Cover


Ihm schmeckte die Suppe, die er sonst recht wohlschmeckend fand, auch nicht. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. Im Fernsehen war auch nur Rotz. Er fühlte sich schlapp und todmüde, holte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank und schlief so allmählich auf dem Sofa ein. In der Nacht wachte er auf, denn ihm war als hätte es ein Geräusch gegeben. Er stand also auf, um vorsichtshalber nach zu schauen. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen: der Chef kam mit seiner Frau auf den Armen die Eingangstreppe hinauf. Was wollen die hier? Die Tür öffnete sich und krachte gegen die Wand. Gartenmeier trug seine Frau in das Zimmer und setzte sie auf einen Stuhl ab. Er sagte, er käme gleich wieder.

Ede war wie vom Donner gerührt.
Die Frau sagte keinen Ton, starrte ihn nur hasserfüllt an. Der Chef stand kurz darauf mit einem Riesenhammer in der Tür und schmiss ihn auf den Teppich. „Mehr kann ich nicht tun“, sagte er finster.
„Du kannst sie jetzt meinetwegen erschlagen.“ Dann ging er aus dem Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

Im Raum war es plötzlich total dunkel. Ede stand der Schweiß auf der Stirn. Er lag wieder auf der Couch, im Fernsehen schien es hoch her zu gehen, überall Blut. Ein besonders gewalttätiger Mord wäre geschehen, hieß es. Ede knipste das Licht an. Das Zimmer war wie immer, die Chefin saß nicht mehr auf seinem Stuhl, auf dem Teppich lag auch kein Hammer.
„Oh, Gott, Schmerz lass nach“, dachte Ede. „Soweit ist es schon gekommen. Ich werde scheinbar allmählich irre. Es wird Zeit, dass ich das Problem aus der Welt schaffe.“ Er schüttelte den Kopf. Nein, so doch nicht. Er war doch kein blutrünstiger Mörder. Man denkt eben nur so was manchmal. Das sind keine guten Gedanken. Er musste sie nur unbedingt loswerden. Notfalls würde er halt auch das Weite suchen. Vielleicht hat ja die andere Firma, die ihn damals ganz bestimmt genommen hätte, noch eine Stelle frei. Aber bluten sollen sie trotzdem, denn er hatte noch eine Menge nicht genommenen Urlaub und die vielen Überstunden. Er würde sich nun ganz bestimmt sehr teuer verkaufen. Ansonsten ginge es in aller Öffentlichkeit vor den Kadi. Die Stadt ist ein Dorf. Die Leute würden nur zu gerne an allem teilnehmen. Es würde für die Gartenmeiers sehr peinlich werden. Jawohl, genauso würde er es anpacken. Blut und Wasser sollte diese Brut schwitzen oder sich schriftlich in aller Form entschuldigen.

Ede wusste eigentlich sehr genau, dass die sich niemals für etwas entschuldigen würden. Er war sich fast sicher, dass seine Zeit nun hier allmählich ablief. Irgendwie spürte er, dass er sich auf ein neues Leben einzustellen hatte. Ob es besser werden könnte? Es war ihm nun egal. Schlimmer jedenfalls dürfte es nicht werden. Vielleicht hätte er dann auch ein wenig mehr Freizeit, eine Chance eine feste Freundin zu finden. Es wurde Zeit. Er wollte auch einmal in die Welt, andere Gärten in anderen Ländern sehen, Schwimmen, Skilaufen, Flirten, Parties feiern, Genießen! Eben alles, was alle anderen auch immer so machten. Das hatte er sich verdient. Scheiß auf die beknatterten Gartenmeiers! Allmählich wurde ihm wohler. Er legte sich ins Bett und schlief ruhig bis der Wecker unerbittlich und nervend wie immer piepte.

