Sie hatte hier nun schon fast drei Jahre ausgehalten und mehr oder weniger duldsam alles ertragen. Vielleicht gibt es ja doch Alternativen, vielleicht würde sie noch einmal von vorne beginnen können, ein völlig neues Leben, vielleicht auch als Buchhalterin in einer anderen Firma, an einem anderen Ort aber mit dem Mann neben sich, der ihr unter anderem auch Mut machte. Ja, und so bahnte sich Sümmchens Abgang an, ganz allmählich und in Ruhe. Sie vermisste an ihrem Arbeitsplatz die menschliche Zuwendung. Alles, was daran erinnern könnte, war untersagt, nicht erwünscht. Nur die Arbeit zählte, die Leistung.
Die Leistungsgesellschaft scheint das so zu diktieren. Doch benötigt ein menschlicher Arbeiter nicht Motivation? Unterscheidet ihn das nicht von einer Maschine? Mehr Leistung für weniger Geld! Dies ist der uneingeschränkte Wunsch eines jeden Unternehmers, nur so kann er verdienen und den Fortbestand seiner Firma sichern, sich auf dem allgewaltigen Markt behaupten. Der Markt ist also schuld! Menschlichkeit ist hier fehl am Platze, denkt man meistens. Sie haben auch längst vergessen, was der Begriff bedeutet.
Manchmal wollen sie mit so genannten teambildenden Maßnahmen, an denen der Chef „hautnah“ teilnimmt, menschliche Nähe erzeugen und glauben lassen, dass dies alle zu neuen großen Leistungen motiviere. Ein verhängnisvoller Irrtum! Die Arbeitnehmer nehmen zwar an diesen Veranstaltungen teil, aber nur um nicht durch Boykott unangenehm aufzufallen. In der Regel belächelt man das Ganze und lässt es über sich duldsam ergehen. Natürlich merkt fast jeder, dass auch der Chef dieses als Pflichtübung betrachtet und sich damit nur selbstgefällig in seiner Scheinmenschlichkeit sonnt. Er möchte fühlen, dass man ihn mag. Er möchte sich diesen Genuss unter dem Deckmantel der Teambildung verschaffen und gibt sich betont leutselig. Komisch ist nur, dass kaum sind diese pseudomenschlichen Veranstaltungen verklungen, der Schweinehund wieder völlig unbeirrt, weiter fies und kaltschnäuzig regiert. Geschäft und Mensch sind unvereinbar. Denkt man scheinbar immer häufiger.
Nur, wenn der Mensch der Firma den Rücken kehrt, weil es für ihn unerträglich geworden ist, dann wird es ernst. Dr. Gartenmeier hatte mit dem Faktor nie gerechnet. Seine Frau sowieso schon lange nicht mehr. Noch hatte sie aber ihre Spielzeuge: das Blumengeschäft und einige Menschen, die mit sich so böse spielen ließen, als wären sie nur mechanische kleine Autos, die sich nach Belieben aufziehen ließen, auch nur um gegen die Wand gesteuert zu werden.
Herbert wurde nicht gefeuert. Man brauchte ihn, denn er hatte im Winter diverse Aufgaben. Er musste nach den Pflanzen in den Gewächshäusern sehen. Man würde ihm sein Gehalt zahlen und bei Nichtanwesenheit wurden seine Überstunden angerechnet. So weit war das in Ordnung. Alle anderen Kollegen gingen in die Arbeitslosigkeit und hofften auf die Übernahme im Frühling.
Herbert hatte nun Muße und gab sich seinen Gedanken hin. Wie würde es weitergehen? Sein unmittelbarer Chef hatte gekündigt, Ersatz gab es nicht. Er selbst würde den Job nicht übernehmen können. Er würde es weder wollen noch alle Anforderungen erfüllen. Er war ein Gärtner aber ganz gewiss kein Cheftyp. Er würde auch mit den Gartenmeiers nicht noch näher zusammenarbeiten wollen. Von Zusammenarbeit zu reden, wäre hier ohnehin nicht angebracht. Er würde bestimmt zerbrechen an der Unmenschlichkeit dieser Leute.
