der Regierung stand. Wie auch immer, ich hatte nicht die Zeit, über meine Situation nachzudenken. Das Blatt musste auf den Markt. Noch am selben Abend machte mich Brigitte mit Erdogan und Hassan bekannt. Erdogan arbeitete an einem uralten Apple-Computer, an dem die Seiten zusammengesetzt wurden. Hassan war „Mädchen für alles“. Mal tippte er, ohne nennenswerte Deutschkenntnisse, einen Artikel in den PC, dann wieder fuhr er hinaus zum Interviewen und Fotografieren. Beide waren mir sofort sympathisch.

„Und wo sind die anderen?“, fragte ich Brigitte. Die Pastorin schüttelte traurig den Kopf. Nachdem das ganze Redaktionsteam schon drei Monate ohne Honorar gearbeitet hatte, sei es zum großen Krach und zur fristlosen Kündigung der Redaktionsmitglieder gekommen.

„Ich bin froh, dass mir wenigstens Erdogan und Hassan geblieben sind“, sagte Brigitte. Ich war im Bilde. Das würde eine ganz haarige Angelegenheit werden. Als erstes erlöste ich Hassan von seiner wenig effektiven Tipparbeit mit den deutschen Texten. Ich schickte ihn nach Hause und ließ Brigitte übersetzen, dass er gleich am nächsten Morgen ins Erdbebengebiet fahren solle, um dort gute Bilder und Interviews zu machen. Brigitte übernahm es, die Manuskripte der ehemaligen Mitarbeiter in ein gutes Deutsch zu fassen und in den PC zu tippen. Mit Erdogan vereinbarte ich, dass ich diese Texte am Bildschirm redigieren und sie mit einem Stichwort versehen bestimmten Seiten zuordnen würde. Damit sich Erdogan noch besser orientieren konnte, entwarf ich für jede Seite einen so genannten Spiegel (das Gesicht der einzelnen Seite) – mit Überschriften, Bildern, Kästen und Text. Erdogan hatte dann die Aufgabe, gemäß meinem Layout die einzelnen Seiten zusammenzubasteln.

Die Titelseite des Blattes mit dem diagonalen Riss

 

Ich ließ mich gerade in den bequemen Sessel des Chefredakteurs nieder und wollte mir einen Überblick über die hinterlassenen Manuskripte verschaffen, als der Schreibtisch zu schweben begann. Die obere Schicht der Manuskripte rutschte nach links, die untere nach rechts. Brigitte schrie: „Schnell, unter den Schreibtisch!“ Ich sah, wie sich Brigitte und Erdogan in einen Türrahmen quetschten. Hassan, der noch nicht gegangen war, riss mich aus dem Sessel und schob mich unter den Schreibtisch. Mit einem leichten Grinsen, das mir unangebracht erschien, setzte er sich neben mich. In den Wänden knirschte es, Putz rieselte von der Decke. Wir verharrten noch einige Minuten. Dann gab es Entwarnung.

„Das was wieder eines dieser vielen Nachbeben“, kam Brigitte angelaufen. „Man kann sie kaum noch zählen.“ Hassan machte sich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Staub. Die Arbeit ging nun wie am Schnürchen. Brigitte tippte wie ein Schnellfeuergewehr und sendete die fertigen Artikel immer sofort an meinen Computer. Ich redigierte, formatierte und zeichnete alles in meinen Satzspiegel ein. Dann schickte ich alles an Erdogans Computer. Bis ich Nachschub von Brigitte erhielt, brütete ich schon über den Aufmacher. Die erste Seite musste in besonderer Weise gestaltet werden. Mir schwebte da etwas vor. Ich besprach mich mit Erdogan. Ich hatte die Idee von einem diagonalen Riss durch die Seite. Erdogan verstand sofort, was ich meinte. Jetzt brauchten wir nur noch eindrucksvolle Bilder der Trauer von Hassan für den freien Platz unterhalb des Risses und festlich-fröhliche Vorweihnachtsbilder für den Freiraum oberhalb des Risses. Wir arbeiteten noch bis kurz nach Mitternacht. Völlig erschöpft verschoben wir den Rest auf den nächsten Tag und verließen die Redaktion.

 

 

Rissen, 15. Juli 2015 – 7.35 Uhr

 

Ein markerschütternder Katzenschrei direkt unter meinem Schlafzimmerfenster. Eine andere Katze kontert eine Oktave tiefer. Die gesamte Vogelwelt setzt mit einem aufgeregten „Tschiiip – tschiiip!“ ein. Na, danke. Das war´s dann also mit dem Schlaf. Larysa hat die Wohnung schon verlassen. Also wird es Zeit für mich, das Tagewerk eines Hausmannes abzuspulen. (Nähere Details sind weiter vorn nachzulesen.) Beim Öffnen des Briefkastens fallen mir Unmengen verhasster Werbebriefe auf die Füße. Ich entsorge alles ungeöffnet. Nein. Einen Brief habe ich herausgefischt: Eine Infoschrift vom Kinderhospiz Rissen. Sofort fällt mir der „Snoezelen“-Raum ein. Und ich denke an Karina. Mein Gott, ob das Mädchen noch lebt?

Wir wohnten erst einige Monate in Rissen und ich hatte einen Lehrgang für Hospizhelfer abgeschlossen. Sogar mit Zertifikat. Das erste Kind, das mir zugeteilt wurde, war die zwölfjährige Karina. Bevor ich mich mit dem Kind beschäftigen durfte, musste ich eingehend die Krankenakte studieren. So erfuhr ich, dass Karina als vermeintlich gesundes Kind geboren wurde. Als sie ungefähr sieben Jahre alt war, entdeckte man bei ihr die Stoffwechselerkrankung MPS (Mucopolysaccharoidose), ein chronisches Leiden, bei dem sich bestimmte Organe und Skelettteile zurückentwickeln und damit den frühzeitigen Tod herbeiführen.

Ich halte etwas hilflos die Monatsschrift in der Hand. Ob Karina noch lebt?

