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Amarillo

                            ZUM GELEIT

Mein Großvater (Opa) Georg Wieser war von 1933 bis 1966 Bürgermeister
der Gemeinde Seebruck am Chiemsee. Als er das erste Mal dazu gewählt
wurde, herrschte bereits das Dritte Reich. Im Internet konnte ich kaum
etwas oder eigentlich nichts darüber herausfinden, wie er als, und
zwar durchaus überzeugter, Nichtparteigenosse in dieses Amt kam und,
vor allem, wie er sich darin halten konnte, zumal der Gasthof Lambach,
idyllisch zwischen Seebruck und Gollenshausen fast am See gelegen, ein
beliebter Anlaufpunkt für den "Führer" - schon als er noch um diese
Stellung kämpfen musste - und sein Gefolge war. Hierzu gibt es im In-
ternet auch einige Fotos bzw. alte Postkarten. Aus Erzählungen mei-
ner Mutter weiß ich, dass sich die damalige Wirtin, hier "Reichnerin"
genannt, quasi als "alte Kämpferin" betrachtete und sich, wenn viel-
leicht auch mehr aus schierem Geschäftssinn, die illustre Gesellschaft
warmhielt. Ins Spiel kommt dann auch noch eine uns bekannte Familie,
nennen wir sie "Austerlitz", die irgendwann zu jener Zeit, noch vor
dem Krieg, nach Brasilien auswanderte. Da ihre im Kindesalter befind-
lichen Söhne durchaus demnächst als wehrfähig hätten befunden werden
können, was dies zumindest befremdlich. Es wird gemunkelt, dass mein
Großvater in solchen heiklen Fällen, auch zum Beispiel bei der Ver-
tuschung einer nicht ganz arischen Herkunft, dazu bereitwillig seine
helfende Hand lieh.
   Ob nun auch mein Opa IHN höchstselbst jemals getroffen hat, kann
auch meine Mutter nicht sagen; was ich aber weiß, ist, dass sie von
ihrem begeisterten, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne fanatischen
Lehrer nach Lambach geleitet wurden, um dem Führer einen gebührenden
Empfang zu bereiten.
   Corona hat vieles verändert, etwa gar auch die Gehirne; und so möge
man es mir verzeihen, wenn es zur folgenden Geschichte gekommen ist.


                               AMARILLO

   Das dritte Coronajahr kennt jeder, 2022, fast eine Schnapszahl,
doch eines kann ich gleich versichern, Schnaps war an jenem lauen
Frühsommertag nicht im Spiel, allenfalls die eine oder andere Halbe
Bier, als ich mit dem Rad von Seebruck Richtung Südwesten unterwegs
war, nebenbei gesagt auf der Straße, da der Radweg gesperrt war. So
hatte ich gerade Esbaum passiert und näherte mich Lambach, als mich
ein merkwürdiges Gefühl umgriff. Ich stieg sofort ab und erklärte es
mir mit der dritten Impfung vor einigen Wochen, nach der mich, anders
als bei den beiden ersten, die ich ohne nennenswerte Folgen wegge-
steckt hatte, mitunter eine Welle unerklärlicher Nebenwirkungen, eher
wie eine Art geistiges Kribbeln, heimsuchte. Überflüssig zu sagen,
dass die Ärzte, die ich darob anrief, das Ganze als Hirngespinst abta-
ten.
   Nun gut, zumal Lambach sowieso nur noch einige hundert Meter ent-
fernt war und ich dort vielleicht sogar einzukehren gedachte, schob
ich zur Sicherheit mit dem Rad weiter. Doch - dort, an der Wirtschaft,
da stimmte doch etwas nicht?! Ein Oldtimertreffen? Filmaufnahmen? Den
Grund sollte ich aber schneller erfahren, als mir womöglich lieb war.
Es waren ja nicht nur die Fahrzeuge, nein, alles wirkte mit einem Male
unwirklich, surreal, aber doch auch wieder nicht. Hell Sepp, wer bist
du, und WO bist du, und was machst du hier?
   Der Notwendigkeit einer Antwort wurde ich alsbald enthoben. Ein
schwarz Uniformierter sprang auf mich zu und herrschte mich in einem
schwer zuzuordnenden Akzent an: "Halt! Stehenbleiben! Hier ist doch
gesperrt!"
   Sogleich eilte jemand herbei, offenkundig sein Chef, in ähnlicher
Uniform, blickte mich kurz an, eher vielleicht sogar noch mein Rad,
und entschied dann kurz und bündig: "Na gut, Pfützenreuter, übernehmen
Sie das!" Nun schien es aber hinter den Kulissen - wie man so sagt,
denn ich ging ja am ehesten von einem Filmteam aus - hoch herzugehen.
Und zu guter - oder schlechter - Letzt kam ER - der leibhaftige ADOLF,
und der schon bekannte Satz: "Pfützenreuter, übernehmen SIE das!" Dann
zog er sich zuruck - nein, zuletzt fragte er noch in die Runde: "Ver-
dammt, wo bleibt eigentlich Himmler?" Einer, wohl sein Chauffeur, kam
diensteifrig heran: "Mein Führer, der Reichsführer SS will doch noch
im Breitbrunner Pfarrhof nach jener Sache suchen - na, Sie wissen
schon ..."

