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Die Frau im Schilf


 

Es wehte. Sie stand am Ufer und das Haar flog ihr ins Gesicht. Sie achtete nicht darauf. Die Frisur war hinüber, aber was ist schon eine Frisur? Äußerliches! Sie schaute auf den Kahn, der festgebunden am Ufer lag und leise schaukelte. Er lag geschützt inmitten des hohen Schilfes. Am liebsten würde sie einfach einsteigen und hinaus rudern. Egal, was passieren könnte. Sich den Kopf frei pusten lassen und ins Ungewisse fahren, etwas wagen, um dem Alltagstrott zu entgehen, um weiter zu kommen.

Die Pflichten hatten sowieso einen unerträglichen Umfang angenommen und schlugen dann und wann schon einmal über ihrem Kopf zusammen. Dann ruderte sie, ruderte aus dem Schilfdickicht und gelangte atemlos wieder in scheinbar freies und ruhigeres Wasser. Bisher.

Sie kannte sich aus mit Wind, auch mit Gegenwind. Die Familie glaubte, ihre Kräfte wären unerschöpflich und würden sich von ganz alleine, wie durch Zaubermacht, immer wieder generieren. Über Nacht halt, so wie sich das gehört. In der Dunkelheit ihres Schlafzimmers lag sie, durchdachte den Tag und plante den folgenden. Manchmal hörte sie den Wind und der Holunderbusch klopfte mit seinen Zweigen an die Hauswand als würde er sagen: „Jetzt reicht es, es ist Schlafenszeit!“

Eines Nachts stand sie auf und begab sich auf leisen Sohlen, denn alle schliefen im großen Haus, in den Keller. Die sofort wach gewordene Schäferhündin verfolgte verwundert und neugierig ihren merkwürdigen und für diese Zeit ungewöhnlichen Weg. Der Fuchsschwanz hing mit dem anderen Werkzeug an der Wand. Der Vater hatte sein Werkzeug auf einer Holzplatte angeordnet. Er war eigentlich nicht besonders handwerklich begabt, aber sein Werkzeug war geordnet. Sie ergriff die Säge und begab sich im Schlafanzug nach draußen, wild entschlossen den immer klopfenden Ast abzusägen. Es stürmte und es regnete, sie achtete nicht darauf und trat an den Busch, zog den Ast herunter und sägte ihn einfach ab. Jetzt würde sie nachdenken können. So!

Die Pantoffeln waren nass und schwarze Erde haftete an ihnen, ihr Schlafanzug klebte kalt an ihrem Körper, sie schien nichts zu spüren. Der Hund war ebenfalls nass und schüttelte sich neben ihr, dass die Tropfen nur so flogen. Er fand alles sehr spannend und wedelte mit dem Schwanz. Frauchen ging aber zügig wieder ins Haus und er musste wohl oder übel mit. Immerhin schön war das für ihn trotzdem.

Sie legte sich wieder ins Bett, welches augenblicklich durch den nassen Schlafanzug feucht wurde. Sie zog fast mechanisch das Nachtgewand aus und legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Die Wolldecke übergeworfen, jetzt würde sie endlich nachdenken können. Da war doch so viel Ungereimtes, soviel Unerledigtes, soviel Wichtiges. Sie zermarterte sich den Rest der Nacht den Kopf. Der nächste Tag war Sonntag. Zum Glück! Sie stand trotzdem früh auf, machte sich fertig als würde es ins Geschäft gehen, setzte sich ins Auto und fuhr zielstrebig ans Wasser. Der Ruderkahn würde hoffentlich noch da sein. Es sind immer irgendwelche Kähne da. Er lag im Schilf und schaukelte einladend. Das Wasser hatte kleine, bedenkliche Schaumkämmchen, aber der Regen hatte aufgehört. Sie machte ihn los, stieg ein und ruderte und ruderte bis ihre Kräfte nachließen.

Sie blickte zum Ufer und sah eine Frau im Schilf, deren Haar im Wind flog…Dann stieg sie aus. Ihr war als würde sie nicht versinken können, niemals, nie mehr, als würde sie getragen werden ... einmal über den Wellen tanzen. Das müsste doch zu machen sein.

Sie sah zum fernen, fremden Ufer und entdeckte eine merkwürdige Frau im Schilf, deren Haar im Wind flog…Ihr aber war so leicht. Jetzt wusste sie, was zu tun war.

 

Guten Nacht!

Mit Wellen schwimmen,

musste ich.

Über Wellen tanzen,

wollte ich.

Es kommt immer eines nach dem anderen,

dachte ich.

Wenn man es wagt,

dann trägt die Luft,

glaube ich.

Guten Morgen!

 

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Tag der Veröffentlichung: 29.05.2015

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