Als ich das Mädchen kennenlernte, lag es nur noch im Bett. In einem warmen Wasserbett. Leise Musik schien aus allen Wänden zu kriechen. An der Decke formten sich interessante Lichtreflexe. Karinas Arme und Beine waren stark verdreht, der ganze Körper schraubenartig gekrümmt. Sprechen konnte sie nicht mehr. Sie hatte das Stadium des Wachkomas erreicht. Die Kinderkrankenschwester, die mich in den Schlummerraum führte, schlug vor, Karina etwas vorzulesen. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen ging sie davon aus, dass die Zwölfjährige „alles verstehen“ würde. Mit einem aufmunternden Lächeln entfernte sie sich und zog die Tür leise hinter sich zu. Ich legte mich ebenfalls auf das sehr breite Wasserbett. Die leise Entspannungsmusik schien die Stille noch zu vertiefen. Ich nahm mein Kinderbuch „Hans-Joachim und Brigitte“ aus der Tasche und rückte dem Kind etwas näher. Bei der gedämpften Beleuchtung hatte ich Karina zuvor nur oberflächlich wahrgenommen. Jetzt sah ich in ein zartes Gesichtchen mit entspannten, ebenmäßigen Gesichtszügen. Ihr blondes Haar hatte man ihr aus dem Gesicht gekämmt. Ein kleiner Engel, dachte ich. Warum musste dieses Kind ein solches Schicksal erleiden? Ich stellte mich vor. Sodann begann ich mit ruhiger Stimme zu fragen, ob ich ihr etwas vorlesen solle. In ihren Augen, die sich kaum bewegten, sah ich keine Reaktion. Nach einer Pause hatte ich den Eindruck, dass ihre Augenbewegungen etwas lebhafter wurden. Ich fragte sie noch einmal, diesmal eindringlicher. Dabei forderte ich sie auf, bei „Ja“ die Augen fest zu schließen, bei „Nein“ zur Seite zu blicken. Ich merkte, wie sich mein Puls beschleunigte, als ihre Augen zuerst zu flackern begannen und dann fest zusammengekniffen wurden. Ich begann zu lesen. Jetzt schien es mir, als gäbe sie sich alle Mühe, die Augen offen zu halten, damit ich nicht aufhörte zu lesen. Sie trug kleine, von der Mutter selbstgenähte Kissen in den Fäustchen, damit sich die Finger nicht übermäßig verkrampfen konnten. Ich nahm ihr ein Kissen aus der Hand und legte ihre winzige Hand in meine. So las ich weiter. Zwischendurch vergewisserte ich mich immer wieder, ob ich sie noch erreichte. „Soll ich weiterlesen?“, fragte ich das Mädchen. Sofort kniff Karina die Augen zu. Ich war glücklich. Während des Lesens fragte ich mich, was wohl im Kopf des Kindes jetzt vorgehe. Wie nahm es mich überhaupt wahr? Ich überlegte, wie wir unsere Kommunikation noch verfeinern, noch weiter vertiefen konnten. Ich legte das Buch zur Seite und fragte sie, ob ich ihr etwas vorsingen dürfe. Keine Reaktion. Ich überlegte. Für ein Schlaflied war es noch zu früh. Also sang ich „Ein Schneider fing ´ne Maus…“, ein Lied mit unzähligen Strophen. Als ich merkte, dass Karina von Zeit zu Zeit die Augen zukniff, wusste ich, dass sie es genoss. „Na, konnten Sie Karina erreichen?“, wollte die Krankenschwester nach einer Weile wissen. Oh ja, ich hatte sie ganz bestimmt erreicht.

Ich überfliege die Monatsschrift vom Kinderhospiz. Auf der Rückseite stehen die Namen der in diesem Monat Verstorbenen. Karina ist nicht dabei. Ist sie schon an einem schöneren Ort? Meine Gedanken machen einen Riesensprung und befördern mich in den bequemen Sessel am Kamin des Pastors Florian.

 

Kamingespräche über Gott

 

Die neue Beziehung zur Istanbuler Kirchengemeinde hatte sich erfreulicherweise noch weiter vertieft. Ich durfte auch Pastor Florian kennenlernen. Nach getaner Redaktionsarbeit saß ich mit Brigitte und ihm bis spät in die Nacht am Kamin. Wir tranken französischen Kognak oder deutsches Bier. Das große Erdbeben war auch Anfang Dezember 1999 noch das beherrschende Thema. Und immer wieder stand die Frage im Raum: Warum lässt Gott das zu? Ich beobachtete mit Interesse, wie die beiden Geistlichen dieser Frage offenbar auszuweichen schienen. Und dann kam das bis dahin Unausgesprochene doch noch zur Sprache.

Es war an einem dieser Abende. Ich saß schon eine Weile mit Florian zusammen. Brigitte war für eine Abendmesse eingeteilt worden. Als sie kam, hatten wir den Eindruck, dass sie Tränen unterdrückte. Wortlos reichte Florian ihr einen Kognak, kommentarlos trank sie. Dann brach es urplötzlich aus ihr heraus.

„Ich kann nicht mehr. Das ist zu viel für mich. Was soll ich antworten auf all die Fragen? Was soll ich erwidern, wenn sie sagen: Wozu noch in die Kirche gehen, wenn Gott so brutal meine Familie auseinanderreißt? Was soll ich sagen, wenn sie ihren barmherzigen Gott einfordern?“

Ich hatte nicht den Eindruck, dass Florian eine Antwort geben wollte. Brigitte sah mich durch einen Tränenschleier hindurch an. „Felix, ich will jetzt eine Antwort hören von einem, der ganz unbeteiligt, jedenfalls nicht selbst betroffen ist.“ Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet. Dass die Kirchenfrau mich so überfallartig überrumpelte, war offensichtlich auch Florian peinlich. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er Brigitte ein Zeichen gab. Lass gut sein, sollte das wohl heißen. Aber der Pastor befreite mich auch nicht davon, eine Antwort geben zu müssen. Nach einer Weile des Herumdrucksens kam mir der rettende Gedanke.

„Die Antwort wird dich nicht befriedigen, Brigitte, da sie das Problem nur indirekt berührt“, sagte ich vorsichtig. „Indirekt oder direkt, lass es raus“, drängte sie. Wenn ich mich recht erinnere, begann ich in etwa so:

„Wie ihr wisst, bin ich ein großer Liebhaber des Wagner´schen Musikdramas Der Ring des Nibelungen. In diesem Stück gibt es den Gottvater Wotan, der immer mit einem Speer in der Hand unterwegs ist. In diesem Speer sind die Runen der Welt eingeschnitzt, Gesetze, die er selbst geschaffen hat, die aber auch er nicht übertreten darf. Entsprechend wird auch Gott, so meine Vorstellung, bei Erdbeben oder anderen Katastrophen die Naturgesetze nicht aushebeln können oder wollen.“

Brigitte schaute mich kurz so an, als habe sie mich nicht ganz verstanden. Dann aber nickte sie erschöpft. Florian schenkte noch einmal nach. Wir wechselten schnell das Thema. Der Pastor gab bekannt, dass er zu Weihnachten nach Alanya kommen werde, um einen Ökumenischen Gottesdienst abzuhalten. Räumlichkeiten standen in einem türkischen Restaurant zur Verfügung. Ich sollte schon mal alles vorbereiten: Werbung, Tisch- und Wanddekoration, Tannenbaum usw. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Alanya zurück. Ich wusste zu der Zeit nicht, dass ich Brigitte und Florian nie mehr wiedersehen würde.