Paul hatte auch Sorgen. Die Arbeiter waren nicht verlässlich und manche kamen mit der schweren Arbeit nicht zurecht. Die Lehrlinge erschienen verkatert am Arbeitsplatz. Die frisch eingestellten Leute brauchten scheinbar Eingewöhnungszeiten und liefen bald wieder weg. Die polnischen Saisonarbeiter wurden vom Chef persönlich eingesetzt, nicht immer da, wo Paul dringend Arbeitskräfte gebraucht hätte. Irgendwie war die Stimmung schlecht und es gab ständig Zoff und Stress. Keiner schien zufrieden. Die Kunden zahlten immer noch schleppend oder wie gehabt zunächst einmal gar nicht. Paul spürte Frustration, wo immer er hinschaute.
Der Chef fuhr griesgrämig umher, kontrollierte und nichts war richtig. Geraume Zeit war er ganz besonders übellaunig, denn Ede spurte nicht mehr. Es hieß, dass er den Betrieb verlassen würde. Davon war schon einmal die Rede. Die Sache verlief im Sande. Der gute Ede hatte sich beschwatzen lassen. Diesmal schien es ernster, denn er war schon eine Weile nicht gesehen worden. Er würde im Urlaub sein. Paul wunderte sich. Jetzt war keine Urlaubszeit. Die Saison begann. Keiner wusste was vorgefallen war. Der Chef musste sich mit Ede mächtig gestritten haben, soviel war klar.

Sümmchen hatte das Schreien gehört und er sah, wie Ede hochrot aus dem Chefzimmer rannte, mit ihm war in dem Moment nicht zu reden. Paul schüttelte den Kopf. Der völlig verbitterte Gartenmeier stieß aber auch derzeit alle vor den Kopf. Einmal platzt jedem der Kragen. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde auch er mit ihm aneinander geraten. Wie soll er ordentliche Arbeit abliefern, wenn er keine guten Leute auf den Baustellen zur Verfügung hatte. Dazu kam, dass die wenigen guten, sein unverzichtbares Stammpersonal allmählich auch demotiviert wurde. Schlechte Stimmungen stecken an und die Arbeit leidet. Wenn die Bürohocker Dienst nach Vorschrift leisten, dann ist dies sicher schlimm, doch im gewerblichen Bereich sind die Folgen weitaus tragischer. Der Kunde ist nicht zufrieden und es wird teurer, weil nachgebessert werden muss.
Es ist ein Teufelskreis, denn es spricht sich herum, wenn die Arbeit nicht gut ist. Die Aufträge bleiben aus. Paul versuchte, dass zu verhindern, indem er die Leute ermutigte, sie nicht in Grund und Boden stampfte, wenn etwas schief gelaufen war. Der Chef zerstörte die Illusion einer erkennbaren Menschlichkeit immer wieder rasch. Die Arbeiter murrten. Auch sie bemerkten die Schiklanen ihres Chefs und sahen ihn lieber gehen als kommen. Sie moserten aber mehr hinten herum, mehr so in den eigenen Bart hinein. Sie grummelten und bummelten zuweilen missmutig auf den Baustellen.

Paul hatte seine liebe Not. Wenn nämlich der Lohn zwei Tage später kam, wurden alle sehr ärgerlich. Das musste doch nicht sein. Sie beschwerten sich bei der Buchhalterin, denn der Chef hatte gesagt, dass die für die Überweisungen verantwortlich sei. Sümmchen erklärte dann gewöhnlich, dass sie nur auf Anweisung die Zahlungen veranlassen dürfe. Den Tag lege nur der Dr. Gartenmeier höchstpersönlich fest. Sie ärgerte sich nun auch wieder, denn offensichtlich wurde ihr wieder Säumigkeit unterstellt.
Sümmchen seufzte tief. Daran würde sich nichts ändern. Sie war hier immer wieder der Sündenbock. Wenig Trost spendete die Tatsache, dass diesen Eindruck hier fast jeder ebenfalls für sich in Anspruch nahm. Jeder meckerte mit jedem. Scheinbar waren alle zerstritten und jeder war irgendwie unzufrieden. Die Menschlichkeit hatte sich aus dieser Firma davon gemacht. Sie fand keinerlei Nährboden. Kein Wunder, denn der Kopf war völlig trocken, blockiert, unfähig für Wachstum und Blüte. Ein schleichender Prozess und es war als hätte dieser giftige Tumor der Chefin allmählich alle infiziert.