   EINBLENDE - Ich hatte jetzt drei Möglichkeiten, mir die Lage zu er-
klären:
   1. Corona oder die letzte Impfung hatte mich völlig verwirrt, und
      ich war nicht mehr Herr meiner Sinne.
   2. Es WAR eben ein Filmteam, das sich mit mir, dem zufällig Dazuge-
      kommenen, ein derbes Späßchen erlaubte.
   0. (Das dachte ich aber nicht im Ernst, und deshalb nummeriere ich
      es gar nicht erst:) Ich war gleichsam wie mit einer magischen
      Kinokarte wie in jener Schwarzenegger-Actionkomödie tatsächlich
      in eine Filmwelt gerutscht.
   3. So, zurück zum Ernst der Sache: Ich war in eine andere, eben JE-
      NE, Zeit versetzt. Verdattert wie ich war, versuchte ich krampf-
      haft, mich an den gegenteiligen Begriff für Déjà-vu zu erinnern.

   Die folgende Reaktion des "Führers" riss mich aus meinem Tagtraum,
zumal er einen Blick aufgesetzt hatte, als wolle er in einen nicht
vorhandenen Teppich beißen. Angesichts seiner - und wohl auch zum Teil
Himmlers - Untergebenen fand er aber gerade noch seine Fassung wieder
und murmelte nur etwas wie "Der mit seiner Baggawadingsda und seinem
Hexenfimmel" in seinen typischen Bart und rief einen Kradfahrer: "Fah-
ren Sie hin und holen Sie ihn unverzüglich! Sagen Sie ihm, wir haben
hier einen Fall für ihn."
   Und los knatterte dieser. Der Pfützenreuter Genannte winkte mich
wortlos am offenen Osteingang vorbei, an dem ich vergeblich einen
Blick auf den im Hausgang hängenden Kalender zu erhaschen versuchte;
und bei einigen verstohlenen Blicken nach hinten bemerkte ich, dass
ein offenkundig niedrigerer Dienstgrad mein Rad zur Seite schob und
auch meine Badesachen in einer Stofftasche auf dem Gepäckträger abtas-
tete, aber anscheinend nicht am Rad herumfummelte oder gar damit zu
fahren versuchte.
   Als mich Pfützenreuter um die Südostecke herum auf die Südseite
führte, rief ihn ein Kamerad an: "Na, Amarillo, du bekommst auch immer
die ganz harten Brocken?!"
   "Schnauze, Wondratschek! Kümmere dich lieber um deinen Kram!"
   "Anderson, wenn ich bittän darrf", verwahrte sich der andere mit
dickem, ich schätze böhmischem Zungenschlag, an dem auch sein etwa neu
eingedeutschter Name nichts ändern konnte.
   Der SS-Mann, den ich ja inzwischen angesichts der Gesamtlage als
"echt" einschätzen musste, führte mich unter eine Art Pergola und be-
deutete mir, mich zu setzen. Dabei blieb er so stehen, dass ich unmög-
lich hätte fliehen können, so ich denn die Absicht dazu verspürt hät-
te. Nach einigen Minuten schien seine Anspannung nachzulassen, und er
steckte sich nach einem verstohlenen Rundumblick eine Zigarette an.
Seine Herren hatten sich wohl inzwischen ins Führerstübchen gleich
rechts vom Osteingang zurückgezogen, so dass er hier nicht eingesehen
war. Es war sicherlich nicht üblich beziehungsweise auch nicht er-
laubt, mit Gefangenen, in meinem Fall vielleicht mit einem "Angehalte-
nen, ein Gespräch zu führen; dennoch ergriff ich die Flucht nach vor-
ne: "Herr Obersturmbannführer ..." Ich hatte von den Dienstgraden bei
jener Truppe kaum eine Ahnung, und der Angesprochene antwortete auch
nicht, schien sich aber ungemein geschmeichelt zu fühlen.
   In mir hatte sich unbewusst ein Plan B aufgebaut. "Pfützenreuter"
ist ja kein so abwegiger Name, aber was sollte dieses "Amarillo"? Aus
einem Landesführer wusste ich, dass jener Familienname bei Deutschen
in Brasilien häufig ist und dass man sich auch schon vor dem Ersten
Weltkrieg nicht selten mit möglichst originell klingenden, als echt
brasilianisch empfundenen Vornamen wie "Célsio", "Lápido" oder "Moa-
cir" schmückte.
   Wer nicht wagt, der nicht gewinnt ...: "O senhor fala português?"
("Spricht der Herr/Sprechen Sie Portugiesisch?")
   "Muuß isch ja wohl, weesche de Rappelschwänze ..." Fast hätte er