 

Rissen, 21. Juli 2015 – 16.17 Uhr

 

Wie sang doch damals Heinz Erhardt so schön: „Wenn ich einmal traurig bin, dann trinke ich ´nen Korn. Und wenn ich dann noch traurig bin…“ Wenn ich traurig bin, habe ich das Bedürfnis, der psychischen Abwärtsspirale noch einen gehörigen Schubs zu geben. Dann müssen traurige Lieder her. Am besten die „Winterreise“. Auch im Sommer – wie jetzt. Dann überkommt mich ein erhabenes Gefühl und ich gebe meiner Stimme so eine paradoxe Färbung von einem Piano, das mit einem Forte-fortissimo verschmolzen ist. Dann bin ich von meinen selbsterzeugten Gefühlen überwältigt, genau wie damals, als sich Heiligabend näherte, ein Tag, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Gottesdienst veranstalten sollte.

 

 

 Ein Do-it-yourself-Gottesdienst

 

Es war eine Woche vor Heiligabend. Es herrschte immer noch winterlicher Dauerregen, als Florian mich anrief.

„Ich kann leider nicht kommen, Felix“, eröffnete er mir, „eine Gemeinde im Erdbebengebiet braucht mich ganz dringend.“ Ich bedauerte, er bedauerte. Als er schließlich im Begriff war, aufzulegen, sagte ich schnell: „Kannst Du uns vielleicht eine Videobotschaft schicken, so etwas wie eine Predigt auf Video?“ Ich merkte, wie er mit sich rang. „Ich werde es mir überlegen“, sagte er schnell und legte auf.

Schon am nächsten Tag rief ich den Pastor an. Ich hatte keine gute Nachricht. Der türkische Restaurantbesitzer mache irgendwo Urlaub und sei nicht zu erreichen, sagte ich ihm. Durch die Fenster habe man sehen können, dass noch kein weihnachtlicher Schmuck, kein Tannenbaum vorhanden sei. Ich schlug vor, den Gottesdienst in einem am Strand gelegenen Restaurant abzuhalten. Hier sei schon alles vorhanden: Weihnachtliche Dekoration, ein großer Tannenbaum und sogar eine Bühne.

Die Stimme des Pastors klang plötzlich fremd und unfreundlich. „Ich will nicht, dass meine Predigt in diesem Lokal gezeigt wird“, bestimmte er. Ich solle das von ihm ausgesuchte Restaurant in der Innenstadt nehmen oder alles absagen. Seine Video-Predigt, die auf dem Postweg sei, solle ich in diesem Fall ungeöffnet zurückschicken.

Vor meinem geistigen Auge zogen all die Vorbereitungen vorbei, die ich schon getroffen hatte: Das Drucken und Verteilen der Plakate, die musikalischen Übungen mit meinem amerikanischen Freund Donald, die Vorgespräche mit dem Restaurantbesitzer am Strand…

Ich machte einen verzweifelten Versuch, Florian umzustimmen. Ich wandte ein, dass der türkische Restaurantbesitzer unerreichbar sei, dass dieser überhaupt keine Vorbereitungen getroffen habe. Ich machte ihm deutlich, dass ich in der kurzen Zeit keine Alternative hätte und froh sein könnte, dieses Strandrestaurant zur Verfügung zu haben.

Jetzt lernte ich einen ganz anderen Florian kennen. Ich musste den Telefonhörer weit vom Ohr halten, sosehr überschlug sich seine Stimme. Seine Wortwahl war verletzend und grob. Er entzog mir das „Du“ und verbot mir, mich in dieser Sache noch weiter zu engagieren. Damit war für ihn die Sache erledigt. Er knallte grußlos den Hörer auf.

Ich stand vor einem Scherbenhaufen. Sollte ich alles absagen, wie es der Pastor gefordert hatte?

Mir fielen all die Leute ein, die mir in der Stadt begegnet waren und mir ihre Freude über die bevorstehende Gottesdienst-Veranstaltung unverhohlen zeigten. Seit vielen Jahren hatte es so etwas hier in Alanya nicht gegeben. Noch am selben Tag sagte ich mir: Nein! Keine Absage. Ich trat die Flucht nach vorn an. Ich buchte verbindlich den schönen Raum im Strandrestaurant, besuchte alle Treffpunkte der Deutschen und änderte handschriftlich die Plakate ab. Der Wegfall von Florians Video-Predigt erforderte eine Änderung des gesamten Programms. Mein Team für diese Veranstaltung musste schleunigst zusammentreffen. Es waren neben meiner damaligen Frau Karen der schon erwähnte Amerikaner Donald, der in Alanya lebte und in den Hotels mit Gitarre, Geige und Trompete Live-Musik machte. Ein noch unsicherer Kandidat in diesem Vierer-Team war Detlef. Er war Frührentner, kam aus Berlin und war in Alanya Dauergast. Sein Problem: Er litt unter starken Depressionen, musste ständig Tabletten einnehmen, um den Tag durchzustehen. Ich hatte ihn schon Tage zuvor gefragt, ob er mitmachen wolle. Seine Reaktion war immer die gleiche: Er schüttelte heftig den Kopf und zuckte bedauernd die Schultern. „Du weißt ja, Felix, was mein Problem ist“, sagte er nur. Natürlich kannte ich seine Geschichte bis in alle Einzelheiten. Er hatte sich schon in den letzten Jahren kaum noch etwas in der Art zugetraut. Dabei war dieser Sohn einer Bibliothekarin und eines Pastors ein Schöngeist. Wir hatten ein tiefes Vertrauensverhältnis zueinander. Deshalb machte ich einen Versuch. „Kannst Du Dir vorstellen, Deine Grenzen einmal bei einer Probe auszutesten?“, fragte ich ihn. Nach einigem Hin und Her willigte Detlef ein.

Ich entschied, die Programm-Besprechung mit einer Probe zu verbinden, und zwar noch am selben Abend.

Donald sagte sofort zu. Karen wollte eigentlich nicht mitkommen. Es war nicht das erste Mal, dass sie an meinen Entscheidungen etwas auszusetzen hatte. Oft auch nur aus Prinzip. Wir spürten beide, dass unsere Ehe in den letzten Zügen lag. Aber diese Veranstaltung wollte sie sich nun doch nicht entgehen lassen. Also kam sie mit. Donald war wie immer als Erster da. Detlef kam zu unser aller Überraschung mit der Nachricht, dass er es probieren wolle.

