Die Krankheit des Vergessens
Über das gesamte Leben hinweg marschiert man durch einen Wald, der sich zuweilen dunkel und dicht anfühlt aber, wie jeder weis, zum Glück auch hell und licht sein kann. Dann hoffen wir, dass es immer so weiter ginge, dass die Sonne uns den meist unbekannten Weg weisen würde.
Menschen begehren irgendwann anzukommen. Wo das sein könnte und wie dieser Ort genau ausschauen müsste, können sie sich nur vage vorstellen aber sie glauben wenigstens zu wissen, wohin sie niemals wollten.
Sie hatte auch Vorstellungen und schritt tapfer durch den Mischwald ihres Lebens in der Hoffnung eines Tages angekommen zu sein, genau dort, wo sie sich heimisch fühlte, wo ihre Welt für sie in Ordnung sein würde.
Sie begehrte Liebe, Sicherheit, aber auch Freiheit. Das sind große Begriffe, die viele Inhalte in sich tragen, über deren Widersprüch-
lichkeiten und Definitionen sich die Menschen seit Beginn ihres Lebens auf der Erde Gedanken machten.
Die Liebe von Allen zu Jedermann ist unmöglich, soviel war klar. So hoffte sie nur auf die Liebe eines einzelnen Menschen. Das würde ihr völlig genügen, doch genau dieser Wunsch erfüllte sich Jahrzehnte nicht einmal ansatzweise. Immer wenn sie dachte, jetzt habe ich sie, dann erwies sich dieser Glaube als verhängnisvoller Irrtum. Es schien sie nicht zu geben.
Nur die anderen Menschen behaupteten lautstark, dass sie diese besondere Liebe bereits gefunden hätten. Sie wären aus dem Wald und somit angekommen, sagten sie ganz ohne rot zu werden, denn sie konnten nicht wissen, wie lange das Glück bei ihnen verweilen würde.
Nun, sie verzweifelte nicht und träumte weiter von der Freiheit, auch von der Sicherheit, der Geborgenheit, die sie benötigte, um sich angekommen zu fühlen. Keiner sollte sie bevormunden, niemand sollte ihr Angst einjagen, sie würde entscheiden, wohin sie sich wendete. Und so geschah es.
Alles schrieb sie auf, ob es nun jemanden interessieren würde oder nicht. Sie schrieb es auf für sich, falls sie einmal alles wieder vergessen würde, falls sie einmal das gleiche Schicksal wie viele andere ertragen müsste, falls sie die Krankheit des Vergessens heimsuchte, für die bislang noch kein Allheilmittel gefunden wurde.
Menschen vergessen Vieles und man empfindet dieses Phänomen bis zu gewissen Grenzen allgemein als normal. Es ist nur das kleine, eigene Gedächtnis, welches manchmal Lücken zeigt. Leider.
Man spricht aber auch von einem gesellschaftlichen, von einem kollektiven Gedächtnis, welches nie das ganz Große vergessen würde. Das klingt mystisch und es ist nicht leicht zu definieren. Die Wissenschaft beschäftigt sich damit und stößt ebenfalls an Grenzen.
Trotz intensiver Bearbeitung des Forschungsfelds Erinnerungskultur bestehen zwei Probleme bis heute: Das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv bleibt weitgehend ungeklärt, und zu oft wird bedauerlicherweise von der Existenz einer "wahren", unverfälschten Erinnerung ausgegangen.
Erinnerungskulturen sorgen dafür, gesellschaftlichen Zusammenhalt herzustellen, und sind deshalb stets Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Doch eine wirklich "wahre" Erinnerung kann es in den komplexen Prozessen eines kollektiven Gedächtnisses nicht geben.
Die Krankheit des Vergessens ist also auch hier zu finden.
Zahlreiche Gedenkstätten, Bibliotheken, Filme, Bilder, Theater, Interessengemeinschaften, Kongresse und Veranstaltungen belegen, mahnen, zeigen auf, was nie vergessen werden sollte, um den Menschen zu helfen, folgenschwere Fehler nicht noch einmal zu begehen. Der Hunger, Krieg, Armut, Unrecht und Feindschaft, Unverständnis, der Egoismus Einzelner, die Dummheit Vieler, all das ist dokumentiert und jedem zugänglich, nur den wirklich Armen und Bedrängten nicht. Sie kämpfen völlig allein gelassen nach wie vor um ihr Leben, sterben elendiglich wie gehabt.