Ede wurde erwartungsgemäß zum Chef geladen. Der versuchte zu bagatellisieren. Ede möge doch nicht alles auf die Goldwaage legen und wer weiß, vielleicht hätte seine Frau diesbezüglich etwas gehört und falsch verstanden. Die Leute würden ihr ja auch so allerhand zutragen. Die Floristinnen wären da auch keine Unschuldsengel. Er solle mal das Weibergewäsch nicht so ernst nehmen. Ede meinte, dass er so etwas nicht als Weibergewäsch abtun wolle. Es ginge um seine Ehre. Er wäre ehrlich und diese Unterstellung hätte ihn furchtbar geärgert. Als Chefin sollte man sich hüten, Gerüchte zu verbreiten. Den Floristinnen würde er es nicht so sehr übel nehmen, aber er hätte den Eindruck, dass die hier keine Aktie an der Verdächtigung haben.
Der Chef meinte dann, Ede solle sich nur um seine Arbeit kümmern, da wäre ja auch so Einiges im Argen. Ede schwoll allmählich der Kamm. Er wollte jetzt nicht nahtlos zur Tagesordnung übergehen. Jetzt wollte er Genugtuung: die Entschuldigung. Ja, eine versöhnliche Geste wäre jetzt fällig. Was sollte sonst das Ganze? Der Gartenführer sollte jetzt in den Staub. Jawohl! Ede war jetzt soweit. Die Sache blies sich auf. Die höhnische Fresse des Gartenmeiers, dessen Geringschätzung wurde unerträglich.

Der hatte allerdings nicht im Entferntesten daran gedacht, sich für die Verleumdung seiner Frau zu entschuldigen. Das Abwiegeln der Geschichte war das Einzige, wozu er überhaupt fähig war. Mehr war nicht drin. Seine Frau hatte ihm eingeheizt. Er solle gefälligst Ede dazu bringen, dass er ihre Anweisungen befolgte, denn der hätte die Frechheit besessen, sie zu ignorieren. Der würde nicht nur Ede heißen, der wäre ein ganz ungehobelter, ein rotzfrecher junger Spund, der absolut keine Manieren hätte und bei dem solle sie sich für irgendwas entschuldigen. Das hätte sie gewiss nicht nötig. Sie hätte sich noch nie beim Personal entschuldigen müssen. Das wäre ja noch schöner. Er, Gartenmeier hätte seine Leute nicht im Griff, nichts hätte er im Griff. Man hörte ja von allen Seiten nur Klagen.

Dr. Gartenmeier sagte nichts. Er ließ seine Frau reden und sagte sich, sie ist eben krank und begreift rein gar nichts. Ja, er hätte sie darauf hinweisen können, dass ihr geliebter Blumenladen nur noch eine Belastung für die Firma wäre, denn die Ergebnisse waren unbefriedigend. Er versuchte schon alles Mögliche, damit das Geschäft nicht all zu weit in die roten Zahlen rutschte. Normalerweise hätte er sich schon lange von diesem Zweig getrennt. Doch es war das Spielzeug seiner kranken Frau. Er hatte ihr versprochen, es ihr zu lassen, was auch passiere. Aber zu diesem Zeitpunkt war sie noch einigermaßen umgänglich gewesen. Das ist lange her. Immer wieder gab es auch Gezänk wegen der Floristinnen. Sollte sich seine Frau doch nur um diese kümmern, dann wäre es gut. Aber nein, ständig belegte sie alle seine Leute und schafft Unfrieden. Seine Pläne wurden deswegen so oft durchkreuzt. Immer wieder musste er sich von dem Eigentlichen, nämlich der Weiterentwicklung der landschaftsbaulichen Strecke, der großen Hausgärten ablenken lassen.

Gartenmeier würde sein Linie auch durchziehen und wer nicht mit will oder kann, der mag gehen. Menschen sind ersetzbar. Vielleicht sollte er einfach alle rausschmeißen und radikal jede Stelle neu besetzen. Er wollte es seinem Erzrivalen und Widersacher, dem Bruder seiner Frau schon zeigen. Schließlich war er hier der Akademiker. Alles nur Bauern um ihn herum. Nein, vor Ede würde er sich auch keine Blöße geben. Was bildet der sich denn ein? Unglaublich! Seine Frau hatte Recht. Ede wird einfach zu dreist. Das hatte er nun von seiner Großherzigkeit. Dieser Ede ist nur durch ihn so hoch gekommen, konnte sich in seiner Firma entwickeln. Das hatte man nun davon. Jetzt wird der Kerl frech und anmaßend, droht mit Klage. Das traut sich der ganz bestimmt nicht.

Er wies also den aufgebrachten Ede schroff zurecht. Ein Wort gab das andere. Schließlich verloren beide Männer die Beherrschung und wurden laut. Sie schrieen sich an. Dann knallte eine Tür. Sümmchen hörte es. Paul kam in Sümmchens Büro.
„Haben sie das gehört?“ fragte er. Ja natürlich, aber verstanden hätte sie nichts. Sie hätte sich auch nicht bemüht.
„Der Chef ist nun auch vom Hof“, sagte Schlösser. Sümmchen solle sich bloß nicht wundern, demnächst krache es sicher noch einmal. Er hätte auch ein Gespräch mit dem Gartenführer zu führen. Wie solle man hier in diesem Irrenhaus überhaupt noch seine Arbeit verrichten. Jeder zieht hier ein Maul und fängt beim geringsten Anlass an zu toben.

