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Über die Verklärtheiten älterer Leute



Sie wollte es wissen, wie das ist (bei einem selbst) mit der "verklärten Wahrheit der Erinnerung", also mit der Kritik an der altersbedingten Verklärung der Erinnerungen.
Andere nennen es ganz direkt und unverblümt Verkalkung, doch sie wollte ihre Erinnerungen nicht in dieser Ecke sitzen und verstauben lassen. In dieser gewiss nicht.
Ihre Erinnerungen waren kostbar, zudem war sie schließlich Zeitzeuge der unseligsten Geschehnisse, die ein Mensch sich überhaupt vorzustellen vermag. Sie weigerte sich vehement, ihre Erinnerungen als verklärte, nostalgische Attitüden einer Frau, die mit der Gegenwart nicht mehr viel anzufangen weiß, abzutun.

Sie war alt, sehr alt. Für viele war ihr Alter, ihre zweiundneunzig Jahre, Grund genug, ihr jegliches vernünftiges Denken abzusprechen, doch das war ungerecht. Jawohl, ungerecht, denn sie lebte immer noch alleine in einer kleinen Wohnung und meisterte ihren Alltag dank ihrer Fähigkeit, ihn zu organisieren, ziemlich gut. Sie hatte eine Pflegestufe und man bescheinigte ihr eine schwere Gehbehinderung aber war sie deshalb auch im Kopfe deppert?

Die „hilfreichen“ Schwestern forderten sie auf, sich alle halbe Jahre einmal zu melden und einen Besuch anzumelden. Ja, sie musste um den Besuch bitten, damit jemand kam, um festzustellen und zu protokollieren, ob sie noch am Leben wäre. Wenn sie das nicht tat, dann würde die Krankenkasse das Pflegegeld nicht zahlen. Leider passierte das im letzten Jahr und sie musste sich sehr aufregen, denn schließlich brauchte sie dieses Geld. Wunschgemäß hatte sie um einen Kontrollbesuch gebeten, doch die verantwortliche Institution hatte es vergessen, hatte den vereinbarten Termin einfach vergessen. Sie hatte sich nichts dabei gedacht aber als das Geld der Krankenkasse nicht überwiesen wurde, da keimte ein Verdacht hoch.
„Gute, liebe Frau“, sagten sie zu ihr, „bei den vielen alten Leuten kann so etwas schon einmal passieren.“
Das Pflegegeld würde sicher bald auf dem Konto sein. Aufregungen nützen nichts.
„Sehen sie , ihnen geht es doch gut, sie haben es doch noch bemerkt, andere merken so vieles nicht mehr.“
Das war natürlich ein gewisser Trost. Sie merkte noch etwas und man bescheinigte ihr dieses sogar. Dennoch konnte sie den Unterton, wie mit einem bockigen Kinde gesprochen, nicht so gut verwinden. Sie ärgerte sich über die dreiste Frechheit der Menschen einer alten Frau gegenüber.

Früher wäre niemand so mit ihr umgesprungen. Früher hätte sie das nicht s o über sich ergehen lassen. Allein die Kontrolle, dass sie noch lebte, war schon eine Zumutung aber es war wohl wegen der Missbräuche Vorschrift. Man musste das aushalten.

Früher war so einiges sozialer, menschenfreundlicher geregelt, erinnerte sie sich. Jetzt hatte sie schon dreimal „früher“ gesagt und dabei gelächelt, wenn auch etwas bitter, denn dieses Früher war nun nicht mehr. Und doch dachte sie oft an das Früher, welches ihr Leben ausfüllte, erst als Lehrerin und nach der Totaloperation, der Radiumbestrahlung, die ihr das Leben rettete, an die vielen Jahre der vorzeitigen Invalidität.

Sie fühlte sich nie gesund, obwohl der Krebs besiegt war. Sie war voller Angst, wieder zu erkranken, so suchte sie immer die Nähe guter Ärzte, was ihr bis in die Gegenwart trefflich gelang. Ärzte waren fast das Wichtigste in ihrem Leben, sie gaben ihr die Sicherheit, lange zu leben, denn das wollte sie. Unbedingt. Alles was schön ist und nicht mit den ganz großen Anstrengungen oder mit Schmerzen nur zu gewinnen ist, würde sie genießen wollen. Schließlich kann jeder Tag der letzte sein. Sie musste das erfahren, deshalb würde sie sich nicht mehr aufopfern.
Sie war fest davon überzeugt, sich früher für die Familie aufgeopfert zu haben.