Wir gingen die Programmfolge durch. Diese Veranstaltung sollte eine Mischung aus Gottesdienst, Konzert und Weihnachtsfeier werden. Mein amerikanischer Freund hatte schon fleißig deutsche Weihnachtslieder auf dem Keyboard bzw. auf seiner Gitarre geübt. Außerdem sollte er mich begleiten, wenn ich einige arienartige Weihnachtslieder von Peter Cornelius singen würde. Karen und Detlef sollten zwischen den Musikdarbietungen die Weihnachtsgeschichte vorlesen. Auch war es ihre Aufgabe, sich bei der Lesung von Psalmen und Gebeten abzulösen. Als Ersatz für das nicht vorhandene Video des Pastors war eine kleine Ansprache von mir vorgesehen. Mit Rücksicht auf die zu erwartenden unterschiedlichen Religionen war mein Vortrag mehr weltlich-philosophischer Natur. Mein Kernsatz: Wer Barmherzigkeit von seinem Gott erwartet, solle selber zuerst seinen Mitmenschen Warmherzigkeit entgegenbringen. Es klappte alles so gut, dass wir auf eine weitere Probe verzichteten.

Am Heiligabend hatte sich der Regen noch verstärkt. Auf den Straßen hatte sich eine zentimeterhohe Wasserschicht gebildet. Die Veranstaltung sollte um 16 Uhr beginnen. Schon eine Stunde vorher waren wir vier auf der Bühne und trafen unsere Vorbereitungen. Es war schon kurz vor vier, als sich noch kein Besucher blicken ließ. Dann trafen einige wenige Leute ein, frierend, teilweise durchnässt. Einige berichteten uns, sie hätten vor dem türkischen Lokal eine Menschenansammlung gesehen, die angesichts des starken Regens wieder umkehren wollte. Offenbar hatten die meisten Menschen meine Änderungen auf den Plakaten nicht mehr wahrgenommen. Sofort fuhren einige befreundete Türken mit ihren Privatwagen oder Taxen dorthin. Gerade noch rechtzeitig. Sie brachten eine fröhliche Schar von Menschen mit, die auch den allerletzten Platz besetzten. Mit halbstündiger Verspätung konnten wir beginnen.

Schon sehr schnell knüpfte sich ein wunderbares Band zwischen den Besuchern und uns Akteuren auf der Bühne. Es entwickelte sich bald so etwas wie eine andächtige Fröhlichkeit als Altbekanntes, wie die Weihnachtsgeschichte, und weniger Bekanntes, wie die arienartigen Weihnachtslieder von Peter Cornelius, dargeboten wurden. Man geizte nicht mit Applaus, insbesondere als Donald zum Schluss das beliebte „White Christmas“ sang. Die Gäste waren sichtlich froh, als sie nach Beendigung des offiziellen Teils noch zum Bleiben aufgefordert wurden. Denn da draußen regnete es in Strömen und hier war es trocken, warm und gemütlich. Es roch nach Weihnachtspunsch und Tannengrün.

Detlef, der sich mit einigen Bekannten unterhielt, rief mir zu: „Der Herr drüben möchte dich sprechen.“ Ich ging an den Tisch. Ein älterer Herr stellte sich als Pfarrer Sandle aus Bayern vor. Er bat mich, an seinem Tisch Platz zu nehmen.

„Sie haben sicherlich an dieser Art des Gottesdienstes etwas auszusetzen“, kam ich dem Kirchenmann zuvor. Er hob abwehrend beide Hände. „Aber wo denken Sie hin?“, sagte er. „Ich habe mich lange nicht so wohlgefühlt. Ich wollte den Menschen kennenlernen, der so etwas auf die Beine stellt.“ Er werde jetzt die Türkei in überaus guter Erinnerung behalten.

Am Nebentisch wurden Geschenke ausgepackt. Ich schaute mich weiter um. Tatsächlich. An jedem Tisch schien so etwas wie eine Bescherung stattzufinden. Menschen umarmten sich und hatten Tränen in den Augen. Pfarrer Sandle, der ebenfalls seinen Blick durch den Saal hatte schweifen lassen, schaute mich unvermittelt an: „Sie haben viele Menschen glücklich gemacht.“ Und damit hatte er wiederum auch mich glücklich gemacht. Denn solche Worte aus dem Mund eines Pfarrers… Ich musste an Florian denken. Offenbar hatte ich einen Freund verloren.

Und so kam es, dass ich meine Freunde aus Istanbul, die Pastoren Brigitte und Florian, nicht mehr wiedersah. Brigitte rief mich zwar noch einmal an, aber nur um zu sagen, dass sie mir ein weiteres Zusammentreffen mit Florian nicht zumuten wolle. Damit war auch meine Mitarbeit als Chefredakteur ihrer Monatsschrift beendet.

 

Rissen, 24. Juli 2015 – 14.11 Uhr

 

Heute ist wieder einmal Freitag. Es ist unfassbar, wie schnell eine Woche vorüber ist. Da muss man sich in meinem Alter schon Sorgen machen. Muss man? Man muss. Zwar lebe ich brav nach dem Vorsatz „Carpe diem“ (Nutze den Tag!), aber was ich da an Stunden nutze, reicht hinten und vorn nicht. Nach schnödem Einkauf und popeligem Saubermachen, dauert es manchmal Stunden, bis ich in die faszinierende Welt meiner Figuren eingetaucht bin. Schreiben ist ja nicht wie Rasenmähen oder Essen kochen. Und mit diesen Tätigkeiten bin ich hinreichend vertraut.

Mein väterlicher Freund und Autor Walter aus Brüssel, der mich in die Schriftstellerei eingeführt hatte, gestand mir einmal: „Ich beschäftige mich lieber mit meinen Romanfiguren, als mit den Menschen um mich herum.“ Na, du bist mir ja einer…, dachte ich damals nur. Heute kann ich ihn ganz gut verstehen. Es ist eine Sucht, die Schmerzen bereitet. Ich kann meinen großen Vorbildern nur beipflichten, wenn sie sagen: „Schreiben ist eine große Quälerei!“ Lessing meinte sogar: „Die Schriftstellerei ist die widerwärtigste und abgeschmackteste Beschäftigung. Lass dich von mir warnen!“

Für Heinrich Böll bedeutete Schreiben ein ständiges Verwandeln und Wieder-Zusammensetzen. Das sei ein sehr komplizierter Vorgang, wo Bewusstes und Unbewusstes sich ständig mischen. Er nannte den Autor auch einen „geistigen Schauspieler“. Das hatte ich verstanden. Mir kamen diese Worte damals in Alanya in den Sinn, als es darum ging, eine Komödie in kürzester Zeit schreiben zu müssen. Helge, der Protagonist meines Stückes, beherrschte den Trick, sich durch Selbsthypnose dermaßen in die darzustellende Person hineinzuversetzen, dass er glaubte, diese selber zu sein.

