18.Januar
Vorgeladen
Lange schrieb ich nichts mehr auf, obwohl ich über Jahre diese doch immer irgendwie hilfreiche Angewohnheit hatte, meine täglichen Gedankengänge zu notieren.
Es kam eine beglückende Zeit, die mich ablenkte, die mich Interessanteres aufschreiben ließ, die mich herausriss aus der Grübelei. So schien die Vergangenheit bewältigt. Endgültig! Ich fühlte mich frei von Selbstvorwürfen und Zweifeln, konnte mich ganz meiner wundervollen Gegenwart hingeben. Wer kann das schon von sich sagen. Es ist ein Glück, ein großes Glück, endlich unbeschwert leben zu dürfen.
Jetzt, nach drei Jahren, halte ich wieder diese unsägliche Vorladung des Amtes in den Händen, einer Institution, die eigentlich nur Pflichten ausübt, die andere übertragen, in Auftrag geben. So empfinde ich natürlich auch keinen Hass auf den Beamten, der mich zu befragen hat. Er wird freundlich sein und ich nicht minder.
Inzwischen ist das Ganze fast 15 Jahre her, ich sollte also damit durch sein. Bin ich wohl doch nicht, wenn ich meine gegenwärtigen Gefühle betrachte.
Gefühle betrachten? Man fragt sich, ob das überhaupt geht. Es geht, denn es sind meine Gefühle und die sind momentan obermies. Genau das Degradierende, das Demütigende, das hoffnungslose Ausgeliefertsein, auch wieder die leise ohnmächtige Wut auf mich selber, überfällt mich schonungslos. Ich kann mich nicht wehren gegen diesen Überfall und habe keine Waffe, ihm angemessen zu begegnen, als einfach stumpfsinnig zum Amt zu trotten, das zu zelebrieren, was von mir verlangt wird und vermutlich noch deprimierter wieder nach Hause zu schleichen, bis sich dort angekommen, nach angemessenem Zeitfluss alles wieder einzurenken scheint.
Ich werde das aussitzen müssen, denke ich betrübt und resigniert, wissend, dass alles nur temporäres Aussitzen sein kann. Es wird nur wieder ein wenig knirschen im Zeitgetriebe, es ist nur ein bisschen Sand, welches eine heute für mich unbedeutende Firma in gleichmäßigen Abständen in mein Zeitschema wirft. Sie sind hartnäckig und vermuten wahrscheinlich, dass mir inzwischen eventuell ein Lottogewinn zugefallen sein könnte. Dabei spiele ich nie, ich bin kein Spieler.
Man kann mir nichts mehr nehmen, denn meine Rente wird bereits seit Beginn mit alten Verbindlichkeiten verrechnet. Nun, ein paar magere Euro bleiben als Taschengeld. Mein lieber Mann bekommt auch sein wohlverdientes Ruhestandsgeld. Es geht uns gut und wir leben, mit allem versorgt, sehr zufrieden. Wir sind gesund und fit. Keiner muss sich aus der Familie die geringste Sorge machen. Keiner muss etwas opfern, um zu helfen. Es ist alles in bester Ordnung und dennoch fühle ich mich heute mehr als belämmert.
Mein ehemaliges Selbständigsein hängt an mir, tonnenschwer und ich habe das Gefühl mit dieser Last in der Schwärze eines Ozeans unweigerlich untergehen zu müssen, wie auch das unlängst vom Felsen aufgerissene Luxusschiff, welches mit etlichen Leichen an Bord in Kürze in die Tiefe sinken wird. Genauso ist mir zumute. Die Leichen in mir werden mich nicht verlassen, keiner wird sie je herausholen können. Sie sind einzementiert bis ich in die ewigen Jagdgründe eingehe.
Ich gehe aber nicht unter. Es wird nichts passieren, hoffe ich, meine Gefühle unterdrücken wollend. Doch meine Gedanken ziehen und ziehen, sie lassen mich weder Lächeln, noch aufatmen, sie schnüren mir den Hals zu. Ich stehe wohl neben mir. Selbstbewusstsein? Fehlanzeige.