„Na ja, sie ja nicht, sie sind ja immer still und brav. Wie machen sie das eigentlich? Immer alles in sich rein fressen ist keine gute Variante. Sie müssen auch einmal mit der Faust auf den Tisch hauen. Ich weiß schon, das kann nicht jeder.“
„Nö“, sagte Sabine Sümmchen. „Der arme Tisch, jeder will auf ihm herumschlagen.“

Sie lächelte und sagte, dass sie eine bessere Methode gefunden habe, sich abzureagieren. Die wäre aber geheim. Sie lächelte wieder. Keiner durfte wissen, dass sie am Arbeitsplatz Geschichten und Gedichte schrieb, ihrem Tagebuch ihren Ärger anvertraute auch der menschlichsten einer, der verständnisvolle Paul nicht.
Sabine Sümmchen wollte hier keinen Menschen zu nahe an sich heranlassen. Wahrscheinlich dachten alle so oder ähnlich. Menschliche Nähe wurde nur bis zu einer gewissen Grenze zugelassen. Man öffnete sich nicht, man blieb sich mehr oder weniger fremd. Die allgemeine, übergreifende, allumfassende Menschlichkeit war verduftet. Deshalb ging alles den Bach hinunter.

Die Guten hielten noch ein wenig aus, aber sie sahen sich schon immer vorsorglich um. Eines Tages würden sie auch verschwinden. Dann Gnade den Gartenmeiers. Es würde ihnen an den Kragen gehen. Sie schienen es noch nicht zu bemerken. Jeder ist ersetzbar, dachten sie. Der einzelne Mensch wäre nicht wichtig. Gehälter und Löhne zu zahlen, hielt man als Arbeitgeberleistung für ausreichend. Der Arbeitnehmer müsse dankbar sein, Arbeit zu haben. Schließlich biete er als Unternehmer diese kostbare Möglichkeit.

Das Volk versteht nichts, neide nur den Reichtum, ohne die Mühe und das Risiko des Unternehmers zu würdigen. Das Volk ist dumm und wird nur immer frecher und dreister, aufsässiger und immer schwerer zu regieren und im Zaum zu halten. Ja, so dachten sie wohl, diese Gartenmeiers. Sie vergaßen nur bei ihren Überlegungen zur Entwicklung ihres Unternehmens die Menschlichkeit. Sie vergaßen, dass es ohne dieselbe nicht gut gehen kann. Zumindest nicht auf Dauer.

Die Gartenmeiers waren wohl in Wirklichkeit sehr dumm.
„Wahrscheinlich gibt es eine Menge dumme Gartenmeiers im Land“, dachte unsere Buchhalterin. Aber diese hier waren ganz besonders gut mit Dummheit ausgestattet, denn sie begann bereits weh zu tun und sie merkten immer noch nicht, was die Schmerzen verursachte. Wahrscheinlich geht mit Verlust der Menschlichkeit auch die Fähigkeit, Schmerzen zu lokalisieren verloren. Nun, das Unheil nahm seinen Lauf. Nicht sehr schnell aber stetig.

Der Dr. Gartenmeier hatte sich gründlich verrechnet. Ede nahm sich einen Rechtsanwalt und verklagte seinen Arbeitgeber nebst Gattin wegen übler Nachrede und Verleumdung. Sein cleverer Rechtsanwalt fand Zeugen, die alles untermauerten. Man staunt, die Floristinnen machten wahrheitsgetreue Aussagen und es wurde über weitere bösartige Unterstellungen gesprochen. Auch die ehemalige Leiterin der Freilandabteilung war bereit auszusagen. Herbert, Paul und Sabine Sümmchen sprachen über ihre Erlebnisse, völlig ungeniert und frei, obwohl sie natürlich nicht frei waren, denn sie waren ja Angestellte der Firma. Irgendwie schien jedoch die Angst, deshalb den Arbeitsplatz zu verlieren, gebannt zu sein, was sehr erstaunlich war.
Die Verhandlung wurde in aller Öffentlichkeit geführt.