 

Theater im Keller des Hotels

 

Wenn ich an meine Theaterzeit in Alanya zurückdenke, muss ich ein wenig ausholen. Alles hatte ja damit angefangen, dass der Dauerregen und meine Erkrankung Karen und mich zwangen, Ertans Hütte fluchtartig zu verlassen. Bevor wir eine Bleibe in Alanya fanden, bezogen wir im Hotel Riviera Quartier. Wir besuchten regelmäßig an Wochenenden Donalds Auftritte in diesem Hotel. Das war zunächst unsere einzige Abwechslung. Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, mich nach dem langen Krankenhausaufenthalt etwas mehr zu bewegen. Ich fragte nach dem Fitnessraum. Eine Mitarbeiterin des Hotels führte mich in den Keller. Was ich vorfand, begeisterte mich wenig. Der Raum war wohl recht groß und gut belüftet, die Fitness-Geräte aber hatten schon bessere Zeiten gesehen und schienen kaum noch funktionsfähig zu sein. Ich probierte ein paar Übungen an einem dieser Geräte. Es klemmte und quietschte nur. Schließlich gab ich auf.

Schon wollte ich den Raum verlassen, als ich sah, dass auf einem Podest eine große Anzahl von aufgestapelten Stühlen stand. Ich fragte das Personal. Ja, das sei früher mal ein Raum für Unterhaltung und Vorführungen gewesen. Und richtig. Unter den vielen Stühlen verbarg sich eine Bühne. Wahnsinn! Ich hatte einen Raum mit Bühne entdeckt. Hier könnte ich Theater spielen! Noch am selben Tag ging ich zum Geschäftsführer Mustafa, der zusammen mit seinen zwei Brüdern Eigentümer dieses Hotels war. Mustafa erwies sich leider als wenig flexibel. Veränderungen waren ihm ein Gräuel. Ich warf ihm vor, dass der Fitnessraum ein Witz sei, fragte ihn, ob er jemals einen Hotelgast an diesen Geräten habe schwitzen sehen.

„Das ist nicht entscheidend“, sagte Mustafa sehr ernst. „Wenn wir den Fitnessraum auflösen, verlieren wir möglicherweise den dritten Stern.“ Reichlich niedergeschlagen verließ ich sein Büro.

Am nächsten Abend war wieder Live-Musik im Speisesaal. Wie immer kam Donald in der Pause an unseren Tisch. Ich erzählte ihm von meinem Gespräch mit Mustafa. „Ja, ja, das ist Alanya“, sinnierte unser Freund. „Die Kunst ist klein, das Geld ist groß. Das wirst du, lieber Felix, auch noch erfahren. Da macht dieses Hotel keine Ausnahme…“

„Welche Ausnahme macht unser Hotel nicht?“ Die Stimme kam vom Nebentisch. Es war Mehmet, der Bruder von Mustafa, Miteigentümer des Hotels. Er hatte sehr langsam in gebrochenem Deutsch gesprochen. Donald antwortete ihm auf Türkisch, erzählte ihm von meinen Theaterplänen und meinem Gespräch mit seinem Bruder Mustafa. Mehmet steckte sich seelenruhig eine Zigarette an und lehnte sich nachdenklich zurück. Karen, Donald und ich sahen ihm gebannt zu. Keiner von uns wagte eine störende Bemerkung. Schließlich rückte Mehmet seinen Stuhl näher an unseren Tisch und sagte wieder in seinem langsamen Deutsch: „Das Problem ist einfach zu lösen. Der Raum ist groß genug für beides – Theater und Fitness. Problem yok!“ Dieses „Problem yok“ (Ein Problem gibt es nicht) hört man in der Türkei tausendfach. Es steht dafür: Dieses Problem gibt es zwar, wird aber von einem Türken wie ich einer bin, einfach ignoriert.

Ich warf noch ein, dass diese Geräte unbrauchbar seien… - „Problem yok!“, beendete er das Gespräch. Noch am selben Abend gewannen wir Donald für die Musik, die unserer noch zu schreibenden Komödie den nötigen Pepp geben sollte. Ich genehmigte mir nur 14 Tage für das Schreiben des Stücks. Weitere 14 Tage sollten für die Proben reichen. Schon bald stand das Konzept fest. Ich ging von der zunächst noch schmucklosen kleinen Bühne im Keller des Hotels aus. Ich musste aus diesen wenigen Quadratmetern ein „Hotelzimmer“ machen. Die Bühne war also ein Zimmer im Hotel Riviera. So konnte ich schon mal alle Gags und Anekdoten unterbringen, die sich rund um dieses Hotel rankten. Und nun die Geschichte selbst: Der umschwärmte Schauspieler Helge Bendusi (in Anlehnung an meinen Namen) aus Hamburg flieht vor seiner Verlobten Vera und deren erpresserischen Heiratsplänen. Er braucht Zeit für sich selbst, da er sich für eine neue Rolle vorbereiten muss.

 

 

Ich musste einige Nachtschichten einlegen, um die Komödie in dieser kurzen Zeit zu schreiben.

 

 

Probe im Wohnzimmer

 

Sie folgt ihm durch halb Europa und landet wie er im Hotel Riviera von Alanya. Was beide nicht wissen: Eine glühende Verehrerin, die sich aus der Masse der Fan-Gruppe durch Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit hervorhebt, ist ebenfalls mitgereist, um ihrem Idol ganz nahe zu sein. Sie nähert sich ihm in allerlei Verkleidungen – mal als Schuhputzer, dann wieder als Putzfrau oder auch als Masseurin.

 

Bei dieser Szene standen vielen Besuchern

die Tränen in den Augen.

Karen als Schuhputzer, ich als Helge,

der das herzzerreißende Schuhputzer-Lied sang.

 

Dabei platzt sie gerade dann in sein Zimmer, wenn er seine Rolle probt. Helge probt aber nicht wie all seine anderen Kollegen. Er hat herausgefunden, dass man die darzustellende Figur besser verinnerlichen kann, wenn man eine Art Selbsthypnose voranstellt. So ist er ständig in Trance, und wenn es an seiner Tür klopft, spricht er die Eindringlinge so an, als seien sie seine Mitspieler auf der Bühne. Es war ein Stück voller Verwechslungen, Irrungen und Wirrungen. Für Türken ein besonderer Leckerbissen, weil sie hier sehen konnten, wie Deutsche das Land betrachten. Das Stück hieß ursprünglich „Eine Frau wie ein Erdbeben“. Gemeint war der weibliche Fan, der sich zum Schluss als Katharina zu erkennen gab. Nur die wenigsten Theaterbesucher erkannten sogleich, dass all diese aufdringlichen Störenfriede von Karan allein dargestellt wurden. Ganz zum Schluss erscheint „Vera“ (ebenfalls von Karen dargestellt), von der immer nur die Rede war, vorüber. Ja, auch wir waren mit uns nicht unzufrieden. Nach der 50. Vorstellung waren wir schon so gut aufeinander eingespielt, dass alles leicht fiel. Wir waren nach der Vorstellung auch nicht mehr so kaputt, wie nach den ersten Aufführungen. Wir hatten durch das Theater viele interessante Menschen kennengelernt. Und Alanya war um eine Attraktion reicher geworden. die aber niemand bis dahin zu Gesicht bekommen hatte.