sich auf die Zunge gebissen, einmal wegen der Regel, sich bei Gefan-
genen auf nichts einzulassen, aber auch, weil er mit diesem einen
Satz fast so viel über sich preisgegeben hatte, als hätte man seinen
Lebenslauf studiert. Aber nun war es einmal heraus, und er legte so-
gar noch nach: "Saach mal, bist du von dene Austerlitz?"
   "Rappelschwänze" ist eine nicht ganz freundliche Bezeichnung für
die mehr oder weniger gemischte alteingesessene Bevölkerung Brasili-
ens, und sein Dialekt war typisch für die Siedlergemeinden im Süden,
vor allem Rio Grande do Sul und Santa Catarina. Der Mann war Brasili-
aner! Und jene Familie Austerlitz, - jetzt muss ich mit der Zeitform
achtgeben - die war uns bekannt, noch heute; vor Jahrzehnten hatten
sie uns sogar in Deutschland besucht, und damals, also ungefähr
"jetzt", mussten sie ausgewandert sein oder im Begriff dazu sein.
   "Ach, die Austerlitz, von denen hab ich gehört. Die wollten doch
immer nach Kalifornien, oder?", wich ich etwas aus. Amarillo vertiefte
das Thema nicht weiter, aber dafür erfuhr ich jetzt so manches andere.
   Amarillo Alfredo Pfützenreuter stammte aus Itapiranga, heute eine
Stadt mit einem bekannten sogenannten Oktoberfest, damals aber als
"Porto Novo" eine der vielen fast im Scheitern begriffenen Siedlungs-
versuche. Amarillo, hier kurzerhand mit dem einen Vornamen "Alfred"
übernommen, kam dann als junger Mann reumütig in die Heimat seiner
Vorfahren zurück, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, die ihn denn auch
eiskalt erwischte. So geriet er alsbald in die Fänge der Nationalso-
zialisten, die ihn - so viel konnte ich heraushören - schon ob seiner
Zweisprachigkeit für bestimmte Zwecke gut gebrauchen konnten. Wer
weiß, vielleicht war er deswegen sogar irgendwie mit jener Familie
Austerlitz befasst. Zu weit lehnte er sich diesbezüglich allerdings
nicht aus dem Fenster; vielmehr berichtete er in einem wunderlichen
Gemisch aus Schriftdeutsch, seiner Katharinenser Mundart und portugie-
sischen Brocken aus seiner Heimat. MICH weiter auszufragen - das war
ihm offenkundig klar, lag allerdings nicht in seiner Zuständigkeit;
dies war dem Oberhaupt seiner Truppe vorbehalten.
   Die gute halbe Stunde dazwischen konnte ich mich sogar noch an ei-
ner Halben Bier gütlich tun, die mir die Reichnerin persönlich auf den
Tisch stellte. Als ich verlegen, schon wegen etwaiger Schwierigkeiten
mit der Bezahlung, abwehren wollte, meinte sie: "Da, vom Führer per-
sönlich! Hast a Glück; der hat's ja nicht mit Alkohol."
   Und dann kam Heinrich Himmler, der "Reichsführer SS". Also, der
"deutsche Gruß" kam für mich wahrlich nicht in Frage, schon um Groß-
vaters Lebenswerk nicht zu beflecken, und so stand ich zackig auf und
grüßte, nur nicht mehr ganz so steif, mit einem klaren und deutlichen
"Grüß Gott, Herr Himmler!" Der Ankömmling brummte etwas, was man als
Gruß auslegen mochte; jedenfalls war seine Reaktion nicht so harsch,
wie ich befürchtet hatte. Pfützenreuter wurde dankend davonkomplimen-
tiert, und darauf folgte die unvermeidliche Frage: "Wer sind Sie?"
   Ich antwortete: "Ich heiße Josef Hell, aus der Nähe von Trostberg."
und reichte ihm meinen Geldbeutel mit, wie ich meinte, nur dem Tages-
bedarf an Euromünzen und meinem Personalausweis. Das Geld betrachtete
und wendete er verständnislos, um dann aber seinen Blick wie von der
Tarantel gestochen auf etwas anderes fallen zu lassen. Oh, das musste
in einem hinteren Fach mein Organspenderausweis sein! Schließlich nahm
er sich aber doch meine Kennkarte vor, rückte die Brille zurecht und
schweifte mit einem bald ratlosen, bald wie wissenden Zucken über das
Dokument. "1957" (mein Geburtsjahr) glaubte ich ihn murmeln zu hören,
und auch "Bundesrepublik, BUNDES..."
