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Spuren



Sie hatte sich vorgenommen, eine Spur zu hinterlassen, obwohl ihr eigentlich schon lange klar geworden war, dass vermutlich keiner ihren Spuren folgen würde. Schlimmer noch, kaum jemand würde ihre Spuren wahrnehmen. Wer auch? In der heutigen hektischen Zeit hat jeder mit sich zu tun und kaum ein Mensch hat die Muße, auf die Spuren anderer zu schauen, geschweige denn, ihnen nach zu gehen.

Das war eine etwas schmerzliche Tatsache, doch sie wusste, dass die Realität immer weh tat, wenn man sie ernsthaft betrachtete. Ihr Leben hatte seine Spuren tief in sie hinein gegraben und zuweilen rumorten diese, als wenn sie noch lebten und ins Freie begehrten.

Sie wollte nun diese persönlichen Spuren in den Sand setzen oder in den Schnee. Das waren nette Versuche, die aber nur einen Moment sichtbar blieben. Nein, sie wollte sie natürlich aufs Papier bringen, damit kein Wind, kein Tauwetter sie verwischen würden. Zuviel war von den sorgsam gelegten Lebensspuren bereits vom Winde verweht oder einfach hinweg geschmolzen. Die Zeit war gnadenlos darüber gegangen und keiner der Menschen, die sie früher begleiteten, erinnerte sich noch. Mal abgesehen davon, dass die meisten auch in alle Winde verstreut, irgendwo, für sie im Nirgendwo lebten. Manche waren bereits gestorben, andere lebten ein neues, gänzlich anderes Leben, die Kontakte waren lange gelöst. Selten drangen Gerüchte darüber an ihr Ohr.
Eigentlich wollte sie es auch so, doch immer wieder hörte sie ihre inneren Spuren traben und trommeln als wenn sie nichts anderes im Sinn hätten als auszubrechen aus dem Dunkel ihrer Vergangenheit.

Sie hatte schon Vieles zu Papier gebracht, doch irgendwie war es immer nicht genug. Die Spuren schienen nicht mit ihrem Verlauf zufrieden zu sein. Eine ziemlich sinnlose Unzufriedenheit, denn Spuren sind ein Überbleibsel von Geschehenem. Nichts vermag man zu ändern und doch beschäftigen sich viele Leute mit ihren persönlichen Spuren, sie erinnern sich und wollen andere interessierte Menschen daran teilhaben lassen. Eine Flut von sogenannten Memoiren wird unter das Volk gestreut. Es ist quasi modern geworden, sein Leben öffentlich zu machen. Die Prominenz verdient damit eine Menge Geld.
Der Lebens-Voyeurismus boomt.

Alle Menschen kommen an einen Punkt, an dem sie über ihr Leben nachdenken, ob es denn gut war dieses Leben, ob es noch etwas zu bieten hätte oder ob nun die Spur im Sande verläuft und nichts Gravierendes mehr käme. Mit diesen Gedanken Geld verdienen zu wollen, scheint absurd.

Ganz besonders, wenn man alles hat, wenn es einem gut geht, wenn es keine Ziele mehr gibt, einfach nur noch der Wunsch, dass nunmehr die Zeit stillstehen möge, weil das Glück nicht mehr zu toppen ist, dann beginnt man, so die Zeit vorhanden ist und die geistige Reife, das erlebte Unglück mit einem gewissen Abstand zu betrachten. Vieles relativiert sich und man kann sogar einen Sinn entdecken, falls man in die glückliche Lage versetzt ist, Gutes zu entdecken, auch wenn es nur Spuren sind, kleine unscheinbare Spuren.

Sie überlegte, ob das Glück auch Spuren hinterlassen würde oder ob dieses nur ein Privileg der schlimmen Zeiten wäre, Furchen zu ziehen.

Ein zutiefst zufriedener Mensch, ein Mensch, der durch und durch glücklich ist, von welchen Spuren wird er nun durch-
drungen? Es sind auf alle Fälle Spuren, die nicht schmerzen, sie scheinen geradezu unsichtbar. Keiner interessiert sich für glückliche Menschen, sie scheinen fernab jeglicher Wahrnehmung, denn Glück ist leise, es ist nicht spannend, nicht Mitleid erregend, nicht tragisch, nicht spektakulär. Völlig unsensationell ist es, dennoch irgendwie vorhanden, aber nur für den unmittelbar Betroffenen deutlich spürbar. Dabei will doch dieser, dummerweise wohl, manchmal sein Glück der ganzen Welt mitteilen. Man nimmt das kaum zur Kenntnis. Komisch! Als wenn es das Normalste überhaupt wäre, glücklich zu sein. Leider ist es das nicht.

Erst wenn es schwindet, werden Spuren sichtbar, die dann vielleicht auch wieder für andere von Interesse sind. Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute, heißt es ja leider. Das Schlimme, das Tragische, das Böse, das ist es, was die Gemüter wirklich, wenn auch nur kurze Zeit, bewegt. Hier setzt die Aufmerksamkeit ein und bringt merkwürdige Blüten hervor. Es entstehen alsbald Spuren aber auch sie werden wieder dünner...bis sie schließlich auslaufen. Das ist seltsam!

Die Menschen sind so furchtbar betroffen, sie weinen und klagen und sie möchten um Gottes Willen keine Wiederholung des Bösen. Kein Amoklauf, keine Angriffe auf Zivilisten, man konzentriere sich nun auf Liebe und Frieden, geloben sie. Tiefste Spuren haben die Ereignisse hinterlassen und doch ist man nicht sehr lernfähig. Sie möchten noch mehr Waffen, am Liebsten jeder Lehrer ein Sturmgewehr, damit der unschuldige Mensch auch wehrhaft sei. Den Spuren der Vernichtung folgen die der Vergeltung.
Die Spuren bewirken nichts, nichts Gutes, irgendwann weiß keiner mehr um die Ursachen. Das Warum spielt keine Rolle. Warum werden Spuren gelegt oder hinterlassen? Wozu könnten sie gut sein. Es mangelt an Spurenlesern.

So enden die Spuren irgendwann mehr und mehr im Nichts. Der Wind streicht darüber, sie verblassen und verschwinden schließlich, unerkannt und nicht gedeutet.
Niemand und Nichts vermag dauerhaft eine Spur zu hinterlassen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.12.2012

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