Man müsste einmal dem Bischof erzählen, wie sich in dieser Firma seine Schäfchen gebärden. Aber das wäre fast eine Denunziation. Man schwärzt ja eigentlich keine Leute an, dachte der gute Herbert. Doch irgendetwas müsse man machen, um diesen furchtbaren Menschen einen Dämpfer zu verpassen. Zumindest sollte ihnen jemand vor allen Leuten die Wahrheit sagen, sie maßregeln und sie wissen lassen, dass es außer ihnen auch noch andere Menschen gibt. Vielleicht würden sie dann auch einmal in sich gehen und die Mitarbeiter nicht wie bedeutungslose Ameisen behandeln.
Herbert fasste den für ihn wagemutigen Plan, den Bischof um Unterstützung zu bitten. Er würde dafür eine seiner Lieblingsfiguren für die Kirche stiften. Vielleicht würde man dann seine doch etwas hinterhältige Vorgehensweise milder beurteilen. Lange überlegte sich Herbert, was er sagen würde und vor allen Dingen wie er es vortragen könnte, auch wie er sich die wundersame Veränderung der irregeleiteten Gartenmeiers vorstelle oder wünsche. Vielleicht würde ja sogar der Herr ganz oben mitspielen, wenn denn der Bischof als sein Vertreter ein wenig an den Zügeln ziehen würde.
Einen Versuch schien das Ganze wert zu sein. Herbert hatte nichts zu verlieren. Notfalls würde er sich tatsächlich eine andere Arbeit suchen. Er packte also die schöne große Holzfigur in sein Auto und machte sich klopfenden Herzens nach Regensburg auf den Weg. Man war sehr erfreut über das großherzige Geschenk und bestaunte die hohe Kunstfertigkeit der Arbeit. Herbert fragte ganz höflich, ob er dem Bischof denn einmal sein Herz ausschütten dürfe. Man gewährte ihm die Gnade und so schilderte er die Zustände in der Firma, wie die Leute behandelt wurden, dass sie davonliefen, er würde sich aus diesen traurigen Gründen auch schon mit dem Gedanken befassen, woanders eine Arbeit aufzunehmen, und dass die Sache mit der Nächstenliebe absolut in Vergessenheit geraten sei.
Kurz es wäre die Hölle zuschauen zu müssen, wie die Leute vor die Hunde gingen oder versteinern. Man könne doch nicht für die Krankheit der Chefin ununterbrochen büßen. Nein, er würde sich nicht mehr wagen mit den Chefs über seine Nöte zu sprechen, er fände sicher kein Gehör. Und es stünde ihm auch nicht zu. Es würde mit Sicherheit nichts bringen, nur noch mehr Verdruss.
Hm, der Bischof würde sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen lassen und vielleicht den Pfarrer der regionalen Kirche einbeziehen, der ja seine Schäfchen sicher gut kannte. Vielleicht könne er diesem Unternehmerpaar einmal ins Gewissen reden.
„Ja, vielleicht kann man helfen, vielleicht auch nicht. Aber wenn sie wegen ihrer Arbeitsstelle in Not sind, wir hätten da gewiss etwas für sie.“
Er war freundlich und hatte sich alles ruhig angehört, bot sogar eine Stelle an, welche auch immer. Herbert war zufrieden. Das mit der Arbeit würde er sich überlegen, denn Regensburg war weit, er würde umziehen müssen. Vielleicht wartete er erst noch ein wenig, vielleicht unternahm der Bischof etwas, was auch immer. Jedenfalls, er, der Herbert, hatte etwas getan und zwar alles, was in seiner bescheidenen Macht stand, um vielleicht auch alles zum Guten zu wenden.
Nein, es würde sich wahrscheinlich nichts zum Guten wenden aber diese furchtbaren Gartenmeiers würden eventuell einmal die Leviten gelesen bekommen. Kritik aus diesen Höhen würden sie annehmen müssen. Gut gelaunt fuhr unser Herbert wieder nach Hause. Vielleicht würde sein Heiliger, der nun beim Bischof eine Heimat gefunden hatte, auch ein wenig helfen.