Keiner wird glauben, dass es die eigene Unfähigkeit, buchstäblich die persönliche Blödheit sein kann, die DAS nach so vielen Jahren, in meinem Alter, immer noch zu bewirken vermag. Mein Bauch revoltiert und mag nichts, was ich heute zum Frühstück aß. Ich bin nervös und schaue fortwährend auf die Uhr. Ich werde pünktlich sein. Noch zwei Stunden, dann sitze ich klein und mickrig im Flur, meinen Rentenbescheid in der Tasche, neben mir vermutlich diverse andere arme Würstchen, die auch einen derartigen Termin wahrzunehmen haben.
Ich bin kein Einzelfall, doch das tröstet mich in dem Augenblick überhaupt nicht.
So ergehe ich mich weiter und weiter im geradezu lächerlichen und kontraproduktiven Selbstmitleid und verfluche zum tausendsten Male meine vermurkste Vergangenheit. Ein Außenstehender und das ist jeder, wird vermutlich raten, dass ich mich unbedingt in psychotherapeutische Behandlung begeben sollte. Aber das lehne ich natürlich sofort entrüstet ab, soweit runter bin ich doch noch nicht, meine ich und grüble aber weiter, auch in dem Wissen, dass Grübeln dämlich ist.
Was ich mache ist Striptease, ich zeige Inneres, stelle ich gerade fest, denn nunmehr sind die Gedanken aufgeschrieben und ein wenig kann ich schon wieder lächeln über meine Naivität, die mich glauben lässt, dass es mir damit ein wenig besser ginge. Genau diese Denkweise allerdings mutet schon wieder masochistisch an. Ich lächle über meine Naivität! Ich stehe also doch neben mir und beobachte mein Denken und Tun, seziere es mit scharfem Besteck und versuche es vernünftig zu bewerten. Ich bin mein eigener Freud. Psychoanalyse in Heimwerkermanier. Langsam frage ich mich, ob das noch gesund ist. Normal scheint anders.
Noch eine Dreiviertel Stunde! In einer Viertelstunde gehe ich los, ich werde ein halbe Stunde laufen müssen. Draußen scheint die Sonne, es ist kalt. Das wird mir gut tun. Vielleicht bekomme ich sogar einen klaren Kopf und sitze gelassen im Flur, um den Akt anschließend souverän über mich ergehen zu lassen?
Ich bin pünktlich, weitere Delinquenten harren still vor sich hinblickend auf ihren Aufruf. Ich setze ein undurchdringliches Gesicht auf, zumindest hoffe ich, dass es nichts verrät, ziehe meinen Mantel aus und hole ein Buch aus der Tasche. Natürlich kann ich nicht wirklich lesen aber ich bemühe mich um den Anschein.
Ein Mann kommt aus Zimmer 3074 mit einem Telefonbuch in der Hand und etlichen Formularen, die er dann emsig, mit dem Telefonbuch als Unterlage auf seinem Schoß, auszufüllen beginnt. So geht es geraume Zeit weiter. Die Menschen gehen hinein und erscheinen nach zwei Minuten, keiner schaut fröhlich oder gelöst, alle haben eine undurchdringliche, eine versteinerte Miene.
Dann bin ich an der Reihe. Natürlich erhalte ich auch ein Telefonbuch, einen Kugelschreiber und die Formulare. Das Ausfüllen geht furchtbar schnell, meine Hand zittert nicht, ich bin absolut ruhig. Ich unterschreibe und gebe alles dem Beamten hin. Komisch dass ich ihm kurz erklären muss, was eine Verrechnung ist, denn ich bin informiert, was mir ein wenig Selbstsicherheit gibt.
Er lächelt und schüttelt erstaunt den Kopf. Was es alle gibt, murmelt er und kopiert sich meinen Rentenbescheid und reicht ihn mir herüber. Ich bin freundlich, verabschiede mich und wünsche ihm recht wenig „Kunden“. Er lächelt mich an und meint: „Bis in drei Jahren.“
Dann ist alles erledigt. Ich verlasse das große Gebäude durch den Sicherheitstrakt ohne jede Regung. Ich spüre keinen Sand mehr in meinem Zeitgetriebe, doch alles wird sich wiederholen. Das bisschen Sand denke ich noch und achte nicht auf die pulsierende Straße, die im Ampeltakt ihre rauschenden Blechlawinen heranrollen lässt…
Texte: Bilder von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2012
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