Auch Donald hatten wir zu einer winzigen Rolle überreden können. Er machte zwar hauptsächlich die Musik zwischen den Akten mit Gitarre oder Keyboard (so die Sphärenklänge, wenn Helge in Selbsthypnose abdriftete), er hatte aber auch einen türkischen Tanz der Putzfrau und das traurige Schuhputzer-Lied zu begleiten. Aber immer dann, wenn das Publikum überhaupt nicht damit rechnete, stand Donald mit einem Tablett auf der Bühne und sagte in seinem charmanten Deutsch: „Zimmerservice!“ Es folgte regelmäßig ein brüllendes Gelächter.

Wir spielten das Stück nun jeden Abend, außer natürlich an Wochenende, wenn Donald seine Hotel-Auftritte hatte. Unser Keller war inzwischen schön dekoriert, die Fitnessgeräte waren durch eine spanische Wand getrennt und außer Sicht. Über Besuchermangel mussten wir uns nicht beklagen. Theaterkarten fanden an der Rezeption reißenden Absatz. Gäste aus dem Hotel kamen jetzt schon mehrmals. Es folgten Urlauber aus anderen Hotels.

Und dann waren sogar richtig eingefleischte Fans dabei, die für uns unaufgefordert Reklame machten. Einmal konnten wir Mäuschen spielen. Unsere Parterre-Wohnung lag nur wenige Häuser neben dem Hotel Riviera. Aufgekratzte Touristen zogen oft grölend an unserem Schlafzimmerfenster vorbei. Oft musste ich mir die Ohren zuhalten. Bis Karen mich einmal anstieß und sagte: „Hör´ mal!“

 

Bei der Hitze in Alanya spielte ich mich manchmal schwindelig.

 

„Das musst du gesehen haben, sage ich dir. Kalle, du machst dir in die Hose! Geil, sag ich dir. Da spielen nur zwei Personen, aber du denkst, das ist ein halbes Dutzend. Donald ist auch dabei, ich sag dir…“

Was der unbekannte Fan da draußen dem Kalle sonst noch sagen wollte, hätte ich gern gehört. Aber die Menschengruppe war schon außer Hörweite.

 

 

Rissen, 28. Juli 2015 – 7.04 Uhr

 

Rumms. Wenn Larysa die Haustür etwas forsch hinter sich zuzieht, bekomme ich regelmäßig so ein Ziehen in der Herzgegend. Dann fühle ich, dass es sie wieder einmal große Überwindung kostet, den eineinhalb Stunden langen Weg zur Arbeitsstelle anzutreten. Wir träumen seit Jahren von einer eigenen Praxis. Aber was wir bisher gesehen haben, ist keine Verbesserung gegenüber ihrer jetzigen Stellung. Wir sind jetzt elf Jahre verheiratet, und wenn ich diese Zeitstrecke überschaue, wird mir erst richtig klar, was wir an Höhen und Tiefen haben durchmachen müssen. Wir lernten uns über Internet-Kontakt in Kiew kennen. Vorangegangen war ein reger Briefwechsel auf Englisch. Schließlich lud sie mich in die Ukraine ein. Ich war entsetzlich aufgeregt. Schließlich sollte ich einer Frau begegnen, die ich nur von Bildern kannte. Und dann würde ich so Hals über Kopf in eine fremde Kultur eintauchen. Als ich ihr gegenübertrat, war sofort die Anspannung verflogen. Sie kam mir schmunzelnd entgegen und machte meinen „Paulchen-Panter-Schritt“ nach. Wir mussten beide herzlich lachen und lagen uns in den Armen. Die etwa sechsstündige Busfahrt nach Lutzk war eine willkommene und ausreichende Zeit, um sich in jeder Hinsicht näherzukommen.

Larysa – als ich sie kennenlernte

 

Es folgten mehrere ihrer Gegenbesuche. In Alanya verlobten wir uns und planten schließlich unsere Zukunft in Hamburg. Der Start in Deutschland war zunächst holperig und beschwerlich. Ich bildete die Vorhut und beschaffte uns erst einmal eine Wohnung und kaufte Möbel. Als Larysa kam, war sie eine Zeitlang sehr niedergeschlagen. Sie hatte ihre Arbeitsstelle, eine Rettungsstation, in der sie als Notärztin beschäftigt war, kündigen müssen. Viele Freunde, die ihr ans Herz gewachsen waren, musste sie zurücklassen. - Und hier in Deutschland? Zunächst schien es so, als würde sie überhaupt nicht Fuß fassen können. Ihre ukrainische Approbation, die Anerkennung als Internistin, all ihre Fachfortbildungszertifikate – nichts von all dem wurde anerkannt. Der Grund? Sie stammt nicht aus einem EU-Land. Nun gibt es für Larysa nichts Schlimmeres, als zur Untätigkeit verdammt zu sein. Sie bewarb sich und bekam eine Assistentenstelle in der Intensivstation des Krankenhauses Winsen. Etwas später durfte sie in der Notaufnahme des Krankenhauses Buchholz hospitieren. Aber das war ja alles nichts für eine Frau, die schon als Fachärztin tätig gewesen war. Aber es half alles nichts.

 

Strandvergnügen mit Larysa

 

 

Trauung mit Dolmetscherin

 

 

Sie besuchte eine Schule, um die „Gleichwertigkeit“ mit deutschen Ärzten zu erreichen und musste sich einer Prüfung unterziehen, um die deutsche Approbation zu erwerben. Auf Borkum bekam sie im Zuge ihrer Weiterbildung zur Fachärztin eine Stellung als Stationsärztin in einer Lungenklinik. Nach dreieinhalb Jahren ging es zurück nach Hamburg, wo sie in mehreren niedergelassenen Praxen das Soll für ihre Facharztausbildung erfüllte. Dann endlich die Facharztprüfung und sie konnte wieder das sein, was sie in der Ukraine schon lange war: eine Fachärztin für Allgemeinmedizin (in der Ukraine hätte sie allerdings noch „und Inneres“ hinzufügen können).

 

Sicher ist sie inzwischen an ihrem Arbeitsplatz.

 

 

Das Ziehen in meiner Herzgegend ist verflogen. Mir fällt nach dieser Betrachtung auch etwas Positives ein: Die langen Durststrecken und nervigen Auf und Abs haben unserer Ehe nicht geschadet. Auch nicht angesichts meiner chronischen Erkrankung. Natürlich hatte auch bei mir der abrupte Weggang von Alanya einige seelische Blessuren hinterlassen. Tat mir das alles nicht gut? Diese fröhlichen Menschen, das milde, warme Klima, meine herrliche Wohnung mit Blick auf den Kleopatra-Strand… Und dann noch der ganz große Knüller, als ein Fernsehsender mir anbot, eine eigene Sendung zu moderieren.

