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Der Wüstenexpress

Der Wüstenexpress

 

In unserem Dorf gab es eine Schule. Immerhin! Der Unterricht erfolgte in zwei unterschiedlichen Gebäuden, dem eigentlichen Schulhaus, in dem auch der Schuldirektor in der oberen Etage wohnte und es gab die sogenannte alte Steinbaracke. Hier wurden in einem Raum die Schüler der sechsten und fünften Klasse unterrichtet, weitere Klassenräume waren in diesem Gebäude nicht vorhanden. Das „große“ Schulhaus hatte auch nur zwei Klassenräume, hier lernten die Kinder der dritten und vierten Klasse. Komischerweise mussten die Erst- und Zweitklässler, die Kleinen also, ins Nachbardorf pilgern, welches zwei Kilometer entfernt war. Das dortige Schulhaus hatte einen Klassenraum, indem der Direktor alle Kinder unterrichtete. Natürlich wohnte der Lehrer auch in diesem Haus. Das war so üblich. Er konnte in Hausschuhen am Lehrertisch sitzen. Natürlich hatten auch die Kinder ihre Hausschuhe dabei oder sie behielten einfach ihre Rosshaarsocken an, die man in den Gummistiefeln trug, um nicht kalte Füße zu bekommen. War das Wetter schlecht und die Straße nass, also mit Schlamm bedeckt, dann trugen alle Menschen, egal ob Groß oder Klein Gummistiefel oder im Winter Filzstiefel. In der Regel fuhren alle Kinder mit einem Fahrrad zur Schule oder aber sie mussten zu Fuß los und eher aufstehen.

Ab der siebten Klasse wurde die Sache etwas problematischer, denn die Zehnklassenschule war in einem Dorf, welches von unserem fast acht Kilometer entfernt war und noch schlimmer: es gab keine vernünftige Straße dorthin. Man baute sie erst später, viel später. So fuhren wir mit den klapprigen Rädern Feldwege. Soweit so gut!  In der Winterzeit war oft kein Durchkommen und wenn es stark geregnet hatte, ebenfalls nicht. So manchen Tag kehrte wir um und schoben das Rad durch die tiefen Modderlöcher wieder Nachhause.

Die Sache beschäftigte die Eltern, auch die Lehrer, denn die Fehlzeiten waren eigentlich nicht zu vertreten. Uns Kindern war das egal, wir hatten zusätzlich Freizeit und nahmen es als gottgewollt eben hin.

Eines Tages hieß es, eine Idee wäre geboren wie man das Problem einfach aber gut für alle lösen könnte. Der Einsatz des „Wüstenexpresses“ für Schulkinder wurde geplant und musste im Fall der Fälle abgesichert werden.

Die Feldbaubrigade würde schließlich auch damit aufs Feld gebracht werden und zwar bei jedem Wetter. Es handelte sich um einen geschlossenen Aufsatz aus Holz, der auf einem normalen Traktorhänger montiert wurde. Im Inneren wurden Holzbänke aufgestellt und auch so befestigt, dass sie nicht umfielen. Über eine kleine Trittleiter gelangte man leicht nach oben, eine Plane bedeckte die hintere Öffnung. Ja, und der Traktorfahrer fuhr dann los und meisterte selbstverständlich alle unbefahrbaren Feldwege fast immer, bis auf die wenigen Male, wo auch ein Traktor stecken bleibt. Dann musste man halt warten oder zu Fuß durch den Dreck. Mit einem zweiten größeren Trecker, auch mit Pferden in Ausnahmefällen, wurde der Wüstenexpress aus dem Schlamm oder dem Schnee gezogen.

Dass der Wüstenexpress immer pünktlich vor der Friedhofsmauer stand, wenn er gebraucht wurde und sich diese Tatsache bei den Kindern auch herumsprach, denn die Entscheidung war immer spontan, je nach Wetterlage zu treffen, ist mir bis heute ein Rätsel. Er wartete nicht länger als zehn Minuten, dann ging es ab. Nun, in einem kleinen Dorf klappte so etwas einfach, man war aufmerksam und unterrichtete den Nachbarn.

Somit gab es keinen Schulausfall mehr wegen zu morastiger Feldwege, nur kamen wir manchmal erst nach der ersten oder zweiten Stunde an und mussten nach der Schule warten, dass der Wüstenexpress uns wieder abholte. Das konnte dauern. So manches Mal sind die Kinder doch zu Fuß los und nicht nur einmal blieb man mit seinem Gummistiefel im tiefen Modder stecken.

Im großen Ganzen war der Wüstenexpress der blanke Fortschritt, denn er bot Schutz und brachte die Menschen von A nach B, alles kostenlos für die Nutzer dieser Errungenschaft in einem kleinen Dorf der Sechziger Jahre.

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2013

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