Ede brütete jeden Tag bis in die Nacht über seinen Akten, wollte ordnen und sichten, das nächste Jahr vorbereiten. Er hatte noch viele unerledigte Aufträge, nur keine Zeit und Leute, alles abzuarbeiten. Zunächst beschäftigte er sich mit dem Weihnachtsgeschäft. Die Geschäfte wollten ihre Dekorationen und die vielen Abschlussfeiern der Firmen in der Region erforderten Organisation. Alles musste perfekt klappen: die Anlieferung der Pflanzen und der Abbau der Dekorationen, große Kübelpflanzen mussten von A nach B transportiert werden. Ede war überall und nirgends, immer auf Achse, ständig am Telefonieren. Der Chef war ein paar Tage in Italien, um Pflanzen, Bäume, und Terracottagefäße zu bestellen.
Die Chefin nervte ihn jetzt ganz besonders, pfuschte ins Geschäft und störte, verärgerte die Floristinnen. Er kannte das ja, aber im Stress auch dieses noch aushalten zu müssen, war schwierig. Er versuchte ihre Anrufe nicht entgegen zu nehmen und bemühte sich, ihr mit allen Mitteln irgendwie zu entgehen. Sie schrieb ihm Faxe mit Arbeitsaufträgen, die im Moment nicht wichtig erschienen. Ede arbeitete wie besessen aber beachtete seine Chefin nicht. Eigentlich war sie ja auch nicht seine Chefin, denn der alleinige Chef war er: der Gartenmeier. So hatte er es auch einmal in aller Deutlichkeit gesagt bekommen: von ihm, dem Gartenführer halt. Also bitte!
Was wollte die Alte? Sie wollte sich nur krankhaft in Szene setzen, auch noch etwas zu sagen haben. Der Mann war ja außer Landes.
Sie rang tatsächlich von zu Hause aus verzweifelt um Beachtung, um Akzeptanz, wollte es allen zeigen, wozu sie noch fähig sei. Sie war stinkend sauer, dass dieser Ede, dieser Schnösel, sich verleugnen ließ, ihre Anweisungen missachtete. Das kann man dem Burschen doch nicht durchgehen lassen. Der wird ja immer frecher, obwohl er hier so viel Geld verdient. Der braucht einen Dämpfer. Er wird schon gekrochen kommen und flehen, hier in diesem Hause auch weiterhin arbeiten zu dürfen. So sollte es sein, so gehörte es sich. Die Brut muss doch dankbar sein. Heutzutage sind gute Arbeitsplätze rar. Alle würden immer unverschämter werden, von der Buchhalterin angefangen.
Sie war von Anfang an dagegen eine ältere, gestandene Arbeitnehmerin einzustellen, eine überqualifizierte noch dazu. Wahrscheinlich bildet die sich alles Mögliche wegen ihres Diploms ein, dabei kommt sie aus dem Osten. Das Diplom ist gar nicht anerkannt. Die frustrierte Frau Gartenmeier wurde immer biestiger, immer böser. Sie hatte Schmerzen und musste wieder starke Medikamente schlucken, um es auszuhalten. Sie zwang sich zur Arbeit.
Nur die Arbeit war ihr geblieben. Früher hatten alle aufs Wort gespurt. Heute herrschte in der Firma das Chaos totale. Sie müsse unbedingt den Überblick behalten. Der Mann muss sich ja in Italien rumdrücken, während sie hier wühlen muss bis zum Umfallen und das Personal in Schach zu halten hätte. Ja, so oder ähnlich dachte wohl die Frau in ihrer Not. Es war als ob in ihrem Hirn durch den Tumor immer mehr Gifte freigesetzt wurden. Sie telefonierte wieder und horchte die Floristinnen aus und streute boshafte Gerüchte ins Gespräch, wissend dass sie die Runde machen würden.
Sie hätte gehört, dass Ede Gestecke von den Veranstaltungen weiter verhökern würde, ob sie das auch schon bemerkt hätten. Hat der sich etwa so bereichert? Also worauf die Leute alles kommen, um sich zusätzlich etwas zu verdienen. Na ja, die Gestecke würden ja sowieso weggeschmissen werden, oder etwa nicht? Sie forderte die Mädchen auf, ein wenig Obacht zu geben, was der Bauer da so mache.
„Nö, wir haben nichts bemerkt. Wir haben ja soviel zu tun mit den Kränzen und können da kaum auf derlei achten. Ach so, der verdient doch soviel Geld, der hat das eigentlich gar nicht nötig. Na so was, unglaublich!“
Die Floristinnen fanden das peinlich. Sie würden Ede ganz gewiss nicht hinterher spionieren. Der verkauft die Gestecke noch einmal? Schwer vorstellbar. Sie glaubten es nicht. Wahrscheinlich will die Chefin nun dem Ede an den Kragen. Warum wusste keiner.