 

 

Fernsehmoderator

in einer Live-Show

 

Wenn mich heute jemand fragt, wie ich Fernsehmoderator einer eigenen Live-Show in der Türkei werden konnte, dann kann ich nur sagen: Zufall. Ich hatte wohl schon länger mit dem Gedanken gespielt, eine der zwei Fernsehanstalten in Alanya zu besuchen und meine Dienste anzubieten. Lange Zeit aber fand ich nicht die Leute, die durch ihre Beziehungen mir den Weg hätten ebnen können. Und dann saß mir kein Geringerer als der Intendant vom Alanya Television (ATV) gegenüber. Wenn ich mich recht erinnere, hat ihn mein Freund Helmut an meinen Tisch geholt, als ich wieder einmal Donalds Musikshow beiwohnte. Helmut, der in Deutschland als Ingenieur gearbeitet hatte, in der Türkei schon sehr viel länger lebte und ausgezeichnete Beziehungen besaß, bot sich als Dolmetscher an. Zunächst unterrichtete er den Fernsehmann auf Türkisch, was meine Person betraf. Was ich verstand, ließ mir das Blut ins Gesicht schießen. Ich durfte erfahren, dass ich ein „fantastischer“ Journalist sei mit großen Erfahrungen bei Presse, Rundfunk und Fernsehen. Eine Live-Sendung? Problem yok! - Was für ein Unsinn, dachte ich. Fernsehen hatte ich noch nie gemacht. Und den Rundfunk lernte ich nur kurz während meiner Ausbildung in der Akademie für Publizistik kennen. Aber eine Live-Sendung? Nein, das wäre für mich als Anfänger eine absolute Katastrophe. Selbst „alte Fernsehhasen“ haben davor großen Respekt, wenn nicht gar Angst.

Der Intendant (seinen Namen habe ich vergessen) hatte während Helmuts Ausführungen immer nur anerkennend genickt und mir freundlich zugelächelt. Jetzt wandte er sich mir kurz zu, bot mir eine Zigarette an, stand auf und schaute auf die Uhr. Er sagte noch etwas zu Helmut, was ich nicht verstand. Dann hob er zum Gruß die Hand, murmelte ein „Iyi akschamlar“ und verschwand. Als er außer Hörweite war, reichte Helmut noch die Übersetzung seiner letzten Worte nach. Sein Sender mache zwischen den Werbeblocks nur Live-Sendungen. Nicht zuletzt, weil für eine Aufzeichnung und Archivierung das Personal und die Technik fehle. Wenn ich türkische Beiträge für Deutsche aufbereiten wolle, müsse ich diese privat aufzeichnen. Auch eine Probe beim Sender sei nicht möglich. Ich solle mir alles gründlich überlegen.

Wir bestellten uns noch ein Bier. Donald sang von dem „Girl in Kingston-Town“. Nach einer Weile des Schweigens sagte ich zu Helmut: „Ich glaube, ich muss absagen.“ Ich dachte an mein Theater in Hamburg und meine Komödie im Riviera-Hotel, die nach der Trennung von Karen nicht mehr aufgeführt wurde. Wieviel Zeit für Proben hatten wir doch für jede Produktion investiert. Und trotzdem war hier und da ein Patzer zu überstehen. Aber eine Fernsehsendung so ganz ohne Probe und live?

Helmut schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er sagte plötzlich: „Bleib locker, Felix, ich werde dir helfen.“ Auch seine Freundin werde bestimmt mitmachen. Und dann würde er auch noch eine Nachrichtensprecherin finden. „Oder will vielleicht Deine Frau dabei sein?“ Ja, das war Helmut mit seinem ätzenden Humor. Er wusste sehr wohl, dass ich mich von Karen schon vor Monaten getrennt hatte. Ich solle „locker“ und „geschmeidig“ bleiben (seine Lieblingsausdrücke) und eine Live-Sendung im türkischen Fernsehen nicht sonderlich ernst nehmen. Hier seien Pannen an der Tagesordnung. Ich glaube nicht, dass mich das damals beruhigte.

Als Donald in der Pause an unseren Tisch kam, war Fernsehen kein Thema mehr.

Ich weiß noch, wie ich einige Tage später mit Einkaufstüten aus dem Fahrstuhl trat und Edith begegnete. Ich lebte nämlich Tür an Tür mit der Deutschen, die mit einem Türken verheiratet war. Edith hatte wohl gerade Hausputz, denn sie wischte offenbar abschließend vor ihrer Wohnungstür. Als sie aufschaute und mir zulächelte, projizierte ich plötzlich einer Eingebung folgend ihr schönes Gesichtchen mit den großen Augen auf einen Bildschirm. Das war es doch: Edith! Wir waren schon sehr vertraut miteinander, halfen uns gegenseitig, wo es nötig war. Und so war sie keineswegs erschreckt, als ich um ein Gespräch bat. Wir gingen in ihre frisch gewischte Wohnung, in die ich den Straßenstaub schleppte.

Edith zog mich schnell in die Küche, damit sich der Schaden in Grenzen hielt. „Hast du Lust in meiner Fernsehsendung als Nachrichtensprecherin mitzuwirken“, platzte ich heraus. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Erschrecken, wechselte zu Ungläubigkeit und mündete in großer Freude. Ja, natürlich wolle sie. Ein Traum gehe für sie in Erfüllung.

Nun kam die Zeit der Vorbereitungen. Wenn wir schon nicht im Studio proben konnten, mussten wir es wenigstens in unserer Wohnung tun. Um dem Ganzen ein wenig Studioatmosphäre zu verleihen, ließ ich meine Super-8-Kamera mitlaufen. Edith korrigierte mich bei den einzelnen Moderationsabschnitten, damit ich immer nur in die Kamera schaute und nur im Notfall aufs Blatt. Ich wiederum coachte Edith beim Verlesen der Nachrichten. Das machte uns beiden riesigen Spaß.

Interview mit dem Bürgermeister von Alanya.

 

Helmut hatte sich als Verbindungsmann zum Sender zur Verfügung gestellt. Es war ausgemacht, dass er und seine Freundin im Regieraum den Türken zur Hand gehen würden.

Nur so war gewährleistet, dass immer die richtige Kamera aufnahm. Edith sollte zwischen meinen Moderationsthemen immer eine begrenzte Anzahl von Nachrichten – meist Interessantes und Kurioses mit Humor gespickt – verlesen. Irgendwann liehen wir uns noch von einem Hotel schöne Möbel für unsere etwas ausgefallene Kulisse. Ich lud mir für die erste Sendung einen Internisten ein, den ich im Krankenhaus kennengelernt hatte.