Ob das schon eine Verklärung der Realitäten ist? Die Frage scheint schwer zu beantworten. Eine Verklärung der Opferrolle. Sie wird in der Regel von den anderen vorgenommen, von Menschen, die verklärt ihre Märtyrer ehren, doch so war ihr Fall ja nicht gelagert. Sie war der Meinung, immer sehr schwer gearbeitet zu haben, ohne allerdings gebührende Anerkennung dafür zu erhalten. Sie hatte früher für die Familie auch verzichtet, verzichtet auf eine berufliche, höhere Karriere zum Beispiel. Sie hätte gut und gerne Schuldirektor werden können. Wegen der Kinder, später wegen der Krankheit hatte sie darauf verzichten müssen. Sie hätte gewiss auch viel mehr Geld verdienen können. Aber an Geld mangelte es nur in den Anfängen, in den Fünfziger Jahren. Viele Familien mussten kratzen und zusehen, wie man genug zu essen für alle auf den Tisch brachte. Sie hatten ja wenigstens den Garten. Das war schön. Sie schälte die Äpfel und kochte sie ein, stellte Marmelade her, wenn der Zucker reichte. Man lebte bescheiden aber der Garten war ein Segen. Man hatte keinen Fernseher, nur ein Radio, immerhin ein Telefon. Die meisten Berliner besaßen eines, doch man fasste sich kurz. Kaum jemand besaß ein privates Auto, alle fuhren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Irgendwie saßen die Menschen alle in einem Boot nach dem Krieg. Ist das Verklärtheit? Es war einfach so. Früher ...ganz früher.

Der Hausarzt hatte sie bestärkt. „Sie müssen unbedingt an sich denken, ihre Gesundheit sollte ihnen heilig sein.“ Ja, so hatte er sie beschworen und genauso hielt sie es.
Sie lebte gut, pflegte ihren Körper und ihren Geist. Von der Familie wurde sie dabei mit allen Kräften unterstützt, was sie als selbstverständlich und völlig normal annahm und empfand. Sie legte fest, was wichtig für sie war und alle fügten sich.

An ihre Kindheit dachte sie mit großer Freude. Vor dem unseligen Krieg lebte die Familie in gut bürgerlichen Verhältnissen. Es fehlte an nichts und die Welt schien in Ordnung. Mit der Machtergreifung dieses Wahnsinnigen, dieses Hitlers freilich, war das Leben gefährlich geworden, Vater war Freimaurer, was niemand wissen durfte, Vater war Pazifist und hatte vom ersten Weltkrieg noch genug. Er würde nicht in einen zweiten ziehen. Er veranlasste, dass sie mit dem kleinen Bruder aus Berlin in das okkupierte Sudetendeutschland ging. Wie er den Rest der Familie und schließlich sich selber zu retten wusste, ist eine andere Geschichte aber nicht weniger abenteuerlich. Er wusste den Nazis zu entkommen.

Sie dachte lange an ihre erste Ehe, an ihren geliebten Mann, der aber leider mit seinem Flugzeug abgeschossen wurde und für immer verloren war, das Glück währte kaum zwei Jahre. Bald darauf musste sie wieder zurück nach Berlin „Heim ins Reich“, mit Hitlers Reich ging es allerdings zu Ende, Berlin wurde bombardiert, man rannte um sein Leben bei heulenden Sirenen in die Luftschutzbunker, einen Kochtopf mit einem Einweck-
gummi auf den Kopf geschnallt. Jetzt musste sie fast grinsen, wenn sie an den Kochtopf auf ihrem Kopfe dachte aber es hieß, es wäre sicherer.
Vater hatte einmal einen kleinen Blindgänger vom Dachboden in den Garten geschmissen. So steht das Haus heute noch. Dann vergruben sie alles Mögliche im Garten, um die Sachen vor den Plünderungen durch die Russen zu sichern. Aber die fanden alles und wollten es davonschleppen. Vater konnte auch das verhindern. Er stellte sich mit dem russischen Offizier, der bei ihnen Quartier nahm, gut.