„Einer ist halt immer dran“, sagten sie, froh dass sie es diesmal nicht waren. Aber vielleicht warnte man den armen Kerl, dass die alte Hexe wieder einmal etwas Boshaftes plante. Die Floristinnen nahmen Ede bei passender Gelegenheit beiseite und sagten ihm, was die Chefin am Telefon neuerdings wieder von sich gab. Aber er solle bloß nicht verraten, von wem er das wüsste.
„Wir wollen nämlich keinen Ärger. Uns reicht es allmählich. Aber schließlich kannst du dich viel besser wehren als wir. Mach was oder auch nicht. Du musst das alleine entscheiden.“
Ede kochte. So, das Aas hatte ihn also nun auch verleumdet. Genauso hatte sie es mit Jutta gemacht und mit Sümmchen auch. Jutta ist jetzt in der Schweiz, die Glückliche hatte es geschafft, sich hier abzunabeln. Ede bereute es, dass er sich vor einigen Monaten vom Gartenführer belatschern ließ und ein lukratives Stellenangebot ausschlug, aus Bequemlichkeit, aus Angst vor der Veränderung, aus Loyalität der Firma gegenüber. Warum auch immer. Er bereute es. Er hätte die Kurve bekommen. Jetzt wurde er auch noch zu allem Überfluss von dessen Krähe verdächtigt, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Das war die Höhe.
Er überlegte voller Wut, was zu tun sei. Er würde sich das nicht gefallen lassen. Das ging an die Ehre. Er war doch kein Dieb. Das hatte er nun weiß Gott nicht nötig. Natürlich liebte er einen guten Verdienst. Aber er war doch nicht arm, nagte an keinem Hungertuch. Was denkt diese scheußliche und dämliche Alte sich eigentlich? Man müsste sie tatsächlich mit dem Hammer erschlagen, so wie Paul es auch einmal voller Wut vorschlug. Ja, man sagt so etwas manchmal im Zorn. Natürlich würde keiner die Alte umbringen, aber jeder wünschte sie aus der Welt.
Ede entschloss sich, etwas Schriftliches zu verfassen. Ihm wäre zu Ohren gekommen, dass man ihn das und das getan zu haben verdächtigte. Er würde diesbezüglich von der Geschäftsführung eine Stellungnahme erwarten. Er muss sich gegen derartige Verleumdungen auf das Strengste verwahren, denn er hätte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Er wüsste woher die üble Nachrede käme und würde sich vorbehalten, vor Gericht zu ziehen. So!
Er schrieb sich richtig in Rage und konnte sich nun nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. Er würde diesen Brief als Einschreiben dem Chef zukommen lassen. Soll der doch nun endlich einmal seine hinterfotzige Alte zur Räson bringen. Er fertigte für sich noch eine Kopie an und für Sümmchen eine Kopie für die Personalakte.
Ob dies korrekt war, wusste er nicht. Jedenfalls wollte er, dass der Vorgang aktenkundig wurde. Möglicherweise lässt man im Ernstfall alles verschwinden. Er traute nun auch keinem mehr über den Weg. So oft hatte man ihn schon zum Sündenbock gemacht. Jetzt reichte es. Am liebsten würde er diesem Weib sofort ans Leder, so böse war jetzt Ede.
Es hatte sich viel in ihm aufgestaut. Eine Woche wollte er noch warten. Am Montag kam der Chef aus Italien. Er würde den Brief vorfinden, dann würde man ja sehen, ob er etwas unternimmt. Er schlug die Türen hinter sich zu, schmiss sich in sein Auto, um diesen Brief persönlich zur Post zu bringen.
Dann ging er in eine Kneipe. Vielleicht könne man sich ein wenig ablenken. Nein, um diese Uhrzeit war noch nichts los. Fehlanzeige! Ede trank mürrisch ein Bier, warf das Geld auf die Theke und fuhr nach Hause. Ihm war die Lust auf alles vergangen. Zu Hause warf er den Fernseher an und machte sich eine Büchse mit Erbsensuppe auf. Scheißfraß!
FORTSETZUNG FOLGT
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2011
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