Viele Leute aus der Stadt ließen sich die Show nicht entgehen. Man schüttelte die Häupter ob der himmelschreienden sich nun deutlich vor aller Augen und Ohren offenbarenden Niedertracht. Das hatte man so noch nie erlebt. Die Großkopferten erhielten eine Lehre von den kleinen Mitarbeitern. Wie peinlich für diese! Sicherlich wusste man im Groben so Einiges, aber immer nur hinter vorgehaltener Hand.
Die Gartenmeiers versuchten natürlich zu verniedlichen, zu leugnen. Doch es gelang ihnen nicht ihren Ruf zu retten, der war sowieso schon nicht der Beste. Nur jetzt war es amtlich und der Richter erhob ein Bußgeld, ermahnte in schwungvoller Rede den Unternehmer, die Menschlichkeit zu achten. Die Leute applaudierten.
Sabine Sümmchen dachte nur: “Es wird wenig nützen. Die Gartenmeiers werden sich niemals ändern.“

Natürlich änderten sie sich nicht, nur wurden sie etwas vorsichtiger, noch frostiger und spürbar feindseliger im Umgang mit den Mitarbeitern. Von Frau Gartenmeier war vorläufig nichts zu spüren. Scheinbar hatte sie es nun vorgezogen, sich vorläufig zurückzuhalten.
Ede hatte gekündigt und erhielt alles bezahlt, was er als Überstunden und nicht abgegoltenen Urlaub anmeldete. Zähneknirschend! Es war für ihn kein großes Problem, eine neue Anstellung zu finden. Ein junger, gut ausgebildeter Mann hat immer Möglichkeiten. Für ihn begann eine neue Lebensetappe, ob weniger mühsam und ob gänzlich ohne Ärgernisse, das ist zu bezweifeln, aber es war nötig auszubrechen und wie man sah, es war auch möglich. Es kostete nicht den Kopf, es erforderte nur Mut und Selbstvertrauen.
Die Gartenmeiers wagten nicht, ihm öffentlich Dreck hinterher zu schmeißen. Man trennte sich eisig. Wie immer.
Doch es entstand eine große Lücke. Die Kunden bemerkten sie und blieben fern. Es gab andere Firmen, an die man sich wendete.

Der Bischof hatte, von wem auch immer, von der bewussten öffentlichen Verhandlung gehört. Das war schändlich. Man musste diesen Leuten sagen, dass sie sich mehr in Nächstenliebe zu üben hätten, auch im Geschäft. So schrieb er einen Brief, in dem er die Gartenmeiers ermahnte. Der Herr Pfarrer der Kleinstadt erhielt eine Kopie. Welch eine Sensation! Der Bischof rügt persönlich. Der gute Pfarrer war ein eifriger Diener des Herrn. Lange schon ärgerte er sich über das unaufgeforderte und seiner Meinung nach unangemessene Sprechen des hochnäsigen Gartenmeiers in der Kirche.
So wetterte er recht deutlich und unmissverständlich von der Kanzel über die Verletzung und Vertreibung der Menschlichkeit aus Gartenmeiers Firma. Das war die Härte. Die gläubigen Leute nahmen diese Predigt ernst, viel ernster noch als die Schlussbemerkung des Richters, und man begann zur Strafe gewissermaßen, seine Blumen und Pflanzen woanders zu kaufen. Das war nicht nur bitter für die Gartenmeiers. Es war tödlich.

Nicht, dass einer gestorben wäre aber das Blumengeschäft war nicht mehr zu halten. Damit war Frau Chefin ihres Hauptspielzeuges endgültig beraubt. Die Floristinnen hatten allerdings auch ihren Arbeitsplatz verloren. Es war für sie nicht ganz leicht, dennoch nicht hoffnungslos. Sie fanden wieder Arbeit, denn es gab andere Geschäfte und Gärtnereien, die noch Bedarf an guten Leuten hatten. Das Leben geht immer weiter. Man weiß das.
Manchmal erzeugen unangenehme Zeiten, böse Ereignisse und niederträchtige Menschen auch irgendwann neue, gute Entwicklungsmöglichkeiten für uns. Unvorstellbar. Durch sie werden Wenden eingeleitet, die unserem Leben einen Riesenschubs nach vorne geben. Und wir schütteln dann gewöhnlich weise unsere Häupter über unsere Dummheit, es nicht schon viel früher selber gewagt zu haben. Wie viel Leid bliebe uns erspart!