   Und dann musterte er MICH, aber mit WAS für einem Blick! Er, sowohl
der Menschenverächter schlechthin, als auch jemand mit durchaus hoch-
geistigen Interessen, etwa an der heiligen Hindu-Schrift Bhagavadgita,
teils abstrusen, wie seiner Erforschung alter Hexenprozesse, war jetzt
in seinem Element als DER Rassenkundler. Mein erster Gedanke war, dass
er mir in jenem Augenblick selbst noch ein Sechzehntel nichtarischer
Herkunft aus den Augen gelesen hätte. "Das - kann - nicht - sein ...
Bist du ...?", wobei er seinen Satz nicht zu Ende führte, dafür aber
eine klare und deutliche Blickverbindung mit dem Liendl-Anwesen, der
Heimat meines Opas und meiner Mutter, herstellte. "Ja", brachte ich
noch heraus, wenn auch so, wie wenn mir ein Knödel im Hals steckte.
"Und dann ist" - und dabei zeigte er mir ein Foto einer fröhlichen
Schulklasse, offenkundig bei einem früheren Führer-Empfang, "das da
...?" Zu bewegt und erschüttert war ich, um überhaupt richtig hinzu-
schauen, aber was ich gesehen hatte, reichte völlig, um wiederum ein
"Ja" zu flüstern.
   Zu gern hätte er, der geborene Esoteriker, sicher noch die Gelegen-
heit beim Schopfe gepackt, ein solch unverhofft zugelaufenes "Medium"
wie mich umfassend auszuquetschen. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Hit-
ler höchstselbst kam um die Ecke und rief herrisch-ungeduldig: "Himm-
ler, wo bleiben Sie denn? Dieser Mann schaut ja nicht gerade aus wie
der Großinquisitor!" - "Zu Befehl, mein Führer", und fort war er,
nicht ohne vorher noch hinter uns geheimnisvoll ins Haus hinein zu
deuten. "Pfiati", rang er sich sogar noch einen Brocken Bairisch ab.
   Nie wird man erfahren, was Himmler seinem Herrn und Meister berich-
tete, so es Selbigen denn überhaupt interessierte, noch kann man erah-
nen, wie das von Himmler Erlebte diesen etwa beeinflusste oder prägte.
Gesamtpolitisch sicher nicht, denn dann wäre die Weltgeschichte - so
dies überhaupt möglich ist - anders verlaufen. Im Kleinen aber schon,
denn Georg Wieser, der Liendl-Bauer von Straßham, konnte Bürgermeister
bleiben, und das sogar mit einer so reinen Weste, dass ihn danach auch
die Amerikaner übernahmen, woraufhin er das Amt bis 1966 innehatte.
   Das Kribbeln in meinem Gehirn, das sich in der vergangenen Stunde
nie richtig gelegt hatte, setzte wieder stärker ein; und auf einmal
war es, als würde in einem Theater der Vorhang aufgezogen oder, besser
gesagt, ein neues Bühnenbild eingeblendet. Ganz klar, da war er wie-
der, drüben in Rufweite der Gasthof Malerwinkel der Zweitausendzwanzi-
ger, der lärmende Verkehr, derselbe Frühlings- oder Frühsommertag wie
noch vor einer guten Stunde.
   Ich saß vor meinem fast leeren Halbe-Steinkrug und musste jetzt ja
wohl bezahlen. Von einer Bedienung oder anderen Gästen war weit und
breit nichts zu sehen. Für den Fall, dass etwa mit mir etwas nicht in
Ordnung oder merkwürdig wäre, hatte ich mir bereits Impfnebenwirkungen
als Begründung zurechtgelegt.
   Schließlich kam dann doch eine junge Frau heraus, eher wie ein Zim-
mermädchen gekleidet; und als ich mit der Geldbörse winkte, wirkte sie
verständnislos und bemerkte in gutem, aber nicht ganz muttersprachli-
chem Deutsch: "Aber wir haben doch geschlossen! Woher haben Sie das
Seidel? Von uns ist das nicht." Verdattert blickte ich in mein noch
immer nicht ganz leeres Krügerl; am Innenboden stand "KRAFT DURCH
FREUDE". Und eingestickt in die Dienstkleidung las ich den Namen des
Fräuleins: "Iracema Pfützenreuter" ...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.02.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Großvater, dem Liendl-Bauern von Straßham und Bürgermeister von Seebruck in schwerer Zeit

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