Und dann war der Tag plötzlich da – viel zu früh für uns alle. Edith war noch schnell zum Friseur gelaufen und hatte sich das Haar hochstecken und Blumen hineinbinden lassen. Unsere Kulisse mit Palmen, Strand und Beach-Cocktail sollte den Zuschauern Entspannung und Wohlbefinden suggerieren. Es war Donnerstag um 21 Uhr, als wir unsere Plätze einnahmen. Der Internist links, ich in der Mitte, Edith rechts (von den drei Kameras aus gesehen). Die Sendung war für 21.30 Uhr angesetzt. Aber hier nahm man das nicht so genau. Es konnte genauso passieren, dass die Sendung plötzlich zehn Minuten früher losgehen musste. Vor uns auf dem Fußboden war ein Monitor, auf dem wir das laufende Werbeprogramm sahen. Die Spannung war zum Zerreißen. Dann ganz plötzlich – und einige Minuten zu früh – erklang die Erkennungsmelodie meines Magazins.

 

.

Nach dem Vorspann grinste mich die Karikatur eines Touristen an.

 

„Felix-Magazin“ war in roten Lettern zu lesen, rechts untereinander die Worte „Meldungen – Menschen – Meinungen“. Links daneben liefen in einer Endlosschleife Szenen aus meinem Theater. - Nicht schlecht, dieser Vorspann, dachte ich noch, als ich auch schon von meinem eigenen Bild überrumpelt wurde. Mich grinste die Karikatur eines Touristen an – mit Hawaii-Hemd, Strohhut und Sonnenbrille. Nach meinem „Willkommen bei Felix…“ fühlte ich mich genötigt, mein Outfit zu erklären, die Palmen und den Beach-Cocktail und Ediths Blumen im Haar. „…so stellen sich doch die Lieben in Deutschland unseren Alltag hier vor,“ schloss ich. In diesem Magazin würden die Zuschauer aber erfahren, wie das Leben in Alanya und Umgebung wirklich sei, versprach ich.

Diese erste Sendung verlief erstaunlich reibungslos. Nun waren jetzt noch keine Anrufer dabei, die uns vielleicht hätten aus dem Konzept bringen können. Wenn ich mir heute noch einmal diese und jene Sendung ansehe, die ich damals auf VHS-Kassette habe aufnehmen lassen, so kann ich auch bei all den folgenden ca. 20 Sendungen keine Pannen entdecken. Ich hatte keine Probleme, die Alanya-Prominenz in meine Sendung zu holen. Das wiederum führte dazu, dass sich die Anrufe während der Sendung häuften.

Meinen Hang zur Satire lebte ich in meinen

selbst geschriebenen Sketchen aus.

Hier als "Trudchen" , die von einem Türken

so gründlich ausgenommen wurde,

dass sie den Heimflug antreten musste.

 

 Auch hielt mir mein kleines Team die Treue, obwohl es wegen der schon erwähnten türkischen Gesetze keine Gage gab – Treue bis zum Schluss. Und dieser Schluss wurde uns aufgezwungen. Wie in all den vorangegangenen Sendungen nahm ich in meinen Moderationen alles, was uns beschäftigte immer etwas auf die Schippe. Auch in den Texten meiner Nachrichten war immer ein wenig Satire oder Kabarettistisches dabei. Erstes Störfeuer erlebte ich nach einer Sendung, in der ich den Verkehrsminister aus Ankara „lobte“, weil er in Gazipascha einen Flughafen hatte bauen lassen, der sich hinterher als unbrauchbar erwies. Die Start- und Landebahnen zwischen den Bergen und dem Meer waren einfach zu kurz. Ein Türke, der für den Konkurrenz-Sender in Alanya arbeitete, zeigte mich an. „Ich hätte die Türkei schlecht gemacht“, hieß es in der Begründung.

Als ich wenig später zu einem Besuch bei Larysa in der Ukraine weilte, erreichte mich Donalds Anruf. „Felix, komm bitte jetzt nicht nach Alanya. Die Gendarmerie stand vor deiner Tür.“ Ich ließ also die nötige Zeit verstreichen und fuhr dann doch wieder nach Alanya zurück, um meinen 60. Geburtstag vorzubereiten. Es war ein letzter, unvergessener Höhepunkt in der Türkei. In einem Musik-Restaurant, hoch auf einem Berg, feierte ich mit all meinen Freunden. Eine Bauchtänzerin war engagiert, die Musik kam von Donald und vom Wirt, wir aßen Räucherforellen und tranken Raki. Freude pur war jedoch der Besuch von meiner Tochter Europa und meinem Sohn Gerrit. Im Gepäck hatten beide einen unvergessenen Schatz, einen musikalischen Streifzug durch mein Leben. Auf der kleinen Bühne rührten sie ein andächtiges Publikum zu Tränen. Natürlich habe ich dieses Kleinod heute noch auf Video. Titel: „Der Mann mit der Zigeunerseele…“

 

Ende

 

Ein Wort zu guter Letzt

Das war also meine Geschichte. Aber war das wirklich alles? Hat man nicht hier und da etwas Entscheidendes vermisst? Natürlich. Die ganze familiäre Seite – Ehefrauen, Kinder, Enkel … Um das zu vertiefen, hätte es aber eines zweiten Buches bedurft oder einer „richtigen“ umfassenden Autobiografie. Diese „Erinnerungen“ sollten sich ganze bewusst nur auf das Berufliche und auf die außerberuflichen Neigungen beziehen.

 

 

 

Danke – danke – danke!

Bleibt nur noch zu danken – meiner Ehefrau Larysa, die mich immer wieder motivieren musste, wenn ich eine schreibfaule Phase hatte. Besonders habe ich mich über ihr Vorwort in Form eines Briefes gefreut. Ebenso möchte ich meinem Lektor Michael von Sehlen Dank sagen, der akribisch all das aufspürte, was ich übersah.

 

 

 

 

Kontakt mit dem Autor: www.felixbooks.info

 

© 2015 Felix H. Bendig

HelmutBendig@t-online.de

 

Lektorat

Michael von Sehlen, Minden

 

Titelfoto

Larysa Bespala

 

 

 

 

Sämtliche Veröffentlichungen

von

Felix H. Bendig

 

Romane

… und als der Morgen graute, wurde es Nacht

Hans-Joachim und Brigitte

Der Mann im Dunkeln (in Arbeit)

 

Bühnenstücke

Die Schöne und das Tier

Hänsel und Gretel

Rumpelstilzchen

Trudchen ante Portas

 

 

Biografien

Das kann doch nicht wahr sein!

Der Fall Hausinger

Er – Versuch eines Nachrufs

 

 

 

Erzählungen

Todsicher, Isolde!

Der Ausflug

 

 

Kurzgeschichten

Ein Denkmal für Mohrchen

Die Himmelsflüsterin

Sing noch einmal von Avezzano!

Unternehmergeist

Die Herausforderung

Christinchen

Katzenjammer am Weihnachtsabend

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

211

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.12.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist meiner lieben Frau Larysa gewidmet.

Nächste Seite
Seite 1 /