Der Blumenladen blieb geschlossen. Irgendwie ging auch der Freilandsektor nicht mehr. Herbert entschloss sich, nach Regensburg zu ziehen. Er fand dort eine Stelle und konnte darüber hinaus seinen künstlerischen Anspruch befriedigen. Sabine Sümmchen konnte ihm dazu nur gratulieren, wenn sie auch bedauerte wieder einen netten Kollegen zu verlieren. Irgendwie schien allmählich alles den Bach runter zu gehen. Wen wunderte es. Paul hatte sich offensichtlich auch schon umgesehen.

Die Zeit war nun gekommen, dass auch unser Sümmchen eine Entscheidung fällte. Sie würde sich noch einmal in ihrem Leben krass verändern. Na und! Wer nichts wagt, hat das Nachsehen. Sie entschloss sich in eine andere Stadt zu ziehen, alles hinter sich zu lassen, ein neues Leben zu beginnen, denn sie hatte einen Partner gefunden, der ihr die Entscheidung leicht machte, für den es sich lohnte, noch einmal alles auf eine Karte zusetzen. Man kann überall leben, wenn die zwischenmenschliche Beziehung stimmt, wenn es Vertrauen gibt, wenn sich die Gefühle im Hinterland gut aufgehoben finden. Man kann der Kälte begegnen, wenn es menschliche Nähe gibt.
Sabine Sümmchen kündigte, fristgemäß und korrekt. Dr. Gartenmeier war entsetzt und überrascht.
Nein, er würde keinem Aufhebungsvertrag zustimmen. Alle sollen bis zum Schluss arbeiten. Wer die Frechheit besitzt selber zu kündigen sowieso. Er schickte Sümmchen zur Strafe wieder ins kalte Archiv.

Allmählich reichte ihm das Ganze. Er hatte Sorgen, finanzielle Sorgen. Seine Arthrose plagte ihn heftig und der Schwager noch viel mehr. Man hatte ihm nahe gelegt, sich ganz aus dem Geschäft zurück zu ziehen und das wollte er nun auch. Nur hätte er sich einen besseren Abgang vorgestellt.
Seine Söhne sollten ein blühendes Geschäft übernehmen und nicht ein krankes, dahinsiechendes, von den Ratten bereits verlassenes. Der Gartenführer war müde, fühlte sich schlechter denn je. Die öffentliche Schmach, eingebrockt durch die eigenen Leute, machte ihm schwer zu schaffen. Hatte er denn etwas falsch gemacht? Er wollte nicht begreifen, wie das alles nur passieren konnte. Er war der Meinung, dass er alles getan hatte, was in seiner Macht war. Er verstand nichts. Der Schwager, dieser furchtbare Schwager meinte nur. „Lass dich pensionieren.“

Man hatte vor, alles neu zu strukturieren. Dazu würde man den Dr. Gartenmeier nicht mehr brauchen. „Geh einfach nach Hause“, hieß es.
Aber da war noch ein Scheusal: Frau Gartenmeier, die genauso wenig begriffen hatte, wie alles passieren konnte. Mit ihr konnte schon lange niemand mehr reden. Sie wollte es auch nicht, sie lebte in ihrer traurigen Welt, isoliert und einsam. Nein, keiner hatte sie mit einem Hammer erschlagen oder sie die Treppe hinunter geschubst. Das war gar nicht nötig. Das waren nur Wünsche. Zugegeben, grausame Wünsche. Aber was wünscht man sich nicht alles so, wenn man ununterbrochen gepiesackt wird. Irgendwie war aber alles noch viel schlimmer gekommen. Langsam und von ganz alleine, völlig ohne Mord und Totschlag, nur weil die Menschlichkeit vergessen wurde. Sie ist halt keine Kleinigkeit, auch im Geschäft nicht.
Die guten Leute gingen alle.

Sabine Sümmchen sah keinen Grund noch einmal in diesem lausigen Aktenkeller krank zu werden. So ermittelte sie, wie sie es auch für andere immer getan hatte, ihren Austrittstermin. Da war alter Urlaub, anteiliger neuer Urlaub und ein schmerzender Rücken. Das kann passieren. Sie ließ sich gnadenlos krankschreiben, packte ihre Sachen und legte dem Chef ihren Zimmerschlüssel fast genüsslich auf den Schreibtisch.

„Nach mir die Sintflut! Hier habe ich nichts verloren, nur Erkenntnisse gewonnen, nur bittere Erkenntnisse über den Umgang mit Scheusalen,“ dachte sie.

Als sie die Tür hinter sich schloss, summte sie leise vor sich hin und schaute in den blauen, sauberen Winterhimmel.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /