Sie hatten beide im Afrika-Korps unter Rommel gedient. Beim geordneten Rückzug durch Italien verloren sie sich nie ganz aus den Augen. Und dann waren sie sogar in der Heimat wieder zusammen.
„Heiliger Bimbam, Kurt, du hier?“
„Michael, alter Kommisshengst, ich werd´ verrückt.“
Es war ausgemachte Sache, dass sie sich jetzt öfter sehen würden. Keine Frage. Sie trafen sich sogar mit ihren Frauen und Kindern. Und dann waren da noch die Himmelfahrtstage oder besser: Vatertage. Der Vatertag in der Heimat, davon hatten sie immer geträumt. Schon am frühen Nachmittag kamen sie zusammen – ein Jahr bei Kurt, das andere bei Michael. Man zog sich in die so genannte gute Stube zurück. Ungestört wollten sie sein, den billigen Fusel in sich hineinkippen und von alten Zeiten schwärmen.
„Weißt du noch, wie der alte Rommel die Engländer verkohlte?“ Kurt hatte immer gleich ein paar Beispiele zur Hand, während Michael schon ihr Lied anstimmte:
„…wenn drüben tausend Funken spritzen,
dann sehen wir den Tommy flitzen…“
„Nein, pass auf, das ging so: Wir lagen vor…“
Jedes Mal stockte Kurt an dieser Stelle. Aber auch Michael konnte sich bei vorgerückter Stunde nicht so schnell an den Ort erinnern. Das war einerseits ein Ärgernis, andererseits wollten sich die beiden nicht die gute Laune verderben lassen. Man sang trotzdem weiter und half sich etwa so:
„Wir lagen vor La-la-ano,
im Lande der Italiano,
die Gedanken in weiter Ferne,
in uns´ rer Heimat wär´n wir so gerne… -
Oho, oho, karimba, karacho, oho,
die Gedanken…“
Wenn das Lied mit den über 20 Strophen verklungen war, lagen sich Kurt und Michael in den Armen. Man hatte feuchte Augen. Und das nicht nur vom Alkohol. „Menschenskind, dass wir uns hier in der Heimat wieder gefunden haben…“
Es war eine glückliche Zeit. Nicht so zehn Jahre später. Kurt war wieder Ausrichter des Vatertag-Treffens. Es gab wahlweise Whisky on the rocks oder mit Soda, französischen Cognac, bayerisches Weißbier. Zur Begrüßung natürlich Champagner – überhaupt, alles nur vom Feinsten.
Kurt war wieder wer, wie er von sich zu sagen pflegte. Schon bald hatte er erkannt, dass man mit Schufterei nur auf der Stelle trat. Man musste sich vom großen Kuchen etwas abschneiden. Je größer das Stück, umso besser. Nur so konnte man Macht gewinnen. Und wer wollte auch bestreiten, dass Geld nun mal der Schlüssel zur Macht ist.
Zuerst handelte er mit Gebrauchtwagen – recht und schlecht. Dann übernahm er eine heruntergekommene Werkstatt für einen Spottpreis, stellte einen Meister mit dubiosem Ruf ein und kam durch ihn endlich an das große Geld.
Neuwagen wurden gebracht, die nur einfach umgespritzt werden mussten, Eilaufträge für den doppelten, ja, sogar dreifachen Preis. Das Geschäft blühte. Einzige Bedingung: Stillschweigen. Und: Die Auftraggeber durften nicht in den Büchern erscheinen.
Kurt gab seine bescheidene Stadtwohnung auf und kaufte eine pompöse Villa im vornehmen Westviertel. Sein Haus wurde mehr und mehr nächtlicher Treffpunkt dunkel gekleideter Herren, die ihre Gesichter hinter Sonnenbrillen verbargen.