Sie seufzte, Erinnerungen an den Vater schmerzten, denn sie fühlte sich sehr mit ihm verbunden. Nun war er schon sehr, sehr lange tot.
In den langen Jahren des Lebens in der DDR, Vater und Mutter lebten in Westdeutschland, nutzte sie ihre Invalidi-
sierung, um jährlich die erlaubte Zeit bei Vater und Mutter im Westen zu verbringen. Von dort aus unternahm man wunder-
volle Reisen in die naheliegenden Länder.
Die Familie im Osten durfte natürlich nicht mit und sie konnte ihr auch nicht viel von ihren Erlebnissen erzählen, denn Mann und Kinder würden vermutlich nur traurig zuhören. Ihnen war das alles nicht vergönnt. Zur Entschädigung kamen von Opa und Oma halt die geliebten Westpakete, die die Kinder mit Freude aber der Mann eher verhalten annahmen. Er empfand anders. Er besaß einen gewissen Stolz, wollte seine Familie allein und ohne Almosen aus dem Westen durchbringen. Sie hat den Stolz ihres Mannes nie wirklich verstanden. Es waren doch nur gutgemeinte Geschenke ihrer Eltern.

Es ging ihnen nicht schlecht zu den DDR-Zeiten. Sie besaßen Haus und Garten, hatten genug Geld und die Kinder waren gesund, studierten, waren gut versorgt. Man ist ein paar Mal umgezogen, weg aus Berlin aufs Dorf, nach Mecklenburg. Dort verlebte die Familie sehr schöne Zeiten. Die Kinder wurden bestens betreut, sie war eine hochgeachtete Lehrerin, Chorgründerin, Theatergruppengründerin und der Mann machte mit. Sie riefen eine respektablen Dorfclub ins Leben. Die Leute aus dem Dorf erlebten einen nie dagewesenen kulturellen Aufschwung. Die Kinder hatten Freiheiten, an die in Berlin nicht zu denken war. Kurz sie dachte ein wenig wehmütig an die schönen Zeiten.
Oh, je...schon wieder ganz verklärt?
In der DDR war doch alles schlecht, ein Unrechtsstaat, in dem die Menschen nur grau in grau und jeglicher Freiheit beraubt, unglücklich lebten, selbst die Kinder im Kindergarten? Das weiß heute fast jeder. Das Gute im Bösen kann nicht gut sein, sagt man. Doch das stimmt nicht ganz, meinte sie. Die Menschen, die das sagen, haben vermutlich auch nur eine einseitige Sicht auf die Dinge.
Nie ist alles schlecht oder alles nur gut. Sie sieht ihr Leben nicht verklärt, sie kann sich an alle Einzelheiten ganz genau erinnern. Viel deutlicher und besser als an das, was vorige Woche geschah.

Gerne würde sie ihre Erinnerungen mit Menschen austauschen, zum Glück kommt eine Tochter zweimal die Woche, die hört zu und schreibt sogar Vieles auf. Ansonsten ruft die andere Tochter an und hört ebenfalls zu. Die Menschen können heute sonst nicht mehr geduldig zuhören, die Enkel so gut wie gar nicht. Sie leben in einer anderen Welt, rufen selten oder gar nicht an. Einer von ihnen schreibt seine Magisterarbeit über die NS-Zeit, über den Antisemitismus, er ist Historiker und ihm würde sie so Vieles aus dieser Zeit erzählen können, doch auch er nimmt diese Chance, einen Zeitzeugen zu befragen, kaum wahr. Er ist Wissenschaftler und befragt verstaubte Dokumente. So ist das.
Sie freut sich dennoch, wenn sich der eine oder andere Enkel einmal meldet. Man tauscht Höflichkeiten aus. Sie rufen wohl aus Pflichtbewusstsein an, denkt sie. Als sie noch klein waren und sie immer Zuhause war, wenn die Kinder aus der Schule kamen, war alles so schön. Man hatte Spaß, trank Kaffee und erzählte sich die Neuigkeiten des Alltages.
Heutzutage tauscht man sich am PC aus oder simst, dafür ist sie nun zu alt und sie findet diese Art und Weise miteinander zu kommunizieren, kalt und unpersönlich. Früher schrieb man sich Briefe. Sie hatte so viele Briefe geschrieben, Eltern, Kinder und Großeltern schrieben auch regelmäßig, eigentlich taten es alle Menschen.

Verklärtheiten? Da waren sie wieder, denn es gab auch Pausen. Schreibpausen. Die Post war auch nicht so schnell. Man musste warten können. Man wartete auf Post.
Sie denkt noch ein bisschen über das Warten nach, auch über die Erwartungen, grenzt ein, berücksichtigt ihre Situation, ihr Alter und hofft noch lange auf dieser Erde zappeln zu können. Ja, so sagt sie es immer. Sie hofft und wartet und erwartet noch viel, obwohl jeder Tag der letzte sein könnte. Gerade deshalb.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Um meine Mutter zu ehren

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