Das kollektive Gedächtnis ist nicht fähig das zu verhindern.
Die Mumien der Vergangenheit werden aufbewahrt aber die Menschen scheinen nicht verstehen zu wollen oder zu können, was sie uns sagen. Man schaut betroffen und dümmlich, weint ein bisschen und widmet sich seinem eigenen Leid. Nun ja, man darf nicht ungerecht sein, es gibt, allgemein betrachtet, Bemühungen etwas zu tun, der bekannte Tropfen auf den heißen Stein, zumeist dient er der Befriedigung des persönlichen Gewissens: die Pille gegen die Krankheit des Vergessens, die nur einen Schmerz lindert aber nicht wirklich hilft.
Das kollektiver Gedächtnis wird auch über „beweiskräftige“ Statistiken befragt und heraus kommt bei uns die dramatische Erkenntnis, dass in Deutschland die Menschen arm seien. Ein Aufschrei, der sofort für Wahlkampfzwecke aufgegriffen wird, geht durch die Massen. Dafür wird die Statistik vergewaltigt. „Deutschland ist eigentlich ein armes Land“, heißt es. Die Spitzenpolitik hatte aber schon lange vor lauter Angst vor noch mehr Armut seine Goldre-
serven ins Ausland geschafft. Die betuchten Bürger machen das auch so, selbst die Griechen deponieren Geld an vermeintlich sicherer Stelle. Alle handeln so, um der Armut zu entgehen.
Die eigene Armut steht mir am Nächsten. Nein, man möchte sich nicht mit den anderen Armen dieser Welt vergleichen, die sind außerdem weit weg und man kann ihnen nicht helfen, es ist ihr Schicksal.
Für jedes Land dieser Welt gelten andere Armutsgrenzen, heißt es. Ein Armer in Deutschland oder in der Schweiz ist ein völlig anderer Armer als einer in Rumänien oder gar in Afrika. Ah ja. Ein Armer ist also ein anderer Armer, wenn er das Pech hat in einem anderen Land geboren zu werden. Der Grad der Armut ist halt nur Pech.
Aber bleiben wir in Deutschland. Sie wollte nur einmal über sich nachdenken, über ihr Erleben einer vermeintlichen Armut. Sie lebte einst in einem anderen deutschen Staat, in dem es den Leuten schlechter ging. Es herrschte Mangelwirtschaft. Für das bessere Deutschland galten andere Maßstäbe. Sie sahen mitleidig auf die armen, schlecht gekleideten und auch nicht so gut riechenden, autolosen Menschen aus dem Osten herab und halfen, wo und wie sie nur konnten. Sehr lieb.
Komischerweise fühlte sie sich nicht arm in dieser Zeit, natürlich auch nicht unbedingt reich aber arm gewiss nicht.
Es gibt also auch eine gefühlte oder eben nicht gefühlte Armut.
Im Heute geht es ihr wesentlich besser. Sie hat ein besseres Auto, eine gegenüber früheren Maßstäben luxuriöse Wohnung, sehr gute und moderne Kleidung und sie kann reisen, wohin auch immer sie möchte und sie kann sich mit allen guten, edlen Düften umgeben, die der Westen bietet. Sie fühlt sich deshalb komischerweise nicht reicher. Es gibt sehr viele Menschen, die ein höheres Einkommen haben, die sich viel mehr leisten können aber die fühlen sich auch nicht reich, denn es gibt immer Leute, die mehr haben. Selbst die jammern, wenn ihre Anlagen in den Keller gehen. Wenn der DAX fällt, sind sie ganz von der Rolle. Die Armut greift um sich, große Firmen gehen pleite. Man kann sich keinen Porsche mehr leisten. Jetzt ist man arm.
Die Krankheit des Vergessens schmerzt sehr. Und das ist gut so. Jeder sollte einmal erleben (oder sich zumindest vorzustellen versuchen), was wirkliche Armut bedeutet, was es heißt Hunger, Angst und Hoffnungslosigkeit zu fühlen und wenn es ihm dann geglückt ist, dem zu entfliehen, dann, so wünschte sie, sollte er nicht auch noch der Krankheit des Vergessens erliegen und sich arm fühlen, wenn er nicht im Entferntesten arm ist. Vielleicht arm am Geiste, doch das ist ein anderes Thema und leider eine ganz große Krankheit, die der des Vergessens mindestens ebenbürtig ist.
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2012
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