Diese Geschäftswelt war für Kurt ein einziger Rausch. Die „hohen Herren“, wie Kurt sich ausdrückte, hatten immer so imponierend präzise Pläne. Er hatte lediglich die Aufgabe, einen bestimmten Wagen in vorgeschriebener Weise herzurichten, z. B. einen doppelten Boden einzuschweißen.
Michael merkte es sofort: Kurt fand an den Vatertags-Treffen kaum noch Gefallen. Auch nicht an den Liedern aus der Zeit des Kommiss. Er erzählte lieber von seinen Geschäften. Michael musterte ihn dann immer schweigend. Nein, er konnte die Prahlereien nicht mehr hören. Mein Gott, Kurt, dachte er dann, wie hast du dich verändert. Wie du so dasitzt, breitbeinig und selbstgefällig, in deinem Nadelstreifen, dem Diamanten in der Krawatte, den protzigen Ring am kleinen Finger… Ist das überhaupt noch mein Freund? Der gute alte Kurt? Dein Lachen ist unecht geworden. Und manchmal blickst du erschreckt zur Tür, als könnte da jemand kommen.
Und dann war das Treffen eingeschlafen. Einfach so. Bis zu jenem Vatertag, als Kurt anrief. Michael vernahm eine völlig fremd klingende, gebrochene Stimme:
„Hilf mir, Michael, bitte, hilf mir!!“ – Und mit halb erstickter Stimme: „Lass mich zu dir kommen, bitte! Ich will den alten Fusel riechen, will noch einmal unsere wehmütigen Lieder hören…, ja, und dann will ich… - Michael, bitte.“
Kurt kam, und Michael erschrak zutiefst. Kurts Augenhöhlen waren dunkel umschattet, seine Wangen eingefallen, das Kinn unrasiert, die Kleidung ungepflegt. Das war nicht mehr er selbst. Was musste dieser Mann durchgemacht haben!
Sein Bericht war kurz und erschütternd. Bei einer Razzia sei alles aufgeflogen. Das ganze Drogennetz. In seiner Garage habe man den Doppelboden eines Rolls-Royce aufgeschweißt und mehrere Kilo Heroin sichergestellt.
„Ich wurde verhaftet“, setzte Kurt seinen knappen Bericht fort und kippte mit geschlossenen Augen einen Korn hinunter. „Als die Kripo mit mir abgezogen war, bekam meine Frau unliebsamen Besuch.“
Kurt wendete sich ab und blickte lange aus dem Fenster. Dann verdeckte er die Augen mit der einen Hand und suchte mit der anderen sein Taschentuch. An seinem zuckenden Rücken merkte Michael, dass sein Freund weinte.
„Wie eine Horde sind sie in mein Haus eingefallen, haben überall den Holzfußboden aufgebrochen, die Wandverkleidung gelöst. Und dann haben sie, weil nichts zu finden war, meine Frau niedergeschlagen. Sie liegt im Krankenhaus.“ Und dann fügte er leise hinzu: „Ich muss in den Knast, Michael.“ Aus seiner Stimme war so etwas wie Erleichterung zu hören. Man habe ihn gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Keine Fluchtgefahr.
Kurt setzte sich. Michael beobachtete, wie sich sein Gesicht mehr und mehr entspannte. Ja, er lächelte sogar.
„Wie ging eigentlich noch unser Lied, Michael?“
Etwas überrascht blickte dieser auf, rückte seinen Stuhl heran und sang ohne nachzudenken:
„Wir lagen vor… Avezzano, im Lande der Italiano.
Die Gedanken in weiter Ferne, in uns´rer Heimat wär´n wir so gerne.
Oho, oho, karimba, karacho, oho…“
Kurt sprang auf und umarmte seinen Freund unter Tränen.
„Menschenskind, Michael, du hast unseren Ort wieder gefunden! Ich kann es gar nicht fassen. Michael, du glaubst gar nicht, wie froh ich jetzt bin…“
Texte: Copyright by Felix H. Bendig
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2013
Alle Rechte vorbehalten