Ein fast mystisch klingender Begriff geisterte seit geraumer Zeit durch ihren alten Kopf – das Vermächtnis. Gerne würde sie ihren Kindern etwas vermachen, ihnen etwas vererben, was sie erfreut, ihnen nützt und sie an ihre Mutter stets erinnern würde. Sie hatte kein Vermögen in ihrem Leben erwerben, bzw. für die Kinder bewahren können. Alles musste für das Leben aufgewendet werden, aber dafür war sie auch bis ins hohe Alter selbständig und auf die Hilfe ihrer Kinder oder Enkel keinesfalls angewiesen. Immerhin.
Die Kinder waren sich dessen nicht bewusst, für sie war immer selbstverständlich, dass ihre Mutter für sich selber gut zu sorgen imstande war. Sie konnten sich zu jeder Zeit nur auf ihre eigenen Probleme konzentrieren. Dass dieser Umstand auch ein großes Glück ist, war ihnen zu keiner Stunde klar.
Eine Besonderheit gab es mit ihrer alten Mutter allerdings. Sie war mit einem äußerst gefährlichen und unseligem „Erbe“ ausgestattet. Es waren die unglaublichen Schulden aus einstiger Selbständigkeit. Kein normal lebender Mensch würde sie je abzahlen können, soviel war klar. Obwohl die Mutter die Hälfte ihrer Rente hergeben musste, um etwas davon zu tilgen, es würde sich nie eine befreiende Wirkung einstellen.
Somit war in jedem Fall für alle Erben oberstes Gebot, sofort nach ihrem Ableben von jeglichem Erbe amtlich zurückzutreten. Die Schulden würden ansonsten auf sie fallen wie ein niedersausendes Damoklesschwert. Es war demzufolge schwer etwas zu vermachen, wenn alle Erben quasi schreiend nach ihrem Tode von den Gütern, die sie glaubte zu besitzen, davonrennen würden. Es war also in der Tat ein sehr heißes Eisen, etwas von ihr zu nehmen. Doch das war ihr letzter großer Wunsch – ein Vermächtnis.
Die erwachsenen Kinder und Enkel waren finanziell sehr gut aufgestellt. Sie war stolz auf alle, sie hatte eine kluge, lebenstüchtige Familie, die es verstand, ihre Probleme zu meistern. Sie arbeiteten viel, hatten Stress, aber sie lebten in einem gesicherten Wohlstand und alle waren gesund. Was wünscht sich eine Mutter mehr? Die Kinder und Enkel sollten glücklich leben. Das war ganz offensichtlich erreicht. Die Mutter erhielt dann und wann ein kleines Lebenszeichen, einen dürftigen Gruß, manchmal auch keinen, was für sie ein wenig schmerzhaft war, aber die Welt war doch in Ordnung. Keiner litt. Keiner brauchte ein Erbe, sie kamen zurecht.
Die alte Frau redete sich lange Zeiten ein, dass sie damit auch sehr zufrieden sein müsse. Sie würde nichts hinterlassen und es würde vermutlich auch niemanden kümmern. Und doch, je älter sie wurde, um so mehr bemächtigte sich ihrer der Wunsch nach einem Vermächtnis. Der Wunsch wurde machtvoll, so mächtig entwickelte er sich, dass sie darüber einzeln mit ihren erwachsenen Kindern sprechen wollte. Sie wagte es nicht, schriftlich etwas darüber nieder zu legen.
Sie verbrachte das letzte Drittel ihres Lebens damit, Erlebtes literarisch zu verarbeiten, darüber hinaus hatte sie über zahlreiche Problemkreise umfangreiche Aufzeichnungen erstellt, kurz, ihre gedankliche Welt war dokumentiert. Nun weiß ein jeder, dass sich in der Regel die Welt für derlei kaum interessiert, denn es gibt eine Fülle an Büchern und Schriften, die Privates beinhalten, auch tolle Geschichten, aber sie vermögen nur wenige Menschen hinter dem Ofen hervor zu locken, viel zu wenige, denn man ist keine prominente Persönlichkeit. In dem Fall verläuft alles ganz anders.
Die alte Frau war von dem Wunsch erfüllt, ihre niedergelegten Gedanken, ihr so dokumentiertes Leben, ihren Kindern zu überlassen – als Vermächtnis, allerdings ohne die Verpflichtung, es je zu lesen. Wenn sie es gewollt hätten, würden sie es schon zu ihren Lebzeiten tun, aber das geschah nicht. Die Kinder interessierten sich in ihrer gegenwärtigen Lebensphase nicht für die reichhaltigen, literarischen Ergüsse ihrer alten Mutter. Das war traurig aber es war so.
Sie wollte nicht, dass ihre Bücher, wenn es denn so weit war, dass ihr Haushalt aufgelöst werden musste, weil sie nicht mehr lebte, in die Abfalltonne wanderten. Ihre selbstgemalten Bilder würde dieses Schicksal treffen, davon war sie überzeugt, denn es waren zu viele und sie waren auch nicht jedermann Geschmack. Der große Reißwolf würde sie ruckzuck zermalmen. C'est la vie ! Mit den Büchern sollte dieses grausame Treiben nicht passieren, sie waren und beinhalteten ihr Leben – ihr Vermächtnis für ihre Nachkommen, ob sie es nun wahrhaben wollten oder nicht.
Die Gespräche mit Sohn und Tochter ergaben wenig. Die Mutter bemerkte ihren Stress, auch ihr gegenwärtiges Desinteresse an Vergangenem, vielleicht fand sie auch nicht die richtigen Worte, um ein Interesse zu erzeugen. Die Zeit war nicht geeignet, den erwachsenen Kindern das eigene Leben anzubieten. Es würde sich nie eine passende Zeit dafür finden, soviel schien nun klar. Das war bitter.
So erstellte sie auf einer kleinen transportablen Festplatte eine große Datei - die Datei eines ganzen Lebens, wissend, dass ihr Leben sich dem Ende entgegen neigte und sie kaum noch etwas hinzufügen würde. Das Vermächtnis. Eine sehr viel jüngere aber langjährige Freundin übergab den Datenträger einem befreundeten Rechtsanwalt zur Aufbewahrung bis sich jemand interessiere.
Ob sich ein Mensch dafür je interessieren würde, blieb für die alte Frau ein Geheimnis, aber eine Hoffnung, eine kleine Hoffnung bestand, bis sie die Augen für immer schloss.
Bildmaterialien: Bilder Cover von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2014
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