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Unternehmergeist

 

 

 

Unternehmergeist

 

 

Er ist jung und dynamisch, geht mindestens einmal die Woche zum Kuaför, kleidet sich europäisch, chauffiert eine nicht all zu alte Wagenklasse, trägt das obligatorische Handy an seinem Gürtel und lässt die Touristen nicht aus den Augen: der türkische Jungunternehmer aus Alanya.

Ein älteres Ehepaar aus Wuppertal, beide in Ehren ergraut, lernte ihn eines Abends kennen - und schätzen. Etwas verloren standen die beiden am Straßenrand. Sie hatten sich schon viel zu weit von der Innenstadt entfernt Und sie hatten bei ihrem ausgiebigen Bummel die Zeit vergessen. Nun war es dunkel, und in wenigen Minuten war Abendessen im Hotel. Aber da war kein Bus in Sicht. Nicht einmal ein Taxi. Und außerdem wurde es kalt. Ja, sehr kalt. Sie machte ihm bittere Vorwürfe. Er hätte sie ja auch mal daran erinnern können, dass sie ihre Strickjacke...

Da hielt unverhofft ein Wagen neben ihnen. Ein freundlicher Türke steckte seinen Kopf aus dem Wagenfenster und fragte, ob er ihnen helfen könne. Na, und ob er das konnte. Sie stiegen erleichtert ein und nannten ihr Hotel. Vergessen war die Not. Verziehen die falschen Töne. Er nahm glücklich ihre Hand, drückte sie und nickte zufrieden. Das war ja noch mal gut gegangen!

Plötzlich hielt der  Wagen. Aber sie waren noch nicht am Ziel. Ihr freundlicher Retter drehte sich mit gewinnendem Lächeln zu ihnen um. Nur eine Sekunde, ja? Er müsse schnell mal zu seinem Onkel ins Geschäft hereinschauen. Ob die beiden nicht doch lieber mitkommen möchten. Es sei drinnen auch viel wärmer. Natürlich. Das war ein Argument. So viel Fürsorge durfte nicht abgeschlagen werden. Also stieg das ergraute Paar - bereitwillig ihren Hunger unterdrückend, artig die Zeitnot verleugnend -  mit aus und betrat zusammen mit ihrem Wohltäter ein - Juweliergeschäft. Der gute Onkel hatte die Situation sofort im Griff und brachte heißen Tee. Irgendwie wurden die Herrschaften aus dem fernen Wuppertal das Gefühl nicht los, dass ihr Helfer in der Not sein Anliegen bei seinem Onkel vergessen haben musste. Denn es ging jetzt mehr darum, wie viel Zeit unbedingt nötig war, um zwischen Heimfahrt und Abendessen noch einen einmalig günstigen Juwelenkauf abzuschließen. Aber die beiden brauchten keinen Schmuck. Was sie brauchten, war ein reichhaltiges Abendessen. Also fuhren sie los.

Als der Wagen zum zweiten Mal hielt, wunderte es sie nicht mehr, dass sie noch nicht vor dem Hotel standen. Stattdessen parkten sie vor einem Ledergeschäft.

Der Jungunternehmer schaute  sich wieder zu ihnen um. Diesmal mit einem mehr entschuldigenden Lächeln. Ein zweiter Onkel? Der Wuppertaler wollte es nicht ironisch oder gar beleidigend klingen lassen. Aber es musste so geklungen haben, denn augenblicklich zeichnete sich auf dem Gesicht des Geschäftigen eine Spur von Schreck ab. Oh nein, das sei nur sein Bruder. Ob nun aus Entschädigung für diesen Fehlgriff oder aus Einsicht für die Zwänge des Familiensinns - die zwei stiegen mit ihm aus. Der Bruder musste schon gewusst haben, dass es zuvor schwarzen Tee gegeben hatte und reichte zur Abwechslung Apfeltee. Müde, hungrig, aber unerbittlich höflich inspizierten die Deutschen aus dem fernen Wuppertal die verschiedensten Schöpfungen der Lederprodukte. Die Ehefrau zog sich sogar eine von diesen Top-Modell-Jacken über. Nur so. Sie versprachen mit Nachdruck, schon am nächsten Tag wiederzukommen, nahmen etwas zu hastig ein paar Visitenkarten entgegen - auch für die anderen Hotelgäste, versteht sich. Und dann ging es endlich auf  direktem Wege zum Hotel. Nein, so viel Unternehmergeist durfte einfach nicht unterdrückt werden.

Impressum

Texte: Copyright by Felix H. Bendig
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem türkischen Freund Osman

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